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Michael hatte immer gewünscht, das Los Arabells erleichtern zu können, doch von allen Seiten gedrängt und in Anspruch genommen, wie er war, mußte er davon abstehen. Allmählich indessen hatte sich seine Lage so gestaltet, daß er daran denken konnte, für Boris eine Stelle an einem Filialgeschäfte in Genua zu schaffen, die weniger kaufmännische Fertigkeit als einen ehrenhaften Charakter verlangte und die durch ansehnliche Besoldung sein äußeres Leben sicherte. Er wendete sich brieflich an Arabell, die ihm augenblicklich antwortete, daß seine freundschaftliche Großmut sie vor drohendem Elende schützen würde. In den letzten Jahren hatte sie selbst durch Unterricht das meiste zur Erhaltung der Familie beigetragen: aber das wenige, was sie verdienen konnte, hatte bei weitem nicht ausgereicht, und sie hatten Schulden machen müssen, die sie nun fast erdrückten. Diese zu tilgen erbot sich Michael ohne weiteres, da er ja nun, wie er sagte, sicher wäre, daß sie in kurzer Zeit abbezahlt werden könnten. Arabells Wunsch, ihm persönlich zu danken, sprach sich so inständig in ihren Briefen aus, daß er nicht nein sagen zu dürfen glaubte, zumal er auch für gut hielt, Boris, auf den vielfach Rücksicht zu nehmen war, selbst in seine Stelle einzuführen.

Er fand Arabell kaum verändert, Boris dagegen, der schon damals älter als seine Jahre geschienen hatte, war kaum wiederzuerkennen. »Wie haben Sie es angefangen, trotz Not und Sorgen wieder Ihr liebes Knabengesicht mitzubringen?« fragte Michael, nachdem sie einander begrüßt hatten.

»Die Jahre waren nicht so schrecklich, wie man denken sollte«, sagte Arabell. »Anfänglich, als ich keine Zeit mehr hatte, vor meinen Bildern zu stehen oder in schönen Versen unterzutauchen, glaubte ich, es nicht ertragen zu können. Aber meine Seele war weiser als ich, und in ihrer hilflosen Verlassenheit fand sie sich zu Gott.«

Michael sah sie gedankenvoll an und sagte: »Ich war elender und verlassener als Sie und habe Gott nicht gefunden.«

»Ich glaube«, sagte Arabell, »Sie bedürfen seiner nicht, wie ich, weil Sie seinem Herzen näher sind; man sieht ja auch den Turm nicht, wenn man dicht an seinem Fuße steht, erst in gewisser Entfernung rundet sich das Bild. Ich war ihm so unendlich fern, wie meine Sehnsucht unendlich war. Seit ich lebe, suchte ich ihn, wenn ich ihn auch nicht immer richtig nannte. Als das Leben anfing, mich so unerträglich schwer zu bedrücken, nahm ich meine Zuflucht zu dem Schönsten, was ich erfassen konnte, zur Kunst, und befreite mich so vor mir selber. Ich bemerkte, daß ich mein Bewußtsein von mir selbst lösen konnte, wenn ich mich einem vollkommenen Schönen hingab, so daß ich zwar ich selbst blieb, mich aber selbst nicht mehr fühlte. Als mir diese Dinge genommen waren, hatte ich doch noch den Drang, mich von mir zu trennen und mich hinzugeben, und meine Seele hing über einem unermeßlich bodenlosen Abgrund, schwindelnd und voll Sehnsucht, sich hinunterzustürzen. Da stieg aus diesem gähnenden Raume Gott empor und fing meine Seele auf; anders kann ich Ihnen nicht beschreiben, wie es war.«

»Die Schönheit, die Sie anbeteten«, fragte Michael ungläubig, »ersetzte Ihnen ein Wesen, das unsichtbar bleibt?«

»Es ist mir nicht unsichtbar«, sagte Arabell. »Als ich die verlorene Schönheit suchte, den süßen Strom der Töne, die farbige Gestaltung, die zaubernde Kunst, fragte ich mich, wenn nun die Leinwand verbrennte, auf die das Bild gemalt war, ob dann seine Schönheit verschwunden wäre? Und wo sind die begnadeten Häupter, die das Schöne schufen? War überhaupt je etwas, so muß auch ein allumfassendes Wesen sein, in dem es ewig ist. In der Jugend liebt man die Werke des Dichters um des Stoffes willen, dann liebt man seine Kunst und zuletzt nur ihn selber; so ähnlich ist es mir wohl mit Gott ergangen.«

»So verstehen Sie jetzt die Meinung des Freiherrn«, sagte Michael, »daß die Kunst nicht das Letzte, sondern gleichsam nur die Vorstufe zu Gott wäre.«

»Ja«, sagte Arabell lebhaft, »wie ein Schwacher einen Starken verstehen kann. Ich habe nur einen Zipfel von Gottes Mantel angefaßt, und ihm weht Gottes Atem aus dem Munde.«

Mit dem Namen des Freiherrn war etwas zwischen ihnen aufgetaucht, das keiner zuerst erwähnen wollte, sie schwiegen und sahen einander ernst und forschend in die Augen. Als wollte er zurückdrängen, was auf Arabells Lippen zitterte, sagte Michael plötzlich: »Ich war froh gewesen in dem Gedanken, Ihnen helfen zu können, und sehe nun, daß ich zu spät komme, denn so wie sie jetzt sind, kann Ihnen irdische Not nichts mehr anhaben.«

»Wenn ich lebendig begraben wäre, könnte ich mich noch an Gott entzücken«, sagte Arabell, »aber mein Mann und meine Kinder sind nicht wie ich, und auch ich«, setzte sie mit einem lieblichen und rührenden Lächeln hinzu, »bin noch nicht so verklärt, daß es mich nicht lockte, mir das schöne Leben wieder anzugewöhnen.«

Boris fühlte sich von dieser Welt Arabells viel mehr ausgeschlossen, als ehemals von ihrer Kunstschwärmerei; denn während er die Kunst als Mittel, Gedanken ergreifend auszudrücken, schätzen konnte und also doch dasselbe Ding sah wie Arabell, wenn auch von einem anderen Standpunkte aus, so war ihm Gott nur ein leerer Name. Da seine Schwerhörigkeit sehr zugenommen hatte, war es schwierig, sich mit ihm über verwickelte Gegenstände zu besprechen, wozu Arabell ohnehin wenig Neigung hatte. Jedermann hätte sie gern das Heil, das sie erfahren hatte, und die Wahrheit, an die sie glaubte, mitgeteilt, einzig gegen ihn schloß sie sich ab und ließ ihn unbekümmert draußen stehen, wenn sie in ihren Heiligtümern selig war. Allerdings pflegte er in seiner Reizbarkeit und griesgrämigen Unzufriedenheit ihre Ansichten, die er nur halb verstand, in grober und oft abgeschmackter Weise zu verhöhnen, wobei er stets darauf zurückkam, daß ihr Christentum sie nicht einmal dazu befähigte, ihren Kindern eine gute Mutter zu sein.

»Eine gute Mutter ist nicht das einzig Gute, was man sein kann«, sagte Arabell hochmütig. »Die heilige Elisabeth verließ ihre eigenen Kinder, um sich Bettlern und Kranken zu widmen.« »Du hast deinem Vorbild aber nur im ersten Punkte nachgeeifert«, sagte Boris überlaut lachend. Von Arabells Wangen sprühte dunkle Röte, als sie leidenschaftlich entgegnete: »Ich habe vom Morgen bis zum Abend für meine Kinder gearbeitet, Arbeit, zu der ich nicht erzogen war, an die ich nicht gewöhnt war, die mich anwiderte, und jetzt, da es nicht mehr nötig ist, wirfst du mir vor, ich hätte meine Kinder verlassen und nichts für andere getan.«

Michael sagte mancherlei Versöhnliches, aber obwohl ihm Arabell nie anders als liebenswert und einzig hold erschien, fühlte er doch auch, was in Boris' Bitterkeit berechtigt war. Konnte man sie nicht dafür verantwortlich machen, daß sie ihn und ihre Kinder nicht liebte und nur wie eine Heldin ihre Pflicht gegen sie erfüllte, so mußte man auch das begreifen, daß er es ihr nicht verzeihen konnte. Die langen Jahre der Sorge war sie im Grunde niemals bei ihm gewesen; ein empfindungsloses Trugbild hatte an ihrer Stelle die Kinder versorgt, den Haushalt geführt und in fremden Häusern Stunden gegeben, während sie in ferner, wolkiger Bläue die Hoheit Gottes suchte und sich im Golde badete, das von den Füßen seines Thrones floß. Darum glänzte ihr feines Gesicht wie in ihrer zwanzigjährigen leichten Jugend, während ihm, der immerwährend ohne Ablösung im trockenen Staube des häßlichen Alltags stand, Armut, Gram, Reue, Sorge die harten Finger ins Antlitz gruben und sein Ohr mit ihren öden Litaneien füllten.

Michael versprach sich viel davon, daß er nun regelmäßig arbeiten und verdienen und der Erhalter seiner Familie sein würde, und doch, als er ihm seine Tätigkeit erklärte, ihn den übrigen Herren vorstellte, ihm die Räumlichkeiten zeigte, wo er sich aufzuhalten haben würde, wurde es ihm, so heiter und eifrig sich Boris auch zeigte, bange zumute. Er konnte es nicht anders einrichten, als daß Boris wie die anderen auch fast den ganzen Tag in den großen, kühlen, aber trüben Räumen des Geschäftshauses beschäftigt war, die in den Wintermonaten mit Ausnahme weniger Stunden künstlich beleuchtet werden mußten. Da sollte der taube, verbitterte Mann sitzen über einer Tätigkeit, die ihm völlig fremd war und nichts Reizendes oder Erhebendes an sich hatte. Ob er an die weiten Steppen seiner Heimat denken würde, an den Wind, der darüber hinlief, an die Wolken, die wie Bilder in Träumen auftauchten, eine Weile spielten und sich haschten, um eilig zu zerrinnen, da, wo er Gefahr und Tod verachtete und mit glorreichen Gesichten umging!

Als sie auf die enge, schmutzige und übelriechende Straße heraustraten, fragte Michael wie beiläufig: »Haben Sie zuweilen Heimweh?« Er mußte im Getöse, das um sie her war, dreimal fragen, bis Boris ihn verstanden hatte, dann zuckte er mit den Schultern und wiederholte:

»Heimweh? Oh, früher wohl zuweilen«, und schien nicht weiter darauf eingehen zu wollen, vielleicht weil er nicht gewöhnt war, viel von sich zu sprechen, oder auch weil er den Gegenstand fürchtete. »Sie werden nun bald einmal nach Hause reisen können«, sagte Michael. – »Hin wohl, aber zurück nicht«, rief Boris und erinnerte Michael durch eine Gebärde daran, daß er infolge seiner früheren Umtriebe sich nicht in Rußland zeigen könne, ohne Gefangenschaft und wohl gar den Tod zu wagen. Wie er dabei lachte, sah Michael, daß seine starken gelben Zähne noch unverwüstlich stramm einer neben dem anderen standen, grell glänzend in dem breiten, grauen eingesunkenen Gesichte. Ob er glaubte, daß es ihm mit der Zeit hier gefallen würde, fragte Michael. Boris zuckte wieder mit den Schultern und antwortete: »Was liegt daran? Ich lebe nicht für mich. Ich bin froh, für meine Familie sorgen zu können, und da ich den ganzen Tag bei der Arbeit bin, brauche ich das schmutzige Elend nicht zu sehen, das einen hier umgibt.«

Auf Boris' und Arabells dringendes Bitten dehnte Michael seinen Aufenthalt auf mehrere Tage aus, während welcher sie die Stadt und ihre Umgebung durchstreiften. Als sie sich eines Abends im Kahne aufs Meer hinausrudern ließen, fiel es Michael plötzlich ein, daß er vor vielen Jahren, fast noch ein Knabe, mit seinem Vater hier gewesen war, um das Zweiggeschäft kennenzulernen, und daß sie zusammen auf dem Meere gefahren waren. Sein Vater hatte ihn nicht auf die Sehenswürdigkeiten aufmerksam gemacht, auf die Paläste und Kirchen und die Bergterrassen, an denen sie vorübergingen, nur das blaue Wasser zog ihn an; er liebte es, sich in seiner Nähe aufzuhalten oder darauf zu fahren und sich mit dem Manne, der ruderte, in dessen Sprache zu unterhalten.

»Ich möchte wissen, wie Sie damals waren«, sagte Arabell, deren Augen liebevoll auf ihm ruhten. – »Ich war ein schlanker, dunkler, unbedeutender Junge«, sagte Michael, »und hatte die Brust voll Erwartung. Ich fühlte mich immer am Vorabende eines hohen Festes und wollte tugendhaft und würdig sein, um das Götterbild tragen zu dürfen.«

Auf seinen Wunsch wurde an einer Stelle gelandet, wo sich damals, so glaubte er sich zu entsinnen, eine kleine alte Taverne befand, in der er mit seinem Vater gesessen und Wein getrunken hatte. Es glückte ihnen wirklich, sie zu finden, und sie traten in den niedrigen schwarzverräucherten Raum, der voll laut durcheinander lachender und schreiender Männer war, die rauchten, spielten und tranken. Sie verstummten einen Augenblick, als die Fremden eintraten, und rückten zusammen, damit sie Platz fänden. Der Wein, den Michael als tiefrot und sehr feurig im Gedächtnis hatte, wurde bestellt, und er lud Boris und Arabell ein, auf ihre Zukunft in der neuen Heimat anzustoßen. In dem spärlich beleuchteten Raume sah der Wein schwarz aus, und Arabell fand es unheimlich, davon zu trinken; aber er schmeckte herb und heiß und rollte wie Götterblut durch die Adern.

Da es in dem geräuschvollen Raume unmöglich war, zu sprechen, stützte Michael den Arm auf den Tisch und sann; es wurde ihm nach einer Weile so, als wären Arabell und Boris sowie die Männer nur etwas von erregter Einbildung Vorgespiegeltes gewesen, und als würde er, wenn er sich umblickte, seinen Vater neben sich sitzen sehen, wie er ihm sein Glas mit dem dunklen Weine reichte und ihm zunickte; er sah die gute, bräunliche, ein wenig behaarte Hand mit dem altertümlichen Siegelring auf dem Zeigefinger.

Als sie wieder im Kahne saßen, sagte Arabell: »Ich muß Ihnen nun das Geständnis machen, daß ich Sie hauptsächlich deshalb so dringend gebeten habe, noch einige Tage hierzubleiben, weil ich wußte, daß morgen der Freiherr hierherkommen wird, um einen Vortrag zu halten; denn er hat hier eine kleine Gemeinde. Wenn Sie mir zürnen und ihn nicht sehen wollen, steht es immer noch bei Ihnen, morgen in der Frühe abzureisen.«

Da es nun so wäre, sagte Michael, wollte er ihn erwarten; dann blieb er still und sah ins Wasser.

»Darf ich von Rose sprechen?« fragte Arabell nach einer langen Pause. Er antwortete nicht, aber der Blick, den er auf sie richtete, schien zu fragen und zu bitten. Sie erzählte, daß sie Rose öfters aufgesucht hätte, nicht weil sie geglaubt hätte, ihr besonders willkommen zu sein, sondern als etwas Schönes, in dessen Anschauung sie sich verloren hätte. Sie hätte Kinder bekommen und bei ihren und des Freiherrn geringen Einnahmen und bei der Sorglosigkeit im Ausgeben dürftig gelebt. Darunter litte sie aber kaum, weil sie in ihrer überschwenglichen Liebe für die Kinder alles andere, was geschähe, nur wie in einem schwachen Traume erlebte. Sie wäre zwar blaß und mager, aber trotzdem immer schöner geworden, und was sie auch täte, stände ihr an: wenn sie einen gewöhnlichen Kinderrock nähte, schimmerte eine so stolze Beseligung von ihrem Gesichte, daß man glaubte, sie wäre eine gute Fee und machte ein Zauberhemd für den Leib eines Glückskindes. Jahrelang hätte sie nicht gemalt außer handwerksmäßig um Geld, darüber aber nie geklagt, auch hätte sie es wohl kaum als Entbehrung empfunden, so ganz wäre ihre Seele in die Kinder ergossen gewesen.

Auch der zahlreichen Hilfsbedürftigen jeder Art, die den Freiherrn beständig umlagerten, nähme sie sich an, allerdings nicht gerade in praktischer Weise, denn das verstände sie nicht, aber indem sie ihre Klagen anhörte, ihnen zuredete und ihnen gäbe, was sie hätte. Wenn auch körperlich im Vergleiche zu früherer Zeit herabgekommen, sähe sie doch stets, wenn nicht gerade augenblickliche Sorgen sie bedrückten, wie eine Glückliche aus und bezweifelte sicher nicht, daß das Leben sie in wunderbarer Weise auf die Höhen geführt hätte, wo die Auserwählten stehen.

»Und das ist«, sagte Arabell, »weil sie wirklich immer eine Auserwählte war; denn es gibt eine Gnadenwahl, wenigstens für uns, denen die Wege Gottes dunkel bleiben. Ich habe meine Hände wund gerungen nach Gott, während andere ihn im Herzen tragen und wissen es nicht einmal. Einige haben einen Stern auf der Stirn, der durch Leiden und Schmutz und Tod leuchtet, anderen hilft nicht Mühe, nicht Kampf, nicht Glück, nicht Tugend, weil sie verdammt sind.« Sie blickte dabei düster auf Boris, der, da er die leise geführten Reden nicht hatte verstehen können, abgewendet saß und teilnahmslos in das flüsternde Wasser starrte.

Michael hatte nichts anderes gehört, als daß Rose Kinder hatte, sie liebte und mit ihnen glücklich war, und versuchte nun, als Arabell schwieg, in seinem klopfenden Herzen die wunderbare Tatsache nachzufühlen. Er erinnerte sich, wie einmal im Dorfe eine Frau, die Rose kannte, zu ihnen getreten war, um von einem kleinen Kinde zu erzählen, das sie kürzlich verloren hatte. Es war von Geburt an krank und schwach gewesen und hatte bei ihr im Bette geschlafen, weil es steter Pflege und Aufsicht bedurfte; infolgedessen hatte sie gar nicht oder nur wenig schlafen können, wodurch sie, da sie mehrere Kinder hatte und tagsüber streng arbeiten mußte, völlig von Kräften kam, so daß ihr einziger Wunsch und Gedanke wurde, nur einmal eine Nacht durch ruhig schlafen zu können. Da das arme Kind ohnedies nie ganz gesund hätte werden können, schien es ihr das beste zu sein, wenn es stürbe; anstatt dessen blieb ihr, nun es tot war, der Schlaf ferner als je, weil Nacht für Nacht die Sehnsucht nach dem Kinde kam, das bei ihr gelegen und geweint hatte und nicht zu trösten gewesen war. Rose hatte das harmvolle, früh gealterte Weib mitleidig angesehen und gedankenvoll staunend zu Michael gesagt: »Die armen Frauen!« als wäre sie von einem anderen Geschlechte.

Er legte die Hände vor die Augen und dachte an sie; er ahnte mit Angst und einer schrecklichen Wonne, daß sie unendlich schöner geworden wäre als früher, und daß er sie unendlich mehr lieben würde, mit einer neuen, überirdischen, wunderbaren Liebe, die kommen würde. Daß es nicht seine Kinder waren, die sie liebte, daran dachte er nicht, und ebensowenig, daß sie dem Freiherrn gehörten; ihm war es so, als hätte sie sich selbst aus ihrer liebevollen Seele heraus geboren.

Am andern Morgen trat der Freiherr früh in Michaels Zimmer und umarmte den Überraschten mit Feuer. »Gott weiß es«, rief er, sich zurückbiegend und ihn mit glänzenden Augen betrachtend, »daß ich dich mehr liebe als meine eigenen Kinder. Ich bin die Nacht durchgereist, um dich desto eher zu sehen.« Er wollte sogleich von Rose sprechen, allein Michael unterbrach ihn und sagte: »Dich sehen kann ich und liebe dich nicht weniger als früher; aber an eins darfst du nicht rühren.« Der Freiherr sah ihn erstaunt und mitleidig an. »Auf mich brauchst du nicht eifersüchtig zu sein«, sagte er ruhig. »Was wäre dir, wie du bist, die Liebe, die sie für mich hat! Und ihren Kindern wirst du ihr Herz doch nicht mißgönnen.« – »Ich bin nicht eifersüchtig«, sagte Michael, »aber ihr sollt sie mir nicht gar so nahe bringen.«

Obwohl nicht ganz einverstanden, kam der Freiherr danach nicht wieder auf Rose zurück. Er nahm Michael am Arm, zog ihn auf die Straße und sagte lebhaft: »Du hast diesen armen Leuten, Boris und Arabell, den Tisch gedeckt, und ich habe nichts dagegen, daß sie sich künftig satt essen. Glücklich aber wirst du sie damit nicht gemacht haben, weil man nun einmal nur die Glücklichen und nicht die Unglücklichen glücklich machen kann. Hoffen wir aber, daß es wenigstens nicht zu ihrem Schaden ausschlägt, und geschieht es doch, so rechne du es dir nicht als Schuld an!«

»Daß ich sie nicht glücklich machen kann, habe ich schon gesehen«, sagte Michael, »doch dachte ich, jedes Unglück sei erträglicher als ohnmächtige Armut.«

»Ohnmacht ist freilich ein Unglück«, sagte der Freiherr leichthin, »Armut nur eine Unbequemlichkeit.«

Michael hatte gefürchtet, den stolzen Mann in einem schäbigen oder wenigstens dürftigen Aufzuge sehen zu müssen, doch war seine Kleidung wie immer tadellos in Schnitt und Stoff, wenn man freilich auch merken konnte, daß sie viel getragen war. »Wenn du Geld brauchtest, würdest du mich doch in Anspruch nehmen, als ob ich wirklich dein Sohn wäre«, bat Michael ängstlich. »Eher dich als einen andern«, sagte der Freiherr, »aber das wird nicht nötig sein. Meine Einnahmen mehren sich eher, als daß sie abnehmen; ich halte Vorträge, spreche immer dasselbe mit anderen Worten und doch nie oft genug für das dumme Volk, und erteile Feinschmeckern oder harten Köpfen, in die kein anderer etwas hineinklopfen kann, Privatunterricht. Übrigens weißt du, daß ich das satte Sichbreitmachen auf der Erde niemals leiden konnte, und kannst dir denken, wie leicht ich es ertrage, daß meine Mittel es mir nicht erlauben. Da ich jetzt, mit sechsundsiebzig Jahren, noch kein merkliches Schwinden meiner Kräfte wahrnehme, schließe ich, daß ich mich noch eine Reihe von Jahren rüstig erhalten werde.« In der Tat, obwohl man ihm das Greisenalter ansah, sprachen seine scharfen Augen, seine dichtstehenden schneeweißen Haare, sein elastischer Gang von noch blühendem Jugendfeuer.

In seinem Wesen und den Reden war fröhlich bewegte Heiterkeit; nicht genug, sagte er, könne er seinen Entschluß loben, den scheckigen Mißwachs der Kultur der Geduld Gottes zu überlassen und sich an die pure Natur zu halten, die Urzauber und Zeugungskräfte hätte wie das schlammige, fauler Fische volle, gärende Meer, aus dem unvermutet Götter stiegen. Freilich, im Norden wäre in Wahrheit das zähe Lebermeer der alten Sage, und man könnte alt wie ein Papagei werden, bis das einmal kochte. Im Süden wäre es anders, da wären die Leute naseweis und aufgeweckt, und man könnte erleben, daß man mit einem Atemzug unversehens einen Orkan anbliese. Er trüge hier in italienischer Sprache vor, die er nur unvollkommen beherrschte, aber es gelänge ihm doch, wie er aus Erfahrung wüßte, sich verständlich zu machen. »Diese wundervollen Menschenkinder«, sagte er, »wissen jede Bewegung, jedes Zwinkern, jedes Blinzeln, jedes Zucken aufzufangen und zu deuten, und das benütze ich. Was für eine faule, wilde, mörderische Rotte! Aber wenn ich der Tyrann wäre, wollte ich ein Volk von Helden und Märtyrern aus ihnen machen.«

Daß er sich wissenschaftlich wenig mehr betätigen konnte, fand er keines Bedauerns wert, ebensowenig beklagte er Michael, daß er vor stets neu sich anhäufenden Pflichten seine Studien nicht wiederaufnehmen konnte. »Wo irgendein Starker ist«, sagte er, »hängt sich Geschmeiß an und saugt, das ist so; wer es nicht abschütteln kann, muß es mitschleppen und Blut lassen. Sammeln und bewegen sollen wir uns, das anvertraute Pfund nicht vergraben, sondern vervielfachen.«

Als er Michael spätabends zum Bahnhof begleitete und sie zu dem reichen und glanzvollen Himmel des Südens aufblickten, sagte er: »Häufig beim Anblick der zahllosen Sternenwesen, von denen jedes mit einer besonderen Strahlenkraft und Natur an seinem besonderen Platze steht, den es nicht aufgeben noch vertauschen kann, denke ich an die Unveränderlichkeit von uns Menschen. Sieh Arabell, sieh mich an oder irgendeinen von denen, die du kennst; es mögen täglich Blätter abfallen und neue sich entfalten, jeden Augenblick Tropfen aufspringen und Tropfen verrinnen, es ist ewig derselbe Brunnen, der alle verschlingt und alle ergießt. Nicht Jahrzehnte und nicht Millionen von Jahren, nicht Erdbeben noch Weltuntergänge können einer Seele die Farbe abwaschen, mit der sie Gott gemalt hat, ihr nicht den Namen rauben, mit dem er sie benannt hat. Und eben diese Unveränderlichkeit ist mir eine Bürgschaft für unsere Ewigkeit.«

Bevor sie sich trennten, sagte Michael, wie oft er an die Geisteskraft des Freiherrn mit Beschämung und Bewunderung dächte, und wieviel besser, tüchtiger, segensvoller er, der Freiherr, den Fleck Erde bebaut haben würde, auf den das Schicksal ihn gestellt hätte, als er selbst es vermöchte. Der Freiherr schüttelte hastig seinen weißen Kopf und sagte: »Laß das, Michael. Es muß es jeder auf seine Weise machen, und deine ist nicht die schlechteste. Ich will dir etwas sagen: Manchmal, wenn der Wind über begraste Hügel streicht, oder wenn die Bäume im Regen schluchzen, oder wenn sich blaue Nebel ballen und lösen und gelbe Blätter sich bebend in den tödlichen Herbstrausch stürzen, niedersinken und unter meinen Füßen rascheln, dann denke ich, was für eine schöne und fruchtbare Mutter die Erde ist und wie herrlich es sein muß, ihren Frühling, ihre Stürme, ihre Fülle, ihr Welken, ihre Brandungen mitzuleben. Es gibt etwas Besseres, Höheres; aber schöner seid ihr, ihr Kinder der Erde, und lieben muß man euch vor allen anderen.« Die Augen standen ihm voll Tränen, und es wurde ihm augenscheinlich schwer, Abschied zu nehmen.

Einige Jahre später kam Boris durch eigene Hand ums Leben. Nachdem er Michael die vorgestreckte Summe zurückbezahlt und sich mit seiner Familie bequem eingerichtet hatte und nun ein sorgenloses Leben vor sich sah, trat er eine Reise nach Rußland an, da sein Heimweh, nun die Mittel vorhanden waren, ihm Genüge zu leisten, sich nicht mehr beschwichtigen ließ. Er wußte sich einen Paß zu verschaffen, der ihm ermöglichte, unter einem unverfänglichen Namen die Grenze zu überschreiten und sich im Lande aufzuhalten; doch blieb noch immer große Gefahr, daß er erkannt und verhaftet würde. Arabell und die Kinder verbrachten die Zeit von einem Briefe zum andern in aufgeregter Besorgnis, und er selbst genoß das heißersehnte Wiedersehen unter Herzklopfen und Todesahnung; aber die Umstände waren ihm so günstig, daß er, ohne jemals Verdacht erregt zu haben, nach einmonatigem Aufenthalte zurückkehrte. Im Augenblick der Rückkunft war die Freude so mächtig, daß die Bitterkeit und der Groll der Vergangenheit völlig darin untergingen, um so mehr, als die Beziehungen zwischen den Eheleuten sich überhaupt freundlicher gestaltet hatten, seit Not und Sorge sie nicht mehr über ihre Kräfte bedrängten; doch ob nun das Weilen in der Heimat seine Erinnerungen neu belebt und dadurch das Bild des Todes, das ihm in den Jünglingsjahren als Ziel eines opfervollen Lebens vorschwebte, während er glaubte, es zu fürchten, und vor ihm floh, sich wieder bei ihm eingenistet hatte, oder ob die Behaglichkeit, die ihn jetzt umgab, mit unerträglicher Reue sein Gewissen bedrückte, er gab sich kaum ein halbes Jahr nach der Rückkehr von seiner Reise den Tod. Nach einem zu Lebzeiten des alten Unger festgesetzten Vertrage fiel die Sorge für die Hinterbliebenen der Angestellten von einer gewissen Stufe an dem Geschäfte anheim, und die Klausel, welche diejenigen, die durch Selbstmord starben, davon ausschloß, nützte Michael, wie sich von selbst verstand, nicht für sich aus, so daß Arabell und ihre Kinder vor Nahrungssorgen gesichert waren.

*

Mario bequemte sich endlich doch nicht ungern zum Besuche einer Universität, da er sich zu Hause vielfach in unbequemer Weise eingeengt fühlte, ganz besonders was sein Liebesleben anging. Es stand ihm dabei nicht nur die Sippschaft der Philister im Wege, sondern auch seine nächsten Freunde, nämlich Gabriel und Aristos, welche den Hang zum Weibe als vornehmstes Zeichen des Gemeinmenschen gegenüber dem Sondermenschen ansahen. Er fand in dieser Hinsicht mehr Verständnis bei Robert Hertzen, der es immer noch als ein Ideal erklärte, einen Palast aus Gold und Marmor sein zu nennen und ihn mit tausend und aber tausend schönster Frauen zu bevölkern; da aber Mario übrigens Aristos ungleich bedeutender fand, zählte er sich lieber zu diesem und liebte es nicht, von Robert Hertzen öffentlich für sich in Anspruch genommen zu werden.

Er kam denn auch in den ersten Ferien vergnügt und ungeduldig, wieder abzureisen, nach Hause, weil er sich, wie er seinem Vater willig eingestand, in ein junges Wirtstöchterchen verliebt hatte, das Mieze hieß und nach seiner Beschreibung das wonnigste Ding war, das man sich denken konnte. Als Michael ihn fragte, was für Vorlesungen er gehört und ob er sich bereits für irgendein Studium entschieden hätte, belehrte ihn Mario durch einen gutmütig verschmitzten Blick, der zugleich um Verzeihung bat, daß seine Liebesangelegenheiten es noch nicht zu etwas Erheblichem in der Wissenschaft hatten kommen lassen. Michael konnte darüber nicht so aufrichtig lachen wie sonst, vollends, als Mario nach dem nächsten Semester noch auf demselben Punkte war, fühlte er sich beunruhigt und stellte ihm vor, daß es rätlich wäre, eine andere Universität zu beziehen, wo ihn das Mädchen nicht von jeder ernsteren Beschäftigung abzöge. »Was würde das nützen, Papa«, sagte Mario gutmütig, »da ich mich nur in eine andere verlieben würde.«

»Vermag denn der ernste Wille, zu arbeiten und deinen Geist auszubilden, gar nichts über dich, oder hast du ihn nicht?« fragte Michael.

»Nein, bilden möchte ich mich nicht«, sagte Mario, indem er sich schüttelte; »arbeiten möchte ich wohl, weil es dir Freude machen würde, aber es kommen immer andere Reize, die stärker sind als die Lust zur Arbeit.« Das beste, erklärte er schließlich, würde sein, daß er heirate, dann könnte er leben wie Robert Hertzen, dessen Dasein ja auch von einigen Liebhabereien und der Frau ausgefüllt sei. Michael hielt dies für Scherz, da sich aber zeigte, daß es überlegter Plan war und Mario dabei verharrte, hielt er ihm alles vor, was die Sache in seinen Augen unmöglich machte; seine Jugend, seine Unreife, seine Beruflosigkeit und wie gedrückt er mit der Zeit durch das Zusammenleben mit einer Frau niederen Standes, wie die Mieze wäre, und namentlich durch den Zusammenhang mit deren Familie werden würde.

»Ich will ja nicht die Mieze heiraten«, sagte Mario mit großen Augen; »ich weiß wohl, daß ich sie nicht mehr würde leiden können, wenn sie meine Frau wäre, und ihre Eltern halte ich mir jetzt schon vom Halse.« Es stellte sich nun heraus, daß er ein anderes, wunderschönes, reiches und feingebildetes Mädchen kennengelernt hatte und liebte, das seine Gefühle auch erwiderte, aber eine förmliche Verlobung zu wünschen schien. »Warum liebst du denn die Mieze nicht mehr?« fragte Michael, dem der Wechsel an sich nicht unerwünscht war.

Mario lächelte beschämt und kokett und sagte: »Ich habe sie wohl noch lieb, aber die andere viel mehr, und heiraten möchte ich nur diese.«

Es stieg langsam ein widerlicher Einfall in Michael herauf, der ihn an seinen Bruder Raphael erinnerte; die Umstände lagen so ähnlich wie damals, und er wußte nicht, wieviel fester auf Marios Charakter zu bauen war.

Er konnte den Gedanken, da er ihn einmal vor sich selbst ausgesprochen hatte, nicht wieder loswerden, und eine schreckliche Unruhe bemächtigte sich seiner. Er sprach den Wunsch aus, das betreffende Mädchen kennenzulernen, und setzte hinzu: »Wenn du dich durchaus jetzt schon binden willst, so tue es; aber bedenke, daß du damit eine Verantwortung auf dich nimmst, der du kaum gewachsen zu sein scheinst; unehrenhaft darfst du nicht handeln. Zu heiraten kann ich dir zwar jetzt noch nicht gestatten, bist du aber nach Verlauf von drei Jahren noch derselben Meinung und hast du dich tüchtiger gezeigt als bisher, so will ich dir nicht mehr entgegen sein, sondern dir sogar die Wege ebnen.« Mario führte allerlei Beispiele von Männern an, die in seinem Alter Frau und Kinder hätten, und bemerkte, daß das sogar außerordentlich moralisch wäre. »Es ist jedenfalls ebenso moralisch, wenn man lernt, sich zu beherrschen«, sagte Michael, »und für dich weniger gefährlich. Gib dir nur einmal ernstlich Mühe, zu arbeiten, und du wirst sehen, daß es leichter ist, als du jetzt glaubst, eine Zeitlang ohne Mädchen auszukommen.«

Sie gingen langsam unter den Kastanienbäumen nach Hause; gelbe Blätter hingen in der blauen Luft, am Wege lagen geplatzte Kastanien, und unter ihren Füßen war leises Rascheln. Mario hörte schweigend an, was sein Vater sagte, oder ein heimlicher Widerstand schien in ihm zu wachsen. Michael hatte das Gefühl, er hielte mit seinen innersten Gedanken zurück, und es wurde ihm plötzlich bange, das offene, zutrauliche Kindergesicht könnte sich gegen ihn verschließen. »Was denkst du?« fragte er, da Mario still neben ihm herging. »Ich habe nichts gegen dich, und was dich stört, ist nur die bessere Einsicht und Erfahrung, die ich vor dir voraus habe.« Mario sah ihn mit einem aufmerksamen Blick an, der ihn befremdete, in dem sich etwas Bestimmtes aussprach, das ihm weh tat, und den er sich doch nicht zu deuten wußte. »Du sprachst noch kürzlich mit Verachtung von der Ehe«, fing Michael nach einer Weile wieder an, um Mario zu veranlassen, daß er sich ausspräche. Mario lächelte und sagte: »Lieber möchte ich auch ledig bleiben; was soll ich aber machen, da ich in ein Mädchen verliebt bin, das durchaus heiraten will. Ich denke, ich will nun wirklich versuchen, zu arbeiten und etwas zu werden, und will mich dann mit ihr, wenn ich sie bis dahin noch liebe, in einer anderen Stadt, womöglich in Italien, niederlassen.«

»Du möchtest hier nicht bleiben?« fragte Michael.

»Es ist eine öde Krämerstadt«, sagte Mario, »wo alles Schöne verketzert wird, wie du ja früher auch gesagt hast.«

Michael war sich bewußt, niemals parteiisch gegen seine Vaterstadt gewesen zu sein, und im Grunde war er damit einverstanden, daß sein Sohn sich eine andere Heimat suchte; aber er konnte ein tiefes Schmerzgefühl nicht überwinden, daß er so bald und so ganz eigenmächtig darauf verfallen war. »Da ich doch das Geschäft nicht übernehme«, fuhr Mario fort, »ist es ja nicht notwendig, daß ich hierbleibe; oder möchtest du, daß unser Haus in der Familie bleibe? Dann ist ja noch Gabriel da und die Malve, die es behalten können.«

Michael, der ohnehin das letzte nur halb gehört hatte, nickte und sah an Mario vorüber ins Weite, dem es vorkam, als hätte er seinem Vater weh getan. »Jetzt bin ich auch fast das ganze Jahr fort, und es geht gut«, sagte er zärtlich tröstend. »Wir können uns, falls ich nach Italien ginge, so oft wir wollen besuchen, und man genießt so viel mehr, wenn man sich seltener sieht.«

Michael nickte, lächelte und erklärte, im Geschäft etwas vergessen zu haben und noch einmal zurückgehen zu müssen; Mario möchte indessen nur voran nach Hause gehen.

Als er nach etwa einer Stunde in den Garten kam, hörte er die kleine Malve heftig mit Mario streiten, der, als er seinen Vater eintreten sah, ins Haus ging, während Malve auf behenden Füßen im Hintergrunde des Gartens verschwand. Malve sah ihrer Großmutter ähnlich, obwohl sie nicht so schön zu werden versprach; anstatt dessen waren ihre Züge belebter, und die strahlende Offenheit und herzliche Wärme ihres Wesens gaben ihr unwiderstehlichen Reiz. Mario war, solange sie klein war, ihr liebster Spielgefährte gewesen, allein seit den letzten Jahren verstanden sie sich weniger, und es gab beständig kleine Reibereien zwischen ihnen. Da sie leicht lernte, ehrgeizig und nicht frei von Hochmut auf ihre Eigenschaften war, warf er ihr blaustrümpfiges Wesen, Rechthaberei und Schulverstand vor, während sie ihn faul, falsch, feige, furchtsam und unmännlich schalt. Ihr Herz war ganz ausgefüllt durch die Liebe zu ihrem Halbbruder Raphael und zu ihrem Pflegevater, und der Gedanke an die Möglichkeit, daß die Gefühle jemals durch ein anderes könnten zurückgedrängt werden, hätte sie unglücklich gemacht. Mit den Äußerungen ihrer schwärmerischen Verehrung für Michael war sie behutsam, da sie trotz seiner liebevollen Güte stets das Gefühl hatte, als gehörte ihr nur der zweite Platz in seinem Herzen, und sich nicht aufdrängen wollte.

Michael hatte den Wortwechsel der beiden kaum beachtet, doch als er die kleine Malve, der er nachging, weinend auf die Erde geworfen fand, setzte er sich zu ihr, wischte mit seinem Tuch die Tränen ab und fragte, was ihr fehle, ob Mario ihr etwas zuleide getan hätte. Sie schüttelte ängstlich den Kopf, vermochte aber ihr Schluchzen zu unterdrücken und sah Michael aus ihren klaren braunen Augen so verzweifelt an, daß es ihm vorkam, als müsse etwas Ernstliches vorliegen, und er freundlich in sie drang, sie möchte ihm ihr Leid klagen. Durch Fragen, die er an das aufgeregte Kind stellte, brachte er schließlich heraus, daß er selbst der Gegenstand der Bemerkungen Marios gewesen war, die sie so leidenschaftlich erzürnt und geschmerzt hatten, worüber er zunächst eine Erleichterung empfand, denn er hatte schon gefürchtet, Mario könnte im Ärger ein kränkendes Wort über Malves Eltern haben fallenlassen. Er sagte lachend: »Das mußt du dir nicht so zu Herzen nehmen, kleine Malve. Was Mario über mich gesagt hat, kann gewiß nichts Böses gewesen sein, oder du hast es anders verstanden, als er es gemeint hat.« Es wäre nichts dabei zu verstehen gewesen, rief Malve mit blitzenden Augen, er hätte deutlich gesagt, sein Vater finge an alt zu werden.

»Aber da hat er ja ganz recht«, sagte Michael lachend, indem er die Kleine an sich zog und küßte. »Weißt du nicht, daß ich zweiundfünfzig Jahre alt bin, und siehst du nicht, wieviel weiße Haare ich habe?« Im Innersten erschrocken, daß sie sich die schrecklichen Worte hatte entschlüpfen lassen, hatte die kleine Malve ihre beiden mageren Arme um Michaels Hals geschlungen und war in krampfhaftes Weinen ausgebrochen; er fühlte, wie sie, dicht an ihn gedrückt, heftig den Kopf schüttelte. »Es ist ja nichts Schlimmes oder Häßliches, alt zu werden«, fuhr Michael beschwichtigend fort, »aber wenn es dich traurig macht, brauchst du es nicht zu glauben, und wir wollen beide so tun, als ob ich jung wäre.« Er löste ihren Kopf und ihre Arme von seinem Halse, sah sie lächelnd an und trocknete ihr erhitztes und nasses Gesicht, was sie sich aus Bescheidenheit und Furcht, sie möchte ihm lästig geworden sein, schweigend tun ließ.

Erst als Michael allein in seines Vaters Arbeitszimmer war, kam ihm zum Bewußtsein, was ihm in seinem Innern widerfahren war. Jetzt verstand er den aufmerksamen Blick, mit dem Mario ihn betrachtet hatte! Du wirst alt, hatte er gedacht, du sprichst von deiner Erfahrung und halsest meiner Lebenslust deine kahle Erfahrungsweisheit auf. Nach zehn Jahren würde er denken: Du bist so alt geworden, daß es besser wäre, du stürbest, damit deine Kinder und Kindeskinder nicht deinen traurigen Verfall erleben. Er sagte sich, wie er zu Malve gesagt hatte, daß es wahr sei, und daß es nichts Böses bedeute, wenn einer die unleugbare Tatsache seines Älterwerdens bemerkte; aber das half ihm nichts. Er hatte etwas Unersetzliches unwiederbringlich verloren. Wie war es möglich, daß Marios liebende Augen so unbestechlich geworden waren, daß sie sich nach kurzer kalter Prüfung so gleichgültig von ihm abwenden konnten! Wie er sich das süße Gesicht vorstellte, das lange Jahre unentwegt an seiner Seite gewesen war, und damit den wägenden Blick verglich, der heute auf ihm geruht hatte, stürzten plötzlich Tränen aus seinen Augen, die sich seit dem Morgen in seinem Herzen angesammelt und es schwer gemacht hatten. Du liebe kleine Gestalt, du zärtliches Angesicht, du Herz in meinen Händen! Er hatte niemals vorher bedacht, daß das lallende Kind, der täppische Junge, daß das Bild jedes Jahres, jedes Tages sich verloren hatte, um anderen Raum zu machen, da er selbst, in dem alles zusammen begriffen war, bei ihm blieb; nun aber breitete er die Arme sehnend aus nach allen den Verwandlungen, die eine nach der andern wie selbständige Wesen den Weg abwärts in die Vergangenheit gestiegen und, ohne daß er wußte wie, verschwunden waren. Wo war das kranke, fiebernde Kind, das nicht Ruhe fand, bis es mit seinen winzigen Händen einen seiner Finger umklammern und mit seinen Augen sich fest in seine hängen konnte? Wo war der scheue, glühende Junge, der das unerhörte Opfer lächelnd aus seinen Händen nahm, weil er sich und sein warmes, inniges Leben dagegen einzusetzen hatte?

Nun das nicht mehr bei ihm war, kam die Frage, ob das Opfer nicht ein Wahn gewesen wäre. Wäre Mario gestorben oder irgendeinem unheilbaren Leiden verfallen, so hätte er sich gesagt, es wäre kein Preis zu hoch gewesen, um ihm sein kurzes Leben reizend zu machen oder an seinem Bett zu sitzen und ihn zu pflegen. Ja, selbst wenn Mario sich von ihm lossagte, aber ein tüchtiger, guter Mann zu werden verspräche, würde er sich damit bescheiden, ihn auf diesen Weg geführt zu haben. Aber nun schien es, als sollte ein selbstsüchtiger, an allem, was lockte und reizte, sich vollsaugender Mensch aus ihm werden, in wohlgefälliger Schwäche jeder Übermacht sich hingebend, aber eigensinnig verstockt gegen jeden Anspruch und jede Pflicht, die ihn störte. Dahin hatte er selbst vielleicht es gebracht durch sein überschwengliches Verwöhnen, durch seine fürsorgende tragende Liebe und dadurch, daß er ihn zu einem unerschöpflichen Quell der Zärtlichkeit für sich selbst hatte haben wollen. Wie unendlich viel herber und edler hätte Mario reifen können, wenn er ihn in jugendlichem Alter verlassen und weniger sorglich behütet, mit einem ernsten Schicksal allein gelassen hätte. Je mehr er einzusehen glaubte, was er selbst an dem lieben Kinde verschuldet hatte, desto überwältigender ergriff ihn von neuem der Schmerz, es nun verloren zu haben. Er wußte, daß er ihn nach wie vor liebhaben, für ihn sorgen und arbeiten würde; aber ob er bei ihm oder fern von ihm wäre, er würde von nun an durch endlose Einsamkeit gehen. War sein Leben in den letzten Jahren auch voller Entbehrung gewesen, so hatte er doch immer dicht an seinem Herzen eine warme, weiche Seele angeschmiegt gefühlt, und nun sie losgerissen war, empfand er dort eine Lücke, wo jede Feindlichkeit sich einbiß und nagte.

Diesen einen Verlust hatte er nie für möglich gehalten; aber jetzt, je länger er darüber nachsann, wurde ihm klar, daß er sich seit langem vorbereitet hatte. Wie lange war es her, daß er nicht mehr der Schönste, der Einzige war, den Mario kannte! So, sagte er sich, hätte es ja auch nicht bleiben können und dürfen; ein Umschwung mußte sich einmal vollziehen.

Er saß am Schreibtisch seines Vaters und spielte gedankenlos mit der goldenen Feder, auf die durch die heruntergelassenen Rollvorhänge des Fensters ein Sonnenstrahl fiel. Es lagen noch alle Sachen auf dem Tische, wie sie zu Lebzeiten seines Vaters, der peinliche Ordnung gehalten hatte, gewesen waren, und die Feder lag unberührt neben einer einfachen, mit der er selbst schrieb; doch liebte er es, sie in die Hand zu nehmen und sich die große, kräftige, edle Hand seines Vaters vorzustellen, was ihm besser gelang, wenn er sie sich mit einem Gegenstande verbunden dachte, mit der Feder oder dem altertümlichen Siegelringe. An dieser Hand war er als Kind gegangen, als ob Gott ihn über die goldenen Straßen des Himmels führte. Noch als er so alt war wie Mario jetzt, hatte er sich kein Glück denken können, ohne daß die schweren schwarzen Augen seines Vaters darauf ruhten und sich still mit ihm daran freuten. Er durfte sich sagen, daß er, was sich auch später ereignet hatte, nie etwas anderes, als die wärmste, aufrichtigste Liebe für ihn gefühlt hatte; dennoch waren böse Worte zwischen ihnen gefallen und böse Gedanken zwischen ihnen hin und her gegangen. Es kam ihm auf einmal lebendig ins Gedächtnis, wie er am Tage seiner ersten Abreise zur Universität an der Tür dieses Zimmers gestanden hatte, halb den Abschied fürchtend und halb ein herzliches Wort ersehnend, und wie er es leer gefunden hatte. Seit diesem Tage mochte sein Vater viele lange Stunden an dem Schreibtische gesessen und sich gramvoll gefragt haben, was er getan hätte, daß sein liebster Sohn ihn verließe und nicht zurückkäme.

Wenn er an seinen Vater dachte, wurde es ihm fraglich, ob er selbst ein ebenso treuer Vater für seinen Sohn gewesen war. Es fiel ihm schwer aufs Herz, daß er lange Zeit das Glück seines Lebens auf die Hoffnung gebaut hatte, daß Mario sich ihm entfremden, seiner weniger bedürfen, sich an andere hängen würde. Ein Grauen überlief ihn bei dem Gedanken, wenn ein grausamer Gott lebte, wie schrecklich er das an ihm hätte heimsuchen können.

Es fiel kein Sonnenstrahl mehr durch den Vorhang, als Michael noch immer am Schreibtische saß, versunken in Bilder, die unablässig an ihm vorüberzogen. Er sah seinen Vater in dem Fischerdorfe am Strande liegen, beruhigt und beglückt in dem Anblicke des Meeres; dann wie er ihn zum Bahnhof begleitet hatte, und als der Zug sich in Bewegung setzte, wie das feierlich ernste Gesicht, dessen Blick freundlich an ihm hing, sich langsam von ihm entfernte. Sein Herz hatte sich ängstlich zusammengezogen, und es war ihm gewesen, als müsse er dem Zuge nachstürzen, um ihn noch einmal zu sehen; aber einige Tage später hatte er es vergessen. Während er an seine Arbeit gegangen war, froh der Tage, die ihm entgegenkamen, einer heiterer und herrlicher als der andere, war der alternde Mann in dem unwohnlichen Eisenbahnwagen mit seiner Schwermut Meilen und Meilen gefahren, bis er endlich wieder in sein Zimmer gehen konnte, vielleicht zufrieden, nur wieder mit den stillen, liebgewordenen Gegenständen allein zu sein. Und dann war er gestorben, einen häßlichen, jämmerlichen Tod, der Michaels Leben nur flüchtig nebenbei erschüttert hatte.

Michael stand auf und zog die Vorhänge hoch, um das Fenster zu öffnen, durch das eine angenehme, kühle Luft einzog. Er hatte Mario vergessen und war mit ganzer Seele in seinen Vater versunken, der sich seit so lange ohne ein Wort, ohne Wink und Gruß von seiner Seite verloren hatte. Wie war denn dies alles möglich gewesen? Er hatte gelebt wie auf den Rossen des Sturmes, und mit sprühenden Hufen und flatternden Mähnen war es vorwärts gegangen, ohne Scheu, ohne Reue, ohne Rast. Er hatte Jahre hindurch gewußt, daß sein Vater in diesem hohen, ernsten Zimmer saß, von kranken Einbildungen heimgesucht und mit gerechten Befürchtungen sich quälend und des Entfernten traurig gedenkend, und er war nicht gekommen, um sich an seine Brust zu werfen, ihn zu umarmen, seine Liebe stark, tief, innig und freudig vor ihm hinzubreiten.

Er ging langsam in den Garten hinunter und sah sich um, ob er allein wäre; ein Dienstmädchen sagte auf seine Frage, daß alle ausgegangen wären, bis auf Gabriel, der an seinem Werke arbeitete oder las. Lautlos tropften Blätter, gelbe und rote, von den Bäumen; in der dünnen Luft war lauter Schwinden und Scheiden, und überall hauchte die trunkene Süßigkeit der Neige. Michael war nie an jene Stelle gegangen, wo sein Vater den Tod gesucht hatte, ja, wenn er sich recht besann, war er nicht mehr dort unten gewesen seit jener Nacht, als Rose da war und der jähe Schreck vor ihrer Liebe ihn übermannte. Als er, allen seinen Lebensplänen entsagend, wieder nach Hause zurückgekehrt war, hatte er sich mit so viel Arbeit, Greuel und Widerwärtigkeit herumschlagen müssen, daß es nicht einmal Trauer und Erinnerung für ihn hatte geben dürfen. War er je in den Garten gekommen, außer etwa, um mit der kleinen Malve zu spielen? Er hatte gesessen und gearbeitet, und fast war ihm die Beschäftigung, die Geld hervorbrachte, eine Gewohnheit geworden, die ihm das Leben erleichterte und mit der er sich, ohne selbst zu wissen, daß er das wollte, vor Gedanken schützte. Das Herz fing ihm laut zu schlagen an, während er den Weg gegen das Wasser hinunterging und sich fragte, ob er den hölzernen Zaun vor dem Abhang über dem Flusse noch finden würde. Der Zaun, der damals, als er die eingesunkene Tür geöffnet hatte, schon schadhaft war, war jetzt verrottet, so daß es große Lücken gab, durch die man hätte hindurchgehen können. Man hätte sich an die Pfähle, die noch standen, nicht anlehnen dürfen, so locker waren sie, und es hatte dort eine Gefahr für Malve gegeben, solange sie klein war, die übersehen zu haben er sich vorwerfen mußte. Vielleicht war aber auch das Kind niemals dort hingegangen aus Furcht vor dem Großvater, der allein, von niemandem gesehen, in das faule schleichende Wasser gegangen war und bei Nacht wohl zwischen den Bäumen heraufsteigen mochte, um hinüber nach seinem Hause zu blicken. Er faßte den brüchigen Zaun mit beiden Händen und weinte; seine Tränen fielen in schweren Tropfen auf das Holz herunter, während sein starrer Blick den Scherben und Fetzen folgte, die das trübe Wasser langsam mit sich hinabzog.

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