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Wenn Michael sich der Stadt näherte, wo er studierte, und die breite Masse der Universität und der dazugehörenden Gebäude über die Anhöhe gestreckt sah, schlug ihm das Herz, wie wenn es ins Vaterland käme. Er hatte Lust, sich niederzuwerfen, seine beiden Hände in die braune Erde zu graben und sie zu küssen. Jedem Vorübergehenden begegnete er mit einem Gefühl von Zusammengehörigkeit und frohem Verständnis, wenn er in der ersten Zeit auch nur wenige Bekannte darunter hatte.

Er verkehrte jetzt nicht selten in dem Kreise der Umsturzfreunde und Volksbeglücker, wo Boris ihn eingeführt hatte und wo er sich mit einer neuen Gedankenwelt vertraut machen konnte. Freilich ließen ihn Temperament, überlieferte Anschauungsweise und Lebenslage ihr doch im ganzen fremd bleiben, und er wäre bei den Genossen vielleicht weniger wohlgelitten gewesen, wenn nicht seine liebenswürdige Persönlichkeit, der aufrichtige Wunsch, sich mit unbekannten Erscheinungen gründlich auseinanderzusetzen, mit ihm ausgesöhnt und Boris' Freundschaft ihn empfohlen hätte. In diesem Kreise verkehrte ein junger Russe deutscher Abkunft, der auch das Deutsche ohne fremdländische Betonung sprach und mehr semitischen als russischen Typus zeigte. Er besaß ein sehr bedeutendes Vermögen, das er bei jeder Gelegenheit seinen meist armen Kameraden zur Verfügung stellte, wovon er so wenig Aufhebens machte, daß außer denen, die seine Freigebigkeit in Anspruch nahmen, niemand etwas davon ahnte. Er selbst lebte in nichts bequemer als die übrigen, was für ihn viel empfindlicher war als für sie, da seine Kränklichkeit ihm eigentlich eine sorgsame Pflege seines Körpers vorgeschrieben hätte.

Dieser junge Mann, der den Namen Isidor hatte, teilte die Ansichten seiner Freunde durchaus nicht, da es vielmehr seine Meinung war, die Leiden seien nicht nur nicht aus der Welt zu schaffen, sondern sie seien viel begehrenswerter als Glück und Freuden; denn sie bildeten die Brücke von der Erde weg zur Verklärung und Ruhe. Den anderen kamen solche Äußerungen veraltet und wunderlich vor, weil aber Isidor sie in ihren Bestrebungen eher unterstützte als bekämpfte und überhaupt ein so aufopfernder Freund war, duldeten sie ihn trotzdem in ihrer Gesellschaft und hielten sich nicht dabei auf, seine Theorien zu widerlegen. Michael konnte niemals einen Widerwillen gegen diesen Menschen überwinden, dem sein Verstand doch nichts vorzuwerfen hatte; er sagte sich, daß seine angeborene Abneigung gegen Entsagungstaumel, Leidenswollust und alle derartige Unnatur der Grund sei. Das magere, bleiche Gesicht des Kranken mit den schwärmerischen dunklen Augen hatte wohl selbst etwas Verklärtes und war nicht unbedeutend; beobachtete man ihn aber näher, so fielen einem die häßlich gespreizten Hände und ein seltsam scheuer, geduckter Gang auf, vor allem aber, daß er die Augen zuweilen zusammenkniff, als wollte er schnell etwas Böses oder Häßliches darin verstecken, was dann doch, wider seinen Willen, daraus hervorstäche. Dieser unglückliche Mensch litt unter der verhängnisvollen Sucht, sich hübsche Gegenstände, besonders glänzende, wie Schmuck, Juwelen oder schön gearbeitete Kleinodien, anzueignen, zumal wenn eine außerordentliche Geschicklichkeit dazu gehörte, es unbemerkt zustande zu bringen. Sie überfiel ihn plötzlich, unvermutet, nachdem sie sich vielleicht jahrelang nicht geregt hatte, mit gewaltsamer Heftigkeit, etwa wie ein Krampf, der ihn entkräftet, schaudernd und verzweifelt zurückließ. Die fürchterliche Eigenschaft, die den wenigsten bekannt war, war die Ursache, daß Isidor in ängstlicher Zurückgezogenheit lebte und sich nur im Kreise der vertrauten Freunde zeigte; jedes Fremden Annäherung erschreckte ihn, während er doch andererseits einen guten Eindruck zu machen wünschte und alles aufbot, um seine innere Angst und Unsicherheit nicht merken zu lassen.

In dieser Gesellschaft traf Michael häufig Arabell, deren Teilnahme am politischen Treiben sie ihm nicht hatte verleiden können. Sie hatte eine überraschende Kenntnis in der Literatur der Partei und konnte Michael, wenn er sie anzugreifen suchte, schnell im Denken und gewandt in der Rede wie sie war, wohl die Spitze bieten. »Sie sprechen mit mir oft wie mit einem Kinde«, sagte sie, »und doch gehören gerade Sie zu den kindlichen Menschen, die nur das Nächste und Einzelne, das der Zufall oder das Schicksal gerade vor Sie hinwirft, ergreifen und auch damit viel mehr hantieren als es betrachten. Sie sehen nicht, wie unästhetisch und unsittlich unsere Gesellschaftsordnung ist, wo das Plumpe und Rohe auf das Zarte und Schwache drückt, anstatt es zu tragen, wo nicht ein hoher Gedanke einem sich bildenden Ganzen vorschwebt, sondern wo die Übermacht des Geldes blindlings alle Kräfte an sich zieht, bindet und lahmlegt.« Was sich dagegen sagen ließe, hätte der Freiherr ihr schon gesagt, und da er sie nicht besser besiegt hätte, könne es niemand; zwar habe er recht, da er in höheren Regionen wirke, aber nur für sich, nicht für andere. Für die anderen Menschen sei Begeisterung notwendig, und die habe sie nur unter ihren radikalen Freunden angetroffen. Die Menschen, unter denen sie vorher gelebt hätte, hätten ohne Sang und Klang gelebt und von Gott und Unsterblichkeit mit demselben trägen Gleichmut gesprochen wie von Suppe und Rindfleisch. »Jedes Heraustreten aus dem Trott ihrer Gefühlsweise«, erzählte sie, »erschien ihnen als lächerlich und unpassend, und ich, deren Seele immer auf den Zehenspitzen steht, bereit, in die Luft zu wirbeln, galt ihnen bald als Närrin, bald als Gezierte, die sich mit Begeisterung spreizen will. Zum ersten Male fühlte ich mich nicht als Ausgeartete und Überspannte betrachtet, als ich in diesen Kreis kam, wo jeder Ziele in den Lüften hat, wo keiner sich an der breitspurigen Landstraße festbannt, sondern alle jeden Augenblick bereit sind, einen großen Sprung über Abgründe zu tun, vielleicht einen Sturz hinunter.«

Michael fragte: »Ist es Ihnen denn ganz einerlei, wofür man sich begeistert?« Nach kurzem Zögern erwiderte Arabell: »Ja, wenn es echte Begeisterung ist, eine Selbsterhöhung des Geistes zu reinen Zielen. Doch glaube ich nicht, daß es höhere Ideale gibt, als die der Freiheit, des Menschenwohles, der Bildung, der Wahrheit in allen Verhältnissen, die von jeher die einzigen waren, welche die Menschheit wirklich vorwärts brachten.«

»Vorwärts brächte die Menschen nur, wer ihre Herzen groß und gut machte«, sagte Michael.

Er fühlte sich wohler in einem anderen Kreise, in den er auch Arabell hineinzuziehen wünschte; dort waren ihm die liebsten ein junger Mann namens Robert Hertzen und einige Mädchen, die studierten. Michael nannte Robert nicht anders als Sardanapal, womit er dessen leidenschaftliches, überschwengliches Verhältnis zum Leben bezeichnen wollte. Das Leben war für ihn ein allerschönstes Weib, vor dem er wie ein Verliebter kniete, mit seliger Ungeduld ein beglückendes Zeichen in ihren Augen erwartend, mit williger Treue jeder Laune sich anschmiegend. Keine Regung ihrer Mienen entgeht ihm, kein Haar auf ihrem Haupte, das ihm nicht unvergleichlich reizend dünkte; die Erde, die sie berührt, ist ihm heilig, und in den Schmerz, den sie ihm zufügt, hüllt er sich mit Stolz und Entzücken. Allerdings war er von jeher Günstling gewesen und seine Ergebenheit nie auf eine Probe gestellt worden. Mit einem schön gebauten Körper von ungewöhnlicher Größe, warmen blauen Augen und flatterndem schwarzen Haar gefiel er, wo er sich zeigte. Er machte hübsche Gedichte und trug sie mit Begleitung der Mandoline auf eine eigentümliche Art vor; ein getragenes, einförmig betontes Deklamieren, in das zuweilen ein paar breite Akkorde griffen, wirkte besonders des Abends im Freien seltsam erschütternd. Seine Eltern waren reich und wollten ihm keinen Beruf aufdrängen, da er zu keinem besondere Neigung hatte; er war fein gebildet, namentlich in allem, was Literatur und Kunst betraf, und hielt sich jetzt, mit fünfundzwanzig Jahren, mehr zum Vergnügen als des Unterrichts wegen an der Universität auf. So viel Freiheit wurde seiner liebenswürdigen und bescheidenen Natur nicht schädlich, die vor dem Häßlichen zurückscheute und die Dinge überhaupt gern ein Stückchen von sich entfernt hielt. Man nannte ihn um so lieber Sardanapal, als er in Wirklichkeit keiner gewesen wäre. Unter Männern fand er selten, was ihm zusagte, doch gab es kaum ein leidlich hübsches Mädchen, in das er nicht verliebt gewesen wäre mit einem schönen, spielenden Feuer, das ihn und sie vorteilhaft beleuchtete, ohne zu brennen. Die einzige, die er mit tieferer Empfindung liebte, war Herta Fritze, eine von den studierenden Mädchen, die auch Michael vorzüglich gut gefiel. Er liebte sie nicht wegen ihres goldenen Gelockes, ihrer freien braunen Augen, ihres glockenreinen Kinderlachens; denn im ganzen gab es doch viele, die mehr Schönheit und Liebreiz hatten als sie. Aber wenn er sich in Reden von schwelgerischer Pracht ergangen hatte und sie mit dem lieblichen Mund ein wenig lächelte und ihn Bombastus nannte, in einem von verstohlenem Gelächter leise girrenden Tone, in dem doch auch schüchterne Zärtlichkeit lag, wurde ihm zumute wie einem Kinde, das die Mutter im Arm wiegt, und zugleich hätte er sie an sich reißen und die roten Schelmenlippen küssen mögen. Er hatte aber nie den Mut, dergleichen zu äußern, denn es war bekannt, daß sie alle auslachte, die ihr den Hof machten, und zwar um so mehr, je reichere und köstlichere Worte sie dazu aufwendeten. Dabei war sie von großer Gutherzigkeit, und die Betroffenen waren ihr niemals auf die Dauer böse, sondern ließen sich zu brauchbaren Gefährten umwandeln. Die Mädchen liebten ihre frische Kühle und achteten ihre Tüchtigkeit und Arbeitskraft; zuweilen lag eine zarte Traurigkeit über ihr und dämpfte das reizende Gelächter, das sonst jedes Zusammensein beflügelte.

Die ihr am nächsten stand, war Veronika v. Runse, groß, schlank und gerade, kühn in den Bewegungen wie in ihren Meinungen, aber niemals angeborene und anerzogene Feinheit verleugnend. Sie war gern liebenswürdig und lustig, wo es aber galt, Überzeugungen auszusprechen oder zu bekämpfen, war sie eine Heldin, die den Spott der angesehensten Person und das Lächeln der Gesellschaft nicht scheute, sondern das Verpönte auch da vertrat, wo sie gern beliebt gewesen wäre. Das blieb sie freilich in den meisten Fällen doch, denn sie gehörte zu denjenigen Frauen, die alles sagen dürfen, nicht weil sie schön sind oder man es so genau nicht nimmt, sondern weil sie gut begründete, was sie sagte, und es in anziehender Form und sowohl mit Ruhe wie mit hinreißender Wärme vortrug. Die bestehenden Zustände verachtete sie vielfach und machte es zu ihrem Lebenszweck, Besserungen im Sinne der Menschlichkeit herbeizuführen, weshalb sie Volkswirtschaft und die Rechte studierte. Man dachte merkwürdigerweise nie daran, daß sie sich verlieben und heiraten könnte, obwohl sie augenscheinlich leidenschaftlicher Natur war, sei es, weil sie einen männlichen Geist hatte, der wissenschaftliche Interessen mit Eifer erfaßte, sei es, weil sie nicht schön war und niemals Geheimnisse zu haben schien.

Bei einem großen Frühlingsfeste fand Michael Gelegenheit, Arabell mit diesen Freunden bekannt zu machen. Dieses Fest wurde jährlich in der Weise gefeiert, daß an einem der ersten schönen Apriltage ein Umzug von verkleideten Männern und Frauen stattfand, wobei das allergrößte Gepränge entfaltet wurde. Nachdem sich der Zug durch viele Straßen der Stadt bewegt hatte, löste er sich auf einem freien Platz auf, wo sich dem Blick der See und die Berge auftaten; dort wurde nach altem Brauche ein Holzstoß mit einer aus Werg und Lumpen gefertigten Puppe an der Spitze, die den Winter vorstellte, verbrannt. Der Umzug stellte in diesem Jahre den Triumph der Schönheit vor und hatte zum Mittelpunkt die Frau Venus, wobei weniger an die antike Göttin als an die Zauberin im Hörselberge gedacht war, weil das für ein altgermanisches Volksfest angemessen erschien. In ihrem Gefolge erschienen außer den Nymphen und Bacchanten ihres unterirdischen Reiches allerlei berühmte mittelalterliche Liebeshelden: Tristan und Isolde, Kriemhild, Brunhild, Lanzelot, Abälard und Heloise. Weiterhin kamen durch Schönheit oder Liebesflammen hervorragende Männer und Frauen jedes Zeitraumes, wie es jedem eingefallen war und passend dünkte; auch gab es eine Gruppe von Kobolden, Zwergen, Hexen und komischen Fratzen, die eben durch ihre groteske Häßlichkeit den Triumph der Schönheit zu vollenden dienen sollten.

Robert Hertzen hatte die Rolle des Tannhäuser übernommen und sich eine kostbare Kleidung nach eigenem Entwurf dazu anfertigen lassen. Er sah in dem farbenreichen Gewand mit der Mandoline im Arm und dem Kranz im flatternden Haar recht wie ein der Liebe nachirrender Ritter aus, und die dem Umzug zuschauenden Freunde begrüßten ihn jedesmal, wenn sie seiner ansichtig wurden, durch Zuruf und Händewinken. Auf dem Platze trafen sie nach Verabredung zusammen, um zuzusehen, wie der Scheiterhaufen angezündet wurde. Die Sonne war noch nicht untergegangen, und das Feuer loderte in hellen Flammen gegen die lichte Bläue des Himmels. In dem Augenblick, als die Puppe Feuer fing, erhob sich das Geläut von allen Türmen der Stadt und rollte feierlich über die schimmernden Dächer und den funkelnden See. Die Menge von Menschen auf dem Platz, zum großen Teil phantastisch prunkvoll gekleidet, war in glücklicher Bewegung, zugleich doch ehrfürchtig gemessen unter der unermeßlichen Ätherkuppel, die so groß und milde über dem Gewimmel schwebte.

Sardanapal faßte Michael am Arm und deklamierte hingerissen: »Frühlingsstadt! Freudenstadt! Altar der großen Heidengötter bist du! Deine Lüfte sind warm von der Asche der bekränzten Opfer. Sklaven müssen verröcheln und deine Erde durchbluten, Glückliche trinken deine Trauben und weihen ihr Erstling und Neige. Heute sind wir sterbende Sklaven, morgen sind wir Herren des Glücks! Von den Tagen, wo schweigsame Pfahlbauern das Ufer besiedelten, bis heute flammt ein ewiges Freudenfeuermeer von diesem Altar zu den Bergen der Götter. Wir sind alle Funken der Glut und steigen selig vergehend in die zitternden Lüfte!«

Veronika sagte: »Ich höre etwas von Heidentum und den Pechfackeln des Nero, was von den umstehenden Christen als Aufwiegelei betrachtet werden könnte. Deshalb rate ich, daß die Ansprache an einem menschenleeren Orte vollendet wird.« Herta schlug vor, sich oben am Waldrande zu lagern, und wenn es dunkel würde, ein Feuer anzuzünden, wie solche in dieser Nacht zahlreich auf den Höhen zu brennen pflegten.

Sie kauften zusammen Holz, Reisig und Lebensmittel zum Abendessen ein und stiegen dann die Anhöhe bis zum Waldrande hinan; unterwegs bedauerte Robert, daß er nicht Priester der Schönheitsgöttin sei und das Recht hätte, alle die Schönheit lästernden Mißgestalten, denen sie begegneten, mit dem Beile zu opfern. »Aber er selbst«, sagte Veronika lachend, »lästert sie am meisten, da er in jede Larve verliebt ist, die auf einen Mädchennamen antwortet.« »Jedes Mädchen ist schön!« rief Robert begeistert. »Was ist überhaupt Schönheit? Ich wasche meine Hände in Unschuld.« »Schönheit ist vollkommenes Leben«, sagte Michael, und Robert entgegnete: »Was ist Leben? Gott sei Dank fühle ich wenigstens, daß ich schön bin und lebe.«

Während sie im Begriff waren, Holz aufzuhäufen, kamen Boris, Isidor und Arabell nicht weit von ihnen aus dem Walde hervor, und es ergab sich von selbst, daß Michael sie seiner Gesellschaft vorstellte, obwohl er voraussah, daß namentlich die beiden Männer nicht gut zu den übrigen passen würden. Sie waren unglücklicherweise durch eben erhaltene Nachrichten, die Gefangennahme eines befreundeten Gesinnungsgenossen in Rußland betreffend, außergewöhnlich trübe gestimmt und hätten sich dem fröhlichen Kreise entzogen, wenn sie sofort die richtige Wendung gefunden hätten und wenn es Boris über sich vermocht hätte, Arabell zu verlassen. Michael hatte wenigstens die Genugtuung, Sardanapals Augen sogleich in staunender Begeisterung für Arabells Lieblichkeit aufgehen zu sehen, und auch die Mädchen schienen sich gegenseitig zu gefallen. Diese packten nun Brot, Fleisch, Eier, Früchte und Wein aus, da es noch nicht dunkel genug zum Anzünden des Feuers war. Robert erfreute sich an dem Anblick der Vorräte, die sie lockend und nach Möglichkeit den Anschein des Überflusses erweckend aufgehäuft hatten; denn er liebte mit allen Sinnen zugleich zu genießen und suchte dem kleinsten Ergebnis, nicht ohne eine gewisse kindliche Pedanterie, etwas orientalisch Strotzendes abzugewinnen.

Während des Essens, an dem weder Boris noch Isidor teilzunehmen sich überreden ließen, wurde von verschiedenen Einzelheiten des Festes gesprochen, und es zeigte sich, daß Arabell und ihre beiden Begleiter nichts davon gesehen hatten; sie waren, wie sie sagten, eigens über Land gegangen, um dem Anblick auszuweichen. »Ich bin nicht unzugänglich für etwas Schönes«, sagte Boris; »aber was kann Ihnen an diesem Umzuge gefallen? Wenn Sie näher zusehen, finden Sie unter den Verkleideten kaum eine einzige wahrhaft schöne Erscheinung, denn die guten Bürgersleute, die das Recht und das Geld haben, sich zu beteiligen, beziehen ihre Gesichter weder aus den Händen der Natur noch aus denen des verfeinernden Geistes, sondern aus der großen Massenfabrik, wo die billige Dutzendware geliefert wird. Diese Leute stecken in Kleidern, die sie aus Büchern haben zusammenstellen lassen und die ihnen so ähnlich am Leibe schlottern wie den afrikanischen Schwarzen Gehrock und Hose. Sähen Sie sie aber erst jetzt, wo sie sich rot und blau getrunken haben, und hörten Sie sie um Mitternacht sprechen, wo sie lallen und stammeln, würden Sie ihnen selbst zureden, die anspruchsvollen Trachten abzulegen und einen gemeinen Bürgerkittel anzuziehen, oder noch besser, die Nachtmütze übers Gesicht zu ziehen und sich zu Bette zu legen.«

Robert machte ein trauriges Gesicht und sagte kleinlaut: »Ich glaubte doch, hübsch auszusehen und meinem Kleide keine Schande zu machen.« Die anderen lachten und suchten ihn durch übertriebenes Rühmen zu trösten, und auch Boris, der gutmütig war und dem es an Humor nicht ganz fehlte, stimmte ein und fügte hinzu: »Ich verspreche Ihnen, mir künftig jeden Aufzug anzusehen, an dem lauter Leute Ihresgleichen teilnehmen.«

»Was mich betrifft«, sagte Isidor lächelnd, »so halte ich mich für häßlich und bin schon deshalb der Schönheit aus dem Wege gegangen. Übrigens aber ist meine Meinung, daß ein armes Kind, dem die Sonne die mageren Wangen ein wenig gerötet hat, und das mit nackten Füßen läuft, bis es ein erstes grünes Blatt findet und das ans Herz drückt, den wiederkehrenden Frühling schöner feiert als erkünstelte Trinkfeste von Leuten, die den Sinn derselben nicht einmal fassen können.«

Sardanapal sprang in großer Erregung auf und sagte: »Das halte ich für ein verhängnisvolles Mißverständnis. Ich verkenne die nach innen aufblühende Schönheit der Dürftigkeit nicht, aber sie tastet die Schönheit des äußeren Überflusses, den Prunk und die Pracht als Symbol des überschwenglichen Innern nicht an. Sehen Sie die erhabene Verschwendung der Natur, die jeden Frühling Millionen und Millionen Blumen von derselben Art schafft, damit sie eine Stunde blühen und dann von einer Kuh gefressen oder als Unkraut ausgejätet werden, ja die nie ein menschliches Auge sieht. Der einzelne kann keine Dome bauen und keine Kreuzzüge machen, um die Gottheit zu feiern, und wir wollen auch, außer diesen dauernden Denkmälern, Verschwendungen des Augenblickes, die törichten Opfer der unberechnenden Liebe. Anstatt mit ihrem Gelde Gänse zu mästen und Äcker zu düngen, sollen sie sich zusammentun und Garben von unschätzbaren Edelsteinen einen Augenblick lang gen Himmel aufsteigen und dann im Meere untergehen lassen. Das ist den Göttern wohlgefällige Verschwendung und bezeichnet ein inbrünstiges Herz.«

»Bombastus!« lachte Herta und klatschte in die Hände. »Ich werde mir erlauben, nach Ablauf des Feuerwerkes ein wenig zu fischen«, sagte Veronika, und Boris fügte trocken hinzu: »Nach dem heutigen Tage haben sich wohl nur wenige infolge göttlicher Verschwendung plötzlich verarmt gefunden.«

»Könnte es schöne Feste geben«, sagte Isidor, »so hätten sie eine Berechtigung. Wer aber, der einem Feste von Anfang bis Ende beiwohnt, es mag das edelste und herrlichste sein, empfindet nicht zuletzt einen Überdruß, eine Wehmut, eine Lust nach Tränen? Das ist, weil in der gewaltsamen Anordnung zur Freude etwas Unrechtmäßiges und ein törichter Wahn liegt, es könnte Betäubung uns unserer Bestimmung, die Leiden ist, entziehen. Glück und Freude sollen wir uns von Gott zuteilen lassen, nie suchen oder gar erzwingen wollen, eher dürfen wir noch Schmerzen willkürlich auf uns ziehen, obwohl die verhängten stets die seligeren sein werden.«

»Ach«, rief Michael ungeduldig, »Sie haben das Leben nie gesehen! Wer die Freude nicht will, ist ihrer nicht wert. Schmerzen können so schön wie Freuden werden, aber doch ist es natürlich und gut, die Schmerzen zu fliehen und das Glück zu suchen. Kommen die Schmerzen trotz alledem, so sollen wir ihnen nicht stillhalten, sondern sie überwinden; denn nicht Leiden ist unsere Bestimmung, sondern Kämpfen, und zwar um eine Krone.«

Veronika sprach lebhafte Billigung aus, und Robert sagte zärtlich: »Warum sprichst du so wenig, Michael? Es scheint mir immer, als sprächen die anderen nur, was wir denken, lesen und träumen, du dagegen sprächest, was du lebst.«

Michael sagte langsam: »Vielleicht spreche ich deswegen wenig, weil ich wirklich nichts sagen kann, als was ich gelebt habe. Ich weiß, daß im Leiden eine Anziehung wohnt, die berauscht und verführt, sich hinzugeben, und daß es Mut und Kraft bedarf, um glücklich zu sein. Daß nicht von dem Glück des kalten Blutsaugers die Rede ist, der seine Fische mit Menschenfleisch füttert, damit sie besser schmecken, das versteht sich von selbst. Aber wer weiß und fühlt, was andere leiden, der muß ringen, um frei zu bleiben, und darf stolz auf sein Glück sein. Belügt euch doch nicht! Die hier keines finden, suchen das Glück im Himmel, wo sie es dann ganz unbehelligt genießen können. Glück will doch jeder, aber sie möchten es bequem haben und noch einen Heiligenschein darauf zum Lohne. Ich weiß von keinem, als das man sich und andern abkämpft.«

Isidor hatte aufmerksam und lächelnd zugehört und antwortete freundlich: »Sie sind jung und sehr gesund, das erklärt alles, was Sie sagen. Ich glaube, Sie würden sich sehr einseitig entwickeln, wenn Sie bei dieser Anschauung verblieben; aber das ist auch gar nicht zu befürchten. Ihre Erfahrungen werden Sie mit der Zeit besser, als meine Worte es könnten, belehren, daß sie nur brauchbar ist, solange man Erfolg hat.«

Michael war zumute, als wäre ein feuchtes Reptil an ihn herangekrochen und hätte seinen Geifer auf ihn gespritzt, und ein kaum bezähmbarer Widerwille gegen den kranken Menschen erfaßte ihn. Doch suchte er sich zu beherrschen und sagte ruhig: »Jeder Mensch ist ein eigenes Gestirn, und einige sind der Sonne näher, andere ferner, einigen mag im Lichte wohl sein, anderen im Dunkel. Es ist meiner Ansicht nach ein verkehrtes Bestreben, ein Gesetz für alle gelten lassen zu wollen. Der eine sieht die Blume nicht, die am Abhang blüht, der zweite begehrt sie nicht, der dritte überwindet die Schauer des Schwindels und pflückt sie. Es ist logisch, daß er das nächstemal noch höher steigen und weniger Gefahr laufen wird, zu fallen, unlogisch, daß etwas mißlingen müßte, weil es schon oft gelang. Daß ich den Mut zum Glück habe, kann ebensogut beweisen, daß ich ihm verwandt bin, und daß es mich stets näher anzieht, wie daß ein schadenfroher Gott mich dem Unglück überliefert.«

»Wenn ich das Glück wäre, sollten Sie recht behalten«, sagte Veronika und sah mit Wohlgefallen in sein schönes, bewegtes Gesicht. Was er eben gesagt hatte, war ihm selbst wie eine Offenbarung, die ihn überraschte und entzückte. Er nahm nicht mehr teil und hörte wie im Traum das Murmeln von Stimmen, da Boris sich darüber ärgerte, daß Isidor seine veraltete Leidenstheorie ausgekramt hatte, und ihm vorrückte, wie man die Menschen damit nur grausam oder träge machen könnte, und Sardanapal, während er mit den Mädchen das Feuer anzündete, auseinandersetzte, wie er eigentlich den Tannhäuser nicht hätte vorstellen dürfen, da er niemals aus dem Hörselberge fortgegangen sein würde. Als das Holz brannte, trug er auf ihre Bitte eines von den Liedern vor, die er bei dieser Gelegenheit zum Ruhme der Frau Venus gedichtet hatte. Es lautete:

Mit deinen Händen, die von Schönheit troffen,
Tauftest du mich in deinem heiligen Namen;
Dir steht der Abgrund meiner Seele offen:
Sä' du hinein der Liebe schweren Samen.
Und wenn der Schicksalsblume dunkle Röte
Dereinst sich hebt aus den entbrannten Tiefen,
Rühre dies trunkne Haupt du an und töte
Mit deinen Händen, die von Schönheit triefen.

Er stand an den kahlen Stamm einer noch unbelaubten Buche gelehnt, und die wachsende Flamme warf huschende Lichter auf sein blasses Gesicht voll ernster Schwärmerei. Als das Lied aus war, griff er noch verlorene Akkorde auf der Mandoline, und alle hörten still zu oder flüsterten. Michael hatte sich ganz in das Moos zurückgelegt und war still wie ein Schläfer, während stürmische Bewegung in seinem Innern war wie von bäumenden Wellen, die vor dem Winde jagen. Er dachte an sich und an Rose: Du hast Hände, die von Schönheit triefen! Du hast Sonnen des Glückes in den Augen! Dich will ich, dich will ich! Blut wird aus meinen Wunden fließen, aber mein ehernes Herz wird siegen und läuten!

Inzwischen hatte der ganze Holzstoß Feuer gefangen, und die Gruppe der Lagernden war rötlich beleuchtet; auch auf den benachbarten Hügeln und Bergen wurden jetzt Flammen sichtbar, und von unten her wie von den Höhen tönten langgezogene Jubelrufe. Dann und wann stiegen mit zischendem Tone Raketen auf und erloschen sogleich wieder in der Dunkelheit; denn die schmale Mondsichel war hinter Gewölk verborgen und gab nur vorübergehend ein schwaches Licht. Als der Holzstoß fast niedergebrannt war, standen alle auf, faßten sich bei den Händen und tanzten mit langsamen, schleppenden Schritten einen Reigen um das verglimmende Feuer, wozu sie im Rhythmus der Bewegung riefen: »Frühling! Frühling! Frühling!« was sowohl schwermütig und dunkel wie jubelnd klang. Arabells und Hertas helle Stimmen schwebten über den tieferen der anderen wie kleine Vogelseelen voll Wohllaut und Sehnsucht, die auffliegen und die ein unsichtbares Fädchen immer wieder in die heimische Gefangenschaft zurückzieht.

*

Es war hohe Zeit für Michael, der bisher nur die vorbereitenden Wissenschaften getrieben hatte, zur eigentlichen Medizin überzugehen, wenn er nach Verlauf der ausbedungenen Zeit Arzt sein wollte; aber zum Teil durch den Einfluß des Freiherrn, zum Teil infolge der Entwicklung seines geistigen Lebens konnte er den Weg nicht so geradeaus und zweifellos verfolgen, wie er sich ihn gesteckt hatte.

Anfangs war er mit Genuß in die Fülle neuer Erkenntnis, die sich ihm öffnete, hineingetaucht; jede Erscheinung, die sich ihm erschloß, musterte er mit gleicher Freude, das Einnehmen von Kenntnissen hatte ihm eine Befriedigung verschafft in der Art, wie Essen und Trinken den Körper befriedigt, das Arbeiten und Denken hatte seinen Geist gekräftigt, wie Turnen und Schwimmen den Körper stählt. Aber allmählich hatte sich etwas ganz anderes in ihm ausgebildet; er bemerkte Zusammenhänge und Übergänge, es war, als ob sich aus den losgerissenen Stücken Figuren bilden wollten, die zueinander paßten und die vielleicht ein weltengroßes Gemälde herstellen würden. Weder die Form noch den Sinn desselben konnte er schon ganz erfassen, da er kaum an einer Stelle der richtigen Zusammensetzung sich ganz sicher fühlte; doch wenn ihn eine blitzende Ahnung des Ganzen durchzuckte, blieb stets hohe Freude und unendliche Ungeduld in ihm zurück. Er sagte sich dann, daß er das Gesicht zunächst wieder vergessen und emsig über das Einzelne und Nächste gebückt fortarbeiten müsse; aber er behielt Zuversicht und Schwung genug, um das Unbedeutendste mit Neigung und Eifer zu tun. Hier plötzlich abzubrechen, schien ihm unmöglich und auch unrecht, ja für wahnsinnig hätte er sich gehalten, wenn er, nur um einen anständigen Beruf zu haben, die mit ernster Mühe gesammelten Mittel wegwerfen wollte, die ihm einen Einblick in das Wesentliche, in das Wesen der Erde, des Lebens verschaffen konnten.

Endgültig aufgegeben hatte er seine Absicht, Arzt zu werden, noch nicht, denn alles, was der Freiherr sagte, konnte ihn nicht von der Überzeugung abbringen, daß er geeignet sei, ein tüchtiger Arzt zu werden, und daß er Befriedigung darin finden würde. Nur wollte er mit dem, was er begonnen hatte, erst zu einem gewissen Ziele gekommen sein, gewisse Ansichten, die er sich gebildet hatte, erhärten können, abschließen, ehe er etwas Neues eröffnete. Es kam dazu, daß außer dem Freiherrn auch andere Vertreter der Naturwissenschaften auf ihn aufmerksam wurden und ihn als einen Mann behandelten, von dem Bedeutendes zu erwarten sei. Er hatte es an sich, es lag als etwas Unbeschreibliches in seinem Wesen und in seiner Erscheinung, daß man ihm immer Großes zutraute, wo er es wollte. Auch hatte er umfangreiche Kenntnisse, die alle in lebendigem Zusammenhange standen; den unverbrauchten Kräften seines Geistes war die Arbeit ein Labsal gewesen, und da er alles ungefähr gleichzeitig und bei ungefähr gleicher Reife lernte, fiel es nicht auseinander, und nirgends trennten oder lähmten tote Stellen das Getriebe. Der Umgang mit Studierenden der verschiedensten Wissenschaften führte ihm viele Ergebnisse zu, zu denen er selbst nicht hätte gelangen können und die Bücher einem nicht geben. Sollte er dies freie Regen im unendlichen Raume jetzt schon aufgeben? Wenn er im eifrigen Gespräch mit Freunden die Hügel entlangging und auf den See unter sich und auf das in der Ferne glänzende Gebirge blickte, atmete er tief und fühlte sich wie ein Auferstandener, der hoch über der abgestreiften, zerbrochenen Verpuppung, die ihn eine kleine Weile drückte und zwängte, mit goldenen Flügeln rauscht.

Als er seinem Vater das Versprechen gegeben hatte, sich nach fünf Jahren zu Hause niederzulassen, war es ihm Ernst damit gewesen, und lange Zeit hatte er nicht daran gedacht, davon abzuweichen. Wenn er sich jetzt entschloß, es dennoch zu tun, wollte er wenigstens ehrlich sein und die peinlichen Folgen davon sogleich auf sich nehmen. Zunächst freilich stellte er den Seinigen nur brieflich vor, was in ihm vorgegangen war, denn er wollte die ausgiebigen Sommerferien zu selbständigen Arbeiten benützen, wozu ihm im Semester wenig Zeit blieb. Nur die allerletzte Woche, wenn er das fertiggebracht haben würde, was er sich vorgesetzt hatte, sollte Rose gehören.

Das weiße Haus mit den grünen Fensterläden stand inmitten der Wiesen wie im vorigen Jahre, der schmale Holztisch mit den Bänken davor, wo sie ihre Mahlzeiten gegessen hatten, stand unter den Kirschbäumen und Kastanienbäumen, durch die hindurch man im Frühling auf die Felder bis zum Tannenwalde sah. Jetzt war das Gras dunkelgrün und hochgewachsen, daß die Hunde und Katzen wie in einem Walde darin spazierengingen, und die breiten Blätter an den Bäumen ließen nur wenige Sonnenstrahlen hindurch. Der Sämann ging nicht mehr durch die lockeren, rotbraunen Äcker, und der Pflug zog nicht mehr hinauf und hinunter, und hätte er es getan, wäre er hinter den dichten Gebüschen verborgen geblieben. »Es ist nie wieder ganz so, wie es einmal war«, sagte Michael sinnend, als er mit Rose im Garten saß. »Jetzt will es Herbst werden, und damals war es Frühling«, entgegnete Rose. Ihre Stimme klang scheu, und sie suchte seine Gedanken zu erfühlen, indem sie ihn ansah. »Aber wir sind dieselben geblieben«, sagte er, und sie nickte, in Gedanken verloren. »Nein«, sagte sie nach einer Pause, »ich liebe dich viel mehr, viel mehr als damals«, und er sagte: »Ich dich auch.« Es wallte eine Macht von Sehnsucht, Schmerz und Liebe in ihnen auf, vor der sie verstummten und die Augen schlossen. Wie war es möglich, daß es noch schöner, immer schöner werden konnte, sagten sie beide. Manchmal war ihnen zumute, als wären sie damals Kinder gewesen, frohe, sorglose, leichtlebende Kinder, und als wäre eine lange, wechselvolle, inhaltschwere Zeit inzwischen vergangen. Hatten sie auch nicht eigentlich umeinander gelitten, so war doch mit der zunehmenden Kraft ihres Wesens auch die Liebe bewußter in ihnen gewachsen. Während sie früher nie an die Zukunft und was aus ihnen werden sollte, dachten, umhüllte sie jetzt, was sie auch taten und sprachen, wie eine feurige Dunstwolke die Angst vor der Trennung. Einmal saßen sie auf einer Wiese, die im Frühling goldgelb gewesen war und wo jetzt schon schlanke, bleiche Herbstzeitlosen blühten zwischen verstreuten Birken; da es Mittag war und die Sonne darauf schien, war es warm wie im Sommer. Michael mußte plötzlich daran denken, daß er im vergangenen Jahre zu Hause mit Mario im Grase gesessen hatte, und wie es wäre, wenn er jetzt ebenso zwischen ihnen säße, das scharlachrote Hütchen, das er trug, auf den schwarzen Locken, die dicken kleinen Hände voll Steine und die spielenden Augen voll träumerischer Glückseligkeit. Es drängte ihn, Rose zu sagen, woran er dachte; aber er hatte sich nie getraut, mit ihr von Mario zu sprechen, und sah sie auch jetzt nur an, in der Meinung, sie müßte es ihm aus den Augen ablesen. Er versuchte an etwas anderes zu denken, doch wider seinen Willen kam immer wieder das süße Bildchen vor seine Seele, zugleich mit dem Verlangen, der Kleine möchte leibhaftig zwischen ihm und Rose sitzen, so daß er, da er nicht gewohnt war, ihr etwas zu verbergen, zuletzt nicht anders konnte, als es ihr zu sagen. Sie sah ihn erst mit ihren großen Augen an und wendete sich dann ab; in ihr weiches Gesicht zog sich eine herbe Falte mit dem Ausdruck unerträglichen Leidens. »Wärest du nicht auch froh, wenn er dein und mein wäre und uns liebte?« fragte Michael bittend. »Aber er ist nicht unser«, sagte Rose, ohne ihn anzusehen. Er hatte vorher nie geglaubt, daß sie so aussehen, noch daß sie überhaupt solche Bitterkeit empfinden könnte, und trotz der Härte, die sie ihm zeigte, erschien sie ihm nur liebenswerter und hinreißender als zuvor. Er legte die Arme um ihren Leib und sagte: »Geliebte, dich liebe ich über alles, dich lasse ich niemals, wenn du mich nicht läßt, und wenn du mich läßt – bin ich verloren. Es kann ein Tag kommen, an dem die Erde untergeht, aber es kann kein Tag kommen, an dem du nicht mein bist und ich nicht dein bin.« Ihre Augen, die von ungeweinten Tränen schimmerten, leuchteten groß auf; wie in einem Kindergesicht, das plötzlich lacht, eh es noch ganz aufgehört hat zu weinen, war keine Spur von Traurigkeit mehr an ihr wahrzunehmen. »Ja«, sagte sie langsam und entzückt, »nur was man vergißt, verliert man. Könnten wir uns aber vergessen? Und wenn wir es könnten, was läge dann daran?« Dennoch sprach Michael nicht wieder von dem kleinen Mario und suchte die Gedanken an ihn zu verscheuchen, solange er bei Rose war.

Mit ihren Wirten verkehrten sie diesmal weniger, teils weil sie so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, teils weil jene alle Hände voll mit der Ernte zu tun hatten. Häufig wurden oberhalb des Gartens die Wagen voll gelben Kornes sichtbar, und die schwankende Masse rückte schwer und langsam über die Landstraße, gegen den blauen Himmel leuchtend, hin. In den Wald gingen sie gerne und liebten es, auf einem Baumstamme zu sitzen und durch die geraden Tannen das helle Licht des Himmels und der Wiesen blitzen zu sehen; zuweilen merkten sie am dumpfen Zittern der Erde, daß ein Eisenbahnzug vorüberbrauste, und wenn dann das langgezogene Pfeifen der Lokomotive tönte, drückten sie sich dichter aneinander und lächelten. Einmal waren sie so tief in die Waldnacht hineingeraten, daß sie nach keiner Seite hin mehr einen Ausblick hatten. Sie blieben stehen und horchten: wenn sie das Hacken des Spechtes und das Kreischen des Hähers nicht vernahmen, klang das schwarze Sausen der Tannen wie Zaubersprüche. »Wenn wir uns nicht mehr herausfänden, so weit wir auch gingen, und von keinem Auge mehr gesehen würden«, sagte Rose. Er antwortete nicht und schlang die Arme um sie, und so standen sie lange; es schauderte ihn, als er ihre kalte, feuchte Wange an seiner fühlte.

Rose hatte sich schon seit längerer Zeit entschlossen, das Dorf noch vor dem Winter zu verlassen und nicht mehr dauernd dorthin zurückzukehren. Es wurde ihr schwer, von da fortzugehen, wo sie jeden Baum, jedes Tier, jede Scholle liebgewonnen hatte, und wo ihr die stolze Bäuerin mit den beiden kleinen Söhnen, namentlich das schöne ernsthafte Kind so ans Herz gewachsen waren. Sie glaubte aber aus vielen Gründen, daß es für sie und ihre Kunst besser sei, einmal in eine neue Umgebung zu kommen, ganz besonders auch, weil die Verhältnisse im Bauernhause während des letzten Jahres immer gespannter und drückender geworden waren; im Dorfe zu bleiben und eine andere Wohnung zu beziehen, hätte sie aber nicht übers Herz gebracht.

Die älteste Tochter der Frau Gundel, ein festes, von Kraft und Gesundheit strotzendes Mädchen, hatte sich in einen armen Burschen verliebt, wovon ihre Mutter, da sie ihn für untüchtig und leichtsinnig hielt, nichts wissen wollte; der Mann hingegen und die Alte begünstigten das Verhältnis, selbstverständlich nicht aus Mitleid, sondern weil sie hofften, wenn das Mädchen den Burschen schließlich doch heiraten müßte, würde die stolze und strenge Mutter sie verstoßen und ihr ihr Erbteil entziehen. So schlich nun häufig der Bursch wie ein Dieb um das Haus herum, und Rose bemerkte allerlei Heimlichkeiten bei Nacht und bei Tage, die sie sich der Frau Gundel anzuzeigen verpflichtet fühlte, und die ihr schon deshalb widerlich waren, weil die unheilstiftende Alte ihre Hand dabei im Spiele hatte; andererseits hatte sie wiederum das Herz nicht dazu, weil das hübsche, mit Haut und Haaren verliebte Mädchen ihr leid tat, und weil ihr die Mutter doch auch ungerecht und hart erschien. Dazu kam noch etwas: Bei einer Krankheit des lahmen Bübchens verrieten sich die Alte und ihr Sohn, der Bauer, wie erwünscht ihnen der Tod des armen Kindes wäre; ihre Enttäuschung, als er doch wieder aufkam, entging Frau Kunigunde nicht, und es wurden seitdem keine anderen als bitterböse Worte zwischen ihnen gewechselt. Das lauernde Wesen der tückischen Alten hatte für Rose etwas so Unheimliches bekommen, daß sie der Bäuerin zuredete, sie aus dem Haus zu schaffen; diese erklärte ihr aber, dann müsse sie zuvor des Mannes ledig werden, was nun einmal dem Gesetz nach nicht möglich wäre. Auch meinte sie, wenn die Alte ihr auch gern alles erdenkliche Böse antun möchte, so hätte sie doch zuviel Furcht vor ihr, um ihr einen handgreiflichen Schaden zuzufügen, und daß man mit falschen Gebeten und bösen Blicken allein etwas ausrichten und Mensch und Vieh behexen könne, glaube doch niemand mehr. Was ihren Mann anbetraf, so hatte sie zwar eine herzliche Verachtung für ihn, der immer häufiger aufgedunsen, fahl und blöde nach sinnlosem Trinken erschien, doch war die Erinnerung an die einmal gewesene Zuneigung noch nicht völlig verwischt, und er ging so als des jüngsten Kindes Vater mit. Die Gegenwart dieses feinen Wesens, das in seiner kindlichen Hoheit, wenn es sich von ihm tragen oder an der Hand führen ließ, sich mitleidig zu ihm herabzulassen schien, tat ihm augenscheinlich wohl; er war in seiner Nähe gefügiger, ja sein Anblick ernüchterte ihn, wenn er angetrunken war. Es stimmte einen traurig, den verwüsteten, kraftlosen Mann wie einen Hund dem Kinde nachschleichen zu sehen; denn es mußten doch gute Gefühle in ihm sein oder gewesen sein, mit deren Benützung und Ausbildung ein starker Erzieher vielleicht etwas Besseres aus ihm hätte machen können. Frau Gundel, die nun auch mit ihrer Tochter entzweit war, hielt sich mehr und mehr zu Rose; zwar klagte sie nicht, wie sie überhaupt nicht mitteilsam und gesprächig war, aber sowie sie keine Arbeit vorhatte, suchte sie Rose auf und saß oft bis spät in die Nacht bei ihr, wenn sie wegen der Tochter aufpassen wollte. Sie machte keinen Versuch, Rose zurückzuhalten, als diese erklärte, das Haus verlassen zu wollen, doch fühlte Rose den Schmerz, den sie der Frau verursachte, so stark, daß sie in ihrem Entschlusse wieder wankend wurde. Sie hatte gleich nach Michaels Abreise fortgehen wollen und verschob es nun von einem Tage zum anderen, bis es Anfang November wurde.

Kaum war sie fort, so geschah etwas Furchtbares: Die Bäuerin war nach einem benachbarten Ort gefahren, wo Markt war, um Vieh zu kaufen und zu verkaufen, was sie von jeher selbst zu tun gewohnt war, und diese Gelegenheit benützte die Alte, um ihren Sohn aufzuhetzen, daß er den kleinen Krüppel ermorde. Die erwachsene Tochter, der Frau Kunigunde wie gewöhnlich die Überwachung des Hauses anvertraut hatte, wurde durch eine Zusammenkunft mit dem Geliebten entfernt und das lahme Kind, als der kleinere Bruder schlief, durch allerlei Versprechungen und Vorspiegelungen aus dem Bette gelockt und in den Keller geschleppt, wo der Mann, der berauscht war, es mit einem Beile umbrachte. In dem Augenblick aber, als er mit Hilfe der Alten den blutenden Körper verscharren wollte, stand plötzlich sein eigenes Kind im Hemdchen vor ihm und stieß einen fürchterlichen Schrei aus; es war nämlich aus dem Schlafe erwacht, besann sich auf ein Geräusch, das es gestört hatte, blickte sich nach seinem Schlafgesellen um, und da es ihn nicht fand, stand es auf, um ihn zu suchen; als es die Kellertür offen sah und unten einen dumpfen Schall vernahm, stieg es die Treppen hinunter, ohne daß der zarte Schritt seiner bloßen Füße gehört wurde, und stand mit weißem Gesichte als Zeuge der Untat vor den beiden Mördern. Besinnungslos vor Schreck, Angst und Wut, stürzte sich der Mann auf das entsetzte Kind und tötete es durch unzählige Beilschläge, ohne ein anderes Bewußtsein, als daß der Kläger seines Mordes aus der Welt geschafft werden müsse. Doch war er seiner, als es geschehen war, nicht mehr so weit mächtig, daß das Greuliche vor Frau Kunigunde, die eigens früher, als sie angesagt hatte und mitten in der Nacht zurückkehrte, um etwa ihre Tochter mit dem Geliebten zu überraschen, geheimgehalten werden konnte. Die unglückliche Frau vermochte den Anblick der beiden toten Kinder nicht zu überwinden, und ohne an Bestrafung der Verbrecher zu denken, ohne sie nur ein einziges Mal anzusehen, erhängte sie sich, wo das liebe Blut geflossen war. Die Alte, welche durch die Schrecknisse der Nacht keineswegs erschüttert war, wollte den Umstand, daß die Bäuerin in der Dunkelheit, als alles im Dorfe schlief, angekommen und voraussichtlich von niemandem gesehen worden war, benützen, um zunächst wenigstens Zeit zu gewinnen, irgendwelche Ausflüchte zu ersinnen; auch verging der Tag wirklich, ohne daß etwas ruchbar wurde. In der folgenden Nacht indessen behauptete der Mann, der fast den ganzen Tag geschlafen hatte, im Keller etwas Unrichtiges gehört und beim Aufmachen der Türe seine Frau gesehen zu haben, wie sie auf dem Boden kniete und mit ihren aufgelösten Haaren das Blut abwischte. Dieser vermeintliche Anblick entsetzte ihn so, daß er wie ein Rasender ins Dorf stürzte und sich selbst anzeigte, da er viel lieber augenblicklich sterben, als noch einmal in sein Haus zurückkehren wollte.

Das grauenvolle Ereignis wurde nun durch die Zeitungen bekannt, und Rose, die davon hörte, reiste im ersten Schrecken, aus einem unklaren Drange, zu helfen und zu trösten, auch weil sie die Geschichte in ihrem ganzen Umfange nicht glauben wollte, in das Dorf zurück, das sie vor wenigen Tagen erst verlassen hatte. Sie kam um die Mittagszeit an und konnte in den Garten eintreten, fand aber das Haus verschlossen; obwohl es ihr graute, rüttelte sie an der Tür, doch öffnete niemand, noch wurde ein einziger Schritt oder sonst ein Laut im Innern hörbar. Sie wollte Frau Gundel beim Namen rufen, doch kam es ihr nicht über ihre Lippen, denn sie begriff nun, daß es der Name einer Toten war, die nicht mehr antworten konnte. Sie trat zurück, ging um das Haus herum und blickte nach den Fenstern; es war ihr, wenn sie nur wartete, müßten die beiden Kinder dort erscheinen und das feine, schöne Gesicht sie mit feierlichem Lächeln grüßen und ihr das Geheimnis sagen. Nachdem sie lange gewartet hatte und alles still blieb, fing sie an sich zu fürchten und ging fort; nicht weit vom Hause begegnete ihr eine bekannte Frau, die ihr winkte und ihr durch ausführliche Erzählung alles bestätigte, was sie schon wußte. Die Alte und ihr Sohn, sowie die Tochter, von deren Unschuld sich die Behörden überzeugen wollten, waren im Gefängnis, Frau Gundel mit den beiden Kindern schon in einem Grabe auf dem Kirchhof über dem Strom begraben.

Der nächste Zug, den Rose benützen konnte, ging erst spät am Abend; sie irrte lange auf den Wegen umher, wo sie mit Michael gegangen war, doch brach die Dunkelheit früh herein, und sie setzte sich schließlich, müde und elend, auf eine Bank vor dem kleinen Bahnhofsgebäude, um die Zeit ihrer Abfahrt zu erwarten. Schaudernd vor Kälte saß sie auf dem unbequemen Platz und sah zu, wie die kahlen Wälder blauer und schwärzer wurden und schließlich ganz in der Nacht verschwanden. Der traurige Herbstwind jagte um das kleine Haus und führte zuweilen eine Sturzwelle von Blättern vor ihre Füße – o, da ihr grün waret, da ihr grün waret, flüsterte Rose und streckte die Hände nach ihnen aus. Nie würde sie das Dorf, das nun verflucht war, wiedersehen; die gelbe lachende Wiese, auf die sich Birken neigten, die heilige Linde auf dem Platz, wo das grüne Fähnchen wehte, der Wald, in dem die Häher kreischten, war nirgends mehr auf der Erde. Das stille Dorf war aus der Erde aufgetaucht, um ihrer Liebe eine schöne Zuflucht zu geben, und untergegangen, unwiederbringlich dahin mit ihren glücklichen Stunden.

Schnaubend und pfeifend kamen Züge, hielten einen Augenblick an und stöhnten weiter, andere sausten ohne Aufenthalt vorüber. Sie hätte sich auf die Erde werfen und laut in den Wind hinein weinen mögen; aber sie rang mit ihren wehen Gedanken und kämpfte sie endlich hinunter. Wer rückwärts sieht, gibt sich verloren, sagte sie sich; wer lebt und leben will, muß vorwärts sehen. Für alles Schöne, das vergeht, bleibt eine Welt von Schönheit, in die man eingehen kann. Waren es nicht meine Augen, die alles sahen, und mein Herz, das alles fühlte, und behalte ich nicht dieselben Augen und dasselbe Herz in mir? Nur wenn man erblindet und erlahmt, ist Zeit zu klagen, jetzt ist Zeit, sich neues Leben zu schaffen.

Ihre Gedanken gingen auf ihre Arbeit und großen Pläne über, und als der Zug sich mit ihr in Bewegung setzte, warf sie keinen Blick auf das Dorf, das schweigend und einsam unter dem nächtlichen Gewölk und dem traurigen Herbstwind liegenblieb.

*

Verena war des gesellschaftlichen Treibens überdrüssig geworden und versammelte anstatt dessen einmal in jeder Woche Menschen von schöngeistigen Interessen bei sich, um der Bildung in ihrer Vaterstadt einen Mittelpunkt zu geben und sie allmählich zu erhöhen. Es wurde da hauptsächlich über Kunst und Literatur gesprochen, wobei Verena die ausschlaggebende Stimme hatte, obgleich sie selbst niemals weder ein Gedicht aus dem Herzen gemacht, noch eins mit Innigkeit in sich aufgenommen hatte. Doch besaß sie außer ihrem scharfen Verstande, mit dem sie ein Kunstwerk bis aufs äußerste zergliederte, auch eine feine Witterung, die das Echte herausfand. Es trat nun bald eine Reihe junger Männer an den Tag, die früher niemand, auch Verena nicht, beachtet hatte, weil die üblichen geselligen Vergnügungen nur die reichen Kaufleute, ein paar hohe Beamte und dieser oder jener Arzt und Advokat mitmachen konnten, die aber teils dichteten, teils sich für Kunst begeisterten und sich auf ihre Art der rauschenden Geldsippe überlegen hielten. Unter diesen war der bedeutendste ein junger Mann in Verenas Alter, namens Feska, der Sohn eines kleinen Postbeamten, der bereits einige Bände Gedichte veröffentlicht und verkauft hatte. Ihr Inhalt bestand größtenteils in Angriffen voll beißenden Hohnes auf die höheren Gesellschaftskreise, und es mochte diesem Umstande zuzuschreiben sein, daß sie in angenehmer, melodischer Einkleidung gefielen und gern gelesen wurden. Es fehlte dazwischen nicht an sentimentalen und verliebten Stimmungen, die bei der vorherrschenden Wildheit und Bitterkeit des Tones um so gefühlvoller wirkten; aber gerade die gute Gesellschaft, wenn sie sich auch sonst nicht viel um Literatur bekümmerte, vergnügte sich mit Vorliebe an dem ingrimmigen Witz der Spottgedichte, die sich auf den Schauplatz bezogen, wo sie sich zu Hause fühlten. Verena vollends fand, daß sie ganz aus ihrem Sinne heraus geschrieben wären, und behandelte den Verfasser wie einen Gesinnungsgenossen, ohne daß es ihr oder ihm jemals eingefallen wäre, daß sie so gut wie die anderen Frauen ihres Standes zu den Verhöhnten gehörte. Sie befleißigte sich übrigens, ihren Abenden einen einfachen Anstrich zu geben; denn sie fühlte, daß der Luxus, der sonst gerade bei Gesellschaften gewissermaßen explodierte, hier nicht am Platze gewesen wäre, sowohl weil die Mehrzahl der Gäste aus weit einfacheren Verhältnissen stammte, als weil die geistigen Genüsse nicht durch die greifbare Pracht in Schatten gestellt werden durften. Trotzdem blieb, da der Stil des Hauses und der Lebensweise doch nicht mit einem Male umgewandelt werden konnte, und da Verena gerade in ihren Gemächern, überhaupt um ihre Person herum auch nicht auf ein paar Stunden die elegante Reinlichkeit vermissen mochte, an die sie gewöhnt war, noch Überfluß genug, der Feska im Anfang zu allerlei Spott und Witz veranlaßte. Die andächtige Scheu vieler Menschen von einfacher Herkunft gegenüber dem Reichtum hatte er nicht, noch auch das ungeschickte Benehmen derer, die sich zwischen den feinen und unbekannten Möbeln und Geräten nicht zu bewegen und nicht damit zu hantieren wissen. Hatte er auch keine edlen und anmutigen Formen von Natur, so trat er doch mit Selbstbewußtsein auf und kokettierte sogar mit seiner Unkenntnis von Gegenständen und Gebräuchen der vornehmen Welt, die er geflissentlich übertrieb. Auch erlaubte er sich manchen Spott über Verenas auserlesene Kleiderpracht, womit er sie aber niemals in Verlegenheit setzte; vielmehr ging sie freimütig darauf ein, als wäre sie auch hierin nur das Opfer törichten Zwanges, und als wüßte keine wie sie den Reiz eines schlichten Kleidchens, mit dem man durch dick und dünn und über Stock und Stein springen kann, zu schätzen. Wenn sie so sprach, als wäre sie eine Gefangene im Hause eines üppigen Märchen-Sultans und müsse, wenn sie nicht das Leben lassen wollte, die Kostbarkeiten an sich hängen, mit denen er ihr das Elend der Gefangenschaft zu versüßen suchte, so zweifelte er nicht, daß es so sei, und ihre schönen braunen Augen blickten traurig und sehnsüchtig wie hinter dem Gitterwerk eines Kerkers hervor.

Seit er Verena kannte, dichtete Feska auch Lieder der Sehnsucht in einer ihm vorher ungewöhnlichen Art, verschwommene Töne, abgebrochene Klänge, die durch keine poetische Form gebunden waren. Sie waren eigentlich ohne Inhalt, und wenn sie einen hatten, erweckten sie Gefühle, die nichts mit ihm zu tun hatten; sie schilderten etwa ein Kleid, das Verena getragen hatte, und machten sterbenstraurig. Es war die erste Poesie, die Verena erlebte, die sie nicht las, um sich zu bilden oder darüber zu sprechen oder die Zeit hinzubringen, sondern weil es ihr war, als ob sie sich daran berauschen könnte. Sie konnte sich dann einbilden, sie liebte Feska, den häßlichen Menschen mit dem struppigen Haar, der sie oft durch seine Rücksichtslosigkeit herausforderte. In seinem großen Munde mit den häßlichen, schiefen Zähnen lag abstoßende Sinnlichkeit, und gerade der Mund beherrschte sein Gesicht; die Nase war gewöhnlich und ebenso die Augen, die immerhin ein heftiges Begehren wirkungsvoll ausdrücken konnten. Die seltsam umhüllten, verschwimmenden Gedichte zu lesen und sich dabei sein häßliches Gesicht samt seinem rücksichtslosen Wesen vorzustellen, zu fühlen, wie seine Augen sich verlangend auf sie richteten und er zugleich doch ihre Unerreichbarkeit empfände, hatte etwas Berückendes für sie. In Wirklichkeit liebte sie ihn nicht und verkehrte auch meistens in einem netten, herzlich freundschaftlichen Tone mit ihm; aber es wäre ihr unerträglich gewesen, wenn er eine andere geliebt hätte, und sie suchte ihn deshalb an sich zu fesseln. Da sie für sich alles erlaubt hielt und tatsächlich nichts Übles geschah, empfing sie ihn nicht nur in Gesellschaft und im kleinsten Kreise, sondern auch allein, was nicht unbemerkt blieb und zu Gerede unter ihren Bekannten Anlaß gab.

Raphael mochte Feska nicht leiden, nicht aus Eifersucht, sondern weil er ihn plump und ungebildet fand; aus diesem Grunde ärgerte es ihn, daß Verena ihn mit Auszeichnung behandelte und sich viel von ihm gefallen ließ, was er auch anfangs durch kleine Neckereien ihr gegenüber zum Ausdruck brachte. Bei den alten Ungers hatte Verenas schöngeistiges Treiben und ihr Verkehr mit den kleinen, schäbigen Dichtern überhaupt niemals Anklang gefunden; als nun verlautete, sie wolle bei Gelegenheit eines Festes, wo lebende Bilder gestellt werden sollten, zu denen Feska begleitende Verse gemacht hatte, mit diesem zusammen in einem Bilde auftreten, beschlossen sie, einzugreifen und ihr die Unschicklichkeit zu untersagen.

So kam es, daß Michaels Eltern von seiner Liebe zu Rose erfuhren; denn Verena, in zorniger Empfindlichkeit über solche Vorwürfe aufbrausend, erklärte ihnen mit Hohn, daß sie sich nicht für verpflichtet hielte, sich wie eine trauernde Witwe zu verbrennen oder zu vergraben, weil ihr Mann sie einer anderen aufgeopfert hätte. Schon erbittert über Michaels Ankündigung, daß er länger studieren würde, als er sich vorgesetzt und versprochen hatte, überstieg ihre Entrüstung nun vollends alle Grenzen, und sie empfingen ihn bei seinem nächsten Besuche wie einen Frevler. Ihm war es im Grunde recht so, denn es mußte doch einmal zu einer Aussprache kommen, und wenn es von ihm selbst abgehangen hätte, würde er vielleicht noch gezögert haben, die schmerzende Eröffnung zu machen. Er konnte noch nicht von dem Gedanken lassen, es wäre eine ruhige Auseinandersetzung mit seinen Eltern möglich, so daß sie ihn wenigstens nicht blindlings mit rohen Wüstlingen und leichtfertigen Taugenichtsen in einen Topf würfen und verdammten; obwohl er unzählige Male Zeuge gewesen war, daß sein Vater solche Unterscheidungen zu machen nicht fähig war, sondern nach seinen kindlich steifen Begriffen von Recht und Unrecht unbelehrbar die unähnlichsten und verwickeltsten Erscheinungen beurteilte. Nun tat es ihm weh über alle Maßen, daß es sein geliebtester Sohn war, der seinen Lebensidealen so zuwiderhandelte; und daß dies geschah, nachdem er sich bei der Wahl seiner Frau durchaus nicht hatte dreinreden lassen, sondern sich so gestellt hatte, als ob mit dieser Einzigen seine ganze Zukunft stehe oder falle, also mutwillig den jetzigen Zwiespalt herbeigeführt hatte, machte ihn vollends blind und grausam. Er hatte niemals ein inniges Verhältnis zu seiner Schwiegertochter gehabt, die ihm überspannt vorkam und ihm unbequem war, und daß Michael einmal genug von ihr bekäme, wäre ihm an sich nicht überraschend gewesen. Michael konnte ihm mit Recht vorwerfen, daß er ihm gern verziehen hätte, wenn er Verkehr mit sittenlosen Frauen außer dem Hause gesucht hätte, obgleich er selbst, seitdem er verheiratet war, nicht sonderlich Gebrauch von solchen Freiheiten gemacht hatte. »Was hätte es auch zu bedeuten?« sagte Waldemar; »über solche Dinge ist es am besten, zu schweigen, das hat ein jeder mit sich selbst abzumachen. Aber die Familie muß unangetastet bleiben, das ist die allerheiligste Pflicht, der wir alles andere opfern müssen. Keine Gaukelei von schönen und großen Worten kann daran etwas verdrehen, so wenig wie das dringendste Gelüste Diebstahl und Räuberei rechtfertigen kann.«

In manchen Augenblicken, wenn er vor seines Vaters Grundsätzen wie vor einer breiten Mauer stand, die rundherum von schwerem Geschütz starrte, erbitterte er sich gegen ihn bis zur zornigen Abneigung. Als er sich hatte hinreißen lassen, ein Wort über sein Gefühl für Rose zu sagen, rief Waldemar auffahrend: »Liebe? Du bist kein Knabe mehr, der vor einer Schürze die Besinnung verliert. Zwischen Männern sollte männlich geredet werden. Eine Schwäche läßt sich verzeihen, und eine kluge Frau übt Nachsicht; dazu ist es noch Zeit. Aber laß mich meinen Sohn nicht auf dem Wege der aberwitzigen Theaterhelden sehen, die den Kitzel des Blutes zu Leidenschaften aufblasen und, wenn nachher ein Mädchen in die Wochen kommt, glauben machen möchten, der Heilige Geist sei im Spiele gewesen.« Michael sah seinen Vater, dessen erhitztes Gesicht geschwollen erschien, und aus dem die weitgeöffneten Augen seelenleer hervorstierten, voll Schrecken an; er war unfähig, etwas zu erwidern, so peinlich berührte ihn die Roheit seiner Worte und seiner Erscheinung.

Mit seiner Mutter war es eher möglich, ein ruhiges Wort zu sprechen, schon deshalb, weil sie klüger als Waldemar war, alsdann deswegen, weil sie es für undenkbar hielt, es könne je zu einem wirklichen äußerlichen Umsturz ihrer stolzen häuslichen Behaglichkeit kommen. Ihr selbst unbewußt, suchte sie den entweichenden Sohn in dem Gespinst ihrer schönen Anmut festzuhalten. Sie veranlaßte ihn, sich gegen sie mit Offenheit zu äußern, und einmal, als sie in der Abenddämmerung zusammen im Garten auf und ab gingen, sagte sie: »Ich will dir jetzt sagen, Michael, was du sonst wohl niemals erfahren hättest, daß auch ich einmal, als du schon lebtest, einen anderen Mann liebte und das Band, das mich an deinen Vater fesselte, mit Abscheu trug. Deshalb verstehe ich, was du jetzt leidest, besser, als du denkst; aber deshalb habe ich auch das Recht, dir zu sagen: Opfere deine Wünsche deinem Kinde, wie ich meine dir geopfert habe. Meine Schmerzen sind jetzt vorüber, wie ja wohl auch mein Glück es wäre, und so werden auch deine vorübergehen.«

»O Mama«, sagte Michael bewegt, »und das ist alles? Wozu wäre denn alle Sorge, Arbeit, Sehnen und Hoffen? Wem hast du denn deine Wünsche geopfert? Was ist gewonnen? Eine reiche Familie mit glänzendem Namen, an deren Glück bis jetzt vielleicht noch jeder glaubt. Wärest du deinem Herzen gefolgt, lebten Raphael und Gabriel nicht; du trügest vielleicht nicht so schöne Kleider wie jetzt und wohntest nicht in diesem stattlichen Hause. Und ich? Du siehst ja, wie gern ich all dies sogenannte Glück von mir täte! Ist denn Ruhe und Behagen, ja nur der Schein des Behagens das Höchste auf der Erde?« Er blickte auf ihre weiße, gepflegte, weiblich reizende Hand, die auf seinem Arme lag, und Tränen sammelten sich in seinen Augen; er beugte sich über sie und drückte seine Lippen fest und lange darauf.

»Siehst du«, sagte Malve sanft lächelnd, »ein solcher Kuß von den Lippen eines Kindes belohnt für jedes Opfer, das man ihm brachte.« Michael seufzte, denn er wußte, daß sie weder ihm noch seinem Vater mit Bewußtsein ein Opfer gebracht hatte, daß sie nur zu schwach gewesen war, um gegen den unbeweglichen Willen seines Vaters anzukämpfen, vor allem aber zu schwach, um die Verurteilung der Verwandten und Bekannten und alle die Folgen einer entscheidenden Tat auf sich zu nehmen. Mit dem Gedanken des Opfers, der sich allmählich herausbildete, hatte sie sich später getröstet, und jetzt glaubte sie daran. Er zögerte eine Weile und sagte dann: »Mama, wer weiß, ob du das rechte Opfer brachtest, ob du nicht vielmehr dich selbst, das Allerbeste in dir, geopfert hast? Wer weiß, wie du dich hättest entwickeln können? Und was die Erschütterung eines solchen Ereignisses aus meinem Vater hätte machen können?«

Malve wehrte erschrocken ab. »Höre auf, Michael«, sagte sie; »du suchst Gründe, die deiner Leidenschaft Vorschub leisten; du entstellst die einfache Wahrheit und gehst Irrlichtern nach, gefährliche Wege. Wir Menschen müssen tun, was unsere Pflicht von uns erfordert, der Folgen sind wir nicht mächtig und dürfen nicht über sie nachdenken. Ich beschwöre dich, laß dich nicht von der Selbstsucht hinreißen und deiner angeborenen Güte entfremden.«

So endete jedes Gespräch mit Klagen, Vorwürfen und Bitten, gleichviel von wo es ausgegangen war. Ein ununterbrochenes, grabendes Leiden war das Zusammensein mit seiner Frau, mit dem Kinde, das er liebte, mit dem Vater, der ihm einst über alles teuer gewesen war. Jetzt bemerkte er vieles an ihm, wovon er nicht wußte, ob es ihm früher entgangen oder ob es überhaupt nicht gewesen war; wie ihn fast alles, was gesprochen wurde, teilnahmlos ließ, wie er sich aber plötzlich über ein mißratenes Gericht bei Tische ereifern, ja leidenschaftlich erzürnen konnte, wie dann wieder ein paar Gläser Wein eine unerquickende Lustigkeit oder Rührung in ihm entzündeten. Aber die bittersten Qualen bereitete er sich selbst, wenn er allein mit sich war. Was ihn am Tage als besinnungslose Leidenschaft vorwärtstrieb, bedrängte ihn nachts als ein Heer unentwirrbarer, unlösbarer Fragen. Obwohl er von vornherein wußte, daß da niemals eine gute Lösung zu finden war, die allem genugtat, was er unabweisbar wollen mußte, konnte er nicht nachlassen, zu grübeln und zu planen, und wenn er schließlich erschöpft abließ, ohne einen Weg vor sich zu sehen, den er gehen konnte, klammerte er sich um so leidenschaftlicher an seine Liebe, die er als das einzig Gewisse, als den Mittelpunkt empfand, um den sein Leben fester und fester herumwuchs.

Nur noch eines war ebenso gewiß, daß er Mario niemals würde verlassen können. Der Kleine war jetzt in dem Alter, daß er fast alles sprechen konnte, wenn auch noch vielfach ohne Bewußtsein der Bedeutung. Er hielt sich von den meisten Menschen, namentlich von anderen Kindern, eigensinnig zurück und hatte überhaupt, trotz der zärtlichen Weichheit seines Wesens, etwas Verschlossenes. Mit großer Innigkeit hing er nur an seinem Großvater und mit unbedingter, schwärmerischer Liebe an seinem Vater. Die Tyrannei, die er mit dieser Liebe über ihn ausübte, wäre unerträglich für Michael gewesen, wenn er immer dort gewesen wäre; so aber liebte er in dem kleinen Mario die einzige Stelle in seinem Vaterhause, wo er sich noch zu Hause fühlte. Diese kleinen Arme streckten sich immer sehnsüchtig nach ihm aus, das schüchtern eigenwillige Herz, das wie ein kleiner Vogel stets auf der Hut war, strebte immer nach der ruhigen, starken, unveränderlichen Wärme, die es an seiner Brust fand. Während das Drängen seiner Eltern, ihn in seinem Willen, sich zu befreien, nur immer fester machte, erschütterte die feine Stimme, die gedankenlos sagte: »Bleib da, Papa!« sein Herz und band es. So sehr fühlte er sich oft in dem Banne des Kindes, daß er unruhig seine Liebe zu Rose dagegen abwog; aber immer fand er, daß diese mit allen ihren Forderungen und Verheißungen dadurch nicht angetastet wurde. Hielten ihm seine Eltern vor, daß Verena, falls er sich wirklich von ihr lossagte, ihm keinen Anteil irgendwelcher Art an dem Kinde lassen würde, so sagte er, das müsse sich finden, er werde es jedenfalls so wenig verlassen, wie es von ihm lassen würde; aber wie das zugehen sollte, davon hatte er selbst keine deutliche Vorstellung. Der einzige Gedanke, der ihm Trost gab, ihm eine Lebensmöglichkeit eröffnete, war, daß Mario seiner nicht immer so bedürfen werde wie jetzt, daß eine Zeit kommen würde, wo er sich an andere anschlösse und seinen eigenen Sternen folgte.

Der Tag von Michaels Abreise war schon festgesetzt, als der kleine Mario plötzlich von einer Krankheit befallen wurde. Mitten im lustigen Spiel wurde er plötzlich müde und verlangte ins Bett, und als Michael ihn auf den Arm nahm, um ihn ins Haus zu tragen, fiel der kleine Kopf schwer auf seine Schulter. Ohne Bewußtsein ließ er sich entkleiden, erkannte nicht einmal seinen Vater mehr, und indem sein erst erbleichtes Gesicht sich bläulich färbte, verfiel er in einen ohnmächtigen, krampfartigen Zustand. Es wurde sofort nach dem Hausarzt geschickt, und Schrecken und Aufregung herrschten im ganzen Hause; Michael war der einzige, der trotz seiner Angst besonnen blieb und sich mit dem Kinde beschäftigte; er besprengte es mit Wasser, rieb ihm die Schläfen mit Wein, suchte ihm Wein einzuflößen, trug es ans offene Fenster, kurz tat alles, was er für geeignet hielt, es wieder zu sich zu bringen. Während er das mit anscheinender Ruhe vornahm, war ihm zumut, als wäre sein Leben mit dem stockenden Leben in seinen Armen zusammengebunden und würde augenblicklich mit diesem vergehen. Als nach einer Weile die irrenden Augen sich mit flüchtig aufdämmerndem Verständnis auf ihn richteten und es schien, als ob sich die kleine schwindende Seele mit aller Kraft zusammenzuraffen suchte, um sich an dem geliebten Vater festzuhalten, stürzten die Tränen aus seinen Augen, und Gebete stürmten durch sein schlagendes Herz: Bleib da, kleine Seele, laß dich halten von deinem Vater, der dich liebt. Mario, Mario, ich schwöre dir, dich nie zu verlassen! Ich will Gut und Blut für dich lassen, nur stirb nicht! Wenn du dich jetzt von mir halten läßt, sollst du mich halten, wann du willst, solange du mich brauchst!

Der alte Unger saß unterdessen stöhnend und mit gerungenen Händen in einem anstoßenden Zimmer, und ein Dienstmädchen fuhr im Wagen von Haus zu Haus, um den Arzt zu suchen und herbeizuholen. Als er endlich anlangte, war das Kind schon wieder zur Besinnung gekommen, aber gleich darauf in einen fieberischen Schlaf gefallen, der im Vergleich zu dem, was vorhergegangen war, etwas Beruhigendes hatte. Michael blieb im verhängten Zimmer am Bette sitzen; nach einer Stunde erwachte der Kleine und rief mit kläglicher Stimme: »Papa!«, schlief aber sogleich wieder ein, die Hand, die sein Vater ihm reichte, fest umklammernd. Michael dachte, daß er vor kurzem sein Herzblut gegeben hätte, damit die liebe kleine Hand, die schlaff herunterhing, sich lebenswarm an seine schlösse; eine große Ruhe und Müdigkeit überkam ihn, und er schlief neben Marios Bett ein.

Wie es häufig bei Kindern der Fall ist, nahm die Krankheit, die mit einem wütenden Anfall aufgetreten war, bald einen gelinden Charakter an und erwies sich, wenn kein Rückfall oder irgendeine Verwicklung einträte, als ungefährlich, und da das Fieber bald ausblieb, konnte Michael an seine Abreise denken. Er hatte, obwohl es an Bedienung nicht fehlte, die Pflege des kranken Kindes fast allein übernommen, ebenso aus eigenem Bedürfnis, wie weil Mario anfangs weinte, wenn ein anderer sich seinem Bette näherte. Verena, die während seines ganzen Aufenthalts kein einziges Mal die feindliche Kälte gegen ihn gemildert hatte, war während der Krankheit meist in seiner Nähe und suchte behilflich zu sein, wenn sie auch vermied, daß er es bemerkte. Die Kraft, Güte und Schönheit, die von ihm ausströmten, wenn er so umsichtig und besonnen, unermüdlich heiter und wohltuend um den Kleinen herum waltete, wirkten so sehr auf sie ein, daß das Grauen der Vergangenheit ihr an Wirklichkeit verlor. Zuweilen wenn sie ihm eine Erfrischung reichte oder ihm bei seinen Hantierungen am Krankenbett zur Hand gehen konnte, fühlte sie sich ihm durch die gemeinsame Tätigkeit für ihr Kind wie früher verbunden.

Einmal, als sie an einem Nachmittage leise eintrat, sah sie ihn neben dem Kinde eingeschlafen, und da niemand in der Nähe war, blieb sie stehen, um ihn zu betrachten. Die Vorhänge waren vor den offenen Fenstern herabgelassen, und durch sie drang Sonnenglut ein und leuchtete; er sah sehr blaß und abgemagert aus, und es waren ernste Linien in seinem Gesichte erschienen, die es männlicher machten; aber er war schöner als je. Ihre Augen glitten in scheuem, zärtlichem Entzücken über die ruhige Stirn, über die schmalen Wangen zu dem geschlossenen Munde herunter; es war der Mund, der so harte wie süße Worte reden konnte. Indem sie ihn ansah, wachte er auf und lächelte, als er so unerwartet jemanden vor sich stehen sah und sich klar wurde, daß er geschlafen hatte. Ihre edle, hochfliegende Seele überströmte sie ganz und drängte ihm entgegen: »O du, nimm mich wieder an dein Herz und rette mich! Ich habe gelitten, daß ich sterbe. Sieh, ich bekenne es, daß ich nichts ohne dich vermag. Ohne dich gehe ich unter, mit dir kann ich fliegen. Ich habe Dinge geschehen lassen, vor denen mir graute, ich bin besudelt von unreinen Händen, die mich betastet haben. Ich brauche deine Kraft, ich brauche deine Güte, ich brauche deine Schönheit. Warum hast du nur mit der nicht Mitleid, der du Treue gelobt hast, warum verschmähst du die Liebe, die du einst für dein ganzes Leben begehrtest? Niemand hat meinen Glanz und meinen Stolz gesehen als du; niemand hat mein Elend und meine Schmach gesehen außer dir. Kannst du mich untergehen sehen und würdest dich doch in einen reißenden Strom werfen, um einen Hund zu retten? O Geliebter, es ist die letzte Stunde, wo du mich befreien und erlösen kannst, hernach versinke ich auf immer. Ich bin noch einmal schimmernd wie Schnee aus dem schwarzen Wirbel gestiegen, und an meinen Armen, die sich nach dir ausstrecken, rieselt der Mondschein hernieder. In die feuchte, schwarze Versunkenheit sinkt mein Stolz und meine Schönheit hinab auf ewig, wenn du mir jetzt nicht die Hand reichst und das Wort der Erlösung sagst!«

Sie hatte sich zu seinen Füßen niedergeworfen und sagte, was ihre Liebe wollte, ein wirres, dunkles, glühendes Stammeln. Ihr ganzes Wesen brannte in einem warmen, schmelzenden Feuer; er sah auch, was sie nicht aussprach, in ihren braunen Augen und auf ihrer weißen Stirn, die in dem rötlichen Zimmer leuchteten. Jedes ihrer Worte fiel wie ein Feuertropfen in sein Herz, unter dem es zusammenzuckte. Es war, während sie sprach, kein Schwanken, kein Erwägen, kein Zweifel in ihm, nur ein verzweifeltes Ringen nach Kraft, um diese Probe zu bestehen. Er fühlte, daß für ihn alles aus war, wenn er dies nicht überwände, daß eine zärtliche, eine weiche Regung, der er jetzt Raum gönnte, ihn ohnmächtig machen und alles Große und Schöne, was er erstrebte, vernichten würde. Er preßte die Hände an die Schläfen, in denen es klopfte, als sollte etwas zerspringen, und blickte starr in ihre flehenden Augen. »Du mußt es ohne mich lernen«, sagte er; die Stimme kam ihm so rauh und gebrochen aus der Kehle, daß er nicht wußte, ob sie ihn verstanden hätte. Es hätte aber keiner Worte bedurft, um ihr zu bedeuten, wie er gesinnt war; in den gemarterten Zügen seines Gesichts war nichts Glückliches zu lesen. Sie schwankte und schauderte einen Augenblick, und dann hatte sie plötzlich alles begriffen; mit gewaltsamer Anstrengung bewegte sie die Lippen und sagte: »Geh fort.« Als er das Zimmer verlassen hatte, ließ sie sich an dem Kinderbett niedersinken und fühlte nichts mehr als den Wunsch in sich, nie wieder aufstehen zu müssen. Sein Gesicht, wie es aussah, während er sprach, unendlich leidend wie das eines edlen Gemarterten, schwebte im halben Traume vor ihr, ohne ihr wohl- oder wehzutun; aber allmählich besann sie sich darauf, was sie gehofft und wie sie gefleht hatte, und daß er nun gehen würde, um fern von ihr mit einer anderen glücklich, frei, groß und bewundert zu sein. Die Kraft kam ihr zurück mit dem Gedanken, daß das nicht sein sollte; er sollte elend sein wie sie, heimatlos wie sie, gebunden wie sie und in den Staub gedrückt. Das Kind hatte sie ja, das ihr Macht über ihn gab; und der wollte sie sich ohne Mitleid bedienen; ihre schmalen bleichen Finger schlossen sich krampfhaft um den Pfosten des kleinen Bettes, und die feurigen Augen blickten trocken und hart ins Weite. Ihre schöne, stolze, untergehende Seele rang die weißen Arme, an denen das Mondlicht herunterrieselte, bis sie langsam, langsam in der schwarzen, feuchten Versunkenheit erloschen.

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