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Gabriel hatte dieselbe Angst wie seine Mutter vor der Armut, aber nicht wie sie den guten Willen, sie im Andenken an den unglücklichen Raphael auf sich zu nehmen, für den er kaum in der Kinderzeit ein wärmeres Gefühl gehabt hatte. Dagegen erfüllte ihn Michael, den er von jeher neben seinem Freunde Aristos hatte gelten lassen wollen, mit scheuer Bewunderung, seit er in die schwül-drückende Stimmung des Hauses wie ein Wetterstrahl gefahren war und vernichtet, verzehrt und Grauen verbreitet hatte. Er begriff, daß er so gut wie die ganze Familie jetzt von seiner Zähigkeit und seinem guten Willen abhing, und hatte Witterung genug, um ihm jetzt nicht mit Liebhabereien und Sonderbarkeiten in den Weg zu kommen, die ihm mißfallen könnten. Einige Tage nach Raphaels Tode ließ er verstreichen, dann suchte er Michael im Kontor auf, um ihn zu fragen, wie er über seine Zukunft dächte, denn er hätte das Gymnasium nun hinter sich und begriffe so viel, daß er unter den jetzigen Umständen sich nicht darauf beschränken könnte, in müßiger Beschaulichkeit Eindrücke aufzunehmen. Wie er so kleinlaut vor ihm stand und sich bereit erklärte, in das Geschäft einzutreten, wenn Michael es für nützlich hielte, gefiel er ihm besser als früher; er mußte lächeln und gab seinem Zweifel Ausdruck, ob Gabriels Fähigkeiten an dem Orte glücklich zu verwerten seien. »Das wohl nicht«, sagte Gabriel, »aber wenn es sein müßte, könnte ich es vielleicht lernen, da du es ja auch getan hast.« Michael schüttelte den Kopf und sagte: »Du bist noch jung, und da leidet man solchen Zwang ungerne. Müßte es sein, so wäre freilich nichts zu überlegen, und es freut mich, daß du das einsiehst. Aber was könntest du ohne Ansehen und Erfahrung dem Geschäfte in so gefährlicher Lage nützen? Laß uns lieber bedenken, wie du auf anderem Wege in möglichst kurzer Zeit und mit möglichst geringen Kosten etwas erlernen kannst, was dich mit Sicherheit ernährt.«

Gabriel atmete auf und ließ seinen Bruder nachdenken, der für sich ausrechnete, daß vermutlich zu der Zeit, wo Gabriels Hilfe in Betracht käme, er ihrer nicht mehr benötigen würde, und daß es insofern im Grunde belanglos sei, was er ergriffe; doch sagte er sich, daß er auch auf einen schlimmen Ausgang vorbereitet sein müsse, und daß es jedenfalls für Gabriel gut sei, ihn in dem Glauben zu lassen, daß viel von seinem Eifer abhinge. Was Gabriel selbst am meisten einleuchtete, war der Vorschlag, die alten Sprachen zu studieren, um künftig – denn an eine Professur dürfe man noch nicht denken – an höheren Schulen zu unterrichten. Das Studium an sich, als mit dem antiken Leben und antiker Kunst in naher Beziehung stehend, war Gabriel durchaus nicht zuwider, und die bevorstehende Lehrtätigkeit, die ihm freilich lächerlich und unwürdig erschien, lag noch in zu weiter Ferne, um ernst genommen zu werden. Doch legte es Michael, obwohl es eines der billigsten war, dadurch, daß Gabriel von der Familie getrennt in einer anderen Stadt leben mußte, Kosten auf, die ihn in diesem Augenblick sehr belasteten. Er stellte das Gabriel vor, der sich auch hierin einsichtig und fügsam zeigte, er versprach, sich aufs äußerste einzuschränken und diejenigen Kreise zu meiden, die ihn zu einem üppigeren Leben hätten verleiten können. »Armer Junge«, sagte Michael, »ich hätte dir eine andere Studienzeit gegönnt, nicht daß du überflüssige Zerstreuungen und Genüsse hättest, deren es nicht bedarf, wenn man jung und froh ist, aber daß nicht jedesmal, wenn dir das Herz aufgeht, es mitsamt deinem engen Beutel eingeschnürt werden muß.«

Gabriel antwortete kühl: »Ich hätte die Berührung mit den studentischen Kreisen doch gemieden; Absonderung ist mir keine Entbehrung. Was mir hart ankommt, ist, mit einem Haufen zusammengewürfelter Leute auf einer Bank zu sitzen und altbackenen Kram zu lernen, der mir zum Teil von Menschen vorgetragen wird, die mich an Kenntnissen in ihrem Fach wohl überragen, die ich übrigens aber übersehe.« »Das wird dir am wenigsten schaden«, sagte Michael; da die Malve, wie sich von selbst verstand, nichts einzuwenden hatte, war die Frage somit entschieden.

Bald nachdem Gabriel abgereist war, erklärte Raphaels Witwe, das Haus verlassen zu wollen. Ihre Eltern hatten ihr den Vorschlag gemacht, sie möchte wenigstens für die nächste Zeit wieder zu ihnen ziehen, da sich ihr Los nach ihrer Schilderung so bedauernswert gestaltet habe. Nur die Schwierigkeit stand im Wege, daß sie wohl für den älteren Jungen, nicht aber für das kleine Kind Platz zu haben erklärten, das mehr Bedienung erforderte und vielerlei Unbequemlichkeiten mit sich brachte. Andererseits hätte sich die Malve, die selbst nie eine Tochter gehabt hatte, von diesem Kinde, das nach ihr genannt war und ihr auch ähnlich zu werden versprach, ungern getrennt, so daß der Gedanke nahelag, es zurückzulassen, wozu sich denn die Mutter auch bereitfinden ließ. Doch hing es von Verena ab, ob sie die Aufsicht und die lästige Pflege des kleinen Wesens übernehmen wollte, denn die Malve hatte darin keine Übung und hätte, auch mit gutem Willen, nicht das Richtige getroffen; mehr Bedienung anzustellen erlaubten aber die Verhältnisse nicht. Michael hatte sich, seit Mario klein war, nicht mehr mit Kindern abgegeben und wunderte sich selbst, daß das hübsche Geschöpf ihm in kurzer Zeit so lieb hatte werden können. Es hing an ihm, und es war ihm zur Gewohnheit geworden, mit ihm zu spielen, wenn er zu Hause und unbeschäftigt war, so daß er es vermißt hätte; ebensosehr deswegen, wie darum, daß seine Mutter sich weniger verlassen fühlte, wünschte er dringend, es behalten zu können.

Michaels Beziehungen zu Verena waren nicht mehr so bequem, wie zu der Zeit am Meere; indem er ihr sein Anliegen vortrug, betonte er, daß er sich bewußt sei, ihr Schweres zuzumuten, da das kleine Kind zunächst hauptsächlich körperlicher Pflege bedürfte, womit sie sich ungern befaßte; doch glaubte er, sie würde seinen Plan im ganzen billigen, und wann immer er könne, wolle er selbst ihr die Last abnehmen.

Verena hörte ihn nicht unfreundlich an, mißbilligte aber sehr, daß die Schwägerin ihr Kind fremden Händen überlassen wolle, und wunderte sich, daß Michael sie darin bestärkte, übrigens sei sie geneigt, es zu übernehmen, besonders weil das arme Ding bei seiner Mutter sowieso nicht in guten Händen sei.

»Es kann wohl von seinem Vater wie von seiner Mutter gefährliche Anlagen bekommen haben«, sagte Michael, »und gerade deshalb dauert es mich, und ich sähe es gern vor schädlichen Einflüssen sichergestellt; denn jetzt ist es noch eine unschuldige kleine Seele, die allem Guten wie allem Bösen geöffnet ist, und wenn man dem Kinde soviel wie möglich Gutes zukommen läßt, gedeihen vielleicht die schlimmen Keime nicht mit.« Verena wollte vor allen Dingen davor geschützt sein, daß die Mutter das Kind nach kurzer Zeit wieder zurückverlangte oder es etwa häufig besuchte oder überhaupt Einreden und Eingriffe machte; doch gelang es Michael, sie davon zurückzuhalten, daß sie förmliche Erklärungen darüber von ihr verlangte. Seiner Überzeugung nach würde sie es bald bequem finden, das Kind gut versorgt zu wissen, ohne daß sie etwas dazu zu tun brauchte, und es fürs erste nicht für sich beanspruchen; dagegen hätte sie sich voraussichtlich widersetzt, wenn man es ihr wie ein Kleinod hätte abdringen oder es nur unter allerlei Bedingungen und Klauseln hätte übernehmen wollen.

So blieb die kleine Malve im Ungerschen Hause, und es gab sich von selbst, daß sie mit Verena und Mario unten wohnte, während Michael zu seiner Mutter in die Zimmer seines Vaters zog; doch war er selten zu Hause und arbeitete meist bis in die Nacht hinein im Geschäfte.

Die ersten Wochen nach Raphaels Tode waren trotz der Aufregungen, die sie mit sich brachten, vielmehr eben deswegen nicht so schwer für Michael, wie die Zeit, die darauf folgte. Er ging nun wieder wie vor fünfzehn Jahren jeden Morgen unter den Kastanienbäumen und dann durch die langen eintönigen Straßen bis zum Geschäfte und mittags zurück und nachmittags und abends ebenso; was dazwischen lag, war wie ein wilder Traum zerstoben. Er dachte so wenig daran, wie man tagsüber an seine Träume zu denken pflegt, nur drückte ihn die öde Wirklichkeit schwerer als früher. Auch war ja von dem früheren Leben tatsächlich nur das häßliche Gerüst übrig; er ging die überdrüssigen Wege nicht mehr neben seinem Vater, und ging sie nicht mehr als der reiche und stolze junge Mann, der Sorgen nicht kannte und dem ein dunkles Gefühl im Innern goldene Unendlichkeiten der Zukunft versprach. Jetzt begegnete er nicht selten Bekannten, die ihn nicht ansahen, um nicht von ihm gegrüßt zu werden, oder seinen Gruß nur flüchtig und in einer Weise erwiderten, als müßten sie sich besinnen, wer er wäre. Er fühlte sich gemieden und verachtet von Menschen, die er niemals als seinesgleichen anerkannt hatte, und so gleichgültig ihm das auch im allgemeinen war, quälte es ihn doch, weil er ja eine Stellung unter ihnen, besonders soweit es Kaufleute waren, einzunehmen trachtete. Als Kaufmann, der er jetzt war, bedeutete er nichts, hatte er kein Ansehen und gebot keine Achtung, lebte er nur von der Gnade eines Mächtigen, der ihm, wenn er wollte, das Leben wieder entziehen konnte. Er hatte niemals Schulden zu machen brauchen, und die Angst, vielleicht nicht zahlen zu können, wenn es verlangt würde, war ihm unbekannt; um so mehr litt er jetzt darunter, mit fremdem Gelde arbeiten und von fremdem Gelde leben zu müssen, und er wurde nie das Qualgefühl los, der Sklave des selbstgefälligen Mannes zu sein, dem alles gehörte.

Zuweilen dachte er flüchtig an die Zeit, wo er in dem kleinen Fischerdorf am Meere gearbeitet hatte und glücklich gewesen war, und an die schönen wilden Menschen und ihre Armut, um die das volle Meer herumrauschte und die der feuchte Mond mit Licht betaute. Dann durchbohrte ihn der Schmerz scharf wie ein Schwert, so daß er sich auf Augenblicke nicht besinnen konnte, warum er hier war und wie dies alles sein konnte.

Einmal, als es im Geschäft spät geworden war und er allein durch die langen verödeten Straßen ging, fiel ihm der Winterabend ein, wo er bis zum Abgange des Zuges draußen vor der Stadt spazierengegangen war und der Mann im Mantel still unter der Laterne gestanden und gewartet hatte, und wie es ihm darüber seltsam unbehaglich zumute geworden war. So hatte das Schicksal dagestanden und auf ihn gewartet all die Jahre hindurch, während er schäumende Traumschlösser in die Wolken baute, gestanden und gewartet und gewußt, daß er unfehlbar kommen und sich selbst ausliefern würde. Es hatte ihm etwas Unheimliches, sich das vorzustellen; sein Ringen und Treiben in der Vergangenheit erschien ihm lächerlich wie die Anstrengungen eines Käfers, zu fliegen, dem ein schadenfroher Junge die Beinchen mit einem Faden umwickelt hat und ihn daran festhält. Im ganzen kamen aber solche Gedanken und Bilder selten, und tauchten sie auch auf, verschwanden sie doch schnell wieder vor den Sorgen und mühseligen Geschäften, die vor ihm lagen. Er war aus dem kaufmännischen Wesen so herausgekommen, daß er stets mit angespannter Aufmerksamkeit arbeiten mußte, um seiner und dessen, was er tat, gewiß zu sein, und dabei stellten die Umstände außergewöhnliche Anforderungen an seine Umsicht, seinen Überblick, seine Tatkraft und seinen Mut. Die meisten Angestellten des Geschäftes kannten ihn noch von früher her und achteten und liebten ihn, doch war die Stimmung durch die Ereignisse der letzten Jahre niedergedrückt, und er mußte sich zusammennehmen, um gefaßt und ruhig zu erscheinen, damit sie nicht das Vertrauen auf die Zukunft und das gute Glück der Firma verlören. Merkwürdigerweise kamen ihm, trotzdem es nicht an Sorgen und beklemmenden Stunden fehlte, doch niemals ernstliche Zweifel daran, daß er schließlich, es fragte sich nur wann, obsiegen würde; und zwar schöpfte er diese Sicherheit aus nichts anderem als unmittelbar aus dem Gefühl, daß er es wollte. Sie war ihm im geschäftlichen Verkehr von größerem Nutzen, als er selbst ahnte, ihm aber gab sie nichts; denn sie war nicht von der freudigen, triumphierenden Art, sondern ein trockenes Bewußtsein, daß das Gewollte ihm gelingen müsse, daß er aber seine ganze Lebenskraft dabei einsetzte und verlieren könne.

Oft hätte er nicht gefühlt, daß er lebte, wenn nicht Mario gewesen wäre, durch dessen braune Hände Leben in seine hinüberströmte, dessen warme Augen, die zärtlich an ihm hingen, ihn beständig wie mit einem schützenden und heiligenden Feuer umgaben. Er war immer noch der stille gute Junge, der da war, wenn er ihn haben wollte, und verschwand, wenn er störte, der, was Michael tat und sagte, mit Andacht und innigem Lächeln verfolgte und ihm durch das Glänzen seines Gesichtes sagte, wie groß und herrlich er ihm erschien. Wenn er nicht durch die Schule gebunden war, schloß er sich ihm auf allen Gängen an und plauderte und erzählte, meistens so wunderliche Dinge, daß Michael dadurch zerstreut und unterhalten wurde; abenteuerliche Ereignisse aus seiner Kindheit, nicht nur ihn, sondern auch seinen Großvater, seinen Vater und andere betreffend, wohin seine Erinnerung kaum reichen konnte, und was er sich offenbar aus nachträglichen Schilderungen der Familie und eigener Phantasie zusammengefabelt hatte. Sodann erzählte er von einer Freundschaft, die ihm viel zu schaffen machte, mit einem etwa um vier Jahre älteren Jungen, der, weil er Ausländer, nämlich Schwede, und der deutschen Sprache nicht mächtig war, in eine Abteilung mit jüngeren Knaben gekommen war. Mario hatte ihn schon vor einigen Jahren kennengelernt und sich sofort zu ihm hingezogen gefühlt, weil er etwas Stolzes und Auserlesenes an sich hatte, mit regelmäßig edlen Zügen, schön anzusehen und der Tapferste und Gewandteste in allen Spielen während der Zwischenpause war. Während ihn die meisten Jungen wegen seiner mangelhaften Aussprache des Deutschen verlachten, half Mario ihm, wo er konnte, und versöhnte ihn mit seiner unangenehmen Ausnahmestellung durch offenes Zeigen einer schwärmerischen Liebe. Der Fremde erwiderte die Liebe bald in demselben Grade und beschützte Mario mit Erfolg, wenn einer von den übrigen Jungen etwas gegen ihn im Schilde führte, was nicht selten der Fall war. So hatte Mario einmal in Gemeinschaft mit einem lustigen, stets zu Streichen aufgelegten Burschen, der ihm gut gefiel, einem anderen einen Schabernack gespielt, diesem aber hernach die List erzählt, und zwar in einer solchen Darstellung, als ob alles von jenem anderen ausgegangen wäre, während sie sich zuvor Geheimhaltung unverbrüchlich angelobt hatten. Begreiflicherweise wollte der Lustige, der mit dem Geneckten hierdurch in arge Ungelegenheiten kam, sich an Mario rächen, und da sich der junge Schwede, ohne zu fragen, wer im Recht und wer im Unrecht sei, zum Verteidiger seines Freundes aufwarf, entspann sich ein leidenschaftlicher Kampf, wobei der Fremde von einem Gerüst, hinter dem sich Mario verschanzt hatte, herunterstürzte und, mit dem Gesicht auf die Steine schlagend, zwei obere Vorderzähne verlor. Dadurch war er sehr entstellt, ja eigentlich, durch die Lücke im Munde, wenn er sprach, lächerlich geworden, was den ernsten Charakter seines regelmäßigen Gesichtes störte, was er selbst aber gar nicht zu wissen oder zu beachten schien. Mario dagegen hatte ihn seitdem viel weniger lieb und ließ merklich in seinen Freundschaftsäußerungen nach, ja seine Liebe kehrte sich mit der Zeit in Abneigung um, als der Fremde, der sich das veränderte Benehmen Marios nicht richtig auszulegen wußte und es bald Störungen in der Familie, bald seiner eigenen Empfindlichkeit oder Täuschung zuschrieb, den liebevollen Ton der früheren Zeit ruhig beibehielt. Da Mario zu einem offenen Geständnis den Mut nicht hatte, versuchte er, dem ehemaligen Liebling soviel wie möglich auszuweichen und ihm hinterrücks beizubringen, daß seine Freundschaft jetzt als Zudringlichkeit empfunden wurde, und er war beständig in eine Menge von Schwierigkeiten verwickelt durch die Ränke, die er angezettelt hatte, um zum Beispiel eine Einladung des jungen Schweden zu umgehen, und die Ausflüchte, die er dann wieder erdichtete, um seine eigentliche Meinung und Sinnesart doch nicht verraten zu müssen.

Für Michael war diese Geschichte ziemlich unverständlich: er konnte ebensowenig begreifen, wie man aus bloßer Plaudersucht oder Mutwillen einen guten Kameraden an einen anderen verraten, wie, daß man einen zuvor Geliebten wegen irgendeiner äußerlichen Entstellung weniger lieben konnte. Doch klang es wiederum aus Marios Munde drollig und anmutig, und sein kindisches Gesicht sah so unschuldig schelmisch dabei aus, daß es nicht ernstlich genug schien, um tiefer eindringendes Betrachten und Tadeln zu erfordern. Also lachte Michael und gab Mario den Rat, er möchte seinem Freunde ein paar falsche Zähne schenken, die er sich einsetzen sollte, womit dann das alte Verhältnis hergestellt und jede Schwierigkeit aufgehoben sein würde.

»Würdest du denn einen bösen Menschen lieben, wenn er schön wäre, und einen guten nicht lieben können, wenn er häßlich wäre?« fragte Michael.

»Nein«, sagte Mario schnell, indem er den Kopf mit Entschiedenheit schüttelte, »das könnte ich nicht. Ich habe auch die Großmutter nicht mehr so lieb, seit sie klagend spricht und Falten auf der Stirn und um den Mund sowie hängende Backen hat, obgleich sie viel zärtlicher gegen mich ist, als sie früher war.« Dann schilderte er, wie wunderschön sie früher gewesen wäre, wie er als kleines Kind gezittert hätte, wenn sie sich einmal über ihn beugte, um ihn flüchtig mit lächelndem Mund zu küssen, und wie er sich oft heimlich an ihren Stuhl geschlichen und sich an sie geschmiegt hätte, damit sie ihn mit ihren feinen weichen Händen ein wenig streichelte.

Michael sah ihn groß an und sagte, er müsse die Großmutter doch viel mehr liebhaben, seit sie traurig sei und des Trostes bedürfe; allein, obwohl er den Vorwurf und das Staunen, das in seines Vaters Blick lag, wohl fühlte, sagte Mario treuherzig, sie täte ihm wohl leid, aber er sei nicht gern in ihrer Nähe, da er immer Furcht hätte, sie möchte zu weinen anfangen, auch sähe er sie nicht mehr gern an, weil sie alt aussähe, und folglich müsse er doch sagen, er hätte sie nicht mehr sonderlich lieb.

»Und wenn ich einmal alt werde und die Zähne mir ausfallen?« fragte Michael nach einer längeren Pause. Mario lachte ungläubig und sagte mit innigem Aufblick: »Du wirst immer schön sein.« »Ich hoffe, daß ich es für dich sein werde«, sagte Michael, »und ich wundere mich, daß dir die Großmutter nicht auch ebenso schön wie früher oder schöner vorkommt; denn nur darauf kommt es an, und nur die Schönheit, die von der Seele ausgeht und von der Seele empfunden wird, die also mit dem Alter eher zunimmt als verschwindet, ist wirklich Schönheit zu nennen.«

Mario antwortete nicht und schüttelte nur kaum merklich den Kopf, worauf auch Michael den Gegenstand fallenließ. Er bereute fast, daß er überhaupt Mißbilligung habe fühlen lassen, denn dadurch konnte er die Zutraulichkeit, mit der Mario sich ihm mitteilte, ohne je etwas zu verheimlichen, zu färben oder zu beschönigen, von sich verscheuchen, und daß er diese sich erhielt, schien ihm wichtiger als alles andere zu sein. Von seiner Wärme und Liebefähigkeit hatte er täglich und stündlich die rührendsten Beweise, und seine Offenheit verbürgte ihm seine Unverdorbenheit; wie leicht wog dagegen die kindische Grausamkeit und Selbstliebe, im Grunde überhaupt mehr Alfanzerei und Prahlerei, womit sich bei unreifen Knaben das künftige Mannesgefühl anzumelden pflegt. O törichtes Haupt meines Kindes, dachte er inbrünstig; spiele mit deinem jungen Leben wie mit schillernden Seifenblasen und laß mich zusehen, wie sie fliegen, lautlos zerplatzen und zerfließen. Baue dir leichte, glänzende Welten, die dir in unverwelklicher Schönheit immer neu erblühen. Ich will dich hüten, daß die Stürme draußen sie dir nicht einreißen. Ich will gelitten haben, damit du glücklich sein kannst, und will wie ein Fröner arbeiten und tragen, damit du einst leicht auf den Wegen der Freien schreiten kannst!

*

Wenn Michael an Rose dachte, sah er sie, wie sie auf dem Bahnhofe schweigend ihr blasses Gesicht mit den geröteten Augen von ihm abwendete und langsam fortging. So war sie weiter und weiter fortgegangen und für ihn ein kleiner schwarzer Punkt in unendlicher Ferne geworden, den er nie anrufen, nie einholen, nie berühren konnte. Sehnsucht hatte er keine nach ihr, oder nur solche, wie ein Schatten der Unterwelt nach den Lebendigen auf der Erde fühlt, die unerreichbar über ihm, dem Begrabenen, wandeln. Er möchte weinen und die Hände ringen und den teuren Namen herausschreien, aber er ist nur ein Nebel in unabsehbarer Einöde, sein Leib nicht mehr bei ihm, der Tränen hatte, Blut hatte, Sehnsucht und Hoffnung; selbst die Erinnerung, die noch wie Spinnwebe an ihm nestelte, verfliegt. Wenn sie gekommen wäre, den Stein von seinem Grabe gelüftet und gerufen hätte: Komm wieder! Aber er war so elend, daß er das nicht einmal hätte wünschen können, daß ihm vielmehr vor jedem Duft des Lebens grausen mußte, der in seinen Kerker dringen konnte, wo ihn ein unlösbarer Schwur, eine furchtbare Allmacht, so schien es ihm, auf ewig gefesselt hielt.

Einmal kam ihm ein unklares Gerücht zu Ohren, Rose wäre die Geliebte des Freiherrn geworden und begleitete ihn auf seinen Wanderungen, wo er predige und das Volk aufwiegele; aber es berührte ihn so wenig, daß er es fast wieder vergaß, und wenn es wahr wäre, dachte er, wäre sie nun doch nicht so verlassen, wie er sie sich seit ihrem letzten Zusammensein vorgestellt hatte. Er fühlte nicht die geringste Regung von Eifersucht, denn sie war ja doch nirgends mehr auf Erden die Ruhevolle, die Liebevolle, die Glückselige, die Seine.

Nein, sie war nirgends mehr auf der Erde. Zuweilen stand sie und streckte die Arme nach sich selber aus und ließ sie traurig wieder sinken; sie war an einem hellen Wintermorgen voll Unruhe und Hoffnung fortgegangen, um Michael zu begegnen, und war nicht zurückgekommen, verirrt vielleicht ins Land der Träume, wo sie auf blauen Hügeln saß und lächelte, wenn Glühwürmchen auf ihren Händen funkelten. Als die ersten Tage wieder vorüber waren und sie nicht mehr wartete und auf nichts mehr hoffte, versuchte sie ihr Schicksal kennenzulernen, sich seinen Ursprung, seine Form, seinen Sinn klarzumachen, als könnte es ihr helfen und wäre wichtig, zu wissen, warum es so kommen mußte. Bisher hatte sie, je älter sie wurde, sich stets stärker, schöner und glücklicher gefühlt und nie daran gezweifelt, daß alles, was geschah, zu dem Zwecke geschah, sie zu reifen, und daß nichts geschehen könnte, als was sie weiter auf dem ansteigenden Pfade führte. Sie war tapfer, hoffnungsvoll, umschauend und wachsam gewesen, und trotzdem lag sie nun lahm und verschmachtend am Boden. Sie hatte immer geglaubt, noch lange den Gipfel nicht erreicht zu haben, und im Vorgefühl dessen das Leben wie eine hohe Sonnenbahn angesehen; nun war sie vor dem herrlichsten Augenblick hinuntergeschleudert, und für sie lag der Gipfel ihres Lebens hinter ihr. Aber gerade gegen diesen Gedanken sträubte sie sich, so ohnmächtig sie sich auch fühlte; sie wollte die Ahnung von etwas Allerschönstem, das noch kommen, das sie werden müsse, nicht aus der Seele lassen, und war doch ebenso unfähig, sich vorzustellen, was es sein könnte, wie die Hand danach auszustrecken, wenn es sich ihr zeigte.

Als das große Frühlingsfest war, ging sie aus, um den Festzug und das Gepränge im Sonnenschein anzusehen, in der Meinung, sie müsse das Schöne davon sehen oder wenigstens einsehen, einerlei, ob sie fröhlich oder traurig wäre. Sie befand sich indessen kaum unter den unruhig drängenden, lachenden und schwatzenden Menschen, als sie ein sonderbares Gefühl der Beschämung und Beängstigung empfand, als müßten alle mit Fingern auf sie zeigen und rufen: Seht da, die graue Frau, die kümmerliche, unglückliche, was will die Häßliche in unserem Jubel! Und sie ging scheu, so schnell sie konnte, durch Seitenstraßen aus der Stadt auf die Höhen und dem Walde zu. Wo sie sich ganz allein und nicht einmal von der Sonne mehr gesehen fühlte, warf sie sich zur Erde und griff mit beiden Händen in das weiche Erdreich, als ob sie sich ganz hineinwühlen wollte. »Warum bin ich blind und häßlich geworden?« klagte sie. »Warum sehen meine Augen nichts mehr als mein schimpfliches Elend? Was mir einmal rot und grün und wonnevoll erschien, das sehe ich grell, schmutzig und unbedeutend. Deine Bäume und Blumen trösten mich nicht mehr, Mutter Erde! Und doch bist du schön, du Ewige, wie du warst, nur ich bin blind und krank, daß die Schönheit mich anwidert, die du über mich ausschüttest.«

Sie wartete, bis es ganz dunkel geworden war, ehe sie wieder nach Hause ging, und versuchte seitdem nicht mehr, sich Freude über irgend etwas Schönes, über Menschen oder über die Natur abzuringen, sondern ging gleichsam mit niedergeschlagenen Augen, bestrebt, nichts zu sehen und nicht gesehen zu werden, von einem Tage zum andern.

Da sie sich erinnerte, daß der Freiherr sie einmal dringend gemahnt hatte, Michael zu entsagen, kam ihr der Wunsch, ihm zu sagen, wie es nun wäre, und von ihm zu erfahren, was das Gute dabei sei und von wo ihr noch einmal Lebensquellen fließen könnten, aber sie dachte zugleich, daß er ihre Art, zu fühlen, nie verstanden hätte, und sie nur mit Vorschlägen, die für sie sinnlos wären, foltern würde. Doch entschloß sie sich, als er wieder einmal anwesend war und einen Vortrag ankündigte, hinzugehen, hauptsächlich, weil es ihr schien, als würde sie, wenn sie sich nicht bald überwände, auszugehen und Menschen zu begegnen, versteinern und keinen Hauch zur Sprache mehr in ihrem Leibe finden. Außerstande, ihre Aufmerksamkeit auf das, was er sagte, zu spannen, betrachtete sie zerstreut die Gesichter um sich her, womit sie sich sonst in Gesellschaften oder Versammlungen die Zeit aufs angenehmste verkürzt hatte; aber die Menge wirkte beunruhigend und abstoßend auf sie, einzig das Gesicht des Freiherrn schien ihr nicht überflüssig und langweilig zu sein. Er sah gealtert und durch die erstickende Luft in dem vollen Saale peinlich erhitzt aus und erinnerte sie an einen rotgeflammten Baum im Herbst, aus dem, je mehr seine Lebenskraft versiegt, desto freier seine feurige Seele hervorschlägt. Sie hatte ihn seit jenem Abend in der fremden Stadt nicht wiedergesehen; denn er war fast immer verreist, um auswärts Vorträge zu halten, und wenn er am Orte war, nahmen ihn seine Geschäfte so sehr in Anspruch, daß sie ihn nicht hatte aufsuchen mögen. Doch kannte auch er sie sogleich unter der Menge heraus, und nachdem, wie es Sitte war, alle Fragen aus dem Publikum beantwortet und alle Eröffnungen von ihm entgegengenommen waren, forderte er sie auf, ihm in das kleine Zimmer zu folgen, wo er sich vor Beginn und nach dem Schlusse der Vorträge aufzuhalten pflegte.

Seinen Vorschlag, sie möchte zunächst das Abendessen mit ihm einnehmen, nahm sie gleichgültig an und hörte teilnahmslos zu, was er ihr während desselben von seinem Leben und seinen Erlebnissen erzählte. Dann folgte sie ihm zu einer von den Bänken am See, die möglichst abseits von dem großen Strome der Spaziergänger stand, denn es war in diesem Jahre außergewöhnlich zeitig Frühling geworden, worauf er sie bat, nunmehr von sich zu sprechen; er habe ihr angesehen, daß sie vieles und Trauriges zu erzählen habe. Indem sie den Mund öffnete, um zu sprechen, fühlte sie zugleich, daß sie es nicht könnte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen; da sie aber seine Frage, ob es Michael anginge, nickend bejahte, brachte er leicht die entscheidende Tatsache aus ihr heraus.

»Sie hätten nicht warten sollen, bis das Schicksal es Ihnen abzwang«, sagte der Freiherr; »aber es ist nun nicht mehr nötig, daß ich Sie tadle. Für jeden Menschen, er sei wer er wolle, muß der Augenblick kommen, wo er mit Schrecken fühlt, hier ist Gott! und niederstürzt und anbetet. Nur der Schwächling schrumpft vor der großen Erscheinung entmutigt in sich selbst zusammen, und nur der Böse speit sie an und will an ihr vorüber.«

Rose sagte kalt: »Ich bin nicht schwach und nicht böse, aber ich habe die Erscheinung nicht gesehen. Ich habe eine schöne Säule stürzen gesehen, die mein Dach trug, habe gesehen, wie mich die Trümmer begruben, und sehe nun, wie ich ohne Leben dennoch weiterlebe.«

»Und sind das nicht Wunder genug, um Ihnen die Augen zu öffnen?« rief der Freiherr. »Stehen Sie nun fester als zuvor und werden Sie selbst eine tragende Säule. Wissen Sie nicht, daß geschrieben steht: ›Verflucht, wer sich auf Menschen verläßt!‹«

Rose sah ihn an und sagte nach einer Weile: »Es ist, wenn Sie sprechen, als wenn der Wind rauschte; ich höre eine große Stimme, aber ich verstehe sie nicht.«

»Der Herbst ist gekommen, und du sollst Früchte tragen«, sagte der Freiherr.

»Ich, ich!« rief Rose klagend. »Nun mir Blätter und Blüten abgerissen sind!« Dann senkte sie den Kopf und sagte nach langem Sinnen: »Ja, wenn ich ein Kind von Michael hätte, wäre alles anders. Ein kleines Wesen, das zwischen Gras und Blumen sitzen und mit Käfern spielen wollte, das würde mir die Erde wieder lieb machen.«

»Und warum haben Sie keines?« fiel der Freiherr rasch ein. »Weil Sie kein Ring in der großen Kette sein wollten! Weil Sie den Ruf des flammenden Engels nicht hören wollten, der die Menschen aus dem Paradiese ins Leben stößt, leben, leben, leben sollen wir, unter Schweiß und Tränen. Sie haben die Welt beschauen und bewundern wollen, wie wenn sie ein Bild wäre, aber sie ist ein lebendiger Gott, dem Sie helfen sollen, zu kämpfen, zu tragen, zu erlösen, von dem Sie lernen sollen, ein Geist zu sein und den Lehm, der selbst den Menschen spielen möchte, zu regieren.«

»Ich bin ein Kind der Erde«, sagte Rose traurig und lehnte den Kopf müde gegen die Bank zurück. Der Freiherr sprang auf, ging bis an das Ufer des Sees, der in kleinen dunklen Wellen eintönig flüsterte, und blieb eine Weile dort stehen; dann kehrte er langsam zu Rose zurück und sagte: »Ich kenne Menschen, die nicht eines kurzen Frühlingstages Länge so reich und glücklich waren, wie Sie Jahre und Jahre, die mit schwachen Kräften ihr bescheidenes Brot aus Steinen graben mußten und nichts als Grausamkeit und Schimpf von den Menschen erfuhren, und die sich doch nicht so erniedrigten, wie Sie.«

»Warum litten sie alles das?« sagte Rose unwillig. »Ich will nicht leiden, nicht was eine unbekannte harte Hand mir aufzwingt. Ja, um mit Michael zu leben oder zu sterben, hätte ich Todesmartern auf mich genommen, ohne zu klagen, und mich glücklich gepriesen, je mehr es schmerzte.«

»Und wir hätten eine gutherzige Dirne mehr, der nichts über den Schatz geht«, sagte der Freiherr trocken. Ohne noch einen Blick auf sie zu werfen, lüftete er den Hut und entfernte sich mit langen festen Schritten.

Als er sie nach mehreren Tagen aufsuchte, fand er sie vor einer Bibel sitzend und lesend, was er mit Lächeln bemerkte.

»Ich pflege«, sagte er, »die Menschen, mit denen ich besonders hart umgegangen bin, besonders liebzugewinnen, und so ist es mir mit Ihnen ergangen. Sie liegen mir immer im Sinn, so daß ich zu tun hatte, um mich nicht durch Sie in meinen wichtigeren Geschäften zerstreuen zu lassen. Ich möchte Sie in meine Arme nehmen und trösten wie ein Kind oder ein Weib, als ob ich nicht achtundsechzig, sondern fünfunddreißig Jahre zählte.«

Roses blasses Gesicht wurde langsam rot, und sie sagte mit einem schwachen Lächeln: »Hätte ich das vorher gewußt, wäre ich nicht so duldsam und ergeben bei Ihren Strafreden geblieben.« Der Freiherr sagte in heiterster Laune: »Es ist reizend, das Blut der Mutter Erde in sich umgehen zu spüren, wenn man es zu beherrschen weiß, und dessen bin ich mir gewiß. Sagen Sie mir nun so aufrichtig, wie ich selber bin, ob es Ihnen zuwider ist, daß mein Gefühl Sie so stark umfängt.«

Rose antwortete: »Ich bin so schwach, daß es mir wohltut. An Ihrer Teilnahme merke ich, daß ich heilbar bin und vielleicht sogar noch einmal gesund und kräftig werden kann.«

Vor längerer Zeit war sie einmal gefragt worden, ob sie den Zeichenunterricht an einer Schule übernehmen wollte, was sie damals erschrocken und fast entrüstet von der Hand gewiesen hatte. Jetzt besann sie sich darauf und meldete sich zu der Stelle, in der Meinung, daß sie eine regelmäßige, reizlose Beschäftigung besser würde ertragen können, als die Berührung mit der Kunst, der sie sich unwert fühlte. Fand sie auch zunächst keine andere Befriedigung darin, als daß die Tage ihr schnell und ruhig verstrichen, so sah sie doch das schon für einen Gewinn an, und daß in der täglichen Überwindung zur Aufmerksamkeit und geduldigen Freundlichkeit das klägliche Gefühl von Ohnmacht und Lahmsein verschwand, freute sie weniger um ihrer selbst als um des Freiherrn willen.

Indessen kam dieser, nachdem sie ihn einige Wochen nicht gesehen hatte, mit veränderter Haltung und aufgeregter Miene wieder zu ihr, die sie erschreckte. Höhnisch und unruhig, wie es sonst seine Art nicht war, sagte er, sich kaum zu flüchtiger Begrüßung Zeit nehmend: »Hast du einmal von der Greisenliebe gehört, die feuriger ist als die der Jünglinge und verzehrt, was immer sie hemmen will? In den Büchern ist das etwas Rares und Großartiges, in Wirklichkeit aber ist es häßlich, widersinnig, ja, und abscheulich. Der letzte Funken aus dem Aschenhaufen deines Herzens hat in meinem gezündet, mache du nun gut, was du angestiftet hast. Ich bin der erste, der pfui dazu sagt, daß einer ein paar Jahre vor seinem Tode um eine Blume mit geknicktem Stengel und abgewelkten Blättern seufzt. Denn das bist du; deine Küsse sind trocken, dein Herz ist verrunzelt und schäbig geworden, es könnte keine Hundeseele mehr fett von deiner Liebe werden. Aber es hilft nichts, daß ich mir das sage, weil ich verliebt bin wie ein bartloser Affe und mich zu deinen Füßen winden möchte, um nur einmal deinen Handschuh küssen zu dürfen. Wenn du noch fühlen kannst, was schön und häßlich ist, mach ein Ende mit dieser Niedertracht. Erhören mußt du mich, ob dir wohl oder weh dabei wird. Denke daran, daß deine Seele einmal in meinen Händen lag und glücklich war!«

»Ja«, rief Rose, in leidenschaftlichen Schmerz ausbrechend, als ob sie nur die letzten Worte gehört hätte. »Damals! Damals war ich reich und verschwendete wie die Sonne, weil ich wußte, daß der unermeßlichen Glut kein Ende war. Das kann nie, nie wiederkommen! Damals konnte Leidenschaft mich rühren, und wenn es auch einem anderen gehörte, hätte mein Herz in Widerhall gezittert. Jetzt möchte ich lachen, wie ein Toter im Grabe lachte, wenn man so heftig um ihn würbe.«

»Es ist wahr«, sagte der Freiherr mit starrem Blick auf sie, »Sie sehen aus wie eine Verstorbene, eine Mumie in einem Bleikeller, die vergilbt, aber nicht in Verwesung übergeht. Vernünftige Leute werden das Gespenst, das noch auf der Stätte seiner Irrsale umgehen muß, nicht lieben, das merken Sie sich. Bis der Hahn kräht, der Sie einmal aus dem Kreise der Lebendigen verscheucht, halten Sie sich an mich, meinetwegen weil Sie keinen andern haben. Die Blume haben andere gekostet, geben Sie mir die Neige, an der Ihnen nicht viel mehr liegen kann, nach der mir Wahnsinnigem aber nun einmal der Sinn steht.«

Rose hatte mehr erstaunt als ungehalten zugehört und sagte, traurig lächelnd: »Ist das Ihre Liebe, daß Sie mich so schrecklich beleidigen! Ich habe nun schon eingesehen, daß man, wenn man den Fuß aus dem Paradiese hat setzen müssen, nie mehr einen Pfad findet, wo man nicht auf Staub und Schmutz und spitze Steine treten muß. Einmal hörte ich einen großen, schönen Ton, in dem alles harmonisch einklang, was ich vernahm; nun der mir verstummt ist, höre ich solches. Wo war ich früher, daß ich die trostlose Häßlichkeit nicht sah, von der das Leben voll ist?«

»Sie saßen in einer Rosenlaube und hörten Nachtigallen singen«, sagte der Freiherr nach einer Pause, »und das tun jeden Frühling Liebespaare zu Hunderten.«

Rose schwieg, während ihre Augen sich langsam mit Tränen füllten. »Ja, die Erde ist immer schön und gut«, sagte sie mit weicher Stimme, die ein wenig zitterte. »Erst wenn ich das vergessen könnte, wäre ich ganz verloren.«

»Rose,« bat der Freiherr ungeduldig, »mach meiner schimpflichen Qual ein Ende. Wenn du meine Frau und mein Kind sein willst, wird der widerliche Krampf sich legen, den man Liebe heißt, und ein reiches, warmes Leben wird zwischen uns erwachsen. Dann, schwöre ich dir, sollst du lernen, warum es so kommen mußte, warum die Rosenlauben verblühen und die Stacheln, an denen man sich wund ritzt, bleiben.«

Da sie nicht sogleich antwortete, schlug er plötzlich die Hände vor das Gesicht und brach in lautes Schluchzen aus. Er weinte nicht mit Tränen, sondern sein magerer, zusammengekrümmter Körper schüttelte sich und zuckte, was weniger häßlich, als ungehörig und seltsam peinlich anzusehen war. Rose suchte ihn, aufs äußerste beängstigt, zu beruhigen und sagte: »Wenn Sie mich durchaus so haben wollen, wie ich bin, und nichts anderes von mir verlangen, als Dankbarkeit, wenn Sie mir einen neuen Weg ins Leben zeigen, so will ich bei Ihnen bleiben. Nur müssen Sie mich erst vergessen lassen, wie Sie heute aussahen und was Sie sprachen.« Allmählich richtete sich der Freiherr auf, fuhr sich mit der Hand durch die buschigen weißen Haare, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab und setzte sich dann, tief aufatmend, Rose gegenüber, indem er sie bat, sie möchte ihm etwas von ihren Eltern und von ihrer Kindheit erzählen.

Sie erzählte, daß sie im Norden Deutschlands auf einem Landgute aufgewachsen sei, zwischen weiten Fluren und Äckern, Fichtenwäldern und Heide. Im fliegenden Röckchen, ohne Hut und ohne Schuhe, war sie auf jungen, wilden Pferden über die blühende Heide geritten und hatte traurige Melodien in die flimmernde Luft gesungen. Oder sie hatte sich mitten in das Kraut geworfen, seinen heißen Geruch eingeatmet und Träume von rosenroter Glut geträumt. Sie hatte grenzenlos an ihrem Vater, einem großen, ruhigen Manne, der nur selten, aber dann maßlos zornig wurde, und an ihrer Großmutter, der Mutter ihrer frühverstorbenen Mutter, gehangen. Die Großmutter war von vornehmer Herkunft gewesen und besaß allerhand Schmuckgegenstände und Geräte aus längst vergangener Zeit, die zu betrachten Roses Lust an Winterabenden war. Es war darunter ein silbernes Büchschen mit einer Girlande aus getriebenen Rosen um die Öffnung herum, über dessen Zweck sie zu rätseln pflegte, und ferner, was ihr am meisten gefiel, ein schwerer, silberner, inwendig vergoldeter Pokal. Es waren an seinem Rande sich gegenüber zwei Löwenköpfe angebracht, von denen jeder einen dicken Ring als Handhabe im Maule hielt, und da er sehr breit und tief war, hatte sie als kleines Kind die Vorstellung, man könnte das Meer, das sie nicht aus eigener Anschauung kannte, das sie aber, wenn sie über die Heide ritt, aus der Ferne donnern hörte, hineinfüllen. An festlichen Tagen wurde der Pokal mit rotem Wein gefüllt, in den das Gold berückend hineinspiegelte, und wenn sie einen Schluck daraus trinken durfte und hineinsah, empfand sie eine fremdartige Wonne, als möchte sie jetzt die Wunder des Lebens in magischen Farben erblicken. Die Großmutter besaß einige Bücher und wünschte, daß Rose etwas lernte, worum sich der Vater nicht sonderlich bekümmerte, erklärte ihr auch manches von den Völkern und ihrer Geschichte, von Kunstwerken und Dichtungen, und lehrte sie die Sternbilder mit ihren Namen kennen, Kassiopeia und Orion und Arkturus, die sie in Sommernächten, wenn sie lange auf freiem Felde streifen durfte, mit jauchzendem Geschrei gegen den glitzernden Himmel sang.

Auf das Drängen der alten Frau wurde Rose, als sie etwa zehn Jahre alt war, in die nächste Stadt geschickt, damit sie eine Schule besuche, wo sie sich aber zunächst am Heimweh aufzehrte und ebenso gedrückt und lahm wurde, wie sie früher froh, kräftig und gelehrig gewesen war. Allmählich verfiel sie darauf, das, wonach sie sich sehnte, aus dem Gedächtnis zu malen, so gut es gehen wollte, nämlich ihren Vater und ihre Großmutter, wie auch die Heide, die Wolken und Bäume, und vor allem die Tiere, die ihr die Geschwister ersetzt hatten, wodurch das Heimweh wirklich beschwichtigt wurde und sich im Gegenteil in reizendes Wohlgefühl verkehrte. Sie gewann die Bilder fast so lieb wie die Gegenstände, die sie darstellten, und wenn sie ihr auch am folgenden Tage nicht mehr genügten, so entwarf sie dafür neue, die ihr treu und herrlich erschienen. Ihre Neigung und ihr Geschick zum Malen wurde dadurch bekannt, und es war wieder die Großmutter, die Verständnis dafür hatte und sie ermunterte und anregte. Nach dem Tode des Vaters setzte sie es durch, anstatt Rose bei sich zu behalten, daß sie zu einem geeigneten Lehrer kam, um sich auszubilden, wovon sie auch noch den guten Erfolg erlebte. Für ein Bild, das ihr kleines wildes Pferd darstellte, wie es schnuppernd den Kopf hob, im Begriffe, in die braune Heide hinauszustürmen, und das ihr Lehrer als ausgezeichnet und poesievoll gerühmt hatte, schenkte sie ihr den silbernen Pokal, den sie als Kind so sehr bewundert und geliebt hatte, indem sie sie auf beide Augen küßte und dazu sagte: »Mögest du immer alles mit Kinderaugen sehen, groß und schön.« Der Tod der Großmutter fügte ihr solchen Schmerz zu, daß sie ihn nie verwinden zu können glaubte; indessen lernte sie bald darauf Michael kennen, wodurch ihr Leben eine andere Richtung erhielt.

Der Freiherr hatte sich, während Rose erzählte, vollständig beruhigt, und da sie schwieg, sagte er sanft: »O du Kind, du Kind, das keinen Haß und keinen Groll kennt, du wirst mir bald wieder so gut werden wie früher, und dann sollst du glücklich sein, wie Gott es mit dir im Sinne hat. Ich will dich nicht mehr plagen mit Absichten und Strebungen, ich will dich purpurne Meere in deinem goldenen Becher rauschen hören lassen und dich pflegen, bis deine Kinderaugen wieder groß und schön sehen, wie die weise Frau, die süße, deine Großmutter, es haben wollte. Wo Kinder sind, ist das Paradies, und da Gott es dir gegeben hat, sollen Menschen dich nicht daraus vertreiben.«

»Ich bin kein Kind mehr«, sagte sie, leise den Kopf schüttelnd, »seit ich meine eigene Seele angesehen habe und sie grau und kläglich fand, nicht mehr, und dahin gibt es kein Zurück; es muß etwas anderes kommen.« Der Freiherr strich sacht liebkosend über ihr Haar und meinte tröstlich, es müßten ja nicht durchaus Pferde und Kühe sein, die man anstaunte, man könnte auch Ideen lieben und groß und schön sehen; worüber sie auf einmal den Kopf zurückwarf und mit hellem Lachen sagte: »Nein, du Freiherr, mir gefallen nicht deine Ideen, sondern deine blitzenden Augen und deine hochmütige Nase und das zarte Jünglingslächeln, mit dem du mich ansiehst. Wenn das nicht wäre, möchte ich mich nicht vermessen, es bei dir auszuhalten.«

Nach dieser Unterredung begab sich der Freiherr noch einmal auf Reisen, weil seine Gegenwart bei der Gründung von Zweigvereinen seiner Religionsgesellschaft an verschiedenen Orten gewünscht wurde, und Rose führte ihren Zeichenunterricht weiter; doch war es ausgemacht, daß sie nach seiner Rückkehr ihre Wege auf immer vereinigen wollten.

*

Obwohl Michael jede Erinnerung an die Vergangenheit strenge mied, dachte er doch oft an den Freiherrn, ließ ihn im Geiste neben sich hergehen und hörte die Bemerkungen, die er über dies und jenes machte, was ihm auffiel. Einmal, als er in der Börse war, malte er sich aus, wie der Freiherr oben auf der Galerie stünde und etwa folgende Rede hielt: Ihr Krämer, die ihr an Sonntagen eure Frauen oder Dienstleute in die Kirche schickt, eure Lehrjungen fortjagt, wenn sie den Namen Gottes lästern, und die Nase rümpft, wenn einer behauptet, ihr stammet von den Affen ab! Ja, hättet ihr nur die kreischende Waldseele der närrischen Gesellen! Ihr mit den sauberen Gesichtern und den runden Backenbärten, eure Seele ist trocken, zäh und ledern wie ein abgenützter Geldbeutel. Wenn es hoch kommt mit euch und ihr die würdigen Baalspfaffen eures goldenen Kalbes seid, so haltet ihr seine Gebote, nämlich, daß man seine Bücher in Ordnung halten und seine Schulden bezahlen soll. Man hat die Tempelritter verbrannt, weil sie mit einem Katzenkopf oder sonst einem unheiligen Haupte Götzendienst trieben, man hat Blutkriege darum geführt, ob Heiligenbilder der Anbetung würdig seien oder nicht, aber niemand wehrt euch, um euren breitmäuligen Abgott zu tanzen, und diejenigen, die ihm nicht dienen wollen, aufzuspießen und in seinen glühenden Bauch zu werfen!

Gleichzeitig stellte er sich vor, daß in der Mitte des Saales ein riesenhaftes, glattes und glänzendes Ungetüm mit kleinen blinzelnden Augen und klaffendem Rachen stünde, und daß jeder, der einträte, davor niederkniete, und schließlich sich alle anfaßten und mit vielem schönen Drehen und Wenden einen Reigen darum aufführten. Indem er darüber lachen mußte, wunderte er sich, ob die anderen ihn fürchteten, weil er sie durchschaute, oder ob sie ihn wegen der mißlichen Geschäfte, die er vertrat, mieden und verachteten. Er fühlte gar keinen Zusammenhang zwischen sich und den Menschen seines Standes und fand es unmöglich, für irgend etwas, wovon sie mit Wichtigkeit bis zu leidenschaftlicher Erhitzung sprachen, das mindeste Interesse zu fassen, so daß er sich oft fragte, wie er jemals so befangen und unreif hatte sein können, dies schale Treiben als selbstverständlich mitzumachen. Es lag seiner Natur zu fern, sich Meinungen darüber zu bilden, wie das Bestehende könnte abgeändert werden, oder etwa gar die Gesellschaft beeinflussen zu wollen; aber seine Seele füllte sich langsam mit Trauer und Verachtung. Ein Schmerzgefühl über seine eigene Lage hatte er nicht mehr, vielmehr kam es ihm natürlich und oft beinahe erwünscht vor, daß diese gewisse Summe Leidens von ihm und keinem andern getragen werden mußte. Eine ungemeine Empfindlichkeit für Leiden anderer, die er sah oder von denen er hörte, war die einzige Art oder doch die hauptsächliche, wie das Bewußtsein seines Grams sich äußerte. Wenn er einen Bettler auf der Straße stehen sah und ihm schnell im Vorübergehen ein Geldstück in die ausgestreckte Hand legte, überwand er jedesmal unwillkürlich die Neigung, stehenzubleiben und zu fragen, was ihm fehle, ihm etwas Vertrauliches zu sagen, wenigstens, daß er selbst nicht glücklicher sei als jener. Einmal sah er im Winter bei größter Kälte eine arme Frau, die, selbst notdürftig bekleidet, ein in viele schmutzige Flicken und Lumpen gewickeltes Kind schleppte, aus denen sein dickes rotes Gesicht und die krampfhaft zusammengeballten, blaugefrorenen Händchen jämmerlich hervorstarrten. Er dachte an die Zeit, wo Mario so klein gewesen war wie das Kind, wie hübsch sein warmes, braunes Gesicht aus dem weißen Pelz, den er trug, hervorgelugt hatte, wie ihm jeder Wunsch nach irgendeinem überflüssigen Spielzeug, das er am folgenden Tage zerbrach, erfüllt worden war, und daß diese Frau ihrem frierenden Kinde vielleicht oft das Stück Brot nicht geben könnte, wonach es weinte. Ob sie niemals nachts an den Fluß geschlichen wäre, dachte er, und finster geträumt hätte, wieviel leichter sie weitergehen könnte ohne das lebende und wachsende Bündel in ihren Armen? Wenn er dachte, wie man sie verdammt und an den Pranger gestellt und gerichtet hätte, im Falle sie sich zu einer verzweifelten Tat hätte hinreißen lassen, schien es ihm, als ob die Folgen seiner Handlungen lange nicht schwer genug auf ihn gekommen wären; aber diejenigen, die auf ihn herabsehen zu können glaubten, verachtete er.

Als nach angestrengter Tätigkeit etwa eines Jahres das Geschäft einigermaßen in Gang gebracht war, entschloß er sich, so widerwärtig ihm diese Angelegenheit auch war, die Geliebte seines verstorbenen Bruders aufzusuchen, die ihn wegen eines Vermächtnisses bedrängt und von der er seitdem nichts mehr gehört hatte. Es zeigte sich, daß sie ihre ehemalige Wohnung, die für ihre jetzigen Umstände zu reich gewesen sein mochte, aufgegeben und eine andere in einem ärmeren, entlegenen Viertel gemietet hatte, wohin Michael nur selten gekommen war. Er empfand es als eine Erleichterung, daß er die Räume nicht zu betreten brauchte, wo Raphael zu Hause gewesen war, doch gab es immerhin noch eine Menge von Gegenständen, die an ihn und den einstigen Glanz erinnerten. Das Durcheinander von dürftigen, geschmacklosen und prunkvollen Sachen, aus denen die Einrichtung zusammengesetzt war, berührte Michael abstoßend, wie alles, was mit dieser Frau zusammenhing, über deren Benehmen er sich freilich jetzt insofern nicht beklagen konnte, als sie ihm mit unterwürfiger Liebenswürdigkeit entgegenkam. Sie schien tatsächlich nicht mehr darauf gerechnet zu haben, daß er Wort hielte und sie besuchte; ihrer Aussage nach fristete sie ihr Leben teils mit dem Erlös verkaufter Gegenstände, teils damit, daß sie, da sie gut kochen konnte, Aufträge in vornehmen Häusern annahm, bei Gesellschaften das Essen herzurichten. Sie machte äußerlich einen günstigeren Eindruck als das erstemal; ihre gutmütigen und zugleich schlauen Augen glänzten munter in dem frischen Gesicht, dem besonders die ebenmäßigen, gesunden Zähne des lachenden Mundes Reiz verliehen. Ihre größte Sorge war, sagte sie, wie sie es anstellen sollte, die Kinder, die allmählich in das Alter kamen, wo sie einen Beruf erlernen sollten, in geeigneter Weise ausbilden zu lassen; es waren vier, zwei Mädchen und zwei Knaben, die sie alle Michael vorstellte. Sie machten einen wohlerzogenen Eindruck und waren in der Kleidung nett und mit sichtlichem Streben nach Zierlichkeit gehalten, hatten aber mit Ausnahme des Ältesten gewöhnliche Gesichtszüge; dieser, der nach seinem Vater genannt war, glich ihm so auffallend, daß es Michael fast erschreckte. Er sah hübsch und sehr aufgeweckt aus, hatte etwas Gewinnendes im Wesen und benahm sich Michael gegenüber mit einer bescheidenen Liebenswürdigkeit, die nicht einstudiert, sondern von angeborenem Takt eingegeben zu sein schien. Trotzdem flößte er Michael keine reine Zuneigung ein, was dieser selbst hauptsächlich dem Umstande zuschrieb, daß es ihn peinlich erregte, unvermutet das verjüngte Ebenbild seines Bruders in dieser Umgebung anzutreffen. Für die Frau hingegen nahm es ihn ein, daß sie, nachdem sie jahrelang die elegante müßige Dame gespielt hatte, so entschlossen mit der Vergangenheit ein Ende machte, um für ihre Kinder zu arbeiten, und indem er sich zum Gehen anschickte, sagte er, er hoffe das Geschäft halten zu können, und wenn er sie auch augenblicklich und vielleicht noch lange nicht ausgiebig mit Geld unterstützen könnte, wollte er ihr doch wenigstens behilflich sein, ihre Söhne mit möglichst geringen Kosten unterzubringen. Er war schon auf der Straße, als er sich besann und noch einmal umkehrte, um ihr den Vorschlag zu machen, ob sie ihren ältesten Sohn als Lehrling in sein Geschäft wollte eintreten lassen; er brauchte nichts zu bezahlen, sollte vielmehr, wenn er sich gut machte, nach einem Jahre ein kleines Gehalt bekommen, und es läge dann übrigens nur an ihm, was für eine Laufbahn er sich schaffen wollte. Sie ergriff das Anerbieten mit lauter, wortreicher Freude und Dankbarkeit, die Michael Mühe hatte, abzuwehren, und erging sich im Preise der Fähigkeiten ihres Sohnes, der sowohl die Schönheit wie den Geist seines Vaters geerbt hätte; freilich, sagte sie, wäre er auch keck und übermütig, so daß sie sich freute, ihn unter strenger und zuverlässiger Aufsicht zu wissen. Auf Michaels Wunsch wurde der Junge selbst befragt, ob er Lust zu der Tätigkeit hätte, die er ihm als beschwerlich und langweilig schilderte; indessen sagte er ohne Zögern, er hätte Lust und werde sich Mühe geben, wobei seine Augen vor ungeduldigem Eifer aufglühten.

Michael fühlte sein Herz für den hübschen Jungen warm werden, wie er so schlank vor ihm stand und ihm offen und erwartungsvoll ins Gesicht sah; trotzdem wurde er auf dem Heimweg wieder unsicher, ob er klug und recht getan hatte, indem er einem Antriebe seines Herzens oder wie er es nennen sollte, so schnell gefolgt war. Er war von dem Gefühl ausgegangen, daß dieser Junge vermutlich das war, was sein Bruder am meisten geliebt hatte, daß er diesem womöglich das hätte zugute kommen lassen, was sein war, und daß es deshalb billig wäre, ihn, was möglich wäre, von der Tätigkeit des Verstorbenen, einerlei, ob sie bedeutend oder gering, Nutzen bringend oder Schaden stiftend gewesen war, genießen zu lassen. Er wollte ihm Gelegenheit geben, gewissermaßen seines Vaters Nachfolger zu werden, sagte sich aber erst nachträglich, daß er das leicht auch in einem anderen Sinne werden könnte.

Da das Äußere des jungen Raphael schon seine Abkunft verriet und auch anzunehmen war, daß die Angestellten von den Angelegenheiten seines verstorbenen Bruders Bescheid wüßten, hielt es Michael für das beste, dem Prokuristen geradezu zu sagen, wer der neue Lehrling wäre, und ihm besondere Aufsicht und Rücksicht in bezug auf denselben zu empfehlen, was dieser dann auch den übrigen beizubringen hätte. Es war zunächst nichts Nachteiliges über Raphael zu sagen, im Gegenteil zeigte er sich gelehrig, gewandt und willig; dennoch mißbilligten es die Angestellten im Grunde, daß Michael, anstatt den unechten Sprößling im dunkeln zu lassen, ihn ohne Not hervorgezogen hatte. Als er sich eines Tages bei Michael über ungerechtfertigte Grobheit, mit der er behandelt worden sei, beklagte, versprach dieser zwar, dem Betreffenden höflichere Ausdrucksweise anzuempfehlen, stellte aber Raphael zugleich vor, daß er seine Empfindlichkeit unterdrücken und nicht jedes Wort wägen müsse, das einem, wenn die Geschäfte gerade drängten, vielleicht lauter fiele, als er beabsichtigt hätte. Auch dürfe er sich nicht überheben und sich, weil er sich für klug, hübsch und Gott weiß was hielte, höher als die anderen Angestellten schätzen, da er vielmehr erst zu beweisen hätte, was an ihm sei, und das zunächst nur durch Pünktlichkeit, Gefälligkeit und Treue tun könnte.

Raphael nahm das schweigend hin, doch bemerkte Michael, daß es seiner Eitelkeit und seinem Hochmut schwer wurde; es war offenbar, daß er in den Leuten, die ihm vorgesetzt waren, die ehemaligen Diener seines Vaters sah, denen er sich durch glänzende Eigenschaften weit überlegen glaubte. Bald gab es alle Augenblicke Mißhelligkeiten; so behauptete einer, daß Raphael, um Aufträge auszuführen, die sich in einigen Minuten erledigen ließen, erst nach Stunden zurückkäme, was dieser mit der Miene eines ehrlich Entrüsteten zurückwies. Doch beobachtete Michael selbst, daß Raphael täglich, sei es auch nur um einige Minuten, zu spät kam, gerade als wollte er beweisen, daß er sich an die Vorschriften, die für die anderen gültig wären, nicht zu binden brauchte. Jetzt hielt Michael eine gründliche Auseinandersetzung für notwendig; unter anderm sagte er ihm, daß auch sein eigener Sohn, wenn er im Geschäfte wäre, sich aufs pünktlichste den Befehlen derer, die ihm vorgesetzt wären, fügen müßte, und daß er es keineswegs als Nichtachtung betrachten müsse, wenn man Gehorsam von ihm forderte und ihn wohl auch einmal rügte. Aber mit seinem Sohne, wendete Raphael ein, würde man nicht befehlshaberisch, sondern freundlich und höflich reden, und keiner würde ihn verklagen, wenn er einmal zu spät ins Geschäft käme. Das wäre möglich, sagte Michael, die Menschen wären nun einmal so, daß sie auf diejenigen Rücksicht nähmen, von denen sie Förderung oder Schädigung erwarten könnten, und ob er selbst sich nicht demütiger und braver gegen ihn bei seinem ersten Besuche gestellt hätte, als er gemeinhin gegen andere Menschen wäre?

Diese letzte Wendung machte Eindruck auf Raphael, so daß er anfänglich überrascht aussah und dann hell zu lachen anfing. Auch Michael lachte und strich ihm freundlich über das lockige Haar, indem er sagte: »Du siehst, besser als die anderen bist du nicht, und wenn du glaubst klüger zu sein, so zeige es jetzt, indem du dich unterordnest, solange es deine Stellung erfordert, und darauf hinarbeitest, mehr und mehr zu denen zu gehören, auf die man Rücksicht nimmt.« Raphael hörte aufmerksam zu, doch plötzlich schossen Tränen in seine Augen, und er sagte leise, indem er den Kopf senkte: »Ich werde doch niemals einen ehrlichen Namen haben.« In diesem Augenblicke hätte Michael den zierlichen Jungen gern in die Arme genommen; aber er drängte seine Rührung zurück und sagte freundlich: »Versuche es, und du wirst sehen, daß man sich einen ehrlichen Namen machen kann, der dann doppelt soviel wert ist wie ein angeborener.«

Seit dieser Zeit kamen Michael keine Klagen über Raphael mehr zu Ohren, da er es sorgfältig vermied, Anlaß dazu zu geben; es diente Michael zur Beruhigung, daß der Junge sich durch eine Eigenschaft, nämlich brennenden Ehrgeiz, so merklich von seinem Vater unterschied. Neue Schwierigkeiten entstanden dadurch, daß das Gerücht ins Ungersche Haus getragen wurde, es sei ein natürlicher Sohn des verstorbenen Raphael im Geschäfte angestellt, wovon auch seiner Mutter etwas zu Ohren kam.

Die Malve hatte, als Raphael ein junger Mann war, wohl gewußt, daß er mit Frauenzimmern zu tun hatte, aber nie mit ihm davon gesprochen; sie hielt solche Beziehungen junger Leute für etwas Unabänderliches und machte sich im ganzen keine deutliche Vorstellung davon. Was Raphael anbetraf, malte sie sich ihn gern als strahlenden Sieger zwischen lauter verliebten, schmachtenden Mädchen aus, indessen sagte ihr ein heimliches Gefühl, die Wirklichkeit wäre häßlicher und gemeiner, und sie verscheuchte dann alles zusammen, um nur nicht etwas Garstigem auf die Spur zu kommen. Nachdem er verheiratet war, hielt sie es für selbstverständlich, daß von nun an die unabänderlichen Anhängsel des Junggesellenlebens aufhörten, und einen Verdacht, den ihr Mann gelegentlich äußerte, wies sie empört zurück, die Angst, es könne doch etwas daran sein, die sie gleichwohl im Innern fühlte, vor sich selber verbergend. Wenn sie aber jetzt, nun er tot war, daran dachte, es gäbe einen Jungen, der ihm aufs Haar gliche, der seinen Namen trüge und ihn liebhätte, so überkam sie eine sehnsüchtige Bangigkeit, als ob er selbst wieder da wäre und sie das schreckliche Ende nur geträumt hätte. Sie rief sich die Zeit zurück, wo er ein frohsinniger, mutwilliger, schmeichlerischer Knabe gewesen war, und das Herz klopfte ihr bei dem Gedanken, wenn sie riefe, käme derselbe zur Tür herein, vielleicht veredelt durch eine geheimnisvolle Umwandlung, und schmiegte sich scheu und dankbar in ihre Arme. Aber bevor sie dazu kam, solche Gedanken zu verwirklichen, fiel ihr ein, wie es mit der Herkunft des Knaben, wenn er wirklich lebte, eigentlich beschaffen war, daß eine lasterhafte Person – denn anders konnte sie es sich nicht vorstellen – seine Mutter wäre, und daß auch von dieser etwas in ihm sein könnte, ja ohne Zweifel wäre. Es graute ihr vor der Möglichkeit, daß ein solches Geschöpf, gemein und unverschämt, Anspruch auf mütterliche Gefühle erheben und sich unter diesem Vorwand als gleichberechtigt an sie drängen könnte. Schließlich empfand sie nur noch die Angst vor etwas Schimpflichem, das ihr Leben antasten wollte, und den Wunsch, es möchte die ganze Sache auf müßigem, unbegründetem Geschwätz beruhen.

Spät am Abend, als Michael noch in seines Vaters Arbeitszimmer am Schreibtisch saß und schrieb, kam sie leise herein und fragte, ob sie ihn störe, dann, wie beiläufig, warf sie hin, es sei doch gewiß nicht mehr als ein Gerede, daß seit einigen Wochen ein Lehrling im Geschäfte sei, der Raphael gliche und in engster Verwandtschaft mit ihm stände. Michael hatte es für möglich gehalten, daß seine Mutter, wenn sie doch einmal von dem Dasein des jungen Raphael Kunde bekommen hätte, sich mit der Tatsache abfinden und das Kind an sich zu ziehen suchen würde; aber an der Art, wie sie die Frage an ihn stellte und ihn ansah, merkte er, daß sie nur vor Widerwärtigkeit und Schmutz, der wie eine Spinne an sie herankröche, beschützt sein wollte, und sagte nach kaum minutenlangem Überlegen: »Das ist wirklich nur ein Gerede, das aus einer gewissen Ähnlichkeit, die tatsächlich vorhanden ist, und der Namensgleichheit entstanden ist.« Sie nickte und fing schnell von etwas anderem zu sprechen an, worauf sie, um Michaels Arbeit nicht zu unterbrechen, wieder fortging.

Etwa nach einer halben Stunde kam sie noch einmal herein, und als Michael überrascht aufblickte, sah er, daß sie innerlich bewegt war; er wollte aufspringen und auf sie zugehen, allein sie war schon neben seinem Stuhle, beugte sich über ihn und strich sanft mit der Hand über sein glattes schwarzes Haar. »Michael«, sagte sie, »das Leben ist häßlich, und wir Menschen sind sehr schwach«; sie sagte es leichthin mit ihrer lieblichen Stimme und mit dem fragenden, kindlichen Lächeln, mit dem sie in Gesellschaft eine ernsthafte Bemerkung, die doch nicht ernst klingen sollte, zu begleiten pflegte; aber ihre Lippen zitterten ein wenig, und Michael sah an ihren Augen, daß sie geweint hatte. Er antwortete nicht, sondern neigte sich auf ihre Hand, die sie auf die Lehne seines Stuhles gelegt hatte, und küßte sie. »Aber du, Michael«, fuhr sie fort, während ihr Blick mit Liebe auf ihm ruhte, »du bist anders, in dir ist etwas Großes, und du bist doch mein Sohn.« Er lächelte trübe und sagte: »Ich weiß nicht, ob etwas Großes in mir ist, Mama; aber es macht mich glücklich, wenn du daran glaubst.« Er sah beim Licht der elektrischen Lampe deutlich die langen, feinen, tiefen Linien auf ihrer Stirn und wie verblichen und erschlafft ihre Hände waren, trotzdem kam sie ihm schöner vor als je in der Majestät und Lieblichkeit ihrer Haltung und mit dem zarten Lächeln, das wie ein Schleier über ihrer Wehmut lag. »Und die kleine Malve, die mir gleichen soll«, sagte sie, als könnte sie kein Ende finden, sich zu trösten, »bei ihr, wenn sie bei euch bleibt, wird vielleicht einmal alles aufblühen, was deine Mama ungepflegt hat zugrunde gehen lassen.« Michael stand auf, umarmte sie und sagte: »Sie kann nichts Schöneres und Geliebteres werden, als du bist, Mama«; er hätte ihr durchaus nichts anderes als etwas Weiches, Schmeichelndes sagen können. Sie empfand ein dankbares Wohlgefühl bei seiner Huldigung, aber tiefer und inniger doch die Liebe, die er ihr hatte zeigen wollen, und verließ ihn befriedigt; es war ihr so zumute, als ob sie gebeichtet und darauf die Sündenvergebung empfangen hätte. Von dem kleinen Raphael war seitdem nicht mehr die Rede, und wenn sie ihn auch nicht vergessen hatte, beschäftigten sich ihre Gedanken doch nicht mehr mit ihm.

Nachdem Gabriel das erstemal einige Ferienwochen zu Hause zugebracht hatte, erzählte Mario seinem Vater, er hätte mit Bezug auf seine Mutter, die Malve, gesagt, es sei ein wahres Wort der Alten, daß die Götter den in jungen Jahren sterben lassen, den sie lieben; ihre Schönheit sei so mürbe und fadenscheinig geworden, daß das Alter überall hindurchgrinse, und es sei etwas Trauriges, daß sie nicht vorher gestorben wäre, ehe sie selbst und ihre Angehörigen das gesehen hätten. Michael fragte erstaunt: »Hast du gar nicht gedacht, die Worte könnten mir weh tun, daß du sie mir wiederholst?« – »Nein«, sagte Mario treuherzig, »sonst hätte ich es gewiß nicht getan.« Beschämt war er nicht, aber offenbar betrübt darüber, daß er seinen Vater verletzt hatte, der denn doch über den kindischen Jungen lachen mußte, während sein Mißfallen sich gegen Gabriel wendete. Insgeheim fand Mario, daß Gabriel recht und seine eigene Meinung noch dazu schön und eigenartig ausgedrückt hätte, was er seinem Umgange mit dem Dichter Aristos zuschrieb. An einem der nächsten Tage fragte er Michael, ob er die Gedichte von Aristos lesen dürfe, und dieser sagte lachend, indem er in Marios kindliches Gesicht sah und an die Hingebung dachte, mit der er sich an den Spielen der kleinen Malve beteiligte, wenn er sie verstände, könne er sie immerhin lesen. Bald erklärte Mario, die Gedichte wären zwar tiefsinnig, aber meistens gelänge es ihm doch, sie zu verstehen, und er trug seinem Vater nun häufig, wenn er ihn ins Geschäft begleitete, besonders schwierige Verse vor, deren Bedeutung ihm zweifelhaft geblieben war und die Michael nach bestem Vermögen erklären mußte.

* * *


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