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Daß Michael zu Weihnachten, weil es der Kürze der Ferien wegen nicht der Mühe wert wäre, nicht nach Hause kommen wollte, veranlaßte einen unerfreulichen Briefwechsel mit seiner Familie, namentlich mit Verena. Unerwarteterweise aber schickte sie ihm, einer schönen Aufwallung nachgebend, zum Weihnachtstage das Bild des kleinen Mario, das Rose gemalt hatte, und das sie ihm, als er abreiste, trotz seines dringenden Wunsches nicht hatte mitgeben wollen. Der Freiherr hatte ihn aufgefordert, den Weihnachtsabend bei ihm zuzubringen, aber er konnte sich nun doch nicht entschließen, unter Menschen zu gehen, und saß traurig in seinem halbdunklen Zimmer vor dem gemalten Kinderbilde mit den süßen Augen, während ein föhniger Wind von Zeit zu Zeit Wirbel von Schneeflocken am Fenster vorbeijagte. Er hatte noch niemals einen Weihnachtsabend ohne seine Eltern und ohne Weihnachtsbaum erlebt, und obwohl er mit Bewußtsein schon lange keinen Wert mehr darauf legte, fühlte er sich nun entwurzelt und ungewissen Mächten preisgegeben.

Indessen trat nach Neujahr eine frische Kälte ein, in der die trüben Stimmungen sich schnell verzogen; auf den Dächern, Hügeln und Tannenwäldern glänzten die glatten Schneemassen, und die helle, kristallene Bläue des Himmels wölbte sich funkelnd darüber. Es gab in der Umgebung der Stadt einen kleinen See, der in den kalten Wintermonaten zufror, und wo dann Schlittschuh gelaufen wurde, ein Vergnügen, dem der Freiherr sehr ergeben war. Am Nachmittag eines Wochentages, wo nicht viele Menschen dort zu vermuten waren, führte er Michael hinaus, in heiterster Laune, wie ein Knabe ganz von der bevorstehenden Lust erfüllt. Man ließ ein Dorf und mehrere Höfe auf spärlich bewaldeten Hügeln hinter sich und gelangte endlich in ein breites Tal, wo der See lag, den im Hintergrunde aufsteigende Tannenwälder abschlossen. Michael war ein guter Schlittschuhläufer, konnte sich aber nicht mit dem Freiherrn messen, der nicht nur die schwierigsten Kunststücke mit Anmut ausführte, sondern auch im einfachen Laufe, wo er in der freiesten Stellung zu fliegen schien, seine vollendete Sicherheit erkennen ließ. Er begrüßte unter den wenigen Personen, die auf dem See waren, einige Bekannte, und stellte Michael einem jungen Mädchen vor, die er Arabell Conz nannte, und die Michael schon hie und da in Vorlesungen des Freiherrn gesehen hatte.

Sie sah reizend und ungewöhnlich aus: auf kurzem gelockten, aschblonden Haar trug sie ein dunkles Pelzmützchen und ein dunkles, pelzbesetztes Kleid auf dem kindlichen Körper, der den Eindruck großer Beweglichkeit, zugleich aber auch Unbehilflichkeit machte. Auffallend war ihre Art, zu laufen: sie trieb wie eine Träumende dahin, die irgendeine keinem sichtbare Erscheinung verfolgt, für alles Wirkliche dagegen blind ist. Michael bemerkte in ihren offenen blauen Augen ein entzücktes Aufleuchten, als sie den Freiherrn sah, und wie sie an seiner Hand, die er ihr bot, mit erstaunlicher Leichtigkeit, wie von neuer Kraft und Begeisterung getragen, dahinflog. Er sagte sich, daß sie eine von den zahlreichen Verehrerinnen des Freiherrn sein müsse, dem man nachsagte, daß er trotz seiner Jahre den Frauen gefährlicher als irgendein junger Adonis wäre; wenn je, so war es hier begreiflich, wo die geschmeidige Kraft und Eleganz seines Körpers sich vorteilhaft zeigte und die Freude aus seinen energischen Augen blitzte. Wenn er bei freundlicher Unterhaltung mit Menschen, denen er gut war, lächelte, so war sein Mund der eines Jünglings, während für gewöhnlich seine Lippen etwas Strenges hatten und als zu schmal gelten konnten; diese unversehens sich enthüllende Jugendlieblichkeit empfand Michael jedesmal als unwiderstehlichen Zauber.

Es ergab sich von selbst, daß der Freiherr der erste Gegenstand des Gespräches zwischen Michael und Arabell war. Sie sah ihn erfreut und herzlich an, als sie hörte, daß auch er ihn verehrte, und sagte mit Feuer: »Ja, er ist der Außerordentlichste unter allen Menschen. Er ist so unendlich hoch über mir, daß er meine Fragen kaum vernimmt, und doch empfange ich immer eine Antwort von ihm. Die meisten Menschen stellen nur Fragen, aber er antwortet; er ernährt aus seinem unerschöpflichen, ambrosischen Geiste.« Michael äußerte einiges über den Inhalt seiner mystischen Bücher und fand zu seiner Überraschung, daß das halb kindliche Mädchen sie gelesen hatte und liebte. »Ich verstehe das wenigste davon mit dem Verstande«, sagte sie, »aber ich ahne den Gott darin, den ich anbeten könnte. Wenn in der Kirche von Gott gesprochen wird, fühle ich Zweifel und Widerstreben, der Gott, den er lehrt dagegen, ist lebendig, und nicht einmal der Glaube wagt sich an ihn heran, geschweige der Zweifel. Erklären könnte ich Ihnen das nicht, denn ich habe weder Gelehrsamkeit noch gebildeten Verstand, und mein Platz unter den Geschöpfen ist sehr gering, da ich Gott nie und nirgends fassen kann, nur blind seine Kraft in mir fühle. Ich habe keinen Geist, ich bin nur eine Flamme der Anbetung, eine ewige Lampe, die keine Priesterin zu speisen und zu behüten braucht.«

Michael verabscheute die überspannten Frauen, hier aber fühlte er sich durch etwas zwar Fremdartiges, aber Ungekünsteltes gerührt und angezogen; diese zitternde Lebensglut fachte ein Hauch an, den Menschen nicht regieren und den es ihnen ziemt zu verehren. Während sie nebeneinander liefen, erzählte sie mit einer süßen und zugleich starken Stimme: »Ich sah einmal eine Tänzerin von wunderbarer Zartheit und Kraft der Glieder, die im Tanzen mit langen, farbigen Schleiern spielte, sich umwindend, wieder enthüllend und verhüllend, während wechselnde Musik erschallte und verschiedenfarbiges Licht sie beleuchtete; zuletzt wurde das Licht blutrot, so daß sie in Flammen zu stehen schien, die die dünnen Schleier und sie selbst rasch verzehrten, die in Farbe, Musik und Bewegung aufgelöst war. So sieht meine Seele aus, eine Bacchantin im Feuer tanzend, rasend in der Anbetung ihres Gottes.«

»Und Ihr Gott ist der Freiherr?« fragte Michael, worauf sie den kurzlockigen Kopf schüttelte und lachte, daß es bis in die Augen hinein glitzerte. Dann wurde sie wieder ernst und sagte: »Nein, er ist der Mittler zu meinem Gotte, mehr als irgendein Mensch es bisher gewesen ist. Den Gott selbst kenne ich nicht, und vielleicht ist deshalb die Flamme meiner Anbetung so freudig. Oft denke ich, wenn ich den unbekannten Gott schaute und erkennte, würde sie im selben Augenblick den Tempel ergreifen und in einem Feuersturm zerstören.«

»Wenn ich mir eine Bemerkung über Ihren unbekannten Gott erlauben darf«, sagte Michael, »so scheint er mir dionysischer Natur zu sein, da Sie den Tanz und den Rausch lieben, und Tanzen und Lachen Sie gewiß besser kleidet und Ihnen leichter fällt als Kreuztragen.«

»Ja, ich lache gern«, sagte sie, mit dem feinen Munde lächelnd, »aber ich weiß, daß ich die Wonne des Leidens auch empfinden könnte. Meine Seele würde in Schuhen aus glühendem Golde tanzen und sich mit brennenden Schleiern umwinden und nicht aufhören zu tanzen, bis sie sterbend und selig zu Füßen ihres Gottes hinstürzte. Nur das kleinliche Werktagselend, das graue, häßliche, freudlose Dulden, das kann und will ich niemals ertragen.«

Es hatte sich ihnen inzwischen ein junger Mann von fremdländischem Aussehen genähert, der mit Arabell gut bekannt zu sein schien; sie stellte ihn als einen Russen namens Boris vor, der in der hiesigen Stadt seit mehreren Jahren Medizin studierte. Das blasse, etwas verbissene Gesicht des Russen und sein befangenes Wesen verrieten so deutlich hochgradige Neigung zu Arabell, daß Michael es schicklich fand, die beiden allein zu lassen, und sich beeilt hätte, es zu tun, wenn es ihm nicht vorgekommen wäre, als ob das junge Mädchen ein solches Alleinsein eher fürchtete als wünschte. Sie wendete sich gerade jetzt mit besonderer Lebhaftigkeit zu ihm und fragte, wovon vorher durchaus nicht die Rede gewesen war, nach seinen politischen Ansichten.

Michael war in der Überzeugung aufgewachsen, daß Frauen in der Politik eine Ansicht weder hätten noch haben dürften, und sagte kurz: »Darauf wüßte ich kaum etwas zu antworten, außer, daß ich zu keiner äußersten Partei gehöre.«

»Die Mittelstraße ist der Weg zur Hölle«, sagte Arabell rasch und entfernte sich, augenscheinlich unangenehm berührt, die beiden Männer allein miteinander zurücklassend. Michael reimte sich nun zusammen, daß Boris zu den russischen Sozialdemokraten, Anarchisten und Nihilisten gehöre, die entweder als Flüchtlinge, oder um mehr Freiheit zu genießen, oder um westeuropäische Zustände kennenzulernen, sich im Auslande aufhielten, und daß Arabell diesem Kreise nahestand, wie ja Frauen überhaupt an diesem Wesen einen bedeutenden Anteil haben sollten. Es tat ihm im ersten Augenblick leid, daß das Mädchen sich mit Dingen befaßte, die ihm so zuwider waren oder für die er wenigstens so wenig Sinn hatte; doch hatte sie ihm zu gut gefallen, als daß er sie deshalb ohne weiteres hätte verwerfen können, vielmehr beschloß er, sich gelegentlich einen besseren Einblick in diese Verhältnisse zu verschaffen, über die er sich kaum ein festes Urteil zutrauen durfte. Gern hätte er einige Fragen an Boris gestellt, doch fürchtete er ihn zu verletzen oder mißtrauisch zu machen. Das Gesicht des jungen Mannes war nicht gerade einnehmend; die dunklen Augen waren stark beschattet und gedrückt und alle Züge ohne Verfeinerung; dafür prägten sich freilich Kraft und Gewandtheit eines Raubtieres in seinem Knochenbau wie in seinen Bewegungen bewundernswürdig und reizvoll aus. Sie wechselten einige Worte über ihr Studium und ihre Lehrer, denn es wollte kein Gespräch in Gang kommen; der Russe blickte zerstreut dahin, wo Arabell sich allein langsam auf und ab bewegte.

Inzwischen war die Sonne untergegangen, und es dunkelte schnell; der Schnee schien weißlich durch die tiefe Dämmerung. Die meisten Menschen waren fortgegangen, so daß die freie Fläche des ganz unbeleuchteten Sees jetzt groß und öde erschien. Von den dunklen Tannenwäldern her wehte ein kühler Wind über das verschneite Tal und den einsamen See; es war, als suchte er etwas, und eilte seufzend weiter, wenn er es nicht gefunden, um rastlos wiederzukehren. Wie die Umrisse der Hügel, die nach der Stadt zu lagen, sich in der schneegrauen Luft auflösten, schien das Tal endlos zu werden, und man mochte wähnen, man würde nie den Ausweg daraus finden, um heimzugelangen. Michael näherte sich Arabell und machte sie auf die wunderliche Stimmung aufmerksam; sie sagte: »Ich empfinde die Natur nicht wie Sie; sie bleibt ein Bild vor meinen Augen und kommt nicht in mein Inneres, wo ich sie fühlen könnte.«

Unfern von der Stelle, wo sie standen, war ein Stück des Sees durch Pfähle als gefährlich bezeichnet und stets gemieden, nur waghalsige Buben pflegten sich aus Übermut dort aufzuhalten, und es verging selten ein Winter, ohne daß infolgedessen ein Unglücksfall vorkam. Als Michael sah, daß der Russe sich auf diese gefährliche Stelle begab, rief er ihm warnend zu, daß das Eis dort dünn sei: allein jener schüttelte den Kopf und gab durch eine abwehrende Gebärde zu verstehen, daß er sich nicht fürchte. Michael ärgerte sich über einen so sinnlosen Trotz oder Eigensinn, während Arabell dem Tollkühnen mit großen Augen nachsah. Sie sahen kaum noch die Umrisse seiner Gestalt, unterschieden aber doch, daß er sich nur langsam und leise hin und her wiegte, wozu er nun die schwermütige Melodie eines russischen Volksliedes mit halber Stimme zu singen begann. Allmählich sang er lauter, so daß sie die Worte deutlich vernehmen konnten:

Kein Haus, kein Hof, nur der Schnee und die Heide,
Der Sturm und ich und der Schmerz, den ich leide.
Wohin denn? Wohin denn? Die Wölfe schrei'n.
Im Herzen kein Gott – am Himmel kein Schein.

Michael fühlte sich wunderbar von diesen Tönen angezogen, immerhin blieb er besonnen genug, um Arabell zurückzuhalten, die im Begriffe war, als ob eine magnetische Gewalt sie hinrisse, auch das dünne Eis zu betreten, unter dem von Zeit zu Zeit ein schwaches Donnern hinlief. Als Michael die Hand auf ihren Arm legte, lächelte sie und sagte: »Es war mir eben geradeso, als stünde dort der Tod und lockte mit unwiderstehlichem Gesange in sein düsteres Reich.«

In diesem Augenblicke näherte sich der Freiherr; er hatte sich bisher auf der klaren Fläche in weiten Bogenschwingungen ergangen und glich in dem kurzen schwarzen Mantel, der ihn umflatterte, einem großen Nachtvogel, der in einsamen Ringen durch die Dunkelheit kreist.

»Hier stockt die Luft wieder einmal von Stimmungen«, rief er lustig, »und es ist gut, daß ich dazwischensause. Es ist merkwürdig, daß die Menschen sich damit zufriedengeben, hölzerne Instrumente mit Darmsaiten zu sein, die sich nach Belieben hoch oder tief spannen lassen. Man sagt, daß ein Mädchen, welches nicht Brot zu schneiden versteht, nicht reif zum Heiraten ist, und ich sage, daß, wer an Stimmungen leidet, nicht reif für den Himmel ist. Sie, Arabell, sind, wie ich glaube, weder reif für den irdischen noch für den überirdischen Himmel.« Damit glitt er an Arabells Seite, die unschlüssig nach dem Gesange hinüberhorchte, ergriff eine ihrer Hände und flog ohne weiteres mit ihr davon. Michael war wieder allein mit dem Russen, der sich gleichzeitig zu ihm gesellte, den er jetzt aber mit mehr Teilnahme, ja mit einer Art von Zuneigung, die seinem eigenartig schönen Gesange galt, betrachtete. Er sagte ihm allerlei darüber und über die russischen Volkslieder im allgemeinen, worauf jener nicht einging; als Michael schließlich verstummte, sagte er: »Es wird Sie eine Gotteslästerung dünken, wenn ich sage, daß ich den Mann nicht liebe, den Sie und alle anderen verehren; und das nicht etwa, weil er mir das Mädchen entzieht, das ich mehr als alles auf der Welt und einzig auf der Welt liebe, sondern weil er ein kaltes Herz ohne Begeisterung hat, aber gerade Genie genug, um sein marmornes Heidentum so zauberhaft darzustellen, daß er die Schwachen damit betört.«

»Sie häufen so viel überraschende Vorwürfe gegen den Freiherrn«, sagte Michael, »daß ich kaum weiß, wie ich allen begegnen soll. Ob er in Wahrheit daran denkt, Ihnen ein Mädchen zu entfremden, das Sie lieben, darüber kann ich nicht urteilen; hätten Sie recht, so täte er es gewiß nicht aus Bosheit, sondern aus irgendeinem guten Grunde, wenn sich auch meinetwegen seine Richtigkeit bezweifeln ließe. Das bestreite ich aber mit gutem Gewissen, daß er kalt sei und seine Lehre heidnisch; denn die völlige Hingabe an Gott, den Geist, die er verlangt, ist weit eher christlich zu nennen.«

»Ich nenne alles Heidentum«, sagte Boris hart, »was in der Verherrlichung der eigenen Person gipfelt. Was nützt es, wenn einer groß und gottesähnlich und Gott selbst wird und von seiner Macht und Herrlichkeit den anderen nichts mitteilt, die dessen bedürfen? Das ist Religion für die Glücklichen und Starken, wenn man überhaupt Religion nennen kann, was nicht die Menschen verbindet, sondern voneinander abschließt. Ich sage Ihnen offen, daß ich mein Leben den Duldern meines Vaterlandes geweiht habe und gewiß bin, früher oder später, sei es durch Verrat oder bei hochverräterischer Tat ergriffen, es schimpflich am Galgen zu enden. Es kann nicht jeder die Verhältnisse in meiner Heimat kennen und infolgedessen nicht richtig beurteilen; aber ich hasse diejenigen, die sie kennen und sich auf die Seite der Schlächter stellen, anstatt auf die der Opfer.«

Er hatte im Sprechen einen freieren, größeren Blick bekommen und gefiel Michael immer besser; er sagte mit Herzlichkeit: »Zunächst seien Sie überzeugt, daß ich Sie nie verraten werde, noch, dafür möchte ich bürgen, wird es der Freiherr tun. Ich kenne die Lage Ihres Vaterlandes nur ungenau, doch kann ich mir wohl vorstellen, daß einer, ohne grausam zu sein, gewaltsame Maßregeln zur Herbeiführung einer höheren Kultur, denn darum handelt es sich doch wohl im Grunde, mißbilligt, weil diese stets nur langsam reifen kann und Eingriffe diese Entwickelung eher stören und aufhalten als befördern.«

»Redensarten!« rief Boris ungeduldig; »eine Suppe von marklosen, ausgelaugten Knochen, die ein verhungerter Hund nicht schlappern möchte. Sehen Sie die Tatsachen an. Sehen Sie Freunde, Brüder und Schwestern unter der Peitsche und unter Martern verenden. Sehen Sie die Unschuldigen im Kerker verfaulen und die Bösewichter und Trunkenbolde und Weiberjäger und Salonschwätzer sich am Tische des Lebens mästen. Sehen Sie die gesunde Kraft in Unwissenheit und Schmutz verkommen und Feinheit und Bildung die Wahrheit beflecken und die Religion verächtlich machen. Ein Schuft, wer da zusieht und seine eherne Gleichgültigkeit mit rednerischen Lappen bemäntelt!«

Michael fühlte sich durch den wütenden Erguß nicht beleidigt, aber auch nicht getroffen; es schien ihm natürlich und berechtigt, daß diese Dinge, so schrecklich sie sein mochten, ihn nicht aus seinem Gleichgewichte brachten. Er konnte nichts mehr erwidern, da der Freiherr mit Arabell zurückkam und zum Aufbruch mahnte. Im Antlitz des Freiherrn war nichts zu lesen als die stolze Offenheit des furchtlosen Mächtigen und die Überlegenheit des allseitig gebildeten Geistes. »Während unser blutiger Freund hier predigte, habe ich eine Rede gegen ihn gehalten«, sagte er lachend, »und hoffe, daß meine von besserem Erfolge begleitet ist als seine; wenigstens scheint es mir nicht, als ob sich Michael Unger zur roten Fahne bekehrt hat. Wir streiten um die Seelen wie Satan und der Engel.«

Boris hatte doch die Genugtuung, das geliebte Mädchen nach Hause führen zu können; denn der Freiherr nahm Michaels Arm und ging mit so rüstigen Schritten vorwärts, daß die beiden jungen Leute um ein gutes Stück zurückblieben. »Warum wühlen Sie so gegen den armen Menschen?« fragte Michael, als sie von den Nachfolgenden nicht mehr gehört werden konnten. »Ich glaube, das Mädchen sieht ihn ohnehin nicht mit verliebten Augen an.«

»Aber sie hört mit verliebten Ohren zu, wenn er schwatzt«, sagte der Freiherr. »Das Mädchen ist zu fein für solch einen barbarischen Talgfresser; sie haben den Magen voll von der klebrigen Schmiere, und im Kopfe qualmt ein fettiges Fünkchen, das höchstens zum Nachtlicht oder zum Allerseelenlämpchen langt. Er soll wieder in sein Land gehen, einen Minister oder dergleichen umbringen und sich aufhängen lassen, dann hat er seine Bestimmung erfüllt und ist mit sich zufrieden. Hier wird er, wenn er auch im Arm seiner Geliebten läge, doch immer von dem Galgen träumen, den er sich in der Jugend zum Marterwerkzeug erkoren hatte. Glauben Sie mir, ich kann ihm keinen größeren Dienst leisten, als wenn ich Arabells Herz recht fest in den Händen behalte.«

»Aber tun Sie ihr denn damit einen Dienst?« fragte Michael bedenklich. »Es ist doch wahrscheinlicher, daß der Russe sie glücklich machen kann, als daß Sie es können?«

Der Freiherr legte lachend den Arm um Michaels Schulter und sagte: »Weil er sie liebt und ich sie nicht heiraten kann, meinen Sie. O Michael, können Sie an keinem Stall vorübergehen, wo zwei an einer Krippe Platz hätten? Der Russe mit seiner massenhaften Liebe reißt sie nur so oder so in die Untiefen des Lebens, wo sie steckenbleibt und verschlammt. Was kann ich ihr aber schaden? Bin ich ein Geck oder ein Wüstling oder ein Hanswurst? Selbst wenn ich sie verführte und mit einem halben Dutzend Kinder sitzenließe, was ich durchaus nicht im Sinne habe, so wäre das besser für sie, als wenn sie Boris heiratet. Wenn gute Menschen einander Schmerz zufügen, ist noch nicht Ursache, Zeter zu schreien, und auch was einem ein Übelwollender antut, geht hin; eh man sich lieben läßt, da soll man auf der Hut sein. Man soll darauf bedacht sein, Geist zu wecken, und nicht darauf achten, wie weh es tut. Müssen Sie nicht Beine abschneiden und Geschwüre auskratzen, wenn Sie Arzt sind? Aber eine Frau, die der Mann sitzenläßt, oder ein Mann, der sein Weibchen nicht bekommt, das macht Sie wehleidig, und doch sind Seelenschmerzen ebenso notwendig und heilsam wie körperliche. Geist schaffen, wohin er kommt, das ist die Arbeit des Mannes, nicht schmucke Paläste in die Luft sprengen oder gute alte Throne umstürzen.«

Wie Michael mit Genuß das frische Wesen des Freiherrn empfand, wurde er sich zugleich seiner eigenen Kraft bewußt, die sich in anderen Kämpfen entfalten sollte, als jener oder als der junge Russe sie führten, und wußte er auch selbst noch nicht, in welchen, so brannte er doch, sie zu kämpfen. Es tat ihm wohl, wenn der Mantel seines Begleiters sich hinter ihm aufblähte und in der Luft stand wie ein sausender Fittich; auch meine Seele wird die Flügel regen, dachte er, und sie werden mich über Hügel und Berge tragen, dahin, wo die Gedanken schweigen, dahin, wo Götter wohnen.

*

Bei jedem schönen Aufschwung, bei jeder fördernden Anspannung war Rose in Michaels Gefühl inbegriffen, ja er war sich bewußt, daß er nur durch sie und mit ihr die Kraft besaß, die über seine Natur hinausging. Es schien ihm keine Gefahr von ihr zu kommen, nichts, was ihn bedrohte, und er hätte eher einen Engel, der ihn hob und beseligte, als ihr Bild von sich verscheuchen mögen. Seit der Frühlingsnacht am Bodensee war ein Jahr vergangen, ohne daß er sie gesehen hatte; aber er wußte, daß sie in dem Dorfe war, wo sie im vergangenen Jahre das Kind hatte malen wollen. Es war kein langes Zaudern und Ringen, ehe er sich entschloß, zu ihr zu fahren; denn was hätte werden sollen, wenn er dem gewaltigen Zuge, der ihn zu ihr zog, nicht Folge leistete? Dann, so schien es ihm, würden die Saiten in ihm reißen, auf denen das Leben seine schönen wilden Lieder spielte, und ein tonloses Brett würde übrigbleiben, mit dem sich allenfalls seine Angehörigen an kalten Tagen das Zimmer würden heizen können. War er aber dazu bestimmt?

Ein wolkenloser Maitag sank lautlos und schimmernd auf die Flur, als der Zug, mit dem er abreiste, aus der Halle ins Freie lief. Bald begann in den Dörfern das Geläut zur Kirche und verschwebte, wie sie blitzschnell von einem zum andern glitten, in einem fernen, sanften Chor der Lüfte. Michael hatte die Fenster geöffnet und ließ die laue Luft zu sich herein; er wiederholte leise ihren Namen und träumte zu sehen, wie er sich in lauter rosigen Funken von seinen Lippen löste und gen Himmel stieg, bis die blaue See der Luft wie von Meeresleuchten damit erfüllt war. In den Glanz seines Glückes drang kein Zweifel, ob es durch eigene Stimmung oder durch Zufälle getrübt werden könne; er wußte, daß das Leben jetzt nur zwischen ihm und ihr war, eine selige Insel makellos aus dem Schwall der Zeit tauchend. Auf dem kleinen zwischen Bäumen versteckten Bahnhof, der eine Viertelstunde vom Dorfe entfernt lag, war sie nicht; aber er sah sie durch die Felder her, ihm entgegenkommen. Mit ihrem Anblick löste sich das fliegende Zittern seiner Seele in eine große Ruhe auf, so daß ihm war, als könne er jetzt ohne Scheideweh vom Leben in den Tod hinuntersinken. Sie faßten sich bei den Händen und gingen aufs Geratewohl über die Felder bis zu einer Anhöhe, wo eine Bank stand, auf die sie sich niedersetzten.

Rose zeigte ihm das Dorf: die wunderliche kegelförmige Kirche, die weißen Häuser in den grünen baumreichen Gärten, zwischen den Gehöften die lachenden Wiesen und die breiten streifigen Äcker, zum Teil von einem zarten Schleier keimender Saat überzogen, zum Teil schwarzbraun, auf denen Männer langsam hin und her gingen und Samen auswarfen. Es war ein Ring voll gefriedeter Erde, im Raume schwebend, auf allen Seiten durch dunkle Wälder gegen den Abgrund geschützt, durch eine weite unendliche Wölbung an den Himmel geschlossen. »Das ist dein Arkadien«, sagte Michael und blickte froh in ihre schönen Augen. Erst als sie in dem Zimmer waren, das Rose bewohnte, sahen sie sich wie erwacht und erstaunt an und begrüßten sich mit Leidenschaft. »Ich glaubte, ich hätte nicht auf dich gewartet, kaum an dich gedacht«, sagte Rose, »und nun du da bist, tötet mich die Angst, du könntest nicht gekommen sein.«

Unterdessen deckte Roses Wirtin einen schmalen hölzernen Tisch im Garten unter Bäumen, denn es war schon Nachmittag. Rose und Michael spürten nun auch, daß sie Hunger hatten, und aßen mit großem Vergnügen, während die Bäuerin ab und zu ging und sie bediente. Sie war eine große breite Frau von würdevoller Haltung und ebensolchen Bewegungen und mit dem Kopf einer altdeutschen Königin: auf dem glatten Haar, das sie in der Mitte gescheitelt und über die Schläfen heruntergekämmt trug, hätte man einen schweren Goldreifen voll bunter Edelsteine sitzen sehen mögen. Sie hatte kluge Augen unter stolzen Brauen und eine starke, gebogene, aber nicht unweibliche Nase; es war ihr anzusehen, daß sie mehr tatkräftig, ordnend und umsichtig als weichherzig war, doch zeigte ihr freundlicher Blick, daß man sie auch nicht ungütig nennen konnte.

In Abwesenheit der Frau erzählte Rose von ihrer Tüchtigkeit, da sie das große Gut allein auf das vortrefflichste bewirtschaftete; denn ihr Mann, ein arbeitsscheuer, trunksüchtiger Mensch, beeinträchtigte sie mehr, als daß er sie unterstützte. Sie hatte aus einer ersten Ehe eine erwachsene Tochter und einen kränklichen, an der Krücke hinkenden Sohn, welcher der Gegenstand geheimer häuslicher Ärgernisse und Zwistigkeiten war. Die Frau nämlich wollte hauptsächlich diesen Kindern, die schon von ihres verstorbenen Vaters Seite Vermögen hatten, den Ertrag ihrer Arbeit zuwenden, besonders dem Sohne, der seiner hinfälligen Gesundheit wegen ungünstig im Leben gestellt war; ihr zweiter Mann hingegen, und hauptsächlich dessen Mutter, verlangten, daß alles in der zweiten Ehe Erworbene dem in derselben erzeugten Kinde zufiele, von dem sie behaupteten, daß seine Mutter es benachteilige, ja nicht einmal liebhabe. Dies, meinte Rose, sei unwahr, eigentlich unmöglich, da das Kind, eben der kleine Knabe, den sie gemalt hatte, zu liebreizend sei, als daß man es nicht liebhaben könne; doch müsse sie sich freilich der Kinder des ersten Mannes, die der zweite und seine Mutter ungern sähen, besonders annehmen, und der Junge hatte infolge seiner Schwächlichkeit stets ihrer Pflege und Sorgfalt mehr als die anderen bedurft. Es sei zum Weinen wie zum Lachen, sagte Rose, daß diese Leute, aufgewachsen inmitten der Unschuld der Natur, und jahraus jahrein nur mit den geduldigen, stillzufriedenen Tieren und den im ruhigen Kreislauf blühenden und fruchttragenden Pflanzen beschäftigt, für nichts anderes Sinn hätten, als für Geld und Erwerb. Auch für die Bäuerin war das Geldverdienen eine Leidenschaft, doch war sie nicht kleinlich, und ihre Zuneigung, wie sie solche zu Rose hatte, drückte sie nicht selten in großartiger Uneigennützigkeit aus.

Sie luden die Frau ein, sich zu ihnen zu setzen, und Rose sagte: »Nicht wahr, Frau Gundel, ich schelte oft mit Ihnen, daß Sie so viel Aufhebens vom Gelde machen, anstatt des schönen Lebens, das jeder Tag hier bringt, von Herzen froh zu werden.«

»Das Fräulein kann freilich kaum einen Taler von einem Groschen unterscheiden«, sagte die Bäuerin und lachte; »uns, die wir von frühauf die harte Erde graben, liegt das im Blut. Es ist gewiß schön, nur so den Blumen und Tieren und Kindern zuzusehen und Bilder daraus zu machen; das Fräulein weiß aber nicht, wie es ist, wenn man das alles hat und in Ordnung halten muß, und wenn man denkt, daß die Kinder vielleicht einmal allein in der falschen Welt unter fremden, bösen Leuten zurückbleiben, die keinen Zwetschenkern für sie übrig hätten, im Fall sie es hungerte.« – »Ich glaube, die Welt ist weder so falsch, noch sind die Menschen so böse, wie Sie meinen«, sagte Rose. Die Bäuerin ließ nun ihre klugen Augen langsam zwischen Michael und Rose hin und her gehen und sagte freundlich: »Wie Mann und Frau schauen Sie aus, Sie zwei!« worauf Michael nach einer kleinen Pause antwortete: »Wir möchten es einmal werden.«

Als die Bäuerin fort war, sagte Michael: »Ich hätte das vielleicht nicht sagen sollen, aber ich glaubte, wir wären der Frau, die dir so zugetan ist, eine Erklärung unseres Verhältnisses schuldig.« Rose schwieg und nickte; sie blieben noch eine Weile unter den Bäumen sitzen und gingen dann zwischen den Wiesen spazieren, aber es hatte sich eine Schwermut auf sie gelegt, die sie nicht bannen konnten. Erst als die Sonne untergegangen war und es im Dorfe still wurde, kam ihnen die vorige Freude zurück. Es war rings kein Singen von Vögeln, kein Bellen von Hunden, kein Sprechen oder Lachen in den Häusern und Gärten, nur der Wind strich mit großem Flügelschlage über die bleichen Wege und die schwarzen, feuchten Äcker. Was singt er? fragten sie einander. Er singt: O Erde, du Liebesstern, du Leidensblume, du träumerische! Ich umschlinge dich und trage dich durch Schwärme von Sonnen, dein Antlitz ist schöner als alle. Als der Mond aufging, sahen sie sich lächelnd an und sagten langsam flüsternd, indem jedes einen Arm zu dem Gestirn emporreckte: »Mond, bleicher Engel, schütze uns vor Tränen!«

Es fiel nun kein einziger trüber Schatten nieder in die Reihe der herrlichen Tage. Sie wanderten ziellos hierhin und dahin, von jedem Sonnenstrahl, wie von jedem Regentropfen beglückt. Am Sonntag gingen sie während des Gottesdienstes auf dem kleinen Friedhof spazieren, in dem die unförmige weiße Kirche lag: sie sah aus, wie von wilden Riesen flink in einer kurzen Nacht zusammengewälzt. Langsam gingen sie von einem Hügel zum andern und lasen die Inschriften der Kreuze unter dem singenden Gebrumm der Orgel; ein paar kleine Kinder krochen still zwischen den Gräbern umher. Als sie die Kirche umgangen hatten, blickten sie zu Michaels Überraschung in ein Tal, durch welches ein starker, hellgrüner Strom floß; der pyramidenförmige Schatten des Turmes, der darauf fiel, berührte das jenseitige Ufer. »Da können die Toten nachts hinuntersteigen und ans Meer fahren«, sagte Michael; sie sahen lange mit unbewußtem Lächeln in die Strömung und glühten vor Leben.

Die Farben in der Luft und auf der Erde wurden um diese Zeit stärker und leuchtender, und die Wiesen, die vom Löwenzahn durchwachsen waren, zogen sich wie gelbe Flammen durch die Saatfelder hin. In den Bauerngärten hing die Wäsche an Stricken zwischen den blühenden Obstbäumen; rote und blaue Kinderschürzen, weiße Hemden, die sich langsam blähten, und lange, wehende Windeln; auf dem grünen Rasen lagen kirschrote Betten und Kissen zum Sonnen. Rose stand mit Entzücken vor allem, als wäre dies der erste Frühling aller Zeiten, der einzige, schönste, den je glückliche Augen sähen. Oft beugte sie sich zurück und atmete tief, und es schien, als wollte sie alles, was Glieder und Sinne könnten, in sich hineinziehen. »Ich möchte alles verschlingen, bis meine Seele voll wäre«, sagte sie. Er konnte sich nicht satt an ihr sehen; an der kindlichen Schwelgerei, die sich in ihren Zügen so offen aussprach, ebenso wenn sie die Wolken oder die Fluren bewunderte, wie wenn sie ganz bei ihm war und ihn ansah und küßte. Sie schien keine Unruhe, keinen Mangel, keinen Zweifel zu kennen; was sie tat und sagte, strömte in schweren Wellen aus einem goldenen Brunnen, fiel wie ausgereifte Früchte von einem sommerlichen Baume.

Nur das wollte ihn zuweilen schmerzen, daß es ihm vorkam, als bedürfe sie seiner nicht durchaus zu ihrer Lebenswonne, als schöpfe sie Liebe, Übermut und Träumerei, Spielzeug und Bilder aus ihrer eigenen Seele, und er wäre nur der Kamerad, den sie mitspielen ließe. Äußerte er das, so erstarrte sie vor Verwunderung und Entrüstung und sagte inbrünstig: »Nur weil du schön bist, ist die Erde schön, nur weil ich dich liebe, liebe ich auch mich und die Welt!«; sie hatte vergessen, daß es auch, eh sie ihn kannte, Leben, Tätigkeit und Glück für sie gegeben hatte. Er machte sie lächelnd darauf aufmerksam, aber sie schüttelte den Kopf und ließ sich nicht irremachen. »Du weißt es ja nicht«, sagte sie. »Einst beglückte es mich, Schönes zu sehen und zu schaffen, was mir schön schien; jetzt bin ich selbst schön und schaffe mich selber, weil wir uns lieben.«

Auch wenn er ihr von seiner Wissenschaft mitteilte, was ihn fesselte und bewegte, fühlte er sich durch ihre innige und stürmische Teilnahme bereichert. Sie hatte fast gar keine naturwissenschaftlichen Kenntnisse besessen und war immer der Meinung gewesen, sie könnten im unbefangenen Genusse der Natur nur stören. Nun sah sie ein, daß vielmehr jede Erscheinung, je besser sie sie kennenlernte, an Lebendigkeit gewann; es sei ihr zumute, sagte sie, als täten ihre verschwiegenen Lieblinge, deren Wesen sie nur ahnend erfaßt hätte, den Mund auf und erzählten ihre heimlichen Geschichten. Er glaubte, nie etwas Wunderbareres und Reizenderes gesehen zu haben als die Tiere auf dem großen Bilde, das sie gemalt hatte; obwohl mit feinster Beobachtung der Wirklichkeit gemalt, glichen sie doch olympischen Fabeltieren, Verwandlungen der Götter, dem Stier, der Europa entführte, dem Schwan, den Leda liebte. In ihrer heidnischen Majestät und Ruhe umgaben sie das Friedenskind mehr als ob sie es freiwillig beschützten, als daß seine überirdische Kraft sie zu bändigen schien. Das Kind war das Ebenbild des Söhnchens der Bäuerin aus zweiter Ehe, das jetzt etwa drei Jahre alt war und das auch Michael liebgewann.

Es war ein scheues Kind, das immer verleitete, obwohl es wenig sprach, ihm Gedanken und Empfindungen zuzutrauen, die über sein Alter hinausgingen. Auch von den Augen des Kindes ging, wie von denen der Mutter, etwas Gebieterisches aus, doch waren sie von den ihren verschieden; denn ihre Brauen verliefen stark in schöngeschwungenem Bogen, während die des Kindes fein und ganz gerade waren, was dem weichen kleinen Gesichte etwas seltsam Unfehlbares und Unerbittliches verlieh. Das vollendete Mündchen mit der etwas vorschwellenden Oberlippe war fast immer geschlossen, die feine Nase mit dem hohen Rücken streng, auch im Lächeln verschwand der Ernst des Gesichtchens nie ganz; trotzdem machte der Kleine den Eindruck eines zwar schüchternen, aber anschmiegenden Kindes.

Es war eigentümlich, daß das Kind, dem jedermann freundlich begegnete, keinen so zu lieben schien wie seinen Vater, dem es nicht von der Seite wich, wenn er da war. Im Bewußtsein der unrühmlichen Rolle, die er auf dem Hofe spielte, ließ sich der Bauer selten blicken und war nicht zugänglich; nur mit dem Kinde schleppte er sich unermüdlich. Sein Gesicht war widerlich, vom Trunk entstellt, doch hatte er augenscheinlich feine Züge gehabt, und der Kleine mochte ihm gleichen; man konnte sich vorstellen, daß er durch sein hübsches Gesicht, weiches verliebtes Wesen und vielleicht eben durch seine Schwäche das starke Herz der Bäuerin gewonnen hatte. Jetzt schienen nur noch Furcht, Mißtrauen und Verachtung zwischen ihnen zu sein, wenn auch die Gewohnheit und das Mitleid, das Frau Gundel für ihn hatte, es ihnen nicht so schlimm, wie es war, zum Bewußtsein kommen ließen. Sehr verschlimmert wurde das Verhältnis durch die Mutter des Bauern, einer Frau mit blassen Augen und farblosem Gesicht, die immer ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden trug, so daß man ihre Haare nicht sah. Sie pflegte mehrere Male am Tage zur Kirche zu gehen, und Michael und Rose konnten sich ihrer Höflichkeit und Freundlichkeit kaum erwehren; alle, sogar ihr Sohn, auf den sie großen Einfluß hatte, suchten sie, wenn es möglich war, zu meiden. Sie war es hauptsächlich, die den Bauer gegen die Kinder seiner Frau aus erster Ehe aufhetzte; doch hätte Rose wohl nichts davon bemerkt, wenn die Bäuerin, die niemals log und nicht einmal übertrieb, es ihr nicht anvertraut hätte.

Jeden Abend, wenn die Sonne unterging, pflegte die Alte mit einem gedankenlosen Seufzer zu sagen: »Gottlob, wieder ein Tag hin«, und mit einem verstohlenen Seufzer wiederholten Michael und Rose: »Wieder ein Tag hin!« Die acht Tage, die Michael im Dorfe zu bleiben sich vorgenommen hatte, die sie wie eine selige Unendlichkeit vor sich gesehen hatten, waren plötzlich vorüber, wie ein tiefer glücklicher Atemzug verhaucht. Der letzte Tag war ein Sonntag, an dem nach uralter Sitte im Dorfe der Tanz um den Maibaum stattfand. Am Vorabend wurde unter großem Zulauf die hohe Stange aufgerichtet, die den Maibaum vorstellte; an ihrer Spitze war eine lange schmale Fahne von grüner Farbe befestigt. Michael und Rose saßen unter einer breiten Linde, die eben Blätter bekam und die von einem schmalen Holzbänkchen rund umgeben war, und sahen zu, wie das Königspaar, dem zu Ehren das Fest bereitet wird. Am folgenden Nachmittage nahm der Tanz seinen Anfang; unter der brennenden Mittagssonne kam ein Trupp Bauernburschen die Landstraße herauf, johlend und kreischend, voll Staub und Schweiß, von fiedelnder Musik begleitet. An ihren heiseren und unreinen Stimmen und ihrem stolpernden Gange merkte man, daß sie schon viel getrunken hatten; die versammelte Dorfbevölkerung jauchzte ihnen überlaut entgegen. Nun wurde ein Faß Bier herbeigerollt, aus dem unentgeltlich geschänkt wurde; Männer, Frauen und Kinder drängten sich gierig herzu, während die Burschen mit den erhitzten aufgeputzten Mädchen um den Maibaum stampften.

Michael und Rose hatten mit gepreßtem Herzen zugesehen: es war die letzte Stunde, die ihnen gehörte und die sie nicht allein miteinander hatten sein wollen. Rose stiegen die Tränen schwer in die Kehle; während sie sie niederdrückte, sah sie an der hohen Stange hinauf, von deren Spitze das lange grüne Band in die Luft flatterte wie ein Jubelfähnchen. »Es ist nicht alles schön auf der Erde«, sagte Michael und versuchte zu lächeln. Rose erwiderte nichts; sie gingen langsam nach Hause zurück, gespannt und gequält, von der wilden Tanzmusik unablässig verfolgt. Im Zimmer lehnte sich Rose an die getünchte Wand und preßte ihr Gesicht dagegen. »Das Leiden ist zu groß für das Glück«, sagte sie mit harter Stimme. »Sag das nicht, sag das nicht«, bat Michael, die Hände ringend, »nimm mir die einzige Hoffnung nicht. Sollten wir das Höchste begehren und das Schwerste nicht ertragen können?« Sie drehte sich langsam nach ihm um, sah ihn an und reichte ihm eine Hand, während sie mit der anderen winkte, daß er gehen möge; dann ging er schnell durch das heiße lärmende Dorf und die verlassenen Felder zum Bahnhof.

*

In einem Garten des Dorfes hatte Michael oft ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren stehen sehen, das durch den Zaun nach dem Walde zu blickte. Es war braun und mager, und das dunkle Haar hing ihm in Strähnen um das Gesicht; mit dunklen Augen blickte es unentwegt über die Wiesen hin, die damals lachten und leuchteten vom Goldgelb der Blumen, zum Walde, der die Welt für sie abschloß. Es schlängelte sich ein bleicher, steiniger Weg durch die Wiesen in die Tannen hinein, auf dem zuweilen ein schwerer Wagen langsam vorüberächzte und morgens und abends der Briefbote in das Dorf kam, und wo an Sonntagen Herren und Damen in lichten Kleidern auf Rädern hinflogen, deren Plaudern und Lachen flüchtig wie Vogelgezwitscher ins Ohr klang. Das kleine Mädchen sah aus, als ob sie wartete, daß einmal etwas Wunderbares aus dem Walde herausträte und den blassen Wiesenpfad her auf sie zukäme; was mochte sie schon gesehen haben, wenn sie heimlich bei Nacht herausschlüpfte und der Mond dahin schien, wo der Tann sich öffnete?

Dies braune Kind erinnerte Michael jedesmal an Verena, so wenig es der hohen schlanken Dame mit der weißen durchsichtigen Gesichtsfarbe, dem mattblonden Haar und den vornehmen Gewändern ähnlich sein konnte. Es zog ihm das Herz zusammen, wenn er die Kleine sah, und einmal, als er mit Rose Hand in Hand über die Wiesen auf den Garten zukam, wo sie am Zaune stand, war es ihm, als sähen ihn ihre weitgeöffneten Augen schmerzhaft erwartend und vorwurfsvoll an, was ihn so quälte, daß er Mühe hatte, die Empfindung vor Rose zu verbergen.

Dennoch liebte er Verena nicht mehr; ja er konnte sich fast nicht vorstellen, daß er sie jemals liebgehabt hatte. Als sie einander das erstemal nach Michaels Abreise wiedersahen, fanden sie eine Kluft zwischen sich liegen, über die sie sich nicht die Hände reichen konnten; aber er hatte das vorausgesehen, während sie es ganz anders erwartet hatte. War sie auch ihm gegenüber nur die große Dame, kühl und überlegen, so hatte sie doch, solange er fort war, oft wie die braune Kleine am Gartentor gestanden und sehnsüchtig hinausgehorcht, ob er käme und sie liebhätte.

Ehe er noch ein Wort gesprochen hatte, erkannte sie an seinem Lächeln und seiner Haltung, wie er zu ihr stand, und ihre ganze Seele spannte sich darauf, viel kälter und fremder zu erscheinen, als er sein konnte. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen, das ihn zu verhöhnen schien, und suchte ihn dadurch zu kränken, daß sie den kleinen Mario mit dem Dienstmädchen spazierengehen ließ oder sonst von Michael entfernte, alles aber so, daß es mit der Gleichgültigkeit, die sie gegen ihn zur Schau trug, nicht in Widerspruch stand.

Als Michael fort war, sagte ihre stolze, hochfliegende Seele: Du sollst nicht weinen, du sollst nicht ohnmächtig klagen. Wenn er dich nicht mehr lieben kann, soll er doch sehen, daß du der Liebe wert wärest. Du sollst frei werden und den Kampf mit dem Schicksal auskämpfen; hat dich doch immer nach einer Krone gelüstet. Aber die andere Seele, die in ihr war, die feige, schwächliche, machte sich schwer und wollte sich von dem weichen Kissen, auf das sie sich geduckt hatte, nicht wegziehen lassen. Es hätte jetzt nichts mehr im Wege gestanden, daß Verena sich in der Malerei ausbilden ließe, was von jeher ihr Wunsch gewesen war, und sie erwog es auch häufig in Gedanken. Was sie zurückhielt, war hauptsächlich die Voraussicht, daß sie es niemals so weit bringen würde wie Rose. Ja, würdest du ihr auch gleichkommen oder sie übertreffen, sagte ihre feige Seele, würde er es doch nicht gelten lassen, und schon dem beständigen Vergleich sollst du dich nicht aussetzen. Ebenso fiel es ins Gewicht, daß sie die unverdrossene Anstrengung scheute; denn sie hatte niemals dauerhaft gearbeitet, und obwohl sie wußte, daß auch in der Kunst ohne strenge Arbeit nichts Großes erreicht wird, versuchte sie doch immer wieder auf Schleichwegen in das heilige Gebiet einzudringen und war stolz auf diese kleinen, geschickt hingeworfenen Malereien und Kunstfertigkeiten, die ihre Umgebung entzückten und ihr den Ruf der Genialität eintrugen.

Inzwischen, bis sie etwas anderes gefunden hätte, woran sie ihre Kraft erproben könnte, warf sie sich auf die Pflege der Geselligkeit, wobei ihr Schwager Raphael ihr zur Seite stand. Solange sie mit Michael glücklich war, hatte sie zwar auf ihn als auf einen tief unter ihm Stehenden herabgesehen; denn sie war ein eifriger Anbeter ihres Gottes und schlachtete ihm gern alle Götzen und Idole, deren sie habhaft werden konnte; aber im Grunde war er ihr nie unsympathisch gewesen, und nun sie sich mehr mit ihm beschäftigte, fand sie sich ihm sogar in mancher Hinsicht verwandt. Auch näherte sie das einander, daß sie sich als Unglücksgefährten betrachten konnten, die ein wütendes Gestirn jählings aus ihrer Bahn geschleudert hatte. Im Grunde zwar kam Raphael erst jetzt recht zum Genusse seines Künstlerberufes; früher hatte er stets darunter gelitten, daß er keine Werke aufzuweisen hatte, da er doch den Künstlernamen führte, jetzt aber machten es ihm die widerwärtigen Verhältnisse unmöglich, etwas Handgreifliches zu leisten, und er konnte sich in den Stunden, die das Geschäft ihm freiließ, unbehelligt und ungekränkt als Dichter fühlen. Wie er selbst sein Poetentum zuversichtlicher als sonst betonte, fand er auch in weiteren Kreisen mehr Glauben; auch Verena neckte ihn nicht mehr, seit sie für sich selbst das große tüchtige Schaffen immer weiter hinausschob und sich mit dem Seifenblasenschimmer mühelos vorgespiegelter Möglichkeiten befreundete. Eine hübsche Gabe besaß Raphael wirklich: den Augenblick mit netten, launigen und auch empfindungsvollen Versen zu schmücken, besonders wenn Zuhörer da waren, denen er gefallen wollte und die seine Eitelkeit rege machten, und wenn der Wein und fröhliche Stimmung ihn angefeuert hatten.

Ohne ihn mochte Verena bald nicht mehr in Gesellschaft erscheinen, denn seine anmutige Huldigung ersetzte ihr den Leuten gegenüber, daß ihr der Mann fehlte. Es schmeichelte ihr, daß der umworbene junge Mann sie sichtlich allen anderen vorzog, und von den jungen Mädchen, denen er flüchtig den Hof machte, immer wieder zu ihr zurückkehrte. Schließlich lag ein besonderer Reiz darin, sich der lockenden Süßigkeit, die zuzeiten von ihm ausströmte, hinzugeben, und doch sicher zu sein, daß sie ihn niemals lieben würde. Gefahren drohten ihnen keine, weder ihm von ihr noch ihr von ihm, dazu kannten sie einander zu genau; nur an der Oberfläche berührten sie sich mit schmeichelndem Gefühle. Begegneten sie sich auf einem Balle in einem Figurentanze, so legten sie ihre Hände mit ganz feinem Druck ineinander, und ihre Augen begrüßten sich mit einem zarten, liebgeheimen Verständnis, das in einem letzten Schleier, mochte er noch so dünn sein, verhüllt blieb. Ihre Seelen näherten sich einander in manchen Augenblicken, aber sie traten nie ganz über die Schwelle und wichen wie auf Verabredung geschwind wieder in das Innerste zurück.

Raphael war nicht Verenas einziger Verehrer, es verstand sich von selbst, daß die schöne, von ihrem Manne preisgegebene junge Frau, die das Gesellschaftswesen mit solcher Leidenschaft betrieb, Männer aller Art an sich zog. Bei anderen Frauen konnte man etwa den Gatten beleidigen, junge Mädchen konnten durch Heiratspläne gefährlich werden, bei Verena hingegen wagte man nichts, als plötzlich einmal, wenn es ihre Laune wollte, übersehen und beiseite geworfen zu werden. Ihr den Hof zu machen, gestattete sie jedem, ja es war ein unersättlicher Hunger in ihr, den nur Schmeichelei stillte, die immer stärker werden mußte, je häufiger sich die Berauschung wiederholte. Wenn sie allein war, kamen Stunden, wo ihre stolze, hochfliegende Seele die Hände rang und zürnend zu ihr sagte: Ich leide! Siehst du denn nicht, wie ich leide? Du hast mich Hochgeborene auf den Markt gebracht und in die Sklaverei verkauft. Du gehst in gestickten Kleidern, und Toren und Gecken begaffen und betasten dich, und ich bücke meine Stirn in den Staub, ich, die ich nach den Höhen wollte und eine Krone suchte.

Michael sah bei seinem nächsten Besuche mit Verwunderung den freundschaftlichen Verkehr, der sich zwischen seiner Frau und seinem Bruder angesponnen hatte, und so sehr ihn alles erfreute, was sie beschäftigte und gewissermaßen von ihm ableitete, konnte ihm doch nicht ganz wohl dabei werden. Das stattliche Haus lag im tiefen Schatten, und nichts, was darin vorging, konnte man mehr leichtnehmen. Er fühlte Verenas inneres Leiden lebhafter, als sie selbst es sich zugestand, und grübelte darüber, wie ihr eine Bahn zu eröffnen sei, wo sie ihre Talente üben und ihren Ehrgeiz befriedigen könnte. Das Nächstliegende mußte auch für ihn die Malerei sein, und obwohl er den Gegenstand scheute, fing er doch eines Tages davon an, indem er sie zu überreden suchte, daß sie jetzt ihre alten Pläne ausführte. Sie lächelte spöttisch und fragte, ob jetzt in seinen Augen nur Malerinnen liebenswerte oder achtenswerte Frauen wären. Er machte sie ruhig darauf aufmerksam, daß es von jeher, wie sie ihm früher oft gesagt hätte, ihr sehnlicher Wunsch gewesen sei, sich auszubilden, worauf sie rasch, um das Gespräch damit abzubrechen, entgegnete: »Das war früher, jetzt aber bist du deine Wege gegangen und solltest mich die meinen gehen lassen.« Michael sagte: »Als ich den neuen Weg einschlug, von dem du jetzt so bitter sprichst, billigtest du ihn und hast mich sogar darauf gefördert; hast du jetzt deine Ansicht geändert?«

»Er hat dich weit von uns weggeführt«, sagte Verena, und sah ihm mit dunklem Blick ins Auge, »und ich fürchte anderswohin, als wo deine Frau dich gerne sehen könnte.«

Michael wußte, daß das einmal zur Sprache kommen mußte, und obwohl er sichtlich erblaßte, blieb er in unveränderter Stellung auf seinem Platze sitzen und sagte: »Ich habe Rose wiedergesehen und liebe sie so wie damals. Das ist ein Unglück für uns beide, aber kein schlimmeres, als sehr viele Menschen trifft, und wir sind eher in der Lage, es zu ertragen als die meisten.«

»Wenn es ein Unglück für dich und mich ist«, sagte Verena scharf, »warum sahest du sie denn wieder, wodurch es doch noch vergrößert wurde?«

Es kostete Michael Mühe, zu antworten, doch bezwang er sich und sagte kurz: »Ich konnte nicht anders.«

»Ich glaube freilich«, sagte Verena, »daß es dir leichter wird, das Unglück zu ertragen als den meisten Menschen, die mehr Pflichtgefühl haben als du.«

In Michaels bleichem Gesicht glühten die Augen, die er fest auf sie richtete. »Das verantworte ich«, sagte er. »Mit dem Ertragenkönnen meinte ich, wie du wohl weißt, etwas anderes, nämlich, daß wir Unabhängigkeit, Geldmittel und Bildung genug haben, um uns geistigen Ersatz für verlorenes Glück verschaffen zu können. Mir hat sich ein reiches Leben eröffnet, seit ich das Studium ergriffen habe, und dasselbe ist für dich da, wenn du es dir nur aneignen willst.«

Er war im Begriff, ihr von den Mädchen zu erzählen, die er kennengelernt hatte, die teils um einen Beruf auszuüben, teils nur um ihrem flatternden Leben eine Grundlage zu geben, studierten, und welche Befriedigung sie darin fanden. Aber im gleichen Augenblick fiel ihm ein, wenn sie nun sagen würde: »Ja, das möchte ich!« was dann daraus entstehen würde? Sie konnte füglich sowohl mit Mario wie ohne ihn da leben, wo er war, und es ließ sich kaum anders denken, als daß sie eine solche Möglichkeit mit Ungeduld ergreifen würde. Was aber würde dann aus ihm, seiner einsamen Arbeit, seinem überschwenglichen Dasein, seinem freien Adlerhorst in den Bergen? Er verstummte unter dem Andrang quälender Gedanken und vermochte nicht, so lähmte ihn die plötzliche Aussicht, einen Übergang zu anderen Vorschlägen zu finden.

Sie hatte anfangs gewartet, was er sagen würde, dann, da er so lange schwieg, sich in träumenden Gedanken verloren und fast vergessen, um was es sich handelte. Ihre schönen, traurigen Augen ruhten ernst und weich auf ihm, der ihr unbeweglich gegenübersaß, und nach einer Weile füllten sie sich mit Tränen. Ein furchtbares Angstgefühl erfaßte Michael, er glaubte es nicht länger ertragen zu können, sprang auf und ging rasch aus dem Zimmer und aus dem Hause, um bis zum Abend allein durch die Straßen zu hasten. Unbefreit kam er nach Hause und kämpfte die ganze Nacht mit guten und bösen Gedanken.

Es stand ihm fest, daß er Verena die Hand zu allem bieten mußte, was ihr Befreiung und Befriedigung geben konnte. War es nicht grausam, nachdem er sie von seinem Herzen ausgeschlossen hatte, sie auch von dem neuen Geistesleben auszuschließen, in dem er sich sonnte? Und wenn ihm der Gedanke, sie könnte ihn zur Universität begleiten, so unerträglich, so tödlich war, so mußte er zweifeln, ob es wirklich die Arbeit, der Umgang mit Freunden, das Dehnen des Geistes war, das ihn so froh gemacht hatte. Dann war es vielmehr die neue Freiheit gewesen, das ungebändigte Leben, das Einssein mit Rose, auch wenn sie nicht bei ihm war.

Am anderen Morgen sah er fahl und verstört aus, und die Stirn drückte ihm wie Blei auf die Augen. Sowie er mit Verena allein war, stellte er ihr vor, daß sie wahrscheinlich am ehesten durch das Studium irgendeiner Wissenschaft Genüge finden würde, wozu ihr scharfer Verstand sie vorwiegend befähigte. Er sprach trocken und erwähnte noch nichts davon, daß sie ihn begleiten könnte, doch setzte er ihr deutlich auseinander, wie er es meinte, und warum er es für besser halte als das Leben, das sie jetzt eingeschlagen hatte.

Ihre erste Entgegnung war mißtrauisch und bitter, die Wissenschaft also, an die sein kalter, dürrer Verstand sie verweise, solle sie dafür entschädigen, daß sie zur Kunst nicht tauge, obwohl doch Michael sie am Tage vorher zur Wiederaufnahme ihrer Malversuche hatte anregen wollen. Er erinnerte sich daran und fügte hinzu: »Daß ich dir dies vorschlage, entspringt nur meiner Freundschaft für dich, du weißt nicht wie großer, aber fühlen mußt du es, wenn du ehrlich gegen dich selbst sein willst.«

»Wissenschaft und Freundschaft«, flüsterte sie und legte ihre hohe, edelgeformte Stirn in ihre beiden schmalen Hände. – »Wie du es betonst«, sagte Michael, »klingt es wie der Wegwurf des Daseins, das Schnödeste, womit man Bettler abfertigt, und doch hängen nicht viel so edle Früchte an dem Baume des Lebens.«

Verena blieb noch eine Weile in ihrer Stellung und sagte dann heftig: »Was soll das alles mir, da es doch unausführbare Dinge sind? Bildest du dir ernstlich ein, daß ich hier im Hause Unger studieren könnte? Und was sollte aus dem Kinde werden, wenn ich es verließe, wie du es getan hast?«

»Mario könntest du entweder mitnehmen«, sagte Michael, »oder du könntest ihn bei meinen Eltern lassen, da der Vater ihn ohnedies ungern missen würde. Für den, der will, sind das keine Schwierigkeiten.«

»Ja«, sagte Verena, »für den, dem sein Wille über alles geht. Mir kommt zunächst die Pflicht gegen mein Kind, und die fordert, daß ich selbst und ungeteilt mich ihm widme. Wenn es ihm auch in jeder Beziehung bei deinen Eltern so gut ginge wie bei mir, so ist es doch deswegen mein Kind, damit es nach meiner Art erzogen wird, meinem Beispiele folgt, meine Anschauungen einsaugt; abgesehen davon, daß ich deinen Eltern eine Verantwortung aufbürdete, die sie vielleicht nur deswegen willig übernähmen, weil sie sie nicht in ihrer ganzen Schwere begriffen. Nähme ich das Kind nun aber mit, was sollte vollends dann aus ihm werden, wenn seine Mutter in den Hörsälen und über den Büchern säße. Du solltest mir nicht Dinge ausmalen, die mich damals, als wir heirateten, zur Allerglücklichsten auf Erden gemacht hätten, und mir nun, da sie zu spät kommen, nur mein Elend zeigen.«

»Ich glaubte dir das Beste zu sagen, was ich hätte«, entgegnete Michael, »und du wendest es um, als wäre es das Grausamste. Daß ich vor drei Jahren anders war, als ich jetzt bin, ist nicht meine Schuld. Aber deine ist es, wenn du jetzt nicht mit willst. Was du von der Erziehung des Kindes sagst, taugt nicht; unzählige gute, große, glückliche Menschen sind nicht so an der Schnur gewachsen, die ihre Eltern ihnen zogen.«

»Nein«, sagte Verena, »es sind auch schon Lilien auf Misthaufen gewachsen; aber es wäre doch ein törichter Gärtner, der deswegen keine auf das Beet pflanzte und wartete, ob nicht der Kehricht blüht.« Während des Gespräches war es Michael leichter ums Herz geworden; ein Gott hatte die Hand über seinem Schicksal gehalten und seine Frau mit Blindheit geschlagen. Weiter in sie zu dringen, hielt er nicht für seine Pflicht, um so weniger, als sie klug genug war, um selbst zu bedenken, was auf dem Spiele stand, und das jetzt Verworfene nachträglich anzunehmen. Er fühlte sich wie einer, der aus äußerster Gefahr gerettet ist, dem zuliebe der Himmel ein Wunder getan hat; er mußte an sich halten, um die Trunkenheit seines inneren Jubels nicht laut zu äußern.

Von Anfang an hatte Michael versucht, seine Eltern an dem, was er genoß, teilnehmen zu lassen, und die Malve machte ihm das auch leicht; sowohl wenn er von Menschen sprach, die er kennengelernt hatte, wie von den Gegenständen seines Studiums, folgte sie ihm gern eine Weile. Den lebhaften Gesprächen, die er zuweilen mit Arnold Meier führte, hörte sie mit behaglicher Aufmerksamkeit zu und warf ihre kindlichen und klugen Fragen hinein. Aber sein Vater saß meistenteils schwer und teilnahmslos dabei und ließ sein Herz nie ganz von einem schmerzlichen Drucke frei werden. In Wort und Benehmen trug er Michael nichts mehr nach, aber es war ihm anzumerken, daß er das Gleichgewicht noch immer nicht wieder hatte finden können; die Malve, Raphael und Verena sagten einmütig, er sei älter geworden und Michaels Entfernung sei hauptsächlich schuld daran.

Allmählich brachte Michael es doch dahin, daß er mit Interesse zuhörte, wenn er von den Erfolgen sprach, die er gehabt hatte, und von seinen Aussichten für die Zukunft. Da er im Innersten fühlte, daß es vergeblich sein würde, Michael in das Geschäft zurückzuziehen, versuchte er es nicht mehr und wollte sich begnügen, wenn er nur überhaupt bald wieder zu einer vernünftigen Wirksamkeit in die Heimat zurückkehrte. War es Michael einmal gelungen, seinen Vater aus der brütenden Gleichgültigkeit herauszuziehen und von seinen geschäftlichen Sorgen und Rechnungen abzulenken, freute er sich seines Sieges und bot alles auf, was er an Heiterkeit, Jugendmut, Liebenswürdigkeit und kindlicher Hingebung hatte, um ihn in der guten Stimmung zu erhalten. Sein Blick hing dann nur an seinem Vater. »Halte dich aufrecht, sprich und lache, Papa«, sagte er, »so hast du Schönheit und Jugend genug, um mit Jünglingen zu wetteifern. Warum macht ihr ihn denn nicht sprechen und lachen? Es ist ein Verbrechen, eher alt zu werden, als man muß.« »Man muß aber eben«, bemerkte Malve kühl und lächelnd. »Siehst du nicht, wie ihm die Haare ausfallen? Seine Stunde muß also wohl geschlagen haben. Es wäre auch ungerecht, wenn er verschont bliebe, da meine Haare schon so lange weiß sind und ich doch um ein Jahrzehnt jünger bin als er.« »Es ist kein Unglück, alt zu werden«, sagte Waldemar freundlich, »wenn man seine Kinder frisch und grün um sich herum sieht.« Bei solchen Worten fiel ein Schatten auf Michaels Seele, und es ging immer zuletzt so, wie gut es sich auch erst angelassen hatte; jede Stimmung, die sich im Hause regte, hatte einen Hang zu schwerer Trübe!

Besonders schwer wurde es ihm, was er aber für seine Pflicht hielt, Raphael zu veranlassen, daß er ihm über sein Verhältnis zu dem Mädchen, in das er sich verliebt hatte, Rede stände. Auf nachdrückliche Vorstellungen hin sagte Raphael, er hätte den Plan, das Mädchen zu heiraten, aufgegeben und damit alles getan, was von ihm verlangt werden könne; alles Weitere ginge niemanden etwas an. Michael wußte, daß die Verbindung noch bestand, daß sein Bruder ein Kind von dem Mädchen hatte und sie unterhielt; letzteres, sagte er, sei allerdings seine Pflicht, er solle für beide sorgen, aber dem Liebesverhältnisse ein Ende machen. Ob er denn, wenn er heiratete, zwei Haushalte nebeneinander haben wollte, einen offenen und einen heimlichen? Außerdem werde die Frau mit der Zeit vollständige Gewalt über ihn bekommen, und bei seiner Schwachheit könne das zu allem möglichen führen.

Raphael hatte den Charakter seines Bruders immer dem seinigen überlegen gefühlt und sich manches strenge Wort von ihm gefallen lassen; jetzt blieb er eigensinnig verschlossen und sagte schließlich: »Du hast mir genommen, was mein höchster Lebenstraum war, laß mich nun zufrieden, wenn ich mir die drückende Gegenwart erträglich mache, wie es gehen will. Erst hast du mir die echten Perlen entrissen und verachtest mich jetzt, wenn ich mit gemeinem Tand vorliebnehme.«

Michael war erschrocken und entrüstet zugleich. »Du bist auf dem Wege, der traurigste Lügner zu werden, den die Erde trägt«, sagte er, »der sich selbst belügt, um sich höher achten zu können. Was ich dir genommen habe, war der Irrglaube an deine Fähigkeiten, und was ich dir aufgezwungen habe, ist ein einträglicher Beruf, der keine übermäßigen Pflichten und viele Vorteile für dich mitbringt. Bist du wirklich ein Künstler, so kann ich dir das nicht rauben, so wenig wie irgendein anderer Mensch. Vor allen Dingen aber hast du die Liebschaft mit der Kellnerin angezettelt, als du noch nichts als Künstler warst und keinen Flitter gebrauchtest, um ein häßliches Leben herauszuputzen.«

»Damals war es ein Spiel«, sagte Raphael, »jetzt bin ich Geschäftsmann, und alles was ich tue, wird ernst, gewichtig und folgenschwer. Hören wir auf, diese nutzlose Unterredung zu führen, du sprichst wie ein Freier zu einem Gefangenen, und so verstehen wir uns nicht mehr.«

Michael fühlte, daß es in der Tat nichts fruchtete, zu reden, wenn auch aus einem anderen Grunde; Bangigkeit und Ekel erfüllten ihn mehr und mehr. Er suchte sich einzureden, daß Raphaels Torheiten im Grunde nicht so viel zu bedeuten hätten, daß er es nicht anders machte als unzählige junge Männer seines Standes; aber er konnte sich doch nicht dabei beruhigen. Einmal dachte er daran, Verena zu bitten, daß sie ihn beeinflußte, da sie ja so befreundet miteinander waren; doch gerade deswegen scheute er wieder davor zurück, ihr etwas zu eröffnen, was sie ohne Zweifel noch strenger als er beurteilen und sie vielleicht gegen ihn einnehmen würde. Als sich eine Gelegenheit bot, stellte er Raphael noch einmal mit Herzlichkeit vor, daß er jetzt, in seiner Abwesenheit, die Stütze und das Gewissen der Familie sei, daß ihr Vater zu altern beginne und mehr und mehr entlastet werden müsse; käme er selbst in einigen Jahren zurück, so werde er selbst, wenn auch in einem anderen Berufe stehend, die allgemeine Verantwortung als der Älteste wieder auf sich nehmen, bis dahin möge er besonnen und ein Mann sein. Raphael war diesmal weicher und zugänglicher; aber es schien Michael, als fehle ihm das kräftige Knochengerüst, um das zu tragen, was er wohl guten Willen hätte auf sich zu nehmen, und so hatte er keineswegs Sicherheit über seine künftige Haltung gewonnen.

Als Michaels Aufenthalt sich seinem Ende näherte, hatte Waldemar sich wieder daran gewöhnt, von ihm begleitet des Morgens in das Geschäft zu gehen und des Abends eine Zeitung zu lesen und zu rauchen, während er neben ihm saß. Es drängte Michael ungeduldig, fortzukommen, und zugleich fürchtete er, es würde irgendwo, vielleicht aus seinem eigenen Innern, sich eine Macht erheben, die ihm das Scheiden unmöglich machte. Dennoch saß er endlich im Eisenbahnwagen, der ihn fortführen sollte, und sein Vater stand vor dem Wagen und sah mit schweren, klagenden Augen zu ihm hinein. Indem er ihm zunickte und die letzten Worte mit ihm wechselte, fiel ihm ein, daß der Vater allein vom Bahnhofe in die Stadt zurückgehen müßte, und seine Beängstigung war so groß, daß er glaubte, aus dem Wagen springen zu müssen, als der Zug sich schon bewegte. Später, als er einige Stationen entfernt war, dachte er ruhiger darüber nach und fand, daß die drückenden Verhältnisse zu Hause ihm eine ungesunde Art, zu empfinden, angewöhnt hatten. Er wußte unzählige Familien, wo nicht ein Sohn, sondern mehrere Söhne in der Fremde waren, ja sogar für immer an verschiedenen Orten lebten, ohne daß es als etwas Schmerzliches oder Unrichtiges angesehen wurde; jeder verständige Mensch würde lachen und es für krankhaft erklären, wenn er hörte, die Tatsache, daß sein Vater einen halbstündigen Gang ohne seine Begleitung machen müsse, hätte sein Herz so tief erschüttert. Wer würde, dachte er, noch ein freies Auge mit Freude zum Himmel aufschlagen können, wenn er stets an die Schmerzen denken wollte, mit denen seine Mutter ihn geboren, an alle Tiere, die, um ihn zu ernähren, das Leben lassen mußten, an die Gefangenen, welche die frische Luft, die ihm wohltätig, nicht atmeten, an alle Sorgen, alles Elend, alle Qualen, die gelitten werden mußten, damit für einen ein Augenblick des Glückes kommen konnte? Er sprang auf und ging in dem engen Raume auf und ab und hob die Arme hoch, als wollte er sich vor den Gewalten retten, die aus Urgründen heraus, seinen innersten Eingeweiden verflochten, seinem Blute vermischt, mit unzähligen Geisterarmen sich in ihm verzweigten und ihn hinab in ihr dunkles Leben ziehen wollten, vor dem ihm graute.

* * *


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