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Michael war jetzt wie ein Gast in seinem Vaterhause, dessen Sitten und Gesinnungen ihn befremdeten; wäre nicht Marios leidenschaftliches Willkommen gewesen, hätte er glauben können, er sei bei der falschen Schwelle eingekehrt. Mario selbst schien ihm in den ersten Tagen verändert, dann war er wieder der zärtliche Schatten, der liebend und tastend seinen Schritten nachging. Keine Persönlichkeit spürte man jetzt neben Verena so stark wie den jüngsten Bruder Gabriel, obgleich er nicht lebhaft und nur gelegentlich gesprächig war. Er war fast siebzehn Jahre alt, sah aber noch knabenhaft aus, was einen eigentümlichen Gegensatz zu seiner Art, sich zu benehmen und zu kleiden, bildete, die der eines älteren Sonderlings entsprach. Das rührte zum Teile daher, daß er sich in allen Dingen nach einem um zehn Jahre älteren Freunde richtete, der eigentlich Ludwig Schneider hieß, aber nur als Aristos, unter welchem Namen er Gedichte veröffentlicht hatte, bekannt war. Derselbe suchte nicht etwa, wie man nach dem Namen hätte schließen können, griechische Art nachzuahmen, sondern drückte in seiner Erscheinung Verehrung für Ludwig den Vierzehnten aus: er trug die Haare länger als üblich in steif angeordneten Locken, und Spitzenhemden mit Manschetten, die lang über seine unschönen, aber gepflegten Hände fielen. Seit seine Gedichte veröffentlicht waren, hatten sich ihm mehrere junge Leute genähert, die ihn anstaunten und verehrten und zum Teile in kindischer Weise nachahmten. Dies war ihm zuwider, nicht weil er das Lächerliche und Übertriebene davon sah, sondern weil er die Menschen desto mehr verachtete, je schwächer und unselbständiger sie waren. Da er aber trotzdem die Schmeichelei, die in ihrer unbedingten Unterordnung lag, nicht entbehren, ja schließlich einen anderen Verkehrston kaum noch ertragen konnte, mußte er sie wohl oder übel dulden, obwohl ihm ihre Nähe Qualen verursachte und er sie viel lieber den Hohn hätte fühlen lassen, der bei ihrem Anblick in ihm rege wurde. Er litt hierunter um so mehr, als er es niemandem sagen konnte, nicht einmal sich selber verriet er, wie es war, sondern überredete sich, daß alle Menschen ohne Unterschied so wären wie seine Jünger, und er allein unter Schwächlingen, Toren, Gliederpuppen, Schatten ein Gewaltiger und Edler sei. Sein Gesicht war hager und knochig und so farblos, daß er mit geschlossenen Augen einem Totenkopf glich: öffnete er aber die tiefliegenden und dunkel umgebenen Augen, so empfand man das Dasein eines heißen Lebens mit unaussprechlichen Kämpfen und Qualen. Man hätte sich so den teuflischen Engel vorstellen mögen, der das Übermaß seiner Kräfte gegen Gott kehrte und inmitten seiner Höllenleiden doch seine entsetzliche Absonderung, weil er sie einmal gewollt hat, nicht bereuen kann. Seine auffallende und wahrhaft eigentümliche Persönlichkeit machte es begreiflich, daß er sich unter Durchschnittsmenschen nicht wohl fühlte, doch wurde von seiner Verachtung des Platten auch das Natürliche mitbetroffen, während er das Altertümliche, Ungebräuchliche und in Verruf Gekommene, als Fetischdienst oder Menschenopfer oder Knaben- und Geschwisterliebe, eben deswegen ohne Unterscheidung billigte.

Aristos verkehrte bei Gabriels Eltern nur selten, da er sie im Grunde zu dem Menschengerümpel zählte, das nur als Kehricht und Asche zu verwenden war, um den großen Mutterleib der Erde zu speisen. Doch nahm er aus Rücksicht auf Gabriel zuweilen eine Einladung an und lobte den Stolz, mit dem die Malve ihre verbleichende Schönheit festhielt: denn Schönheit wäre das einzige, was Frauen adelte, und was selbst alte Frauen, wenn sie nur das Übriggebliebene durch Kleidung und Würde gut darzustellen wüßten, ehrwürdig machen könnte, entthronten Königinnen gleich, denen man auch im Elend gern den Zoll der Ehrerbietung darbrächte. Die Malve lächelte zwar über Aristos' sonderbare Erscheinung und feierliches Wesen, aber eben deswegen und weil sie, wenn sie auch seine Ideen im Zusammenhang nicht begriff, ihn doch anregend fand, sah sie ihn nicht ungern bei sich; Raphael hingegen konnte seinen Ärger und seine Frau ihr Lachen nicht beherrschen, wenn sie seiner ansichtig wurden, so daß eine Begegnung mit ihnen vermieden werden mußte. Raphael und seine Frau betreffend äußerte Aristos seine Verachtung ohne Einschränkung, und Gabriel teilte seine Ansicht vollkommen. Gerade was Raphael selbst so gern, um sich zu rühmen oder um Mitleid zu erregen, hervorhob, daß er dem älteren Bruder seinen Künstlerberuf geopfert und die verhaßte Kaufmannschaft auf sich genommen habe, brandmarkten sie als unedle Schwäche, während sie Michael achteten, weil er, um seinen Willen durchzusetzen und seinen Begierden zu frönen – denn so sahen sie es an – ohne Schonung die Schwächeren zertreten hätte.

In Aristos' Gedichten war die Einsamkeit einer leidenschaftlichen Seele ohne Liebe nicht eben klar verständlich, aber oft mit schauerlicher Ahnung ausgedrückt. Gabriel pflegte sie seinen Eltern vorzulesen, um sie zur Anerkennung der Größe seines Freundes zu zwingen, bis Waldemar ärgerlich erklärte, das wüste und verzerrte Zeug nicht länger anhören zu können; die Malve fand sie zwar auch hochtrabend und schwülstig, aber es unterhielt sie doch, an ihnen zu rätseln, und ihr gewaltsamer Rhythmus regte sie angenehm an. Wie sie von jeher gewohnt war, kindliche Fragen zu stellen und durch Ungelehrsamkeit Entzücken zu erregen, ließ sie sich auch von ihrem jüngsten Sohne, gänzliches Nichtverstehen bekennend, den Sinn dieser Gedichte erklären, und belustigte sich damit, ungeheuerliche Vermutungen hinzuwerfen, was diese oder jene Wendung etwa bedeuten könnte. Was Gabriel von niemandem gelitten hätte, das Tändeln mit Dichtungen, die ihm heilig waren, duldete er doch bei seiner Mutter, die als herrliches Muster des schönen Weibes, das die Klugheit, die es besitzt, benützt, um sich als Kind voll Spielerei und Torheit darzustellen, verehrt und geschont wurde.

Als Michael, nachdem er Aristos kennengelernt hatte, gegen die Malve äußerte, er halte diesen Verkehr für einen so klugen und begabten, aber einseitigen, unkräftigen Menschen wie Gabriel nicht für förderlich, bat ihn diese in Gegenwart des Vaters desgleichen nicht zu äußern, damit sich nicht heftige Auftritte wiederholten, zu denen Gabriels Liebe zu Aristos geführt hatte. Der alte Unger erschien nur selten, meist nur des Abends, in dem Wohnzimmer, wo sich die Familie versammelte, und wenn er kam, saß er mit leerem Blick, ohne Anteil unter den übrigen. Auch Michael gelang es selten, ihn heiter oder nur vertraulich zu stimmen; wenn sie allein zusammen in seinem Arbeitszimmer waren und Michael eben glaubte, seine Aufmerksamkeit durch irgend etwas gewonnen zu haben, irrte schon seine nächste Antwort ab oder blieb ganz aus, und geradeaus starrend bewegte er die Lippen auf eigentümliche Art, als ob er zählte. Doch konnte von einer eigentlichen Geistesstörung nicht im allermindesten die Rede sein; kam es zufällig, daß er durch Willen oder Erregung seine Zerstreutheit überwand, so zeigte sich, daß er zusammenhängend denken und sprechen konnte und daß sein Gedächtnis nicht mehr gelitten hatte, als im allgemeinen bei Menschen seines Alters. Am wohlsten schien er sich in Gesellschaft Marios zu fühlen, der die aus der Kindheit hinübergenommene Liebe für den gütigen Großvater bewahrt hatte, sich von ihm in Zuckerbäckereien führen ließ und fabelhafte Geschichten aus der Schule oder aus Italien und von seinem Vater erzählte.

Eines Mittags, als Aristos und Raphael bei den alten Ungers zusammentrafen, kam es zu einem Streite darüber, was aus Gabriel werden sollte, der nun bald die Schule vollendet haben würde. Raphael sagte, es sei Zeit, daß Gabriel sich einen Beruf wähle, der ihn ernähren könne: auf das Vermögen und den Ertrag des Geschäftes könne er sich nicht verlassen, darüber sei niemand Herr, es kämen böse Zeiten für den Handel, und auch abgesehen davon müsse jeder Mann, der sich selbst achten wolle, imstande sein, sich durch eigene Arbeit durchs Leben zu bringen. Die Malve, die Gabriels Wunsch, nur den Musen zu leben, begünstigte und doch Raphael ungern widersprach, fragte ihn liebevoll, ob er seinen Jugendtraum und wie widerwillig er Kaufmann geworden sei, schon vergessen habe? Raphael lachte und rief: »Ja, Jugendträume, Mama! Sie sind gut, und ich lobe sie, wenn sie Träume bleiben. Wenn ich widerwillig Kaufmann wurde, war es nur, weil ich gerade dazu keine Neigung hatte und meine bescheidenen Talente lieber auf einem anderen Felde verwertet hätte.« Aristos sagte, indem er einen kalten Blick auf Raphael warf: »Das ist der größte Fehler der Menschen, daß sie die Träume vom Leben scheiden; die edlen, würzigen und wohlriechenden Blätter nennen sie Träume und streifen sie ab, und was als ihr Leben zurückbleibt, ist ein gemeiner, häßlicher Strunk.« Michael sagte schnell, um zu verhindern, daß Raphael eine gereizte Antwort gäbe: »Was folgt nun daraus, wenn Sie Ihren Satz auf Gabriels Zukunft anwenden?« »In früheren Zeiten«, sagte Aristos, »wurde die gelderzeugende Arbeit von Sklaven und Leibeigenen besorgt; können wir diese Einrichtung auch nicht wieder einführen, so wird es doch immer natürliche Arbeiter und Sklaven wie natürliche Herren geben, und die ersten werden stets in der Überzahl sein. Meine Meinung ist, daß diese als Packträger, Kesselflicker, Bankdirektoren oder was sonst ihrem angeborenen Beruf nachgehen und für die Bedürfnisse der wenigen sorgen sollten, die ihren Träumen leben wollen.« Bevor Michael antworten konnte, rief der alte Unger, der aufmerksam zugehört hatte, dunkelrot im Gesicht und sich weit vorbeugend: »Ich glaube, daß es meinem Sohne eben recht wäre, wenn ich zeitlebens den Packträger für ihn machte, damit er träumen, oder besser gesagt, faulenzen könnte. Aber glücklicherweise stehen wir in Zeiten, wo selbst die Könige Pflichten haben und die Müßiggänger die eigentlichen Sklaven sind.« Während die anderen über den groben Ausfall gegen den Gast erschraken, blieb Aristos' fahles Gesicht so unverändert, als ob etwa ein Löffel mit Geklirr auf den Boden gefallen wäre. »Ja, auf unseren Thronen sitzen freilich selten Könige«, bemerkte er ruhig, ohne Waldemar anzusehen, der aufstand, seinen Stuhl geräuschvoll zurückschob und ohne Gruß das Zimmer verließ. Die Malve entschuldigte in liebenswürdigen Worten die Heftigkeit ihres Mannes mit seiner krankhaften Verstimmung, wie auch damit, daß er in bezug auf die schon oft erwogene Frage von Gabriels Zukunft besonders empfindlich sei. Michael sagte: »Es gibt wohl seltene Menschen, deren Träume unsterblich leben, während das äußere Leben für sie wie Traum vorübergeht; diese freilich sollten durch andere der Notwendigkeit, sich durch Arbeit, die ihnen unverhältnismäßig schwer wird, zu ernähren, überhoben werden. Möchten Sie aber die Frage entscheiden, ob Gabriel zu diesen gehört? Es ließe sich gewiß ein Beruf finden, der sein Streben und seine Anlagen nicht beeinträchtigte, vielleicht im Gegenteile entwickelte, und wodurch zugleich Papas berechtigte Wünsche berücksichtigt würden.«

Als sie allein miteinander waren, versuchte Michael, sich mit seinem jüngsten Bruder ins Vernehmen zu setzen; aber er hatte dabei das unbehagliche Gefühl, als wäre ihm nichts Festes, Geformtes gegenüber, das zuhörte und antwortete; Gabriels kühle, aalglatte Seele entschlüpfte jedem Griff und ließ sich nicht einmal gründlich in die Augen sehen. Da er einen reichen Vater hätte, sagte er, warum sollte er Geld verdienen? Warum sollte er nicht die Vorteile seiner Geburt ausnützen? Der Arme stände unter dem Fluche der Arbeit, der Verbrecher im Zuchthause stände unter ihrem Zwange, warum sollte er sich das Brandmal mutwillig aufdrücken? Ob Orpheus gearbeitet hätte? Oder Homer? Oder Raffael und Tizian?

Michael sagte ungeduldig: »Gearbeitet haben alle großen Männer; glaubst du, ein schönes Bild entstände ohne unermüdliche Arbeit? Niemand will dich zwingen, Schuster oder Schneider zu werden, vielmehr verspreche ich dir, wenn du für irgend etwas Neigung hast, vorausgesetzt, daß du nicht gerade Seiltänzer oder Scharfrichter werden willst, dir bei Papa die Erlaubnis dazu zu erwirken. Es muß einer, um das Nichtstun zu vertragen, ein weit stärkerer Charakter sein, als du bist. Noch bist du in dem Alter, wo man die Erfahrungen der Älteren übernehmen und ihnen folgen muß, und die Älteren haben die Pflicht, dich zu dem anzuhalten, was das Leben sie als das Ersprießliche gelehrt hat.«

Gabriel sagte lächelnd: »Hätte dieser Aberglaube nicht von jeher geherrscht, die Welt wäre weniger greisenhaft und häßlich. Das, was abstirbt, will das, was aufblüht, im Blühen unterweisen! Als ob alle Weisheit und Erfahrung des Alters eine von den Blüten hervorgebracht hätte, welche die Jugend im Traume zu Tausenden treibt.«

»Im Blühen sollen wir euch auch nicht unterweisen, nur im Arbeiten«, sagte Michael und lachte; indessen Gabriel sagte müde, als ob er des überflüssigen Gespräches nun satt sei: »Das Eifern des alten Judengottes: im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen! Da wir Schweinefleisch essen und den Sabbat nicht heilighalten, brauchten wir uns auch an dies engbrüstige Gebot nicht mehr so ängstlich zu binden.«

Wie Malve ihm wiedererzählte, hatte Gabriel nach dieser Unterredung über Michael zu ihr gesagt, er sei zwar ein Sohn unserer Zeit, aber innerhalb dieser Beschränkung würde ihn selbst Aristos nicht hindern, ihn zu bewundern. Beide lachten darüber, immerhin meinte Michael, müsse man mit mehr Ernst die Erfüllung gewisser Pflichten, sei es auch nur, damit er nicht ganz zerfließe und in trauriger Willkür vereinsame, von ihm fordern. »Er ist nicht schlimm«, sagte die Malve entschuldigend, »nur absonderlich; aber mir scheint, man muß wenigstens zum Schein auf die Ideen der Jugend eingehen, wenn sie auch barock sind, damit man ihr Vertrauen nicht einbüßt.«

Unter dem Eindrucke von Gabriels Wesen, das mit greisenhafter Bewußtheit auf Jugend pochte, konnte sich Michael nicht genug über Marios Kindlichkeit freuen, den es keine Herablassung kostete, mit fünfjährigen Kindern zu spielen, der in Märchen und Indianergeschichten schwelgte und für einen Lieblingskuchen, so behauptete der alte Unger mit herzlichem Vergnügen, Vater und Mutter verraten hätte. Eine Neigung, sich abzusondern, besonders von Kindern seines Alters, hatte er zwar auch; aber weil Michael eben der war, dem er sich blindlings und uneingeschränkt hingab, kam ihm das weniger zum Bewußtsein; auch hätte er das nicht als einen Fehler oder als eine Gefahr für ihn betrachten können.

Trotz aller Bemühungen brachte es Michael nicht dahin, daß in Hinsicht auf Gabriels Zukunft irgend etwas festgestellt wurde. Der alte Unger hatte sich in den Kopf gesetzt, wahrscheinlich durch Michaels ehemalige Pläne angeregt, daß Gabriel Arzt werden sollte, und wollte durchaus keine anderen Vorschläge annehmen; aber gerade diesen Beruf, mußte Michael zugeben, sei es bedenklich, ohne Lust und besondere Begabung zu ergreifen. Gabriel seinerseits gab sich keine Mühe, seinen Vater für etwas anderes zu gewinnen, da es ihm bequem war, sich mit einem Anschein von Recht schlechtweg verneinend zu verhalten. Am Tage vor seiner Abreise beredete Michael seinen Vater zu einem letzten Spaziergange, in der Hoffnung, es könnte noch zu einer warmen Aussprache zwischen ihnen kommen; doch Waldemar blieb unzugänglich und ließ sich nur in dem Hange zu Klagen und Nörgeleien über seine Umgebung gehen, der sich in der letzten Zeit an ihm bemerkbar machte. Zufällig war diesmal Verena der Gegenstand seiner Unzufriedenheit; indem er auf ihren Glaubenswechsel zu sprechen kam, sagte er, Ernst und Überzeugung haben nichts damit zu tun gehabt, sie habe immer Männer zu ihren Füßen sehen müssen; früher seien es verrückte Schriftsteller gewesen, schließlich sei ein Priester an die Reihe gekommen. Das heuchlerische Getue, das tägliche Kirchengehen und Messehören, das Geplärr mit dem Rosenkranze sei ihm durchaus zuwider, lieber möchte er mit Juden und Türken zu tun haben, als mit den pfäffischen Augenverdrehern. Tugendhafter sei Verena keineswegs geworden, vielmehr noch selbstgefälliger als zuvor, und wenn sie früher wie von einem Katheder herab zu anderen gesprochen hätte, so käme jetzt ihre Weisheit von der Kanzel oder von der Kirchturmspitze herunter.

Da Michael das Verhalten seiner Frau zu erklären und das Gespräch auf andere Dinge zu bringen suchte, wurde er allmählich stiller; der Gang an dem schwülen Sommernachmittage ermüdete ihn auch, und zuletzt ging er langsam, aber mit Anstrengung sich geradehaltend, völlig schweigsam neben seinem Sohne her. Michael betrachtete ihn traurig; sein Mund stand offen, und das Kinn mit der Unterlippe hing ein wenig herunter.

Nach dem Abendessen, als Verena sich mit Mario zurückgezogen hatte, war Gabriel begierig, einige Gedichte von Aristos vorzulesen, die soeben in einer Zeitschrift erschienen waren, und die sogar er selbst schwerlich mehr übertreffen könnte. Michael sagte mit Rücksicht auf seinen Vater, er möchte den letzten Abend lieber verplaudern; allein die Malve meinte, er solle Gabriel lieber lesen lassen, er sei nun einmal erpicht darauf und würde an seinen Perlen ersticken, wenn er sie nicht ausspeien könnte. Während Gabriel las, betrachtete Michael bekümmert seinen Vater, der in einem Lehnstuhl saß und nur halb auf das Vorgetragene hinhörte, aber doch Eindruck genug davon empfing, um gestört und gequält zu werden. »Überflüssige Worte!« sagte er abwehrend, als Gabriel innehielt, um die Wirkung des Gelesenen zu vernehmen, worauf Malve meinte, das könne man gerade nicht sagen, wenigstens nicht, bevor man verstanden hätte, was sie bedeuten, und das sei nach einmaligem Hören nicht möglich. Gabriel sagte mit einem herausfordernden Blick auf seinen Vater: »Du hältst doch, soviel ich weiß, die Worte Gott, Unsterblichkeit, Ruhm, Tod und Leben nicht für überflüssig, warum aber die, welche dir diese Mysterien deuten sollen?« Michael klappte das Buch zu, das Gabriel in der Hand hielt, und bat seine Mutter, einmal wieder die alten Stücke auf dem Klavier zu spielen, die er als Kind so gern gehört hätte: denn er erinnerte sich, wie angenehm das seinem Vater in früherer Zeit gewesen war. Er begleitete seine Mutter in das Nebenzimmer, wo der Flügel stand, öffnete ihn für sie und blieb daran gelehnt stehen, indem die Malve auswendig ein paar veraltete leichte Weisen spielte, die ihren Fingern geläufig geblieben waren. Sie spielte dies und das durcheinander, da ihr zuweilen das Gedächtnis versagte, und füllte die Lücken mit verlorenen Akkorden aus; als sie nach einer halben Stunde aufhörte, stand Michael noch am Flügel und dachte mit Staunen an seine erste Jugend zurück, die ihm so fremd geworden war, als gehörte sie nicht zu ihm und seinem jetzigen Leben.

Unterdessen hatte Gabriel, der ungeduldig gewartet hatte, daß seine Mutter zu spielen aufhörte, wieder zu lesen angefangen, und Michael hörte durch die offene Tür seinen eintönig pathetischen Ton anfangs wie im Traume, bis er allmählich von seinem Sinnen zurückkam und die einzelnen Worte unterschied.

Du warst kein Stern, der führt,
Den irrende Schiffer segnen,
Du warst keine Frucht, die nährt,
Kein Tau auf schmachtende Seelen;
Du wirst kein Name werden,
Den feurige Lippen nennen,
Kein Bann, kein Zauber auf Erden,
Drin ewige Kräfte brennen,
Dich wird die Muse nicht leiten
Durch unterirdische Gänge
Zu leuchtenden Seligkeiten,
Im Sturm der Sphärengesänge –
Du stirbst, wie Blätter fallen,
Niemand wird an dich denken.

Der alte Unger, der während des Lesens mit starren, leeren Augen auf Gabriel geblickt hatte, stand, nun er abbrach, schwerfällig von seinem Stuhle auf und verließ das Zimmer. Michael folgte ihm rasch, um ihn zu begleiten; als er nach einigen Minuten zurückkam und die Malve und Gabriel halblaut miteinander sprechend und lächelnd fand, übermannte ihn zornige Entrüstung so sehr, daß er seinen schmächtigen Bruder mit den dreist beobachtenden Augen hätte packen und niederschmettern mögen. »Wie kannst du wagen«, rief er, seine Stimme mühsam dämpfend, »einen alten Mann zu stören, der die Rechnung seines Lebens macht und schreckliche Dinge bedenkt, die ihr nicht fassen könnt, der mit Furcht und Grauen lebt, was euch erwünschter Stoff zu einem Spiel mit Worten ist! Was bist du denn als eine Fliege, die mit unverschämtem Summen einen müden Schläfer belästigt! Fühlst du nicht, daß er in seinen Träumen Stimmen hören kann, gegen die eure Reime nur ein kümmerliches Stammeln sind?« Er zitterte am ganzen Leibe und wußte nicht, was er sagte; Gabriel betrachtete mit neugieriger Furchtsamkeit und nicht ohne Bewunderung sein bleiches Gesicht, in dem die Augen schwarz brannten. Die Malve legte die Hand auf Michaels Arm und sagte lächelnd, denn sie wollte keine feierliche oder hochtrabende Stimmung aufkommen lassen: »Unser Engel mit dem feurigen Schwerte.« Michael warf einen Blick voll bitteren Vorwurfs auf sie; aber ihr schönes Gesicht mit den schmerzhaften Brauen tat es ihm an, so daß er sie umarmte und küßte, obwohl er noch ganz in Aufruhr war; dann ging er, ohne Gabriel ›gute Nacht‹ zu sagen.

Er war kaum eine Woche wieder am Meere, als ihm ein Brief der Malve den Tod seines Vaters meldete; er sei plötzlich am Herzschlage gestorben und es sei ihm absichtlich nicht telegrafisch gemeldet worden, damit er nicht, kaum von der Reise zurückgekehrt, seine Tätigkeit von neuem unterbräche, um zur Beerdigung zu kommen, was im Grunde doch nur eine Förmlichkeit wäre; Raphael sowie die ganze Familie seien darüber einer Meinung mit ihr gewesen. Diesem Briefe folgte umgehend ein anderer, in dem seine Mutter schrieb, sie hätte ihm den wirklichen Hergang von seines Vaters Tode verheimlichen wollen, um ihn nicht nutzlos zu betrüben, hätte sich nun aber doch anders besonnen; sein Vater hätte sich am späten Abend, als im Hause schon alle geschlafen hätten, in den Fluß hinter dem Garten gestürzt; sein Leichnam sei mit grauendem Morgen weiter stromabwärts von Arbeitern gefunden worden. Ein besonderer Anlaß zu der Tat hätte nicht vorgelegen, sie sei jedenfalls aus der Schwermut, die ihn schon lange drückte, hervorgegangen. Es war kein Wort der Trauer hinzugefügt, auch in dem Tone des Briefes war nicht der flüchtigste Kummer zu spüren; sie hätte nicht kühler schreiben können, wenn es sich um einen wildfremden Menschen gehandelt hätte. Michael legte den Brief wieder aus der Hand, ohne daß das schreckliche Ereignis ihm wirklich geworden wäre. Hätte der Brief Klagen oder irgendein Zeichen von Traurigkeit enthalten, würde er es vielleicht eher begriffen haben; so arbeitete er zunächst unwillkürlich weiter, als ob nichts vorgefallen wäre, irgendeine häßliche Störung ausgenommen, auf die er sich nicht mehr besinnen könnte. Erst als er zu dem Briefe zurückging, ihn zum zweiten Male las und dachte, daß auch die anderen nicht traurig sein würden und einzig Mario weinte und den Toten vermißte, zog sich sein Herz krampfhaft zusammen, und er brach in Tränen aus, die lange nicht versiegen wollten. In der Nacht, nachdem er sich zu Bett gelegt hatte, wurde seine Sehnsucht, den geliebten Vater noch einmal zu sehen, so groß, daß er wieder aufstand und sich anzog, um sofort nach Hause zu reisen und nötigenfalls den Sarg ausgraben und öffnen zu lassen. Aber indem er sich ausmalte, was seine Mutter und Raphael und die anderen sagen würden, und wie dumpf und erstickend es ihm im Hause vorkommen würde, sank ihm das Herz, und er sagte sich, daß er ebensogut, ja besser hier mit seinem Vater allein sein könnte. Lange stand er traumverloren am Fenster, ging dann im Zimmer auf und ab und schrieb hierauf einen Brief an seine Mutter, worüber er müde wurde. Der Morgen dämmerte bereits, als er sich in Kleidern noch einmal aufs Bett warf, um ein paar Stunden fest zu schlafen. Nachdem er mehrere Wochen abwesend gewesen war, hatte sich viel dringende Arbeit angehäuft, und der Direktor, der ihn liebenswürdig aufforderte, sich nicht Gewalt anzutun, sondern den ersten Schmerz vorübergehen zu lassen, war im Grunde froh, als Michael erklärte, in der Arbeit eher eine Beruhigung zu finden. Beruhigend war es ihm auch, zu denken, daß sein Vater nun nicht mehr die lange, graue Straße hinunter in das Geschäft ging, daß seine großen Augen nicht mehr in öder Schwermut auf die Bücher voll Zahlen starrten, daß er nicht mehr in das freudlose Haus zurückkehrte, sondern ruhte. Die Anforderungen des Berufes halfen ihm unbegreiflich schnell über die erste trübe Zeit hinweg; nur die Reue, daß er das Ende nicht vorausgesehen und verhindert, daß er einen, der mit dem Tode rang, verlassen und preisgegeben hatte, nagte an ihm und wollte sich auch nicht vertreiben lassen, als schon mehrere Monate darüber hingegangen waren.

*

Michael freute sich darauf, daß Verena und Mario kämen, damit er mit Mario von seinem Vater sprechen könnte; aber dieser hatte keine Lust dazu. Zwar machte er ein trauriges Gesicht, als Michael ihn darüber befragte, antwortete aber zerstreut und konnte seine Ungeduld nicht verbergen. »Du hattest ja den Großvater so lieb«, sagte Michael verwundert. »Ja, sehr lieb«, antwortete Mario, »aber nun habe ich ihn schon ein wenig vergessen«, und lächelte dabei mit schelmisch-zufriedenem Glänzen der Augen, als wäre recht schnelles Vergessen von einst Geliebtem eine zierliche Sünde, auf die man eigentlich stolz sein könnte. Michael konnte nicht umhin, das kindliche Gesicht mit der warmen, rotbraunen Haut, das ihm ganz nah war, zu küssen, und zu lachen. Es war im Grunde leicht einzusehen, daß seine Jugend die trübe Erinnerung gern abschüttelte, um sich neuen, reizenden Eindrücken hinzugeben; vergessen hatte er den Großvater deswegen noch nicht, vielmehr fing er zuweilen freiwillig von ihm zu sprechen an. Es gab jetzt Anziehungspunkte für Mario, die früher noch keine Macht über ihn gehabt hatten und die ihn sogar zeitweilig von seinem Vater ablenkten, nämlich kleine Mädchen. Das liebste war ihm das Kind eines Fischers, der im nächsten Dorfe wohnte und seinen Fang an Seetieren in die Anstalt zu verkaufen pflegte: ein etwa neunjähriges Mädchen, das Innocenza hieß, von Mario aber, im Andenken an die kleine Brandstifterin, die sein Ideal gewesen war, Liberata genannt wurde. Es war ein schönes Südlandskind mit großen braunen Augen, die von Lust und Leben sprühten, wirren Locken und großem, lachendem Munde; am reizendsten waren ihre schlanken, festen, sonnengebräunten Beine mit den behenden Füßen, die mit unglaublicher Geschwindigkeit und Sicherheit sowohl durch das Wasser wie über die Kieselsteine liefen. Sie hatte mit ihren festen, feinen Händen von Marios weicher Seele Besitz genommen und beherrschte ihn ganz und gar, vergalt aber seine Ergebenheit mit stürmischer Liebe.

Mario verheimlichte das Verhältnis seiner Mutter, erzählte dagegen Michael alle Einzelheiten seines Abenteuers, sowohl von ihren kräftigen Umarmungen wie von dem Beißen ihrer scharfen kleinen Zähne, was er beides ein wenig fürchtete. »Aber ich lasse mir alles gefallen, sonst wird sie böse«, sagte er; er selbst hatte sie noch nicht ein einziges Mal umarmt oder geküßt, wahrscheinlich weil er das Gefühl hatte, seine Zärtlichkeiten würden neben ihren langweilig und frostig erscheinen. Michael, dem die kleine Wilde gut gefiel, nahm das Paar zuweilen im Schiffe mit auf das Meer hinaus, wenn er fischte, bewirtete sie mit Orangen und Süßigkeiten und hörte dem Mädchen zu, das unermüdlich plauderte, von Eltern, Großeltern und Geschwistern, und was sie wieder von diesen gehört hatte, dazwischen Fabeln und Lieder, wie sie im Volke umgingen, alles mit lebhaftem Gebärdenspiel begleitend. Mario war stolz, daß sein Vater seine Bewunderung für Liberata teilte; dennoch hielt ihn das nicht ab, sich mit einem anderen kleinen Ding einzulassen, das in allen Stücken das Gegenteil von jener war. Die Neue war ein feines, trippelndes Persönchen, das augenscheinlich reichen Eltern gehörte, mit sorgfältiger Eleganz gekleidet und sich ihrer zierlichen Erscheinung wohl bewußt war. Unter ihrem großen Hut aus feinstem Stroh kamen lange blonde Locken hervor, die regelmäßig über ihren Rücken verbreitet waren; bei den durchbrochenen Handschuhen, den ausgeschnittenen Schuhen und allen übrigen Kostbarkeiten nahm man das rosige Gesicht mit dem Stumpfnäschen, ohne zu fragen, ob es hübsch sei, mit in den Kauf. Mario konnte sich dieser Schönheit nicht entziehen und machte ihr den Hof, allerdings in großer Heimlichkeit und unter Herzklopfen aus Angst vor Liberata, was aber den Reiz des Unternehmens noch erhöhte. Die kleine Dame, so züchtig und gemessen sie auch neben ihrem Fräulein einherging, wußte doch Blicke zu tauschen und Zeichen zu geben, allein etwas mehr, zum Beispiel einen Kuß zu bekommen, schien unmöglich; Mario befliß sich zunächst, ihr Blumen, die er etwa vor ihren Augen geküßt hatte, in ihre Hände zu spielen, ja einmal glückte es ihm, eine Ecke der himmelblauen Schärpe, die sie trug, an seine Lippen zu drücken.

Da Michael, dem auch das neue Liebesverhältnis treu geschildert wurde, für die hintergangene Liberata Partei nahm, beruhigte ihn Mario damit, daß sie es ja nicht wisse; erführe sie es, könne ihre Eifersucht ihm allerdings fürchterlich werden. Dies Unglück blieb aber doch nicht aus, da Liberata eines Tages Mario überraschte, wie er, glühend vor Seligkeit, neben seiner vornehmen Schönen herging und ihr eine große Tüte voll Zuckerwerk trug, die sie geschenkt bekommen hatte.

Zwar leugnete Mario, da sie ihn zur Rede stellte, rundweg, irgendein Gefühl als das äußerster Gleichgültigkeit, ja eigentlich Abneigung für die geputzte Puppe zu haben, doch Liberatas Zorn war nicht mehr zu dämmen und blitzte prächtig aus ihren großen Augen heraus, so daß Mario zwischen Furcht und geheimem Wonneschauer erbebte. Übrigens hätte er es sich nicht weiter zu Herzen genommen, wenn ihm nicht Liberata damit gedroht hätte, daß ihre Großmutter ein Zaubermittel kenne, durch welches man einen Gehaßten, ohne ihn irgendwie äußerlich anzutasten, langsam könne hinsterben lassen. Er fragte seinen Vater, was es damit auf sich hätte, und dieser erwiderte, es könne schon etwas daran sein, er täte auf alle Fälle besser, dem lieben Mädchen treu zu bleiben. Am Abend nahm er beide Kinder mit auf das Meer, um sie zu versöhnen, allein die Kleine blieb schweigsam und düster, und Mario machte bängliche Versuche, harmlose Späße wie sonst mit ihr anzuknüpfen. Die Sonne neigte sich schon zum Untergange, als Michael unter der goldklaren Oberfläche des Wassers Quallen treiben sah, auf deren Schönheit er die Kinder aufmerksam machte; ihre durchsichtigen Leibchen schimmerten wie Opal, und leise bewegten sie, wie um ihre milchigen Farben spielen zu lassen, ihre rankenden Glieder. Liberata vergaß ihren Schmerz und Zorn und rief laut ihr Entzücken aus; als indessen Michael eine Qualle herausnahm und ihr den grauen Schleim in die Hand legte, schleuderte sie diese mit einem Ausruf des Ekels ins Wasser zurück und sagte, gegen Mario gewendet: »Sie ist wie du!« wobei ihre schwarzen Augen vor Triumph und Verachtung blitzten. Sie glich, wenn man von ihrem zarten Kinderkörper absah, in diesem Augenblick einem feurigen Weibe, so daß es einen wunderte, daß es seine Leidenschaft so ernstlich auf einen Jungen wie Mario setzen mochte. Dieser ließ es sich angelegen sein, ihren Zorn durch reuiges Betragen und kleine Geschenke zu mildern, und nach einiger Zeit spielten sie denn auch wieder zusammen am Strande; aber zu den stürmischen Zärtlichkeiten, nach denen er sich sehnte, kam es nicht wieder.

Von Verena erfuhr Michael, daß Mario während dieser ganzen Zeit auch einen Briefwechsel mit einem kleinen Mädchen unterhielt, das zu Hause die Dame seines Herzens gewesen war, was er auch auf Befragen willig eingestand. Er hätte seinem Vater nichts davon erzählt, sagte er, weil es eine langweilige Sache wäre, an die er nie dächte; denn das Mädchen hätte er gleich nach seiner Ankunft vergessen, so daß er nicht recht wüßte, was er ihr schreiben sollte, und es längst unterlassen hätte, wenn sie nicht darauf bestände. Sie wäre, sagte er, zwei oder drei Jahre älter als er, fast erwachsen, und er hätte sie außerordentlich geliebt, ja angebetet, jetzt aber wäre sie ihm so gleichgültig geworden, daß er sich, wenn er an sie schriebe, vorstellen müsse, er spräche zu Liberata, da er sonst keinen Brief zustande bringen würde. Als Michael fragte, wie es denn werden sollte, wenn er wieder nach Hause käme, sagte Mario, das mache ihm auch oft Bedenken, er hoffe aber, seine frühere Neigung werde sich dann wieder einstellen, und hauptsächlich tröste ihn der Umstand, daß sie bald in eine Erziehungsanstalt käme, womit dann alles ein Ende hätte.

Verena mißbilligte das müßiggängerische Treiben Marios lebhaft und trat ihm mit Entschiedenheit entgegen, so daß Michael oft zu begütigen hatte. Sie müsse ein Kind nicht so ernst nehmen, sagte er, Mario entwickle sich spät, das wäre aber günstiger als das Gegenteil. Was er jetzt lernte, während sein Sinn noch auf Kinderspiele gerichtet sei, hätte keinen Wert, später würde er das Versäumte leicht nachholen und hätte dann den Vorteil, daß er den Stoff sogleich richtig und mit einer Ahnung seiner Bedeutung aufnähme, anstatt auswendig zu lernen und dabei zu vergessen, daß die Worte auch einen Sinn hätten. Seine Liebesgeschichten träten allerdings etwas reichlich auf, doch dürfe man um keinen Preis dadurch, daß man ihnen Wichtigkeit beimäße, ihren harmlosen Charakter nehmen. Allzuviel modeln müsse man überhaupt an Kindern nicht, sondern, wenn es nicht auffallende Bosheiten auszutreiben gäbe, sie so, wie sie wären, liebhaben; möchte es immer sein, daß Mario verzärtelt sei, so wäre er dafür nicht roh wie andere Knaben und schließlich noch viel zu sehr in der Entwicklung begriffen, als daß es statthaft sei, über ihn abzuurteilen.

Michaels gutes Einvernehmen mit Verena, das im Grunde stets etwas Quälendes gehabt hatte, nahm dadurch ein Ende, daß ein äußerer Anlaß ihn zwang, sich ihr über seine Zukunftspläne, die in der Hauptsache dieselben geblieben waren, zu erklären. Es wurde ihm nämlich, der seinen wissenschaftlichen Ruf inzwischen durch kleinere Arbeiten hatte vermehren können, eine Stelle angeboten als Direktor einer zoologisch-botanischen Anstalt, die an der Mündung des Amazonenstromes gegründet werden sollte. Er hatte die Aussicht, eine noch ziemlich unerforschte, üppig hervorbringende Natur zu studieren; denn die Absicht der Unternehmer war, daß er freie Zeit zu umfassenden Studien behielte, weswegen ihm genug Beamte unterstellt werden sollten, damit er nicht in der Anstalt aufgehen müsse. Er zweifelte nicht einen Augenblick, ob er annehmen sollte; wenn je die unbekannte Gottheit ihm ein Zeichen geben wollte, wohin er sich wenden sollte, so war es durch diese wunderbare Verkettung von Umständen geschehen, die ihm in den Schoß fallen ließ, wonach hundert andere mit aller Anstrengung vergebens strebten. Was ihm eine Tätigkeit nach seinem Sinn in Aussicht stellte, war zugleich von höchstem Einfluß auf sein persönliches Leben; auf diesem Wege konnte er sich von Verena loslösen und sich endgültig mit Rose vereinigen. In früheren Jahren hatte er oft die Möglichkeit, auszuwandern, erwogen; aber er wollte den gewissenlosen Lumpen nicht gleichen, die, um häuslichen Mißständen zu entgehen, oder um ungestraft und ungestört Verbotenes zu genießen, sich in die Neue Welt hinüberstehlen. Jetzt würde er eine gute gesicherte Einnahme haben; in seiner Familie war niemand mehr, der seiner als Stütze bedurfte, außer Mario, den er allenfalls mitnehmen konnte; die Verhältnisse lagen so, daß niemand erheblich darunter litt, wenn er Europa verließ. Ob Rose ihn sogleich begleiten oder später nachfolgen sollte, wollte er davon abhängig machen, wie Verenas Entscheidung ausfiele, der er seine Absichten, ohne das Geringste zu verhüllen, vorzulegen willens war.

Solche Auseinandersetzungen führten keine äußerlichen Erschütterungen mehr mit sich wie in früherer Zeit; sein Vater, dessen zornige Schmerzensausbrüche und finsteres Abwenden er am meisten gefürchtet hatte, war tot, und Verena ging nicht aus ihrer kühlen Gelassenheit heraus. Er selbst begann den Kampf um das Glück mit dem neuen Mute des Ermüdeten, der weiß, daß es die letzte Anstrengung gilt; denn er sah das grüne Ufer schon, wo er landen und ruhen könnte. Hätte sich ihm die Aussicht, in Amerika ein neues Leben beginnen zu können, nicht eröffnet, würde er noch gewartet haben; denn in der letzten Zeit hatte er sich der steten Aufregungen in der Familie entwöhnt, und es fiel ihm schwer, den Frieden, der eben zwischen ihm und seiner Frau eingetreten war, wieder zu zerstören. Dennoch war er dankbar und glücklich, daß es so gekommen war; denn es war ihm einmal, als er mit Verena und Mario in dem schönen Garten der Anstalt am frühen, frischen Morgen Kaffee trank, ein ganz leises Bangen gekommen, er könnte älter und bequemer werden, und wenn endlich die Zeit da sei, könnte ihm die Kraft mangeln, die dünnen, zähen Fäden, die ihn an seine Frau knüpften, zu zerreißen und frei zu Rose zu gehen. Er wußte, daß er im Zusammenleben mit Verena reizbar und schwierig war; eine Meinung, die er für albern hielt, persönliche Eigenheiten, über die er sonst vielleicht gelacht hätte, verstimmten ihn, ja zuweilen erregte die klare Stimme Verenas ihm ein Gefühl, als wären alle Nerven seines Körpers aufs äußerste gespannt und würden beim nächsten Laut schmerzhaft reißen. Sie machte ihm deswegen keine Vorwürfe, schien es überhaupt nicht zu bemerken, außer daß sie etwa die allzu große Arbeitslast beklagte, unter der er litt, und umging mit bewunderungswürdigem Takt die kleinen Reibereien und Mißhelligkeiten, die aus seiner Laune hätten hervorgehen können.

Unmerklich hatte sie sich an diese Art der Beziehungen zwischen ihnen gewöhnt und fühlte sich zufrieden dabei; es gab weit weniger Zank und Aufregung als in der ersten, glücklichen Zeit ihrer Ehe. Daß sie einmal eine große, glühende Leidenschaft gewollt hatte, war ihr aus dem Gedächtnis verschwunden, oder sie erinnerte sich jener Zeit, ohne zu empfinden, daß sie es war, um die es sich handelte; ebenso war ihr auch das Bewußtsein von Michaels Liebe zu Rose, von der er selbst nie sprach, durch die Kleinigkeiten des täglichen Lebens zurückgedrängt und verdunkelt.

Als ihr nun Michael nach langer Zeit wieder davon zu sprechen anfing, war sie innerlich überwältigt und betäubt, doch zwang sie sich, nichts davon merken zu lassen, und da Michael sagte, er sei überzeugt, ihr trockenes Zusammenleben ohne Aufschwung und Innigkeit wäre für sie noch unerträglicher als für ihn, und sie würde froh sein, das Notdach, unter das sie sich geflüchtet hätten, zertrümmern zu können, antwortete sie ja, und fast schien es ihr, als wäre es wirklich so. Sie sagte ruhig: »Für mich war die Ehe mit dir gelöst, als ich in die katholische Kirche eintrat, denn sie wurde nach protestantischen ungültigen Gebräuchen vollzogen. Trotzdem habe ich bei dir ausgehalten, weil ich glaubte, dir nützen zu können, und, wie du weißt, hauptsächlich Marios wegen. Inzwischen habe ich aber eingesehen, daß es wohltätiger für ihn wäre, wenn ich ihn unter meinen alleinigen Einfluß brächte, als daß ich ihm mit großen Opfern einen Vater erhalte, der aus mißverstandener Liebe alle seine gefährlichen Triebe großzieht. Deshalb, wenn du dich entschlossen hast, ihn aufzugeben, so lege ich dir nichts mehr in den Weg.« Sie war selbst erstaunt, wie ihr die Sätze, die sie nicht einen Augenblick vorbedacht hatte, mit solcher Klarheit und Schärfe von den Lippen flossen, und sehr mit sich zufrieden. Als sie das Wort ›aufgeben‹ gebrauchte, wußte sie, daß Michael es nicht tun würde, und frohlockte, obgleich sie eben ausgesprochen hatte und davon durchdrungen war, daß gar kein Ehebund zwischen ihnen bestände.

Michael sagte, wie sie erwartet hatte: »Ich werde Mario nicht aufgeben, weniger jetzt als je, da ich mir denke, daß du ihn zu deinem Glauben bekehren willst, wofür er wohl empfänglich wäre, was ich aber nicht wünsche.«

»Es versteht sich, daß ich ihn für meinen Glauben gewinnen werde«, schaltete Verena ein.

»Wenn du ihn mir nicht ganz überlassen willst«, fuhr er fort, »und daran zu denken habe ich freilich kein Recht, so bitte ich dich, mir zu erlauben, daß ich ihm schreibe. Es wäre unklug, wenn du das nicht zuließest, einmal, weil du wohl weißt, daß ich Mittel und Wege finden würde, es heimlich zu tun, und dann, weil du weißt, daß Mario in wenigen Jahren wählen kann, wem von uns er sich anschließen will. Bei der Liebe, die er von klein auf zu mir hatte, ist kein Zweifel, daß er mich wählen wird. Du kennst ihn so gut wie ich; je mehr du ihn mir gewaltsam zu entfremden suchen würdest, desto eigensinniger würde er bei der Liebe zu mir verharren, und selbst wenn er eine natürliche Neigung zur katholischen Kirche hätte, was der Fall sein mag, würdest du sie ihm verhaßt machen, sowie du sie ihm im Gegensatz zu mir aufzwingen wolltest.«

»Ich befasse mich nicht mit Weissagungen«, sagte Verena. »Anstatt dessen erkläre ich dir und werde dabei unweigerlich bleiben, daß ich, wenn du dich endgültig von mir scheiden willst und dann die Möglichkeit offensteht, daß du dich wieder verheiratest, ich dir keinen, durchaus keinen Verkehr mit Mario gestatte, solange er bei mir ist. Was später geschieht, stelle ich Gott anheim. Ich tue das nicht etwa, um mich an dir zu rächen oder deinen Entschluß zu hintertreiben, sondern einzig, damit Mario nicht unter deinen oder gar unter einen beliebigen weiblichen Einfluß gerät, und zweitens, weil ich es für meine heilige Pflicht halte, meinen Sohn seinem Irrglauben zu entreißen und der alleinseligmachenden Kirche zuzuführen.«

»Du bist so sehr für das Heil deines Kindes besorgt«, sagte Michael bitter, »und denkst nicht an die Seelenqualen, die du ihm bereitest, indem du ihm verbietest, mit seinem Vater, den er bisher am meisten auf der Welt liebte, zu verkehren, und an den Zwiespalt, den du in ihm erregst, entweder mich zu verlieren oder dich zu belügen.« Verenas Augen blitzten auf, als sie schnell einfallend sagte: »Das tust du! Wenn er leidet, wenn er sich verstellt, etwas verheimlicht und mich hintergeht, um mit dir in Verbindung zu bleiben, so ist es deine und nicht meine Schuld. Ich habe an dir festgehalten im steten Kampfe mit dir und meinem persönlichen Wohl zum Trotz, damit er dein Sohn bleiben könnte. Für alles, was nun geschieht, mache ich dich verantwortlich. Oder hättest du den Mut, zu leugnen, daß ich alles getan habe, um unser Zusammenleben erträglich zu machen?« »Nein«, sagte Michael tonlos, »ich habe immer deine Selbstüberwindung bewundert.«

Weiter hatte er nun nichts zu sagen; denn es war augenscheinlich, daß Verena von ihrem Entschlusse nicht weichen würde. Wenn er sich vorher vorgestellt hatte, daß Verenas Antwort so ausfiele, waren ihm die Folgen davon nicht so schwerwiegend erschienen. Es war ihm ein trauriger, widriger Gedanke, daß Mario Katholik werden könnte, besonders weil er sich die Konvertiten unwillkürlich so vorstellte, wie Verena war; doch war es nicht das, was er am meisten fürchtete. Er kannte Katholiken genug, die tüchtige und ehrenwerte Leute waren, um nicht blinde abergläubische Furcht vor der üblen Einwirkung der Kirche zu haben, und zudem glaubte er fest, daß er auch aus der Ferne Mario davon zurückhalten könnte, gerade weil Verena vermutlich, um die Jahre, wo Mario ihr allein gehörte, auszunützen, auffallend dringlich in ihren Bekehrungsversuchen sein würde. Aber der Gedanke an den Kummer, den er Mario zufügen mußte, an die Sehnsucht des empfindlichen, verwöhnten Herzens lähmte ihn. Auch der heimliche Briefwechsel, der entstehen würde und Mario in einem gewissen Hang zur Verstecktheit und zu kleinen Ränken bestärken konnte, war nichts Tröstliches. Es begann von neuem eine quälende Gedankenmarter, die ihn bei Nacht keinen Schlaf finden ließ; aber er war entschlossen, nicht nachzugeben.

Er warf es sich als Schwäche vor, daß er so maßlos darunter litt, dem Jungen einen Schmerz zuzufügen, von dem er wußte, daß er vorüberging, und den doch zweifellos das Leben ungleich härter behandeln würde, um so empfindlicher für ihn, je zarter er vorher angefaßt worden war. Es beruhigte ihn, daß sich beständig die Notwendigkeit zeigte, ein Ende zu machen: er war so überreizt, daß ihn, wenn er nur glaubte, Verenas seidene Untergewänder rascheln zu hören, eine Angst anwandelte, die er selbst als krankhaft empfand. Er wollte noch Roses Meinung hören, dann mit Mario sprechen, ihm alles vorlegen und sein warmes Herz entscheiden lassen; das würde vielleicht der allerschwerste Augenblick seines Lebens sein, der aber zugleich ein neues Leben der Freiheit, der Wahrheit, der Liebe einleiten würde.

*

Gegen Ostern reisten Verena und Mario wieder nach Deutschland zurück; es war von Michaels Übersiedlung nach Amerika nicht mehr die Rede gewesen, und Verenas Benehmen verriet nichts von der Erörterung, die zwischen ihnen vorgefallen war. Mit dem Beginn der Ferien eilte Michael zu Rose, die seit einem Jahre in der Stadt lebte, wo Michael studiert hatte, und während des Sommers im Gebirge war.

Sie hatte inzwischen das Bild ausgeführt, das der kurze Aufenthalt in Italien in ihr erregt hatte: Maffurio zwischen den klagenden Tieren. Man sah im Hintergrunde ein paar zackige Berghäupter unter blauglühendem Himmel, doch den größten Raum des Bildes erfüllte schwarze Waldwildnis, aus der das bleiche Gesicht des Räubers und die Augen der Tiere wie glimmende Feuer hervorstarrten. Eine Eule saß in einem hohlen Baume, eine Wildkatze beugte sich aus den Zweigen herunter, und ein junger Fuchs kauerte zu den Füßen des Mannes, alles in solcher Anordnung und Auffassung, als hätte ein phantasievolles Kind seine Träume gemalt. Zwar zeugte alles von liebevollster Beobachtung der Wirklichkeit, und doch hatte niemand solche Menschen und solche Tiere und solche Wälder gesehen, nur daß man sich gerne glauben machen ließ, irgendwo gäbe es eine solche grauenvolle und wundervolle Einsamkeit, die eine von keinem belauschte Klage erfüllte.

Das Bild war verkauft und hatte Bewunderung erregt, was unter anderm die Folge hatte, daß sich mehr Menschen an Rose drängten als in früherer Zeit und daß sie sich ihnen, da sie in einer größeren Stadt lebte, weniger entziehen konnte. Wie es sich von selbst ergab, verkehrte sie mit den Malern, die auch Michael hatte kennenlernen, nicht etwa weil sie sich besonders von ihnen angezogen gefühlt hätte, sondern weil sie sich ihrer handfest bemächtigt hatten und weil sie manches von ihnen lernen konnte. Ihre Richtung sagte ihr im ganzen nicht zu, aber da sie völlig in ihrer Bilderwelt lebte, fragte sie nicht danach und begnügte sich damit, wo sie technische Vorzüge entdeckte, diese zu bewundern. Die meisten von diesen Malern lebten in glänzenden Verhältnissen und bewohnten pompöse Paläste, in denen Rose nicht hätte leben mögen, die ihr aber als Hintergrund zu prächtigen Festen, die sie wie Schaustücke auf dem Theater ansah, gefielen. Die Frauen, die dort verkehrten, waren zum großen Teile gefallsüchtige Schönheiten ohne Adel und Geist, mit denen sie nichts anzufangen wußte; aber da sie gewohnt war, mehr zuzusehen als zu sprechen, war ihr das nicht als besonderer Nachteil aufgefallen. Für sie war die Geselligkeit ein kurzer Ausflug, von dem sie bald wieder in ihr schönes Reich zurückkehrte, und so nahm sie mit gutwilliger Fröhlichkeit auch Albernheiten und Nichtigkeiten hin, auf die sie ohnedies nur halb hinhörte. Mitunter, wenn sie davon sprach, konnte man glauben, daß sie lauter Herrlichkeiten gesehen und erlebt hätte, und besonders zweifelten diejenigen, mit denen sie umging, nicht daran, daß sie für sie ein anregender, ja entzückender Eindruck waren. Ein junger, unverheirateter Maler, der sie malte, verliebte sich während der Sitzungen in sie, was sie erst bemerkte, als seine Leidenschaft schon einen beträchtlichen Grad erreicht hatte. Er war ihr so angenehm geworden, daß sie sich nur ungern entschloß, ihm zu sagen, daß sie sein Gefühl nicht erwiderte; dies wurde der Anlaß, daß sie sich ganz aus dem Kreise zurückzog.

Als Michael sie wiedersah, kam sie ihm anfänglich fremd vor, und sie mochte auch, schon äußerlich, verändert sein. Sie war jetzt dreiunddreißig Jahre alt; ihr Gesicht war nicht gerade härter, aber magerer geworden, und dadurch weniger kindlich; aber in seiner blassen Dämmerung blühten ihre wundervollen Augen wie zwei dunkle Nachtviolen auf, schöner als je. Man konnte glauben, daß sie alles, was sie Wunderbares und Schönes sähen, aufsögen und sich damit bereicherten, und dadurch mit jedem Jahre an Leben und Wärme zunähmen. Ihr Auftreten war fertiger und weltsicherer; Michael konnte sich nicht mehr vorstellen, daß sie über ein Marienkäferchen auf ihrer Hand beglückt gewesen wäre. Sie waren indessen kaum einen Tag zusammen gewesen, als ihn nichts an ihr mehr fremd anmutete, es ihm im Gegenteil schien, als würde sie nicht mehr zu ihm passen, wenn ihre Seele nicht sacht und beständig, ihre Urform auseinanderfaltend, weiter gewachsen wäre. Sie hätte sich nicht mehr trunken in die Wonne eines Augenblicks stürzen können; aus traurigen Stunden, bitteren Stimmungen und stolzen Kämpfen hatte etwas Zurückgebliebenes ihr Wesen umsponnen, wie graugrünes Moos und Flechten, zart und kaum zu unterscheiden, Baumstämme oder Steine überziehen und dunkler erscheinen machen. Zugleich war sie immer noch, wenn etwas sie erregte, das starke, wilde, uredle Element, das mit sich riß, was es ergriff. Kein einziges Mal mehr hatte er das Gefühl, das ihn früher zuweilen schmerzlich überkommen hatte, als wäre er ihr entbehrlich, als könne sie ohne ihn glücklich sein, und um so teurer und unentbehrlicher wurde sie ihm.

Etwas Neues und Reizendes war es für sie, miteinander Berge zu besteigen und die reine, berauschende Luft der Höhen einzuatmen. Ihr festes, leichtes Schreiten an seiner Seite entzückte ihn, und wenn sie Hand in Hand, die glänzenden Gipfel vor Augen, aufwärts wanderten, dachte er, ohne es auszusprechen, daß sie so nun ihrem Glücke entgegengingen. Es war kein Zweifel und keine Reue mehr in seinen Willen hineingemischt, denn hier erschien ihm alles, was er in bezug auf Mario gefürchtet hatte, übertrieben und von einem krankhaften Zustande aus aufgefaßt. Mario würde, das sah er jetzt klar, zwei oder drei Tage weinen und sich sehnen, dann seinen kindischen Spielen und kleinen Liebesabenteuern nachgehen und sich auf die Briefe seines Vaters ebenso wie auf seine leibhaftige Gegenwart freuen. Vielleicht würde es gelingen, ihn einmal zu sehen, aber wenn auch nicht, so würden sie nach einigen Jahren, die kurz wie ein Traum in der Erinnerung sein würden, auf immer vereinigt werden. Ohne daß er es merkte, würden sie, er und Rose, ihn dann auf gute und schöne Wege führen, wo er die Schwächen und Torheiten, wenn er sie wirklich hätte, abstreifte. Litte er aber doch mehr, als sich voraussetzen ließe, unter den Verhältnissen, so wären das gute Leiden, die sich belohnen würden.

Es wurde Michael und Rose leicht, sich zu trennen, denn im nächsten Frühjahre wollte er die Reise nach Amerika antreten, und falls sich Rose ihm nicht sofort anschloß, konnte sie doch, wenn die Sehnsucht drängte, nachfolgen, wann sie wollte. Michael war gewiß, den Mut nicht wieder zu verlieren; würde sein Gefühl auch einmal wieder weich werden, so konnte er sich an sein Urteil halten, das einmal bei klarer Einsicht entschieden hatte, so dürfe und müsse er handeln.

Im Anfange des Winters geschah das Überraschende, daß Mario ohne Verena bei Michael anlangte und meldete, seine Mutter würde den Winter zu Hause zubringen. Aus seinen zerstreuten und verworrenen Erzählungen ging hervor, daß es zu Hause nicht eben vergnügt aussah; augenscheinlich lagen geschäftliche Widerwärtigkeiten vor, die Raphaels Laune verdarben, und da er seiner Mutter die Verstimmung nicht aufdrängen wollte, seine Frau sie aber entrüstet abwehrte, hatte er die ehemalige Kameradschaft mit Verena erneuert, die immer willig war, ihn zu trösten und zu ermuntern. Außerdem mutmaßte Mario, wie er seinem Vater mit halb kindlichem, halb schlauem Lächeln mitteilte, daß sie ihre literarische Geselligkeit, die sie während der letzten Winter vernachlässigt hatte, wiederaufnehmen und pflegen wollte. Michael indessen glaubte sofort einen anderen Plan zu erkennen; sie wollte ihn mit Mario allein lassen, damit er um so fester mit ihm verwüchse und sich um so weniger von ihm losreißen könnte. Trotzdem er dies als ihre Absicht zu durchschauen meinte, fand er, daß etwas Feines und Großmütiges darin lag; denn sie überließ doch das Kind, um das sie so heiß rangen, auf mehrere Monate ganz seinem Einflusse, dessen Macht sie kannte; ja fast unglaublich schien es ihm, daß sie ihm diese Gelegenheit gegeben hatte, die er, ohne rasend zu sein, nicht ungenützt lassen konnte.

Er konnte Mario nun in Ruhe vorbereiten und alle möglichen Verabredungen für die Zukunft treffen, doch eilte es ihm noch nicht, damit zu beginnen; inzwischen wollte er sich einen möglichst genauen Einblick in sein inneres Leben verschaffen. In jeder Stunde, die Michael frei hatte, waren sie zusammen, sogar während er arbeitete, ließ er ihn neben sich lesen oder nichts tun oder träumen, wozu Mario immer Lust hatte. Von den Spielen mit den Kindern am Strande hielt er sich mehr zurück, wie er sagte, weil er jenem Mädchen treu bleiben wollte, die unterdessen in die Erziehungsanstalt gekommen war, und die er die ernste Absicht hatte zu heiraten. Trotz der Offenheit, mit der er Michael alles und mehr, als er verlangte, von seinen Erlebnissen wiedererzählte, war er doch zuweilen verschlossen; über manches, was ihn beschäftigen mußte, äußerte er sich nie, und wenn er es aufgefordert tat, schien er noch etwas zurückzubehalten. Wenn Michael ihn fragte, warum er so gerne die katholische Kirche besuche und was er dabei dächte, antwortete er, daß er es des Weihrauchgeruches wegen täte, der ihm angenehm wäre, und nichts anderes war aus ihm herauszubringen. Über die Schule mit ihren Sorgen und Vergnügen sowie über seine Teilnahme an den einzelnen Fächern beschränkte er sich auf das Urteil, daß alles langweilig und gleichgültig sei. Von seiner Mutter sprach er freundlich, aber mit einem überlegenen Lächeln, ebenso von seiner Großmutter und Raphael; er schwärmte für keinen Lehrer und hatte keinen Freund, da sie alle zu unbedeutend und gewöhnlich wären. Fragte Michael fast besorgt, ob er denn niemanden liebhabe und sich in niemandes Gesellschaft wohl fühle, antwortete er mit dem ansaugenden Blick seiner zärtlichen Augen: »Ich liebe dich, und in deiner Gesellschaft bin ich gerne.« Da Michael lächelnd einwendete, seine Herzensdamen seien doch wohl ausgenommen, schüttelte er lebhaft den Kopf und sagte, verliebt sei er wohl, aber er würde die Mädchen doch alle stehenlassen, wenn sein Vater es haben wollte. Warum er ihn denn so liebhabe? fragte Michael einmal, und Mario antwortete ohne Besinnen: »Weil du so schön bist«, indem er ihn mit strahlender Bewunderung ansah.

Mit jedem Tage schlang sich die weiche Last dieser unentwegten Liebe schwerer um Michaels Herz; beklommen sah er, wie die Zeit vorwärts rückte, obgleich er doch den Augenblick herbeisehnte, wo er sich zu dem letzten Kampf entschließen mußte. Er hielt sich an das Wort, das er sich selbst gegeben hatte, es müsse so geschehen und sei gut so, aber es war unmerklich so geworden, als ginge er statt seinem Glücke einem Unheil entgegen. Kurz vor Weihnachten entschloß er sich, ein Ende zu machen und mit Mario zu sprechen; es war ihm wahrscheinlich, daß, wenn Mario alles wüßte, das Schlimmste überstanden wäre, selbst wenn er nicht, was auch möglich war, die Sache weit weniger schwer nahm, als Michael in sich hineingrübelnd sich ausgemalt hatte.

Insofern war Michael seine Aufgabe leicht gemacht, als Mario von der Liebe seines Vaters zu einer Frau, die nicht seine Mutter war, bereits wußte. Wer ihm davon gesagt hatte, war nicht herauszufinden; als Michael ihn danach fragte, wurde er zerstreut und sagte, er könne sich nicht besinnen. Die Tatsache bereitete ihm durchaus keinen Schmerz, auch mochte es lange her sein, daß er davon gehört hatte, vielleicht als er noch in zu kindlichem Alter war, um die Tragweite davon zu verstehen. Auch schien er gut zu begreifen, daß sein Vater wünschen mußte, mit dieser Frau vereinigt zu leben, und er wäre augenscheinlich bereit gewesen, ihm zu der neuen Mutter zu folgen. Aber die Möglichkeit, sich von ihm zu trennen, hatte er niemals ins Auge gefaßt, nie, obgleich er sich offenbar mit der Sache beschäftigt hatte, auch nur einen Augenblick befürchtet, sein Vater könne ihn verlassen; sogar jetzt, wo dieser selbst ihm davon sprach, ging es ihm nicht ein. Durch die Ruhe, mit der Mario seine Eröffnungen zunächst auffaßte, etwas erleichtert, setzte ihm Michael alles, was er vorhatte, klar auseinander, aber wie wenn er sich in einer fremden Sprache ausgedrückt hätte, blieb Marios Rede am Schlusse immer: »Aber verlassen wirst du mich nicht«, wobei er ihn fest und vertrauensvoll ansah und eine seiner Hände mit seinen beiden umklammerte.

Michael sagte beruhigend, daß er ihn nicht verließe, ihn niemals verlassen würde; daß es nur von Mario abhinge, ob sie in einigen Jahren wieder zusammen sein würden; er sprach ihm von der Liebe, dem Dank und der Achtung, die er seiner Mutter schulde, daß sie sein Bestes wolle und ihn mit Recht zu größerem Fleiß und zur Ordnung anhielte; daß er es gut bei ihr haben und ihn nicht vermissen würde; aber erst, als er sagte, daß er schon in einigen Wochen abzureisen beabsichtigte, begriff Mario, daß es sich um etwas wirklich zu Erlebendes handelte. Er warf beide Arme um Michaels Hals und sagte mit jammervollem Blick: »Geh nicht fort!« – ohne Tränen, aber ohne die flehenden Augen ein einziges Mal von ihm abzuwenden, und von Zeit zu Zeit eintönig wiederholend: »Geh nicht fort!« Kein Bitten, kein Zureden Michaels, kein Vorstellen, daß er ihn unglücklich mache, ob er ihm kein Opfer bringen könne, wenn er ihn so liebhätte, verfing oder ließ nur für einen Augenblick die Möglichkeit einer anderen Auffassung in Mario aufgehen.

Es kam allmählich eine Erstarrung und Gefühllosigkeit über Michael, in der er seine Vorbereitungen traf, ohne sich durch Mario stören zu lassen, der nicht von seiner Seite ging und jede seiner Bewegungen mit den Augen verfolgte. Unzähligemal kam ihm in den Sinn, daß er jetzt sagen könnte: ›ich bleibe bei dir‹, und wie dann das süße, traurige Gesicht aufglühen und sich an seine Brust drücken würde; aber er erstickte solche Regungen sofort, da er wußte, daß er durch diese Marter hindurch mußte, wenn ihm auch zuweilen kaum noch klar war, warum. Er hatte beständig Rose vor sich, wie ein Christ während des Martyriums das Kreuz mit dem Erlöser anschaut; aber die tägliche Qual hatte ihn zuletzt so ausgesogen, daß er sich den Glauben nicht mehr lebendig machen konnte. Nur in dem Gedanken, daß er sie sehen und ihre Nähe ihm die Bestätigung geben würde, er hätte gut gehandelt und es könne nicht anders sein, fühlte er sich fähig, den Abschied zu überstehen. Er meldete ihr, daß er sie aufsuchen würde, bevor er eine kleine Studienreise unternähme, auf der er sich auf die Verhältnisse in den Tropen vorbereiten wollte, und bat gleichzeitig Verena, zu kommen, damit Mario, wenn er abreiste, nicht allein wäre. Allenfalls hätte sie seine Bitte abschlagen können, um ihm das Weggehen zu erschweren, denn allein hätte er den trostlosen Jungen auf keinen Fall lassen können; aber er zweifelte nicht, daß sie sich sofort aufmachen würde, um zu kommen, was sie auch wirklich tat. Ohne sich noch auf Fragen und Unterhandeln einzulassen, sagte sie, er möchte die unbehaglichen letzten Tage abkürzen und so schnell wie möglich reisen, sie würde Mario, wenn er ginge, entfernen, damit ein heftiger Abschied sie nicht beide nutzlos aufrege und entkräfte, und dafür sorgen, daß er durch Beschäftigung leicht über die ersten schweren Tage hinwegkäme. Ihre Ruhe und Bestimmtheit taten Michael wohl; aber er war so abgespannt, daß es ihm schwer wurde, angesichts ihrer Kraft nicht seiner Schwäche nachzugeben.

Als Verena am Tage nach ihrer Ankunft Mario aufforderte, einen Ausflug zu Schiff mit ihr zu machen, widersetzte er sich nicht, zweifelte aber auch nicht, daß dies eine Veranstaltung sei, um seinem Vater die heimliche Abreise zu ermöglichen. Er kam, um ihm Adieu zu sagen, und hielt ihm, wie er gewohnt war, den Mund zum Kusse hin; allein Michael gab ihm nur die Hand und erzwang ein Lächeln, um den Anschein zu erwecken, als handle es sich nur um eine Trennung von wenigen Stunden. Aus Marios blassem Gesicht blickten die zärtlichen Augen verzweifelt auf Michael, und er machte nicht Miene zu gehen; doch erschien in diesem Augenblick Verena auf der Schwelle und zog ihn unter ein paar Scherzworten mit sich, indem sie Michael flüchtig Lebewohl zurief. Als er eine Viertelstunde später das Dampfschiff pfeifen hörte, mit dem sie abfuhren, atmete er auf, brachte noch allerlei in Ordnung, was er bis zum letzten Augenblick hatte verschieben müssen, und ging zum Bahnhof.

Als der Zug schon eine halbe Stunde in Bewegung war, wunderte er sich, daß der beängstigende Druck, der seit Verenas Ankunft auf seiner Brust lag, noch nicht weichen wollte; aber er sagte sich, daß ihm sofort besser werden würde, wenn er Rose sähe. Es war das erstemal, daß er das Glück ihrer Nähe nicht vorausfühlte, doch zweifelte er nicht daran, daß es sich einstellen würde; daß dann Marios blasses, von verhaltenen Tränen zuckendes Gesicht, das unbeweglich vor seinen Augen stand, sich auflösen würde, zugleich mit dem ganzen Knäuel quälender Bilder und Gedanken, die seinen Kopf schwer und dunkel machten. Seine Ungeduld, zu ihr zu kommen, war noch nie so groß gewesen, doch sehnte er sich nicht eigentlich nach ihr; er wußte nur, daß sie einen Zauber hatte, der ihn von unerträglichen Leiden befreien würde.

Als sich der Zug der Stadt näherte und er den See und die Anhöhen und die freundlichen Häuser sah, denen einst sein Herz mit Jubel entgegengeschlagen hatte, kam ihm eine matte Erinnerung, als ob das vor unabsehbarer Zeit gewesen wäre, die er nicht mehr begreifen konnte. Rose war am Bahnhof und wollte ihn wie sonst begrüßen; aber er hatte etwas an sich, daß sie dachte, der Abschied müsse ihm sehr schwer geworden sein, und sah ihn nur mit liebreichem Mitgefühl an. Die Art, wie er dann neben ihr herging, ohne zu sprechen, und von Zeit zu Zeit einen schnellen, brennenden Blick auf sie warf, hätte sie beängstigt, wenn sie nicht, den Umständen zufolge, eine trübe und erregte Stimmung bei ihm vorausgesetzt hätte. Als sie in ihrem Zimmer angelangt waren, warf er sich vor ihr auf die Knie, drückte den Kopf in ihren Schoß, küßte ihre Hände und preßte sie gegen seine Stirn, in fiebernder Bewegung und sich selbst, wie er früher gewesen war, ganz ungleich. Rose fühlte sich befremdet; sie bat ihn mit sanfter Stimme, sich zu ihr zu setzen, zu weinen, zu schweigen, zu erzählen, was ihm am nächsten sei, und auszuruhen: aber er konnte nicht eine Minute still an ihrer Seite bleiben. Als er endlich zusammenhängend zu sprechen anfing, war es, daß er sie kalt fand, und daß er ihr vorwarf, alle diese Zeit nichts getan zu haben, um ihm zu helfen; doch besann er sich wieder und sagte, sie müsse Nachsicht mit ihm haben, weil er allzuviel gelitten hätte. Rose war sehr blaß geworden, aber sie blieb äußerlich ruhig und sagte, es sei natürlich, daß er jetzt so empfinde, er möge sich seinem Schmerz hingeben, dann würde es allmählich besser werden, sie sei jetzt bei ihm und würde ihn nicht mehr verlassen.

Michael sagte: »Es ist kein Schmerz, was ich fühle, es ist nichts, was durch Weinen und Klagen besser werden könnte, es ist etwas viel Schlimmeres, Krankes; ich sehe fortwährend Marios hilfeflehendes Gesicht vor mir, so wie er aussah, als ich fortging; es ist vor mir, wohin ich blicke, und erregt mir die Angst, ich müßte es ewig sehen und niemals etwas anderes.« Er heftete seine heißen Augen mit einem Blick auf sie, der sie in innerster Seele bange machte. »Sieh doch mich an«, flüsterte sie traurig, und versuchte ihn an sich zu ziehen, »du liebtest mich ja sonst.«

»Das ist es ja«, sagte er, indem er sich losmachte, »ich dachte, bei deinem Anblick würde es in Nebel zerfließen; aber ich sehe dich nicht einmal, wie ich dich sonst sah, du scheinst mir fremd und gleichgültig, und ich kann das Gefühl nicht wiederfinden, das du sonst in mir erregtest.« Ihre Augen hatten sich mit schweren Tränen gefüllt, und sie streckte die Arme nach ihm aus. »Komm doch«, rief sie, »komm doch, es muß vorübergehen, denn du liebst mich ja.« Er wich von ihr zurück und stieß mit harter Stimme hervor: »Ich liebe dich nicht mehr. Ich fühle nichts für dich als Mitleid, daß ich dir das sagen muß.«

Es war ihr nicht anders, als wenn er ihr als Wahnsinniger gegenüberstände; aber das milderte den Todesschmerz nicht, den sie litt. Sie hätte glauben mögen, dieser Auftritt müsse die fürchterliche Vorspiegelung eines Fiebertraumes sein, und zugleich schien es, als hätte sie noch nie etwas mit so großer Klarheit und Genauigkeit wahrgenommen. Sie preßte den Kopf zwischen die Hände und besann sich auf irgend etwas, was den unerhörten Vorgang erklärte, was ihr bewiese, daß ein Trug, ein Wahn dabei sei, der ihn nichtig machte; denn es konnte ja nicht sein, daß sie, die sich liebten bis in den Tod, die Seele an Seele miteinander durchs Leben gegangen waren, dies Entsetzen zusammen erlebten. Und doch, wenn sie aus dem Fenster sah, sah sie auf dieselben Baumwipfel, dieselben Wege und Häuser, die sie am Morgen mit Sehnsucht und Bangigkeit angesehen hatte, und zugleich das teuerste Antlitz, gequält und verzerrt, von ihr weggewendet oder mit fremden, lieblosen Blicken sie anschauend. Es war etwas, wie wenn die Sonne vom Himmel gefallen wäre, was man nicht glaubte, auch wenn man es mit Augen sähe. So sagte sie sich auch, sie seien beide von einem Blendwerk erschreckt, das vor einem Lachen, wenn man beherzt darauf zuginge, verschwinden müsse, und ging schnell auf ihn zu, der am Fenster stand, legte die Hand auf seine Schulter und sah ihn unter Tränen lächelnd an; da sich aber kein Zug in seinem vergrämten Gesicht veränderte, außer daß seine Angst zuzunehmen schien, wie sie ihn berührte, glitt sie, ohne zu wissen, daß sie es tat, auf den Fußboden nieder und weinte Ströme von Tränen, die, so war es ihr, ihr Glück, ihr Leben, ihr Schicksal, ihre Seele selber ertränkten und wegschwemmten. Er blieb, ohne sich zu rühren, am Fenster stehen und schluchzte. Es war dämmerig im Zimmer geworden, als ihre Tränen versiegt waren; sie stand auf, befeuchtete ihr heißes Gesicht mit Wasser und fragte Michael, was er nun tun wolle. »Ich habe keine Ruhe, bis ich das Kind wiedergesehen habe«, sagte er mit trockener Stimme, und es schien ihr, als ob er fürchtete, sie könnte ihn zurückhalten wollen. Sie sah ihn lange aus ihren großen Augen an und sagte: »So geh!« Nicht daß sie hätte unfreundlich sein wollen, aber sie brachte nicht mehr über die Lippen. Als er sah, daß sie ihm nichts in den Weg legte, sank er auf einen Stuhl und weinte; etwas Klägliches und Bejammernswertes, saß er vor ihr da. Sie schlug nach, wann der nächste Zug ginge, ging dann zu ihm und strich ihm sanft über die Haare, indem sie sagte, es sei Zeit zu gehen, wenn er den nächsten Zug benützen wollte. Sie hatte das Gefühl, sie könnte ihn nicht allein lassen, und ging voran; er folgte ihr, ohne ein Wort zu sagen, und beschleunigte fortwährend seinen Schritt, als wäre er in Angst, den Zug zu versäumen. Als sie in die Halle eintraten und sie an der Uhr sah, daß er noch mitkommen könnte, wenn er keine Zeit verlöre, drehte sie sich rasch um und ging fort, während er zum Schalter eilte; dennoch war es ihr auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung, als müsse sie jeden Augenblick seinen Schritt und seine Stimme hören, die rief: Ich bin wieder da! Sie ging langsamer, langsamer, und als sie bei völlig eingebrochener Dunkelheit vor ihrer Haustür angekommen war, dachte sie, da müsse sie stehenbleiben und in die schwarze Erde hineinsinken, damit der Morgen sie nicht mehr fände.

Unterdessen saß Michael in zitternder Aufregung in dem Wagen, der ihn wieder nach Hause führte, dahin, wo das schmale Kindergesicht mit den flehenden Augen nach ihm aussah. Die Angst, es möchte nicht mehr da sein, auf der ganzen Erde nicht mehr zu finden, wagte er sich selbst nicht auszusprechen, aber sie saß in seinem Herzen und preßte es wie mit Folterwerkzeugen zusammen, desto ärger, je näher er dem Ziele kam. Es war nachmittags, als er dort war, und jetzt fiel ihm erst ein, daß Verena mit Mario vielleicht noch nicht von dem Ausfluge zurück wäre, den sie seiner Abreise wegen unternommen hatte. Ein Diener der Anstalt öffnete ihm die Tür und hatte, erschrocken zurückprallend, da er den Herrn so schnell und so bleich und verstört zurückkommen sah, seine Frage nach Verena noch nicht beantwortet, als sie eine Tür aufmachte und ihn in das Zimmer winkte, aus dem sie herausgetreten war. Sie war kaum überrascht und sah ihn ruhig fragend an. »Ich habe die Angst um Mario nicht ertragen können«, sagte er zur Erklärung. »Das habe ich mir gedacht«, sagte sie; Mario wäre im hinteren Zimmer, er wäre auf dem Ausfluge allmählich ganz vergnügt geworden, hätte aber jetzt, als sie in das leere Haus gekommen wären, zu weinen angefangen. Morgen oder übermorgen würde er sich vollkommen beruhigt haben, Michael könne unbesorgt wieder abreisen. Sehen dürfte er ihn nicht, wenn er heute oder morgen oder an irgendeinem folgenden Tage wieder fort wolle, das würde ein nutzloses Wiederaufrühren des eben beschwichtigten Jammers sein. »Sei ein Mann«, sagte sie, »und entschließe dich zu einem, zum Bleiben oder zum Gehen; du kannst nicht sagen, daß dein Entschluß nicht frei ist.«

»Ich werde Rose nie wiedersehen«, sagte Michael, »laß mich zu Mario!« Verena zögerte; die Vermutung lag in der Tat nahe, wenn er in bezug auf Mario ganz ruhig geworden wäre, würde die Leidenschaft wieder mächtig werden und ihn von neuem in die alte Bahn reißen. Sie sah ihn einen Augenblick zweifelnd an und hielt ihm dann die Hand hin, indem sie sagte: »Versprich es!« worauf er die seine hineinlegte; sie fühlte sich nicht ganz dadurch versichert, doch wußte sie andererseits nicht, wie sie ihn noch fester hätte binden sollen, und ließ es dabei bewenden. Sie ging ihm schnell voran und rief: »Mario, dein Papa ist wieder da!« so daß, als Michael bei dem Zimmer ankam, der Junge schon auf der Schwelle stand und ihm sein blasses, tränenüberströmtes, verklärtes Gesicht zuwendete. Verena hatte sich wieder zurückgezogen, und Michael und Mario gingen bis in die Nacht hinein am Strande auf und ab, todmüde und doch nicht imstande, nach den schrecklichen Aufregungen des Scheidens und Wiederhabens Ruhe zu finden.

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