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Der alte Peter Unkenrode hatte sich das Recht ausbedungen, Einblick in die Bücher des Ungerschen Geschäftes zu bekommen, wenn er wollte, wovon er aber nie Gebrauch machte; doch suchte er Michael von Zeit zu Zeit auf und erinnerte diesen, wenn er ihm gegenübersaß und ihn forschend ansah, während er sich nach allerhand nebensächlichen Dingen erkundigte, an einen Bauer, der seine Gänse zwickt, ob sie schon hübsch fett sind, oder an die Hexe, die sich die Finger der gefangenen Kinder vorweisen ließ, um sich ihrer Zunahme zu vergewissern. Etwa zwei Jahre nachdem Michael das Geschäft übernommen hatte, sagte er einmal nach einem längeren Besuche: »Ich zweifle jetzt nicht mehr, daß wir das Spiel gewonnen haben, und freue mich aufrichtig, Ihnen Vertrauen geschenkt zu haben. Das Schwerste liegt hinter Ihnen; in einigen Jahren wird das Geschäft auf derselben Höhe sein, auf der es zur besten Zeit Ihres seligen Vaters war, wenn Sie nämlich Ihren Eifer und Ihre Arbeitskraft nicht sinken lassen. Es hat mir Freude gemacht, Ihrem ausdauernden Ringen zuzusehen, und ich kann Ihnen das Zeugnis ausstellen, daß Sie alles redlich wiedergutgemacht haben.«

»Was?« fragte Michael ruhig, indem er den alten Herrn groß und verwundert ansah. Dieser erwiderte den Blick gleichmütig und sagte: »Daß Sie im brausenden Übermut und der Selbstsucht der Jugend Ihren Vater und Ihre Pflicht verließen und dadurch wenigstens mittelbar seinen traurigen Tod herbeiführten.«

»Mein Vater«, sagte Michael, »hatte von jeher eine Anlage zur Melancholie; abgesehen davon gibt es noch vieles andere, außer Verlusten im Geschäft, was einen Menschen schwermütig machen und zur Verzweiflung treiben kann.« Der alte Mann sagte gelassen: »In seinen jungen Tagen, als ich Ihren Vater kennenlernte, war er ein guter Gesellschafter und hat manchen lustigen Streich verübt. Daß es nur die Unzufriedenheit mit den Wegen, die Sie gingen, und Kummer über den Untergang des Geschäftes war, was seine letzten Lebensjahre verdunkelte, ist wohl außer Frage, auch haben die folgenden Ereignisse zur Genüge dargetan, wie berechtigt sein Trübsinn war.«

Er sagte es mit Bestimmtheit und Strenge, als wollte er von vornherein keinen Widerspruch aufkommen lassen; aber Michael schwieg nicht deswegen, sondern weil er Gedanken an seinen Vater nachhing. »Es liegt mir fern, Ihnen trübe Erinnerungen zu erwecken«, sagte der alte Unkenrode nach einer Pause, »es war vielmehr meine Absicht, Ihnen meine Achtung auszusprechen, und ich möchte nicht, daß Sie das mißkennen.« Er bot Michael die Hand, da er zugleich einen anderen Weg einzuschlagen hatte, und grüßte höflich; eine Antwort schien er nicht weiter zu erwarten.

Bald darauf erhielt Michael mit seiner Frau eine Einladung von Peter Unkenrode in sein Haus, worin sich die wohlgemeinte Absicht aussprach, ihm dadurch, daß er ihn seinem Bekanntenkreis als seinesgleichen vorstellte, den Zugang zur Gesellschaft wieder zu eröffnen. Bis dahin hatten sie in völliger Abgeschiedenheit gelebt, und Michael war froh gewesen, daß er des geselligen Verkehrs mit Menschen, denen er nichts und die ihm nichts zu sagen hatten, überhoben war. Auch jetzt hätte er gerne abgelehnt, aber Verena wollte davon nichts hören, weil der alte Unkenrode nicht gekränkt werden dürfe, und besonders damit die Leute nicht glaubten, sie hätten Furcht, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Michael gab nach und fand einen herzlicheren Empfang, als er geglaubt hatte; die Damen versicherten ihm aufs lebhafteste, wie erwünscht in der eintönigen Gesellschaft von Kaufleuten und Beamten das Erscheinen eines Gelehrten sei, der neues geistiges Leben bei ihnen anregen würde, so daß es fast den Anschein hatte, als hätten sie die ganzen Jahre unter Langweile und Traurigkeit auf ihn gewartet. Bei Tisch stellten seine Nachbarinnen eine Menge von Fragen an ihn, über die sie häufig tief nachgedacht zu haben behaupteten, in der Art, ob das Meerleuchten wirklich etwas Lebendiges wäre, ob man wirklich aus Fröschen Eidechsen machen könnte, und ob es wahr sei, daß es in den alten Zeiten Vögel ohne Köpfe und Menschen mit Schwänzen gegeben hätte; wobei die Herren, die es hörten, sich gutmütig schweigend verhielten, als ob sie von allem gründlich Bescheid wüßten, obwohl es nicht der Mühe wert wäre, gewußt zu werden. Michael wurde der Ton, in welchem die Gespräche geführt werden mußten, bald wieder geläufig, und es ging nirgends so lustig zu wie in seiner Nähe, wenn er selbst auch wenig lachte. Verena hatte ihrerseits ähnliches auszustehen, indem sie fragten, ob sie auch mit Ketzern an einem Tisch essen dürfe, und ob sie in der Beichte bekennen müsse, mit was für Leuten sie zusammen gewesen wäre und was für Gespräche sie geführt hätten. Zu Michaels Verwunderung liefen solche Keckheiten glimpflich ab, indem sie mit anmutigen Späßen zu antworten wußte, ohne von ihrer katholischen Würde etwas einzubüßen, ja, während er gehofft hatte, sie würde wie er nach dem ersten Versuche der Geselligkeit überdrüssig sein, erklärte sie sich durchaus befriedigt; zwar wären die anwesenden Personen in keiner Beziehung hochstehend gewesen, aber es sei nun einmal notwendig, behufs geistigen Austausches in Berührung mit den Menschen zu bleiben.

Sie fing auch an, die früheren Freunde wieder einzuladen, namentlich den Dichter Feska, der sich bis dahin ferngehalten hatte, was sie ihm als taktvolle Rücksicht dankbar anrechnete. Er hatte in der Zwischenzeit mit einigen Theaterstücken und Romanen viel Geld erworben und bewohnte ein glänzend eingerichtetes Stockwerk in der vornehmsten Gegend, wo ihn der Straßenlärm nicht in der Arbeit störte. Gedichte machte er keine mehr, außer satirischen über neue Erscheinungen in der Literatur und Kunst oder über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die wegen ihrer Bissigkeit beliebt waren. Auch in der Unterhaltung war er scharf, fand an allem etwas auszusetzen und sagte den Damen eher Grobheiten als Schmeicheleien, weswegen sie erklärten, ihn zu fürchten, sich aber nichtsdestoweniger für ausgezeichnet hielten, wenn er sich in der Gesellschaft an sie wendete. Bei den Herren wäre er im allgemeinen nicht sonderlich beliebt gewesen, da sie das Gefühl hatten, er könnte sich, ohne daß sie es merkten, über sie lustig machen, wenn er nicht bei weitem die beste Küche und den reichsten Keller in der Stadt geführt und bei seinen kleinen, gewählten Gesellschaften die Tafel jedesmal mit reizenden Überraschungen gekrönt hätte. Hie und da lud er, obwohl Junggeselle, auch Damen ein; des höchsten Rufes genossen aber die Gastmähler, an denen nur Herren teilnahmen und von deren schwindelnder Üppigkeit man sich namenlose Dinge erzählte. Er war auf nichts so stolz wie auf den Titel eines gewiegten Feinschmeckers, so daß die Hausfrauen ihn ängstlich zu beobachten pflegten, ob er die Hervorbringungen ihrer Küche billigte, was er nur nach reiflichem Schmecken und gewissenhafter Prüfung tat. Trotz dieser angenehmen Lage und der bedeutenden Stellung, zu der er sich aus eigener Kraft in seiner Vaterstadt aufgeschwungen hatte, war er immer voll Unzufriedenheit und Ingrimm, wie auch das gezerrte Lachen seines häßlichen Mundes mit den vorgebauten Zähnen auf keine befriedigte Gemütslage deutete.

Verena gegenüber, wenn sie ihn fragte, warum er nicht heirate, ließ er durchblicken, daß er, weil er sie nicht besitzen könne, auf das Glück der Ehe überhaupt verzichtet habe, und daß er an einer unglücklichen Liebe leide, wurde vielfach angenommen. Doch krankte er, außer an unbewußten Leiden, im Grunde nur daran, daß er nicht so berühmt war, wie er es zu verdienen glaubte; denn außerhalb seiner Vaterstadt hatte sein Name keinen starken Klang. Auch gab es einige, sogar in seinem Bekanntenkreise, die anfingen, Aristos über ihn zu stellen, und ihn für einen Verdauungsdichter erklärten, der mit dem Magen Verse mache und den Leuten seine Galle als Poesie auftische.

Als Michael auf Verenas dringenden Wunsch sich zu ihren literarischen Abenden einfand, versuchte er, die Abneigung, die Feska ihm früher eingeflößt hatte, zu überwinden. Zunächst indessen konnte er nicht umhin, ihn ebenso abstoßend wie damals zu finden, namentlich empörte ihn die halb vertrauliche, halb überlegene Art, in der er mit Verena verkehrte. Sie hatte vor Jahren schon ihr Empfangszimmer mit einem Betschemel, mit den Bildnissen mehrerer Heiligen und dem des Gekreuzigten, unter dem dicke Wachskerzen brannten, ausgeputzt; außerdem besaß sie Reliquien von verschiedenen Wallfahrtsorten, die sie in feierlichen Schreinen untergebracht hatte. Feska betrachtete alles wehmutsvoll und äußerte gegen Verena, er beneide sie um den Glauben, der sie in lebendige Verbindung mit diesen himmlischen und rührenden Gegenständen setze. Verena erwiderte, den Glauben müsse sich jeder, der in protestantischen Landen aufgewachsen sei, erkämpfen, und auch er könne das, wenn er redlich wolle. Sie sei sogar überzeugt, gerade die Zerrissenheit, die ihrem Urteil nach sein Seelenleiden bilde, wie es das ihre gewesen wäre, könne nirgends anders als in der Kirche Heilung finden. Nach längerem gedankenvollem Schweigen sagte Feska: »Unsere Seelen sind bei aller Verwandtschaft doch so verschieden, wie Mann und Frau es nun einmal voneinander sind. Die Kindlichkeit, die sich jedem Wunder willig öffnet, habe ich lange im Strudel des Lebens abgestreift. Ich werde immer nur auf der Schwelle der Kirche stehen und mit Tränen des Neides und der Rührung diejenigen betrachten, die, wenn der Priester das Zeichen gibt, auf die Knie sinken und Gottes Gegenwart spüren, während ich nur Weihrauchqualm sehe und denke, ein schwarzer Zauberer und ein Wurzelmännchen täten am Ende dieselben Dienste.«

Michael ärgerte sich über derartige Redensarten und war einem jungen Menschen dankbar, der das Gespräch dadurch ablenkte, daß er den Inhalt eines langen Gedichtes wiedergab, an dem er gerade arbeitete. Im Gefühl, in Gegenwart des älteren und berühmteren Feska zu lange von seinen eigenen Werken gesprochen zu haben, erzählte er hernach, daß er kürzlich auf einer Reise am Rhein von jungen Leuten eines der beliebtesten Lieder Feskas nach einer gefälligen Melodie habe singen hören, das anfing:

Ich kann Champagner freilich nicht bezahlen,
Auch dürstet mich nach einem andern Quell,
Den schenken Götter aus gediegnen Schalen –

ein Gedicht, das allerdings wie keines seiner andern volkstümlich geworden war. Feska sagte mit lautem Lachen: »Es ist gut, daß es jetzt andere singen, denn mein Keller ist zu bekannt, als daß ich dergleichen noch von mir behaupten könnte«, mit so grimmiger Betonung und böser Miene, daß leicht zu sehen war, wie widrig ihn diese Erinnerung berührt hatte. Michael war es, als ob er einen Blick in seine Seele täte, und während er einige gleichgültige Worte mit ihm wechselte, dachte er: »Du Armer, ich verstehe jetzt deine Unseligkeit. Du hattest den Stolz deiner Armut und warst ein Jüngling, der den Mut fühlte, dem Laster ins Gesicht zu schlagen und die aufgeblasene Gemeinheit mit Füßen zu treten. Nicht die Küsse von schönen Frauen haben dir das Mark ausgesogen, nicht Blendwerk von Ruhm, Kronen oder Kränzen hat dich aus deiner tapferen Bahn gelockt: um ein Linsengericht hast du deine Erstgeburt verkauft. Um Trüffeln und Gänselebern hast du auf edle Entrüstung und freies Wort verzichtet. Wie übel mag dir werden, wenn du an den Sekt und die Liköre und die Braten und Pasteten denkst, die du aufessen mußt, um vor deinem Tode einzusacken, was dir das Leben schuldig ist, wie mußt du deine Kinnbacken immer eiliger rühren, damit du nicht zu kurz kommst bei dem Handel und als der Betrogene dastehst. Den Mund mit Leckerbissen gestopft, denkst du unter Tränen der Wut an den Gefangenen im Turm oder an den Sklaven unter der Erde, der sein Elend so singt, daß nach Jahrhunderten noch alle Herzen ihre Klagen nach seiner Weise singen.«

Feska hatte ein Gefühl davon, daß Michael wärmer gegen ihn war als früher, und da er annahm, daß Michael inzwischen seine Werke gelesen hätte und bewunderte, fing er an, ihn auch zu seinen berühmten Herrengesellschaften einzuladen, erhielt aber jedesmal eine Absage. Der Umstand, daß Michaels Mutter um diese Zeit starb und ihn und die Seinigen von neuem in Trauer versetzte, ermöglichte es ihm, sich noch auf eine Weile von der Geselligkeit fernzuhalten, worein Verena sonst nicht gewilligt haben würde. Seit sie bemerkte, daß das Gedeihen des Geschäftes außer Frage stand, nahm sie keine Rücksicht mehr auf Michaels Ermahnungen zur Sparsamkeit, glaubte vielmehr, sie wie eine Art Grille, die durch die Aufregungen und Widerwärtigkeiten der vergangenen Jahre an ihm hängengeblieben sei, dulden und überhören zu müssen. Auf eine Bemerkung von ihm, er fände es nicht in der Ordnung, daß sie das große Haus, in dem ehemals zwei Familien bequem gelebt hätten, nun allein bewohnten, antwortete sie entrüstet, ob er sein Vaterhaus verkaufen oder wie Vorstadtleute einen Teil davon vermieten wolle. Dagegen hätte sie einen Plan fertig, um künftig mehrere Zimmer als großartige Gesellschaftsräume zu benutzen, auch wollte sie sich ein Atelier einrichten, wenn sie etwa einmal ihre Malerei wiederaufnähme.

Von etwaigen Versuchen, Mario katholisch zu machen, hatte Michael nie das geringste bemerkt, bis Verena ihn einmal zu jenem Priester mitnahm, dessen Einfluß sie ihre Sinnesänderung zuschrieb und den sie seither von Zeit zu Zeit aufzusuchen pflegte. Als sie von der Reise zurückgekehrt waren, erzählte Mario, wie er es gewohnt war, seinem Vater aufs genaueste, was er gesehen, erlebt und gedacht hatte, wovon diesmal der Priester der Mittelpunkt war. Er schilderte ihn als einen wunderbaren Mann mit dämonischen Augen und unwiderstehlicher Gewalt über die Menschen, der in seiner Gegenwart zu Verena, seiner Mutter, gesagt hätte, sie täte unrecht, ihn, Mario, wegen Trägheit, Lüge, Falschheit und ähnlicher Fehler nach Pharisäerweise zu tadeln. Möge er faulenzen, und lügen, und stehlen! habe er gesagt. Wenn nur das heilige Feuer in ihm entzündet wird! Es könne einer siebenfach den Galgen verdient haben, ein Meineidiger, Ehebrecher und Muttermörder sein, und doch den Funken in sich tragen, der in einem einzigen Augenblicke alles Irdische verzehren könne.

»Ja«, sagte Michael, »aber ein Muttermörder, der nicht einmal den Funken hat? Ich verstehe wohl, was der Priester sagt, aber ich glaube, deine Mutter wird trotzdem fortfahren, dich zur Arbeit und zu allen möglichen Tugenden anzuhalten, und bin sehr zufrieden damit; denn das ist das einzige, wozu wir etwa ein wenig tun können, während das heilige Feuer ohne unser Zutun vom Himmel kommt.«

Mario sagte: »Es gibt Menschen, die es mit den Augen anzünden können, und der Priester ist ein solcher. In seiner Gegenwart ist auch die Mutter anders als sonst, und wenn ich lange in seiner Nähe blieb, würde ich ohne Besinnen von einer Kirchturmspitze springen, wenn er es verlangte.« Die Begeisterung, mit der Mario die Erscheinung des Priesters ausmalte, hatte für Michael etwas Belustigendes, aber der Grad von Ergebung, den er äußerte, berührte ihn peinlich; denn es war augenscheinlich, daß Verena ihn eben in dieser Voraussicht mitgenommen hatte und das wiederholen würde. Er forderte Mario auf, sich einmal klarzumachen, worauf der große Eindruck, den der Priester ihm gemacht habe, eigentlich beruhe, ob er von seinem Leben und Treiben etwas wisse, wie beschaffen der Gott sei, den er predige; aber Mario schien das ebensowenig zu wollen wie zu können. »Es ist gerade das allerschönste«, sagte er, »sich dem dunklen Gefühle von einer Macht hinzugeben, die sowohl göttlich wie diabolisch sein könnte, und das dem Verstande Widersinnigste zu tun oder zu glauben, müßte, wenn diese Übermacht so in einem wirkte, wonnig sein.«

Michael sagte, das sei eine Regung, die man wohl einmal haben könnte, der sich blindlings zu überlassen aber gefährlich sei, da sie einen irreleiten und ins Unglück stürzen könne. Er möchte sich, bis er älter sei, von keinem andern als von ihm selber, der ihn am besten kenne und nur durch die Liebe zu ihm geleitet würde, bis zu dem vorhin erwähnten Grade beeinflussen lassen.

»Das möchte ich auch nicht«, sagte Mario treuherzig mit zärtlichem Blick, »du erziehst mich ja auch nicht wie Mama mit Strafreden zum Fleiß und zur Tugend und hast nichts von einem Pharisäer. Deshalb wäre es mir das liebste, wenn ich den Priester nicht wieder zu besuchen brauchte; denn wenn ich ihn sähe, müßte ich schließlich doch tun, was er verlangte, ich möchte noch so sehr versuchen, mich zu widersetzen.«

Es fiel Michael auf einmal der Abend auf dem Meere ein, wie das wilde kleine Mädchen die Qualle in das Wasser zurückgeschleudert und zu Mario gesagt hatte: »Das bist du!« Er erinnerte Mario daran und sagte: »Wärest du wirklich eine Quallenseele?« Die Rückerinnerung an das leidenschaftliche Liebesabenteuer verursachte Mario augenscheinliches Vergnügen, und Quallenseele betitelt zu werden, hatte für ihn durchaus nichts Beleidigendes, vielmehr sagte er mit halb kindlich ehrlichem, halb süßem Blick und Lächeln: »Sie schimpfte mich wohl, aber sie hatte mich doch lieb, und so machen es die meisten Menschen mit mir.«

Michael lachte und setzte das Gespräch im Augenblick nicht fort; heimlich warf er sich vor, daß er nicht mehr dazu getan hatte, Mario auch in geistiger Hinsicht an sich zu fesseln, überhaupt sein sich entwickelndes Geistesleben gründlich kennenzulernen und zu beeinflussen. Er dachte an den Freiherrn, wie er ihm vor Jahren gesagt hatte, Geist zu wecken sei die Aufgabe des Mannes, und der ihm sowohl darin wie in der Kraft, schwächeren Geistern sein Gepräge aufzudrücken, so weit überlegen war. Er bekümmerte sich von nun an mehr darum, wie Mario die Zeit zubrachte, wo er nicht bei ihm war, ließ ihn von den Vorträgen seiner Lehrer und von seinen Arbeiten erzählen, ohne freilich die schläfrige Gleichgültigkeit überwinden zu können, die Mario zu überkommen pflegte, soweit von solchen Dingen die Rede war. Soviel es anging, verlegte Michael die Geschäftsreisen, die er von Zeit zu Zeit machen mußte, in Marios Ferien, um ihn mitnehmen zu können, und in dem Maße, wie die Verhältnisse sich besser anließen, unternahm er auch sonst größere und kleinere Ausflüge, teils um Marios Reiselust zu befriedigen, teils damit er Verena nicht begleiten konnte.

Auf einer Reise nach Italien lag die schöne Stadt, wo er einst mit Rose gewesen war, auf ihrem Wege, und da Mario, der davon nichts ahnte, den lebhaften Wunsch äußerte, sie zu sehen, überwand er das Grauen, das er davor hatte, sie wieder zu betreten. Einmal, während Mario in den Kirchen umherschlenderte, ging er, halb seinem eigenen Willen zum Trotz, nach dem kleinen Hause, wo sie gewohnt hatten, und fand die freundlichen Eheleute fast unverändert in ihrer genügsamen Zufriedenheit. Auf ihre Frage nach seiner Frau sagte Michael, sie wäre gestorben, was sie nicht anstanden, zu glauben, und herzlich beklagten; sie hätten sogleich, sagten sie, gesehen, daß ihm inzwischen etwas sehr Trauriges begegnet wäre. Weit schrecklicher noch, erzählten sie, sei das Los jener schönen Dame gewesen, die zu gleicher Zeit mit in ihrem Hause gewohnt habe; kurz nach seiner und Roses Abreise sei eines Abends ein schwarzer, sehr aufgeregter Mann gekommen, der sich als ihr Gatte ausgegeben habe; sie hätten ihn, da sie das bedenkliche Verhältnis kannten und sein Benehmen etwas Sonderbares und Beunruhigendes an sich gehabt hatte, nicht hereinlassen wollen, doch hätte er sie, die unvorbereitet und unschlüssig dastanden, beiseite geschoben, sei in das Zimmer der Dame gedrungen, die allein mit ihren Kindern gewesen wäre, hätte einen Schuß auf das eine abgefeuert, und da sie sich schreiend über das andere geworfen hätte, auch sie selbst samt diesem getötet. Er hatte sich darauf selbst ausgeliefert und befand sich jetzt im Irrenhause.

Michael dachte mit Bedauern an die beiden hübschen Kinder, deren er sich noch deutlich entsann. Übrigens litt er weniger unter der Erinnerung, als er gefürchtet hatte, es war ihm so, als wäre er höchstens im Traume einmal hier gewesen, so wenig fühlte er sich noch derselbe Mensch, der an dieser Stelle glücklich gewesen war.

Ein anderes Mal, als er mit Mario zusammen eine süddeutsche Stadt berührte, kam ihm in den Sinn, daß der Freund seiner Studienjahre, Robert Hertzen, den er Sardanapal zu nennen pflegte, dort Bibliothekar geworden war. Seine erste Regung war Freude, ihn wiederzusehen, und er ging nach der Bibliothek, wo er zu gewissen Tagesstunden zu sprechen war. Wenn jetzt der hohe, schlanke Mensch, voll Jugend und Überschwang, mit seinen flatternden Haaren, seinen unersättlichen Augen, seinem liederreichen Munde, ihm entgegenkäme und die Arme mit seiner pathetischen und dabei so ehrlichen Gebärde nach ihm ausbreitete! Sein Herz zog sich zusammen, und er fühlte, daß er es nicht würde ertragen können, so leibhaftiger Vergangenheit zu begegnen. Freilich würde er nicht mehr so sein; er würde das Haar nach der Sitte geschnitten haben, er würde dick geworden sein, weil er ein behagliches Leben und wenig Bewegung hätte. Zwischen seinen Büchern und Handschriften würden seine Augen voll Staub geworden sein, und wenn er beim Anblick des alten Freundes die Stimmung von ehedem erneuern wollte, würde er vielleicht ein Zerrbild seiner selbst werden. Er war in solchen Gedanken bis vor die Treppe gekommen, die zur Bibliothek hinaufführte; dort blieb er einen Augenblick stehen und entschloß sich plötzlich, umzukehren und zu dem Gasthof, wo er Mario gelassen hatte, zurückzugehen. Es war ihm so bange davor geworden, der schöne Bombastus könnte ihm auf der Straße begegnen, daß er einen Vorwand suchte, um Mario seine Sinnesänderung zu erklären, und augenblicklich abreiste.

*

Wie sich das Geschäft hob, und nachdem eine gewisse Höhe erreicht war, sich mehr und mehr ausbreitete und die alten Beziehungen wiederaufnahm, dachte Michael zuweilen an die Möglichkeit, sich allmählich etwas freier bewegen und einen Teil seiner Zeit nach Belieben ausfüllen zu können. Schon die Aussicht, wenn auch jetzt noch nicht, so doch vielleicht in einigen Jahren seine naturwissenschaftlichen Studien fortsetzen zu können, belebte seine gegenwärtige Öde; er dachte, er könnte jährlich zwei oder drei Monate auf Reisen sein und Stoff sammeln, den zu verarbeiten sich hernach wohl Muße finden würde. Konnte er bei so beschränkter Tätigkeit auch nicht daran denken, den Ruf, den er früher erworben hatte, zu vermehren oder auch nur zu bewahren, so würde es doch für ihn eine Erquickung sein, sich stundenweise ganz in eine überreiche, wundervolle Lebens- und Gedankenwelt zu versenken.

Er nahm an, daß Gabriel demnächst keiner Unterstützung mehr bedürfen und in absehbarer Zeit auch Mario selbständig werden würde. Es zeigte sich aber, daß es damit noch gute Wege hatte, als Gabriel nach vierjährigem Studium von der Universität zurückkam, ohne eine abschließende Prüfung bestanden zu haben und zunächst auch ohne die Absicht, sich einer zu unterziehen. Insofern hatte er sein Versprechen gehalten, als er sich von den Mißbräuchen des studentischen Lebens ferngehalten und namentlich anfangs eingezogen gelebt hatte; als er in der Folge bemerkte, daß die Verhältnisse sich günstiger gestalteten, und daraufhin seiner Neigung zu vornehm absonderlichem Auftreten mehr nachgab, hatte er doch die Grenze, die Michael für seine Ausgaben gezogen hatte, nicht überschritten. Auch besaß er ansehnliche Kenntnisse, doch waren sie einseitig und ohne Rücksicht auf etwaige Nutzbarmachung ausgewählt, so daß er in der Tat ohne nochmalige umfassende Vorbereitung weder an ein Examen noch an berufliche Tätigkeit denken konnte. Den Kram, den man seit Jahrhunderten mitschleppte und den jeder beim Examen vorzeigen müsse, um ihn später nie mehr, je gescheiter man sei, desto weniger zu gebrauchen, sei er nicht imstande, seinem Gedächtnis einzustopfen; Auswendiglernen, behauptete er, könne er nicht, und versuchte er es auch bei Tage, vergäße er das gewaltsam Verschlungene bei Nacht wieder, wie auch der Magen, er wolle oder nicht, Unverdauliches wieder von sich geben müsse; außerdem würde er sowieso, obwohl er besser unterrichtet sei und tiefere Einsicht in den Stoff habe als die meisten Studierenden, niemals eine Prüfung bestehen, weil die feierliche Veranstaltung ihn nervös mache und aller Gegenwart und Beherrschung des Geistes beraube. Allein der Gedanke, sich von Herren im Frack und weißer Binde zu einer bestimmten Stunde ausfragen lassen zu müssen, und welche Wichtigkeit dieser Stunde und der Zufälligkeit, ob er in derselben gut oder schlecht aufgelegt sei, beigemessen werde, beängstigte ihn bis zu krankhaften Erscheinungen, Herzklopfen, Übelkeit und nervösen Zuckungen. Es war Michael nicht möglich, sich in eine derartige Verfassung hineinzudenken, und er konnte es sich nicht anders vorstellen, als daß es Gabriel nebenbei auch an gutem Willen fehlen müsse; dennoch wußte er nicht, wie er ihn zur Ablegung eines Examens hätte zwingen sollen, und hätte auch, selbst wenn er über Zwangsmaßregeln verfügt hätte, zur Anwendung derselben keine Neigung gehabt. Er stellte Gabriel vor, daß in solchen Fällen die Sache hinauszögern, sie erschweren bedeute, und wie peinlich drückend er, wenn er seine Laufbahn nicht vollendete, die Abhängigkeit von ihm, obwohl er sein Bruder sei, empfinden würde. Solche Befürchtungen schien Gabriel zunächst nicht zu hegen, hauptsächlich aber meinte er, wenn ihm Zeit gelassen würde, könnte er sich eine Stellung erringen, wie er sie bei Erwerbstätigkeit nach doppelt so langer Zeit nicht einnehmen würde. Er trüge sich nämlich mit dem Plane zu einem Werke über die Symbolik der Interpunktion, auf welches er während seiner ganzen Studienzeit hingearbeitet hätte, und das, wenn er es vollendete, seinen Namen auch ohne Titel und Diplome unter Gelehrten und Laien berühmt machen würde. Michael entschloß sich, ihm fürs erste ein Jahr zu bewilligen, nach dessen Ablauf sich zeigen würde, wie es mit seinem geplanten Werke und mit seiner Gesundheit stehe.

Er war nämlich wirklich, wie die Familie nun täglich zu beobachten Gelegenheit hatte, außerordentlich reizbar und von den seltsamsten Einbildungen beherrscht. Zum Beispiel war er furchtsam, und die Dunkelheit ängstigte ihn so, daß er ohne Beleuchtung bei Nacht durch kein Zimmer gegangen wäre. Befand sich in demselben ein Spiegel, so ängstigte er sich auch bei Licht, außer wenn es taghell war, und es durfte aus diesem Grunde in seinem Schlafzimmer kein Spiegel sein, da er, wenn er zufällig mit der Kerze daran vorbeigegangen wäre, einen tödlichen Schrecken hätte davontragen können. Überhaupt vermied er es, unvorbereitet in einen Spiegel zu sehen, da der plötzliche Anblick der eigenen Gestalt, gleichsam ein doppeltes Ich vor einen hinstellend, ihn sehr wohl wahnsinnig zu machen imstande wäre. Ebenso unheilvolle Wirkungen gingen für ihn von der Tapete aus, deren verschlungene Figuren, wenn er sie eine Weile betrachtete, vor seinen Augen zu kreisen und zu tanzen begannen und bedeutungsvolle ängstliche Zeichen bildeten. Damit er arbeiten und schlafen könnte, mußte Michael sowohl in seinem Schlafzimmer wie in seinem Studierzimmer die vorhandenen Tapeten entfernen lassen, und die Wände wurden einfarbig angestrichen, wobei aber wieder die Wahl der Farbe, die sich in peinlich genauem Einklang mit seinem Wesen, ja eigentlich mit seiner jeweiligen Stimmung befinden mußte, fast unübersteigliche Schwierigkeiten mit sich brachte.

Michael hatte Mühe, diese Erscheinungen, für die sein Bruder keinen Grund angeben konnte, ernst zu nehmen, wohingegen Mario sofort ohne Erklärung das unheimliche Wesen von Spiegeln, Tapeten und anderen Dingen begriff und lebhafte Teilnahme, ja Bewunderung für Gabriel faßte, daß dieser eine so hervorragende Feinfühligkeit dafür besaß. Er liebte es, sich mit ihm über solche Gegenstände zu besprechen, was dieser auch gerne tat; denn er hielt seine Furchtsamkeit und Schwachmütigkeit nicht für etwas Lächerliches, das man unterdrückte und verheimlichte, sondern war stolz darauf, obgleich er es selbst als Schwäche und Nervosität auslegte. Er war reich an Vorempfindungen und Witterungen aller Art, und auch Mario brachte es bald dahin, seinen Vater auf Reisen vor diesem und jenem Gasthofe warnen zu können, wo er übernachten wollte, die Nähe gewisser Menschen zu fliehen, es in gewissen Zimmern nicht aushalten zu können und dergleichen, wofür er sich zwar auch gerne von seinem Vater auslachen ließ.

Indessen wurden diese Eigenheiten Michael doch zuweilen unbehaglich, besonders da sie neben manchem anderen Zuge von Unreife in Mario auftraten, wie es zu seinem Alter nicht mehr passen wollte. Im Gegensatze zu anderen jungen Leuten war es ihm angenehm, wenn er für jünger gehalten und als Kind behandelt wurde, teils weil er sich gerne seinen spielerischen Neigungen überließ, hauptsächlich aber, weil er sich vor Verantwortlichkeit fürchtete. Eine ernstliche Neigung zu irgendeiner Beschäftigung verriet er nie, wohl aber gründlichen Widerwillen gegen regelmäßige Tätigkeit überhaupt, worin er auch wieder mit Gabriel übereinstimmte. Sie waren der Ansicht, daß jede Tätigkeit, zu der man sich zwingen müsse, den Geist dürr und unfruchtbar mache, und daß die reizende Regellosigkeit, Unfolgerichtigkeit und Torheit des Weibes, worin das Wesen der Genialität bestehe, die Frucht ihres beruflosen, von der Laune regierten Lebens sei.

Die Frauen betreffend, bestand übrigens der Unterschied zwischen ihnen, daß Gabriel zwar ihre Genialität bewunderte, ihr kindliches Wesen aber doch als das verlorene Paradies betrachtete, von dem er ausgeschlossen sei, und deshalb den Umgang mit gleichgearteten Männern vorzog, während Mario beständig Beziehungen zu hübschen Mädchen hatte, die er vor Gabriel zu verbergen trachtete.

Zuweilen versuchte Michael die Berufsfrage bei Mario anzuregen, ihn wenigstens den Ernst derselben einsehen zu lassen, aber seiner offenbaren Unreife gegenüber hielt er es schließlich doch für besser, ihm Zeit zu gönnen. Es lag keine dringende Notwendigkeit mehr vor, daß er Geld verdiente, so konnte er immerhin die glücklichen Umstände ausnutzen und unbelastete Freiheit länger genießen, als es den meisten Menschen möglich war. Michael bedachte auch, wie verhängnisvoll es für ihn selbst gewesen war, daß er zu früh gewählt oder vielmehr sich blindlings dem Urteile seines Vaters untergeordnet hatte, und daß er Ursache hätte, seinem eigenen Sohne gegenüber behutsam zu sein. Also erklärte er sich damit einverstanden, daß Mario noch kein festes Ziel ins Auge faßte, sondern seinen Liebhabereien nachging und wartete, wohin ihn allmählich ein entscheidender Zug führen würde.

Der junge Raphael hatte inzwischen Michaels Lehren beherzigt und alles getan, um sich eine Stellung zu erringen, wo er den Zumutungen und der Kritik von allen Seiten entwachsen wäre, so daß Michael ihn, ohne parteiisch zu scheinen, schnell aufrücken lassen konnte. Er blieb auch jetzt anstellig, gelehrig und liebenswürdig und wußte sich bei den anfänglich übelwollenden Kollegen beliebt zu machen, aber gleichzeitig machte sich ein Hang zum Wohlleben und unbedenklicher Leichtsinn an ihm bemerkbar. Einer seiner nächsten Vorgesetzten konnte ihn der Unterschlagung einer freilich nicht bedeutenden Geldsumme überführen und zeigte den Vorfall Michael selbst an, bat ihn aber zugleich, die Sache niederzuschlagen. Auf eindringliches Befragen, wozu er das Geld gebraucht habe, da er ein für seine Bedürfnisse reichliches Gehalt bezog, gestand er, daß er eine Geliebte habe, die Tochter eines kleinen Postbeamten, die sich trotz ärmlicher häuslicher Verhältnisse, wenn sie am Sonntag mit ihm spazierenging, allerliebst herauszuputzen wußte. Raphael war zwar sehr ärgerlich, daß seine Veruntreuung an den Tag gekommen war, schien aber anfänglich keineswegs von der Verwerflichkeit seiner Handlung überzeugt zu sein, erst als Michael ihm ins Gewissen redete, ergriff ihn auf einmal innige Reue, hauptsächlich darüber, daß er ihn betrübt habe, und er wollte sich in Tränen auflösen, so daß Michael wieder zu tun hatte, um ihn zu trösten und zu beruhigen. Obgleich seine Zerknirschung und sein Versprechen, sich zu bessern, ohne Zweifel aufrichtig gemeint war, hielt Michael es doch für nötig, seine Mutter in Kenntnis zu setzen, damit sie womöglich seine freie Zeit überwachte und das vorzeitige Liebesverhältnis zu hintertreiben suchte. Indessen sah Michael sogleich ein, daß er gerade in Hinsicht darauf durchaus nicht auf ihren Beistand rechnen konnte; sie ängstigte sich zwar, daß Raphael die gute Stelle verlieren könnte, und schalt über seinen Leichtsinn, übrigens aber, sagte sie, wäre er ein Junge von Gold wie sein Vater, dem er auch darin gliche, daß er nicht auf Geld sähe, sondern, obwohl die reichsten Mädchen ihm nachliefen, einzig seinem Herzen folgte. Wirksamer als alles, dachte Michael, würde es sein, wenn er ihn zu sich ins Haus zöge, wo er den Einfluß einer gebildeten Häuslichkeit genösse, und da das seit seiner Mutter Tode eher tunlich war als früher, beschloß er, mit Verena darüber zu sprechen.

Verena entfaltete, seit es mit dem Geschäfte gut ging, eine überschwengliche Wohltätigkeit, die sie teils auf eigene Hand, teils durch Vereine ausübte, in denen sie die größte Rolle spielte. Indem sie ihr Talent, anzuordnen, ihre Umsicht, ihre Gabe, sich klar und entschieden auszudrücken, anwendete, wuchs ihre Freude an solcher Tätigkeit, deren Zweck ihr kaum noch zum Bewußtsein kam. Die Schärfe ihres Urteiles, wovon sie so lange keinen Gebrauch mehr gemacht hatte, ließ sich wieder spüren, wenn sie von der Einfalt und Umständlichkeit der Vereinsdamen erzählte, oder von der salbadernden Selbstgefälligkeit der Männer, die sich ihnen beigesellt hatten. Um die Mittel, über die sie zu verfügen hätte, nicht zu überschreiten, bat sie Michael, ihr ein für allemal die Summe zu nennen, die sie jährlich zu wohltätigen Zwecken verwenden könnte; doch fehlte es nicht an Gelegenheiten, wo sie ihn um Zuschüsse anging. Er war ihr im Grunde dankbar, daß sie das auf sich nahm; denn er war überzeugt davon, daß sie praktisch verführe, wie sie früher in Italien bewiesen hatte. Aber sowenig wie damals wurde ihm wohl dabei, wenn sie um die Weihnachtszeit in einem großen Zimmer, das mit den zum Verschenken angeschafften Sachen angefüllt war, herumwirtschaftete, ein Stück nach dem andern mit ihren langen, schmalen, durchsichtigen Fingern nahm und verpackte, bezeichnete, schnell auf einen Haufen warf und dann gleichgültig mit schlaffem mißvergnügtem Munde Namen und Zahlen ausrief, die eine andere Person, die sie dazu angestellt hatte, aufschreiben mußte.

Die Wohltätigkeit, die sie außerhalb der Vereine ausübte, bezog sich nur auf katholische Arme oder auf solche, die sie zum Übertritt gewinnen zu können glaubte, und hierbei war der katholische Pfarrer ihr Ratgeber. Er war, wie er denn nur einer kleinen und bedeutungslosen Gemeinde vorzustehen hatte, die inmitten eines erzprotestantischen Landes ohne jede Aussicht auf Vergrößerung war, ein in keiner Art hervorragender Mann, ja man hätte glauben können, daß ein so Unansehnlicher und Bescheidener eigens ausgelesen worden sei, damit er der Übermacht durch eigenwilliges, trotziges Auftreten oder überhaupt nur durch eine bedeutende Persönlichkeit keinen Anstoß gäbe. Verena, die im allgemeinen gegen nichts so empfindlich war wie gegen schwerfälliges Denken und plattes Wesen, betrug sich gegen den Pfarrer nichtsdestoweniger mit graziöser Demut, lud ihn häufig zum Tee ein und verlangte auch von andern, daß sie ihm Ehrerbietung entgegenbrachten. Die unschädliche Einfältigkeit und Belanglosigkeit, die sich in seinem Gesichte und in seinem Wesen ausprägte, pries sie als Heiligkeit eines Kindergemütes.

Als Michael gegen Abend in Verenas Empfangszimmer trat, um wegen des jungen Raphael mit ihr zu sprechen, fand er den Pfarrer dort, der den Tee mit ihr genommen hatte. Im Umgange mit Herren pflegte der Pfarrer jedes Berühren religiöser Gesprächsgegenstände zu vermeiden, vielmehr, da er sich als den geduldeten und ohnmächtigen Teil fühlte, suchte er sie dadurch bei guter Laune zu erhalten, daß er nach Handel und Wandel und Marktpreisen fragte und, wenn keine Damen dabei waren, auch wohl eine bewährte schlüpfrige Anekdote zum besten gab. Er erging sich Michael gegenüber zunächst im Lobe Verenas, und zwar – denn er verfügte keineswegs über den weltmännischen Ton, der die Geistlichen höherer Stellen als Gesellschafter so angenehm macht – im Geschmack des kleinen alten Krämers oder Apothekers aus einem Landstädtchen, der den Galanten bei schönen Frauen spielen möchte, und sprach sodann über die neuesten Erfindungen zur Erleichterung der Fortbewegung und des Verkehrs. Daß Verena sein leichtes Schwatzen mit stiller und bescheidener Liebenswürdigkeit wie ein Schulmädchen anhörte, hatte für Michael etwas Belustigendes, zugleich aber auch Rührendes, und es überkam ihn fast ein Gefühl von Zärtlichkeit, wie er es seit langem nicht für sie empfunden hatte. Sein Blick hing freundlich an ihrer feinen, hohen, aufrechten Gestalt, wie sie den Pfarrer, der sich verabschiedete, zur Tür begleitete und wieder zurückkam, und er sagte gutmütig: »Der Mann muß ungewöhnlich heilig sein, da du so ausdauernd und selbstverleugnend im Ertragen seiner übrigen menschlichen Mängel bist.« Verena wurde dunkelrot und sagte abweisend, der Pfarrer hätte eben dadurch Takt bewiesen, daß er es bei einer leichten Plauderei hätte bewenden lassen, denn es zeugte von Halbbildung und Geschmacklosigkeit, wenn einer zwischen ein paar Schluck Tee Gelehrsamkeit auskramen wollte.

Michael ging sofort auf das über, was ihn eigentlich herbeigeführt hatte, sprach über die Sorgen, die Raphael ihm machte, und daß er daran gedacht hätte, ihm unvermerkt Freude an einem geordneten Leben beizubringen, indem er ihn öfters einlüde und ihn schon dadurch, daß er seine freie Zeit auf diese Weise in Anspruch nähme, von dem Mißbrauch derselben abhielte. Verena konnte offenbar die Kränkung nicht sogleich verschmerzen, die Michael durch seine Bemerkung über den Pfarrer ihr zugefügt hatte; sie sagte, es wäre besser gewesen, wenn Michael den leichtfertigen Menschen nicht in eine Laufbahn gezwungen hätte, wo er so vielen Versuchungen ausgesetzt wäre; auch wäre es der kleinen Malve wegen besser, wenn er nicht ins Haus käme, da sie durch Zufall erfahren könnte, in welcher Weise sie mit ihm verwandt sei. Michael antwortete, das ließe sich wohl verhüten und würde schließlich auch kein Unglück sein, es käme einzig darauf an, ob sie wolle. Es wäre dies eine Art von Wohltätigkeit, auf welche die Verhältnisse sie hinwiesen, die aber freilich mehr Opferwilligkeit erfordere, als Geld zu geben und Geschenke zu machen.

Verena blieb vollkommen ruhig, nur beugte sie sich ein wenig vor und sah Michael mit sprühenden Augen an. »Ich hätte wohl größere Opfer gebracht«, sagte sie, »sowohl um deinen unglücklichen Bruder am Leben zu erhalten, wie um sein Andenken zu ehren. Wenn ich dein Ansinnen ablehnte, geschah es aus einem anderen Grunde, den du dir hättest denken können; ich möchte nicht, daß der Sohn seiner Mutter sich den Weg ins Haus bahnte, deren Beziehungen zu dir das Gespräch der Leute sind.«

Michael wurde die Bedeutung dieser Worte nicht sogleich klar; denn daß man ihm unerlaubte Beziehungen zu der ehemaligen Geliebten seines verstorbenen Bruders zuschreiben sollte, hatte für ihn etwas so Unerhörtes, daß er eher falsch gehört oder verstanden zu haben glaubte. »Ich verstehe dich nicht«, sagte er und sah Verena fest und erwartend an. Sie hielt seinen Blick ruhig aus und sagte: »Man weiß, daß du diese Person seit deines Bruders Tode zu besuchen pflegst, und daß auch sie zu dir kommt, und man nimmt an, daß du deines Bruders Platz wie im Geschäfte so in dieser Hinsicht ausfüllst. – Du wirst nicht sagen«, fügte sie mit Spott hinzu, »daß ich dich mit Eifersucht und Verdächtigungen belästigt habe.«

»Du hättest es auch jetzt nicht tun sollen«, sagte Michael, der bleich geworden war. »Du hättest es mir lieber verbergen sollen, daß ich zwischen Menschen leben muß, denen so Gemeines in den Sinn kommt, und die mich damit beschmutzen möchten.«

»Sittliche Entrüstung steht dir nicht an«, entgegnete Verena scharf. »Warum könntest du nicht wieder tun, was du schon einmal getan hast?« Dies letzte sagte sie, weil sie wußte, daß sie ihn damit im tiefsten Herzen verwunden würde, und im ersten Augenblick bereitete es ihr Genugtuung, zu sehen, welchen Schmerz sie ihm zugefügt hatte. Michael empfand zunächst nichts anderes als Schrecken, daß sie alle diese Dinge hatte vorbringen können, eine große Übelkeit der Seele, wie wenn er plötzlich bemerkt hätte, daß ekelhaftes, giftiges Ungeziefer, ohne daß er es bemerkt hätte, an ihm gewesen wäre. Als er sich gefaßt hatte, sagte er zu Verena: »Sag mir nur das eine, ob du wirklich daran glaubtest, oder ob du es nur anderen nachgesprochen oder aufs Geratewohl hingeworfen hast, weil du mich verletzen wolltest.« Er sah, daß sie zögerte und sich besann, sei es, weil sie unsicher war, ob sie die Wahrheit sagen sollte, oder weil sie sie selbst nicht mehr herausfinden konnte. »Ich sehe nicht ein, warum es durchaus unmöglich sein sollte«, sagte sie endlich; es lag deutlich in den Worten und dem Tone, daß sie zwar jetzt nicht mehr daran glaubte, aber selbst nicht recht wußte, ob sie es vorher geglaubt hatte oder nur hatte glauben wollen. Mit einem flüchtigen Blick auf sie stand er auf und ging in den Garten, wo niemand war; er setzte sich in eine bedeckte Laube und suchte der qualvollen Stimmung, die über ihn gekommen war, Herr zu werden.

Zum ersten Male, seit er wieder zu Hause war, wollte Sehnsucht nach Rose in ihm aufsteigen; warme, lebendige, tränenschwere Sehnsucht, die leise anpochte, mit verhaltenem Ungestüm. So verlassen hatte er sich nie vorher gefühlt; es war niemand, niemand da, dem er hätte sagen können, was ihm angetan worden war. Die Sehnsucht klopfte wie eine Undine an die Eisdecke in seinem Innern, er fühlte ihre Nähe und das weinende Lächeln, mit dem sie ihm winkte. Aber er kämpfte gegen die Wonne, die er zugleich fürchtete, und sie tauchte unerlöst wieder unter. Dann dachte er an Verena, und wie es hatte kommen können, daß sie den Ekel vor Lüge und Gemeinheit verlor. Er erinnerte sich, wie ihn zum ersten Male ein Gefühl von Unbehagen und Erschrecken anwandelte, als sie von Raphaels Verhältnis zu der Kellnerin sprach und dabei den Mund zu einem häßlichen Lachen verzog. Damals trauerte ihre großmütige Seele und rang die Hände vor Schmerz; jetzt hatte er ihren edlen Blick nicht mehr in ihren Augen gesehen. Vielleicht hätte sie sich wecken lassen, die Untergegangene mit der Königskrone, und hätte erglühend seine Hand gefaßt, wenn er sie hingestreckt hätte, um ihr zu helfen, wenn er das Zauberwort ausgesprochen hätte: »O Verena, ich trage die Schuld, daß du im Sklavenkleide gehst; sei wie du warst!« Aber es fehlte ihm an Zuversicht und an Liebe. Trotz seines Mitleidens graute ihm vor ihr, je mehr er sich sagte, daß er Feuerströme der Liebe brauchte, um wiedergutzumachen, was er an ihr verschuldet hatte, desto mehr fühlte er sein Herz schwer und steinern gegen sie werden. Er horchte auf, weil es ihm war, als ob Mario ihn riefe, und wollte antworten; aber schon im Begriffe, aufzustehen, besann er sich und setzte sich wieder, froh, daß der Ruf sich nicht wiederholte. Selbst Mario hätte er in diesem Augenblick nicht sehen mögen.

Es war ein warmer Sommerabend, der sich in Regen zu lösen begann. Der einförmig graue Himmel ließ sich sacht hernieder, immer leichter und durchsichtiger, und wurde am Ende zu einem rieselnden Nebelregen. Die Bäume, die auf der Wiese standen, und die Pappeln vor dem Hause waren grau verhüllt und neigten sich lautlos schwankend von einer Seite zur andern. Die Blumen und das kleine Buschwerk waren nicht mehr zu sehen, und die klagenden Gestalten der Bäume vergingen mehr und mehr in der warmen, blassen Flut des Sommerabendregens. Es kam Michael, der still in den Garten hineinsah, der Gedanke, als verrinne so, wie jetzt Himmel und Erde in unendlichem Weinen verrannen, jedes Leben, das Herrliche wie das Schreckliche, das sich in ihm gestaltet hatte, auflösend, bis es auf immer verschwände.

*

Einige Zeit nach dem häßlichen Wortwechsel mit Michael reiste Verena zu ihrem Beichtvater, wobei sie sich von Mario begleiten ließ. Michael wartete nicht ohne Besorgnis auf seine Rückkehr, da er sich ja selbst für wehrlos dem dämonischen Priester gegenüber erklärt hatte; aber Mario beschwichtigte seinen Vater lächelnd, indem er sagte: »Du kannst jetzt fast sicher sein, daß ich mich niemals katholisch machen lassen werde, obgleich ich den Zauber des Priesters ebenso stark empfunden habe wie früher; aber ich habe gesehen, daß das Schweben vor der Entscheidung das Reizende ist. Hätte ich einmal getan, was er wünschte, würde es alltäglich werden. Es muß im Leben alles Sehnsucht bleiben; wenn man es anfaßt und hat, geht der Schmelz davon.«

»Was sich so rasch abstreifen läßt, ist nicht das Schönste«, sagte Michael, und Mario schwieg, wie er zu tun pflegte, wenn er seinem Vater innerlich unrecht gab, ihm aber nicht laut widersprechen wollte. »Aristos würde es auch nicht billigen, wenn ich katholisch würde«, sagte er nach einer Weile und setzte Michael dadurch nicht wenig in Verwunderung, da er von dem wachsenden Einfluß des Dichters nichts bemerkt hatte.

»Ist denn dessen Meinung für dich maßgebend?« fragte er, worauf Mario, froh, sich seinem Vater, wie er gewohnt war, mitteilen zu können, über seine Gefühle für Aristos ausführlich berichtete. »Er ist mir beinahe mehr abstoßend als anziehend«, sagte er, »und trotzdem trachte ich beständig nach seinem Wohlgefallen. Der Priester ist wie ein singendes Feuer, in das ich mich hineinstürzen möchte, er dagegen ist ungeheuer wie ein ewiger Gletscher und erfüllt mich mit Grausen. Ich ahne, daß er nicht gut ist; aber was kommt darauf an? Er hat die stärkste Persönlichkeit, und das ist mir göttlich.«

»Und warum würde er es mißbilligen, wenn du katholisch würdest?« fragte Michael.

»Im allgemeinen mißbilligt er es nicht«, erklärte Mario, »sondern er findet, daß es immerhin besser ist, sich bestehenden Formen, die schön sind, unterzuordnen, als in eigenen, die häßlich sind, zu verharren. Von mir soll er aber nicht denken, daß ich meine eigene Lebensform nicht hätte finden können.«

»Aber wenn du seine Lebensformen annähmest, würde er dich nicht verachten?« erkundigte sich Michael. Mario antwortete nachdenklich: »Verachten tut er mich auf alle Fälle. Ich glaube aber, er könnte mich beneiden, wenn ich wäre wie kein anderer, und auch nicht wie er.«

Es lag in all diesem eine Art zu denken und zu empfinden, die Michael fremdartig war, aber gerade weil Aristos ihm bei der flüchtigen Bekanntschaft nicht sympathisch gewesen war, wollte er, wo es sich um ihn handelte, nicht unbillig sein. Er versuchte nochmals, durch seine Gedichte den Weg zu ihm zu finden, doch behielt er den meisten gegenüber das Gefühl, wie man es etwa für künstliche Diamanten hätte, die dasselbe Feuer hätten wie echte und vielleicht sogar kostbarer wären, und die einem doch nicht so teuer sein könnten wie natürliche, in der Erde gewachsene. Als er darüber mit Mario sprechen wollte, sagte dieser zögernd, sie seien eben schwer zu verstehen, und auf Michaels Bemerkung, es sei doch noch nicht so lange her, daß er sie sich von ihm hätte erklären lassen, antwortete er: »Du hast sie mir aber nicht richtig erklärt«; wobei er seinen Vater so zärtlich und schalkhaft zugleich ansah, daß es unmöglich gewesen wäre, darüber gekränkt zu sein. Dennoch war ihm so zumute, als ob Mario auf der Wanderung sich von ihm trennte und hie und da umherstreifte, wo er ihn nicht vermißte. Zwar sagte er sich, es müsse so sein, da sie voraussichtlich nicht bis zum Ende Hand in Hand würden gehen können; aber das war das Bittere, daß Mario Pfade ging, die ihm nicht gefallen konnten und auf denen seine Gedanken ihm ungern folgten. In früheren Jahren hatte er Mario immer zugeredet, auf seine Mutter zu hören, die ihn zu frischer Tätigkeit anzuspornen suchte, obwohl er selbst dem Kinde gegenüber nachsichtig sein zu dürfen glaubte. Es hatte damals wenig gefruchtet, indessen jetzt, da Verena sich beeiferte, den Weisungen des Priesters nachzukommen und sein Weiterkommen, sein Tun und Lassen, seine ganze Lebensführung unbeachtet zu lassen, näherte er sich ihr mehr und mehr.

Seit Verena das letztemal gebeichtet hatte, war sie heiterer und zufriedener, was sich als anhaltend und nicht als nur augenblicklich gehobene Laune erwies. Sie ging jetzt, augenscheinlich einem Gelübde zufolge, jeden Tag beim Morgengrauen in die Messe, wozu sie ein eigens gefertigtes, nonnenhaftes Gewand trug, mit welchem zugleich sie nach der heiligen Handlung Religion, Ernst, Nachdenken, Reue, Trauer, kurz alles Leidwesen, welches das Leben hätte verbittern können, abgelegt zu haben schien. Sie gab sich dann den weltlichen Erquickungen breit und behaglich hin, wie es früher durchaus nicht ihre Art gewesen war, als wären sie durch die fromme Übung des Morgens geheiligt oder wenigstens unschädlich gemacht worden. Sie scherzte in dieser Stimmung gern über religiöse und kirchliche Dinge, gewissermaßen um das in Gott ruhende und daher frei spielende Kind darzustellen, ein Zug, der Michael besonders unverständlich und zuwider war. Mario war zu bequem, um die Frühmesse zu besuchen, tagsüber aber begleitete er seine Mutter gern zur Kirche und beobachtete gewissenhaft die katholischen Feiertage. Er tat das um so lieber, als Aristos selbst zur Verehrung Verenas das Zeichen gegeben hatte; er verglich sie nämlich mit einer seltenen und schönen Pflanze, die ursprünglich giftig gewesen sei und einmal durch einen schaurigen Zufall sich selbst vergiftet hätte; deshalb schwanke sie auf geisterhaftem Stengel und trüge eine wildgeflammte, kranke Blume. Er durchschaute, daß die Heiterkeit, die sie zur Schau trug, nicht klar durch ihr Gemüt floß; aber eben das bewunderte er an ihr, daß sie gesunde, ruhevolle Gebärden vortrug, die ihr nicht eigen waren.

Zu den Verehrern Verenas gehörte nun auch der junge Raphael, den sie nach der Rückkehr von ihrer Reise Michaels Vorschlag gemäß, ohne wieder auf das Gespräch zurückzukommen, eingeladen hatte. Während er weder mit Gabriel noch mit Mario zusammenzustimmen war, bezauberte Verena ihn ganz und gar. Mit ihm verkehrte sie in einer anderen Art, als mit den übrigen jungen Leuten; sie erteilte ihm praktische Ratschläge, wie er sein Leben einrichten könnte, machte Pläne mit ihm, seine künftige Laufbahn betreffend, und interessierte sich für die kleinen Erlebnisse, die ihm begegneten. In ihr immer etwas vornehmes und herablassendes Wesen mischte sie einen kameradschaftlichen Ton, der ihn ermunterte, sich ihr rückhaltlos anzuvertrauen, und der an die alten herzlichen Freundschaftsbeziehungen zu seinem verstorbenen Vater erinnerte; doch versagte ihr die Kunst nie, ihn streng in den Grenzen bewundernder Ehrerbietung zu halten. Allmählich reihte sie auch seine Mutter und seine Geschwister unter ihre Schützlinge ein, worauf sie in dieser Familie zu dem Ansehen eines halbgöttlichen Wesens emporstieg.

Es war für Michael eine freudige Botschaft, daß Robert Hertzen, welcher der Bibliothek überdrüssig geworden war und seiner Vermögenslage nach nicht zu arbeiten brauchte, seine Stellung aufgegeben hatte und sich in Michaels Vaterstadt niederzulassen beabsichtigte, zum Teil eben deshalb, weil dieser dort lebte. Beim ersten Wiedersehen kam er Michael gealtert und erschlafft vor, wie es den zwanzig Jahren, die seit ihrer ersten Bekanntschaft verflossen waren, entsprach; indessen nach kurzem Beisammensein verlor sich dieser Eindruck, und er wunderte sich vielmehr, wie seine Erscheinung den langen Zeitraum so rüstig überdauert hatte. Außer daß er bedeutend breiter und dicker geworden war, was ihm bei seiner Größe einen mehr imposanten als komischen Anstrich gab, und daß seine Gesichtsfarbe das Blühende und Frische verloren hatte, war er derselbe geblieben: das Haar flatterte frei um sein hübsches Gesicht, und seine Augen ergriffen jede Erscheinung wie einst mit sardanapalischer Unersättlichkeit. Seine Frau, die er vor etwa zehn Jahren geheiratet hatte, war beinahe so groß wie er, schön und von mächtigen Formen, die ihr freilich etwas Matronenhaftes gaben; sie hieß Jolantha, bewegte sich wenig, und wenn sie sprach, war es etwas Ruhiges, Mäßiges, Freundliches, wobei ihre weißen runden Hände gewöhnlich still über ihrem vollen Leibe gefaltet lagen. Robert, der ihr gern laut und überschwenglich den Hof machte, verglich sie oft mit einer sanften, majestätisch wiederkäuenden Kuh, die in seinen Augen überhaupt das Bild hehrster weiblicher Göttlichkeit war. Da sie keine Kinder hatten, verbreiteten sie alle ihre Sorgfalt, Pflege und Zärtlichkeit über ihr eigenes gegenseitiges Wohlergehen, und es mochte sich dadurch eine außerordentliche Empfindlichkeit gegen die geringste Störung ihres lustreichen Daseins in ihnen entwickelt haben. Besonders Robert suchte ängstlich jeder Unebenheit, jeder Mißstimmung, ja jedem unpassenden oder häßlichen Worte, das ein anderer hätte sagen können, vorzubeugen, und es mußte im Umkreise seiner Seele, wie er selbst sich ausdrückte, immer so aussehen, wie in dem Zimmer einer verwöhnten Schönen, wo seidenweiche Kissen auf jedem Stuhle, jedem Sofa, kurz in jedem Winkel stecken, in den man sich hinsetzen könnte.

Verena, bei der Michael das Ehepaar einführte, empfing Robert als einen Freund aus ihres Mannes Studienzeit mit Mißtrauen, das vor seiner Offenheit und Wärme aber nicht bestehen konnte, ja seine ritterliche Gattenliebe verbunden mit zärtlicher Bewunderung anderer Frauen, seine eifrig betonte Verehrung des Schönen und nicht zum wenigsten der Umstand, daß er katholisch war, gewannen ihm schnell ihre Zuneigung und Hochachtung. Sein ausgiebiges Eingehen auf jede neue Persönlichkeit hob und verklärte ihren literarischen Abend in ihren eigenen Augen.

Mit wärmster Begeisterung stand er vor Mario, wie er überhaupt der Jugend besonders zugetan war, die er gut zu verstehen und von der er sich auch am besten verstanden glaubte. »Wie«, rief er, »hier in der kalten Handelsstadt des Nordens hängt eine Frucht vom Mittelmeere! Krämer werden sie auf Schiffen von einem zyprischen Eiland hergeschleppt haben, um sie als Wunder zu Hause vorzuzeigen. Während süße Säfte sie schwellten, sangen Sirenen zur Flöte, und die Tauben der Venus streiften ihre Samthaut mit blauen Flügeln. Wäre ich ein Kaiser, müßtest du mein Liebling sein, denn mir ahnt, du taugst zu nichts anderem, als dich küssen und streicheln zu lassen.« Mario hörte lächelnd zu und drückte sich schweigend tiefer in seinen bequemen Sessel, indessen Michael sagte: »An Sonntagen und in Gesellschaft trägt er noch die Kinderschuhe; übrigens wird er demnächst Siebenmeilenstiefel anziehen mit festen Sohlen und sogar mit einigen Nägeln beschlagen.«

»Michael!« rief Robert, die großen Augen erschrocken öffnend, »rede nicht wie ein Makler und Wechsler! Kann er jemals etwas Besseres werden, als was er ist, ein schöner verliebter Junge? Hegen wir vielmehr doch jeden Halm, der zwecklos aufgeht, und hüten wir uns, Ähren zum Korntragen und Dreschen daraus machen zu wollen.«

Michael sah ihn lachend an und sagte: »Bombastus!« worauf Robert eine Weile nachsann und dann aufblickend mit großer Innigkeit zu Michael sagte: »Wenn du anderer Meinung bist als ich, dann werde ich wohl unrecht haben; denn ich bin, mit dir verglichen, nur ein toller Gaukler und Fabulant mit hüpfenden Beinen und einem Becher starken Weines im Kopfe.«

Aristos bemerkte, die Glieder der Familie Unger hätten alle, obwohl sich jeder vom andern verschieden trüge, die Haltung von Königen, was von der verstorbenen Malve ererbt wäre; und dieser Vorzug wiese sie darauf hin, sich im Leben ruhig zu verhalten und nicht auf plebejische Art trachten, zu streben und sich abrackern zu wollen. Denn es wäre die Aufgabe der Menschen, in feierlich schönem Aufzuge in der Arena des Lebens zu erscheinen und im Kampfe weniger auf den Sieg als auf die Schönheit der Bewegung zu sehen, so daß man mit blutendem Leibe und schäumendem Munde sich selbst noch wie ein Kunstwerk empfände und genösse. Der Drang, still und schön zu sein, hätte im Grunde auch Verena, die keineswegs fromm wäre, bewogen, katholisch zu werden; sie hätte damit, bewußt oder unbewußt, ein Mittel, vielleicht das einzige, ergriffen, das ihr eine kampflose Erhabenheit der Haltung ermöglichte.

Verena wußte nicht, ob sie entrüstet widersprechen sollte oder sich der Lockung, die von dem Geiste dieses Sonderlings ausging, hingeben durfte. Ihre schwache Einrede, daß er sie unrichtig beurteile, überhörend, fuhr Aristos fort: »Wenn Sie, in schwarzen Floren wallend, in die Kirche treten und geneigten Hauptes Ihren Sitz einnehmen; wenn Sie beim gegebenen Zeichen sich bekreuzen, in die Knie sinken und sich langsam wieder erheben; wenn Sie sich in der Kapelle eines Heiligen hingerissen niederwerfen und die Hände, betend gefaltet, zu seinem Bilde erheben, überkommt Sie eine Befriedigung, die Sie vielleicht dem gegenwärtigen Geiste Gottes und Ihrer Erhebung zu ihm zuschreiben; es ist aber das Bewußtsein der schönen, wellenflüssigen Demut, die Bewegung, mit der sich Ihre hohe Gestalt uralten Formen anschmiegt, das Gefühl, in einen wundervollen Rhythmus aufgelöst zu sein, nach dem seit undenklichen Zeiten die Seele vieler Völker schwingt.«

Verena widersprach nicht mehr, sondern fragte errötend: »Warum sind Sie nicht selbst Katholik, wenn Sie die Schönheit der Kirche so wunderbar begreifen?«

Er schwieg einen Augenblick und sagte dann mit harter Stimme, aber doch mit liebenswürdigem Lächeln gegen Verena: »Weil ich einen anderen Rhythmus in mir habe, der in keinen anderen einklingt und den kein anderer überwindet.«

»Der muß stark sein«, sagte Robert, der mit ehrlichem Staunen und wachsender Bewunderung zugehört hatte.

»Er war stark genug«, sagte Aristos ruhig mit einem kalten Blick auf jenen, »daß er mich selber bezwungen hat. Ich hätte meiner Natur nach ein Räuberhauptmann im Walde werden können, der seine Opfer zwänge, das Blut des eben Erschlagenen zu trinken, und der die unergründlichen Höhlen der Berge mit Gold und Leichen füllte. Ich hätte Gift mischen können, nicht etwa um Feinde aus dem Wege zu räumen, sondern um sie unter Zuckungen und jämmerlichen Verwünschungen sterben zu sehen; ich hätte am Altare dem Priester in seinen Kelch speien und noch entsetzlichere Dinge tun können, die ich nicht nennen will, damit Sie nicht vor mir schaudern. Aber dieser Teufel, der in mir ist, krümmt sich unter meinem Willen zur Schönheit, und was für Fieber auch seine Eingeweide schütteln, bäumt er doch keine Wimper in offener Empörung. Ich habe einen Ton, dem die Seelen dienen müssen, wie mein eigener Dämon es tut.«

Mario wand sich in angenehmer Wollust, wie er es als Kind getan hatte, wenn man ihm in der Dämmerung Geschichten von Mordtaten und Geistererscheinungen erzählte; auch Robert betrachtete mit einem Gemisch von Grauen und Ehrfurcht das Greisengesicht des jungen Mannes, der zur Bekräftigung alles dessen, was er eben gesagt hatte, da zu sein schien. Es waren böse, gemeine und arglistige Züge von Mordlust und Neid darin, die es zerrissen und entstellten und sich doch zu einem Bilde fügten, das im ganzen erhaben wirkte. Michael sagte, sich willig diesem Eindruck überlassend, den er auch empfing: »Wenn Sie eine so groß und streng beherrschte Leidenschaft in den Dienst einer guten Sache stellten, könnten Sie in der Tat ein Heiland der Menschheit werden, die, wie Sie selbst sagen, immer mächtige Harmonien sucht, denen sie sich anschmiegen kann.« Aristos streifte ihn mit einem gleichgültigen Blick und sagte abweisend: »Was nennen Sie eine gute Sache? Ich stehe in der Einsamkeit und spreche mit mir selber. Menschen drillen ist meine Sache nicht, wer mir nachahmen oder von mir lernen will, muß es für sich allein wagen.«

Feska, der Aristos haßte, schob seinen struppigen Kopf vor und sagte: »Was mich betrifft, so könnte ich sämtliche Teufel, die mich zuweilen heimsuchen, in Ihrer Nähe spielen lassen, ohne für ihre Selbständigkeit fürchten zu müssen; denn ich bin wenig empfänglich für Seelentöne und Seelenrhythmen, aber desto mehr für die beiden Sinne Geruch und Geschmack, zumal wenn sie aus der Küche kommen.« Im Anschlusse daran sagte er, daß er die Tragödie seines heutigen Lebens vortragen wollte, deren Schatten seine Freunde vielleicht noch über seinem Wesen hätten lagern sehen. Er erzählte nun, daß er vor Tage aufgestanden sei, um eine Festdichtung zu entwerfen, die ihm vom Magistrat übertragen worden sei, da demnächst das hundertjährige Bestehen des Domes feierlich begangen werden sollte. Es war dieser Dom eine unvollendete Ruine des Mittelalters gewesen, aber die Stadt hatte viel früher, als man anderswo daran dachte, aus eigenen Kräften ihn zu vollenden unternommen. Je nachdem Gelder zuflossen oder stockten, war der Bau gefördert oder liegengelassen, und vor jetzt hundert Jahren war er so weit gediehen, daß zum ersten Male Gottesdienst darin hatte gehalten werden können. In der Überlieferung der Familie Feska hatte sich erhalten, daß ein Urgroßvater, der zu jener Zeit Maurergeselle gewesen war, den allerletzten Handgriff an der Turmspitze des Domes, an der zuletzt gearbeitet worden war, ausgeführt hatte, was als ein rühmlicher Zufall von den Großeltern oder Eltern des Dichters, als er Kind war, zuweilen erwähnt wurde, und diesen Ahn hatte er neben anderen bekannten Namen städtischer Geschlechter zum Träger der Festvorstellung machen wollen. Doch sei es nun, daß seine poetische Kraft überhaupt erlahmte oder daß er keinen guten Tag hatte, es wollte ihm nichts gelingen, und kaum hatte er nach mühsamem Ringen etwas niedergeschrieben, so schien es ihm selbst abgeschmackt und hölzern, und er strich es wieder aus. Die Gestalt des Urgroßvaters, an der er sich versuchen wollte, stand nichtsdestoweniger körperlich und klar vor seinen Geistesaugen und erschien ihm stets kerniger und prächtiger, je ohnmächtiger er sich fühlte. Sein ehemaliges Wähnen, daß er den Namen seiner Familie aus dem Dunkel gehoben und leuchtend gemacht hätte, fing er an, als Verblendung und geckenhafte Überhebung anzusehen; denn was hatte er getan? Was war eigentlich? Ekel an sich selbst und seinem Leben ergriff ihn so, daß er einen Revolver aus seinem Schreibtisch hervorholte, um ein Ende damit zu machen, was ihm schon oft als befreiende Möglichkeit vorgeschwebt hatte.

»Ich ließ«, sagte er, »alle Menschen und Dinge an mir vorüberziehen, ob eines mich mehr lockte als die Wonne des Ersterbens und Erlöschens in der Trübe, die mich umgab; aber nicht einmal die Augen der Frau Verena oder das blaue Flämmchen unter ihrem Silberkessel, wenn sie Tee oder Punsch bereitet, vermochten das. Wo du mitspielst, sagte ich mir, wird eine Grimasse aufgeführt, und wer ist so hohl, so dünnblütig, so fratzenselig, daß er Tag für Tag des Lebens seine Affensprünge und Narrenspossen vor einem zahlungsfähigen Publikum herunterleiern möchte? Ach, es dünkte mich so süß, die Bude zuzumachen und anständig zu sterben. Da klopfte es an meine Tür, und weil ich die Hand meines Koches erkannte, des Mannes, der mir das meiste Glück auf Erden bereitet hat, ließ ich ihn selbst in diesem weihevollen Augenblick eintreten. Er bat um Verzeihung wegen der Störung, doch müsse er, sagte er, mich um den Kellerschlüssel ersuchen, da heute Schinken in Burgunder auf dem Speisezettel vorgeschrieben sei. Nicht nur ist dies mein Leibgericht, sondern das Wort Burgunder hat für meine Seele eine Kraft in sich wie jene Zauberworte, welche die Tore verwünschter Schlösser sprengten oder verhexte Tiere in Menschen verwandelten. Die Erde schwillt unter mir auf, wenn ich es höre, und hebt mich, die Luft streckt ihre sanften Arme nach mir aus, mein Blut sprüht und schäumt wie das Meer vor der Geburt der Schönheitsgöttin. Was soll ich weiter sagen? Ich schloß den Revolver wieder in das Schubfach des Schreibtisches ein und aß zu Mittag Schinken in Burgunder.«

»War er mißraten?« fragte Robert teilnehmend. »In diesem Falle zeigte sich freilich die reinste Ironie des Schicksals in Ihrer Tragödie.« – »Er war vorzüglich«, antwortete Feska. »Ich wußte, daß ich diese Gefahr bei meinem Koch nicht lief.«

»Ein neuer Faust«, bemerkte Robert nach einer Pause; »nur bedarf es nicht der Osterglocken, damit die Erde ihn wiederhabe, sondern die Speiseglocke tut es.« Da Feska belustigt lachte, betrachtete Robert sein häßliches Gesicht mit den schief aus dem großen Munde stehenden Zähnen voll Grauen, ohne sich doch davon losmachen zu können.

»Ich wollte, ich hätte diesen Entsetzlichen nie gesehen«, klagte er später gegen Michael; »er flößt mir Furcht ein, und ich muß ihn doch aufsuchen, als wäre er das Verhängnis, an dem ich scheitern sollte.« Jolantha, seine Frau, verriet, daß er jetzt an jedem Mittag, wenn das Essen ihm nicht schmeckte, tadelnd erwäge, ob eine solche Kost wohl den Feska vom Selbstmorde hätte zurückhalten können.

Gabriel und Mario sprachen sich billigend, aber doch nicht ohne Vorbehalt über Robert Hertzen aus. Sie fanden, er hätte etwas von einem Schauspieler, der eine einmal beklatschte Geste beständig wiederhole, nannten seine Frau eine fett gewordene Venus oder die dickleibigste Scharteke, die er aus der Bibliothek mitgenommen hätte, und lachten darüber, daß er öffentlich ihre Schönheit rühmte; überhaupt sei er eben doch schon ein wenig angealtert. »Was wäre für einen solchen Grünschnabel und Guckindiewelt, wie du bist, nicht alt«, sagte Michael; aber im Grunde war ihm die Art, wie Mario von seinem alten Freunde sprach, verletzend. Er hatte große Zuneigung für ihn bewahrt und begriff nicht mehr, wie er sich früher einmal durch allzu gesuchte Bedenklichkeit davon hatte abhalten lassen können, ihn zu besuchen. Seine Begeisterung, seine Wärme, sein Glück und die Art, wie er sich alles dessen einerseits schämte und dann doch auf eine kindliche Art damit prahlte, erheiterten ihn und taten ihm wohl. Robert war stolz, daß er überall etwas zu bewundern und zu lieben fand, und daß er auch die Erlesenheit der Feskaschen Gastmähler mit einem sanften, inniggefühlten Schnalzen der Zunge auszeichnen konnte; denn reizbare Sinne zu haben, nannte er eine Art von Frömmigkeit im Dienste des Lebens, beschuldigte sich aber ebenso häufig der Leckerei und bat in rührender Weise, ihm seine Fleischlichkeit zugute zu halten. Nur zuweilen fand Michael eine Unruhe und eine Ungeduld an ihm, für die er selbst keinen Grund anzugeben wußte, eine Müdigkeit, die sich als aufgeregtes Wesen äußerte; und er kam ihm dann vor wie ein schönes Mädchen nach durchtanzter Nacht mit Schatten unter den Augen und verdrücktem Kleide, in deren gelockerten Haaren abgewelkte Blumen hängen.

Was Michael wahrhaft quälte, war, daß er manchmal, besonders wenn er in angeregter Stimmung war, Erinnerungen aus der gemeinsam verlebten Studienzeit zum besten gab, ohne Arg, wie sehr Michael darunter litt. Einmal, als vom modernen Theater gesprochen wurde, kam er auf die Begegnung in der Unterwelt, wie er das phantastische Spiel nannte, das die Freunde im Park am See ausgeführt hatten, und suchte darzustellen, was damit beabsichtigt war. Da ihm nur einzelne Züge im Gedächtnis geblieben waren, wendete er sich fragend an Michael, der ja wohl der letzte gewesen sei, der gesprochen habe, damit er ihn berichtige und ergänze. Michael, der ihn schon längere Zeit drohend aus glühenden Augen angesehen hatte, sagte: »Hast du vergessen, daß wir alle dort gesprochenen Worte begraben und geschworen haben, sie nie wieder auszuwühlen und ans Licht zu zerren?« Sowie Robert ihn ansah, kam es ihm zu Sinne, daß die Erwähnung ihm Schmerz verursacht hatte, und er brach erschrocken ab, ja er lenkte, da die andern, die seiner Schilderung aufmerksam gefolgt waren, erstaunt aufhorchten, das Gespräch geschickt ab und fesselte sie auf andere Weise. Hernach ging er zu Michael und sagte bittend, indem er seine Hand faßte: »Verzeih mir, daß ich so tölpelhaft war; die Strafe wird nicht ausbleiben, und die Geister der geschändeten Leichen werden mich verfolgen.«

Michael schüttelte den Kopf und sagte herzlich: »Für dich ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein einziges Sonnenreich, in dem du gerne Reisen machst; ich hingegen mag nicht rückwärts sehen.«

»Im Grunde bist du der Beneidenswerte«, sagte Robert seufzend. »Ich fange schon an, von meinem Vermögen zu zehren, weil ich nichts mehr verdienen kann.«

Es kam Michael sonderbar vor, daß Robert ihn, wie es wirklich zuweilen den Anschein hatte, beneiden sollte, und er konnte es sich nur dadurch erklären, daß jener kein Kind hatte wie er. Einmal, als er sich das vorstellte, überkam ihn der Wunsch, Mario bei sich zu haben, so stark, daß er ihn sogleich überall suchte und, da er ihn nicht fand, das Warten, bis er ihn wiedersähe, kaum ertragen zu können glaubte. Dabei kam ihm zum Bewußtsein, wie selten er Mario in der letzten Zeit gesehen hätte; er besaß die süße Eigenschaft nicht mehr, immer dazusein, wenn sein Vater allein war und ihn brauchte. Doch sagte sich Michael, daß er vielleicht selbst durch seinen häufigen Umgang mit Robert Hertzen daran schuld sei, und daß er sich überhaupt daran gewöhnen müsse, ihn, wenn er nun studierte oder sonst einen Beruf ergriffe, fremden Einflüssen zu überlassen und seine zärtliche Nähe zu entbehren.

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