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Als Michael am anderen Morgen aufwachte, war es schon spät, das Zimmer voll Sonne und Marios Bett leer; mitten im Zimmer stand ein geöffneter Koffer, aus dem einige Sachen herausgerissen waren. Er hatte so fest geschlafen, daß er sich auf die Vorfälle des vergangenen Tages erst besinnen mußte; er empfand eine Beklommenheit, wie nach einem bösen Traume, der noch unklar vor den Sinnen schwankt. Auf einmal war es ihm geradeso, als sähe er am Fußende seines Bettes eine große, giftige Spinne mit langen Gliedern, die langsam, langsam über die Decke auf ihn zukröche, um ihm im nächsten Augenblicke, da er sich nicht regen und sie abschütteln könnte, den grausigen Tod anzutun. Mit Anstrengung richtete er sich im Bette auf, sank aber sogleich wieder zurück; er war nicht schwach, sondern leer, ausgeweidet, statt mit lebendigen Organen mit Stroh oder Pappe ausgefüllt. Jetzt raste schnell in Bildern an ihm vorüber, was gestern und an den Tagen vorher geschehen war: er hatte Rose für Mario hingegeben, das schöne Bild seines Glückes zertrümmert, und sein Haus lag voll Schutt und Staub. Lange schien es ihm unmöglich, daß er je die Kraft haben würde, aufzustehen, die Räume zu betreten, wo er froh und hoffend gearbeitet hatte, Gesichter zu sehen und Worte zu wechseln; dann ertrug er plötzlich das Daliegen nicht mehr. Während er aufstand, berührte er unaufhörlich Gegenstände, die ihm Grauen erregten: er hatte als ein Glücklicher damit hantiert und hielt sie jetzt als ein Elender in der toten Hand. Er war schon lange angezogen und konnte sich nicht entschließen, das Schlafzimmer zu verlassen, als Mario leise eintrat, um zu sehen, ob er noch schliefe; er sah fröhlich aus, begriff aber die Stimmung, in der sein Vater war, und das Mitgefühl machte sein warmes Gesicht ernsthaft. Er fragte mit einem Kuß: »Bist du traurig?« und wollte sich zu ihm setzen; aber Michael schüttelte lächelnd den Kopf, stand auf und ging mit ihm hinaus. Obgleich ihm seine Nähe im Augenblick wohlgetan hatte, fühlte er doch das Bedürfnis, allein zu sein, und bat ihn, unbekümmert seinen Beschäftigungen nachzugehen, er müsse sich ausruhen. Je weiter der Tag vorschritt, desto größer wurden sein Schrecken und seine Angst; er war wie einer, der in einem Anfalle von Raserei Frau und Kinder getötet hat und nach langem Toben, langer Umnachtung allmählich zu sich kommt und sich Schritt für Schritt auf das Gräßliche besinnt, was er getan hat. Er hatte geglaubt, das Notwendige zu tun, was sein Innerstes verlangte, was ihm Ruhe schaffen würde, und hatte sich des Allergeliebtesten, des Schönsten, des Lebens selber beraubt. Die, um die er jahrelang mit dem Schicksal gerungen hatte, der jeder Gedanke, jede Sehnsucht, jede Hoffnung galt, war nicht mehr da für ihn, die Einzige, die Stille, mit den Götteraugen. Es würden wie dieser Tag viele Tage hingehen, ohne daß er von ihr wüßte, ohne daß er auf sie hoffen könnte, und nicht nur viele Tage, sondern alle, die er lebte.

Er suchte sich das zwingende Gefühl zu vergegenwärtigen, unter dem er gehandelt hatte; aber obwohl er Mario nicht weniger deshalb liebte, weil er um ihn litt, konnte er doch die gestrige Angst nicht mehr nachempfinden. Es war keine Frage, daß Marios Tränen jetzt schon sanfter fließen würden, wenn er nicht zurückgekommen wäre, ja daß er in einigen Tagen schon herzlicher, kindlicher Freude wieder fähig gewesen wäre. Ihm aber gab diese Liebe zu seinem Kinde, so unaustilgbar und opferwillig sie war, keinen Schwung, keinen Strahl, keine Seligkeit. Sie zehrte an ihm und sog sein Blut aus, während seine Liebe zu Rose ihn stark und froh und glücklich gemacht hatte.

Verena kam, um ihm eine Erfrischung anzubieten; es entging ihr nicht, daß er litt, und sie fragte nicht unfreundlich, ob er etwas wünsche, ob sie irgend etwas für ihn tun könne. Er schüttelte den Kopf und starrte sie an. »Du solltest«, sagte sie, »Mario nicht merken lassen, wie groß das Opfer ist, das du ihm gebracht hast.« Er antwortete nicht, erst als er sah, daß sie stehenblieb und zu warten schien, sagte er: »Es geht über meine Kräfte«, worauf sie ihn verließ. Gegen Abend steigerte sich seine Aufregung ins Unerträgliche, so daß er hinaus ans Meer ging und Mario, der ihn begleiten wollte, abwies. Es kam ihm jetzt zu Sinn, wie nah ihm kürzlich, vor nur zwei Tagen, die Geliebte gewesen war, wie sie ihr blasses, weinendes Gesicht zu ihm geneigt und wie er die Tränen, die darüberflossen, nicht getrocknet hatte. Es war eine milde, duftende Nacht, durch die er hinging, ohne wahrzunehmen, was ihn umgab; nur als der Mond hinter den Bergen hervorkam und ein fließender Streifen Licht über das Meer glitt, fiel ihm ein, wie Rose einst gebetet hatte: »Schütze mich vor Tränen«, und er meinte, ihr junges, weiches, von Mut und Hoffnung leuchtendes Gesicht vor sich zu sehen. Erschöpft und ungetröstet kam er nach Hause; Mario hatte auf ihn gewartet und sah zu, wie er sich hinlegte, ohne ihn durch ein Wort zu stören.

Die schlimmsten Stunden kamen am Morgen, wenn das Leben aus dem großen, unbekannten Meere, in das es nachts versunken war, wieder auftauchte, sich auf seinen alten Platz setzte und ihn ansah. Er hatte einmal gehört, daß Lebensüberdrüssige sich gewöhnlich nicht am Tage oder in der Dunkelheit des Abends töteten, sondern wenn der Morgen graute und sie aufwachten, den Nagel suchten, an dem sie sich aufhängen könnten, und daran mußte er dann denken. Nach drei Tagen fiel ihm plötzlich ein, daß er alles vergessen, alles hinwerfen und in weniger als vierundzwanzig Stunden bei Rose sein könnte. Das war, wie wenn der Himmel sich geöffnet hätte und Licht ausgösse, wie wenn nach schneidendem Winter der Frühling, die Hände voll Blumen, auf ihn zugesprungen käme und ihn anlachte. Er würde ihre Knie umschlingen und ihr sagen können, wie er sie liebte, oder sie schweigend ansehen, denn ihre himmlischen Augen zürnten nicht, sondern hatten alles verstanden und ausgeglichen, ehe er es aussprach. Aber diese Vorstellung kam wie ein Blitz und verschwand. Was sollte er ihr jetzt noch sagen, was sollte sie denn jetzt noch glauben und er sich selber?

Nachdem er sich das einmal klar gesagt hatte, kam der Augenblick, wo er einsah, daß er, wenn er überhaupt weiterleben wollte, es nicht so tun dürfe; denn warum hatte er sich dann überhaupt für Mario erhalten? Das liebe, schüchterne Gesicht, das nicht mehr zu lachen wagte, wenn er in der Nähe war, hätte vielleicht froher ausgesehen, wenn er an jenem Unheilstage nicht zurückgekehrt wäre. Er besann sich auf irgendeine große Arbeit, die ihn sehr in Anspruch nehmen würde, aber alles, was mit seiner früheren Tätigkeit zusammenhing, widerte ihn an, regte ihn so auf, daß seine Aufmerksamkeit nicht daran festzuhalten vermochte. Da sich ein Ersatz für ihn an der Anstalt noch nicht gefunden hatte, würde man seine Erklärung, bleiben zu wollen, vermutlich mit Freude aufgenommen haben; ihm indessen schien es, als würde er sich unter veränderten Bedingungen eher an das Leben gewöhnen können.

Er stellte deshalb Verena, die ihn ruhig hatte gewähren lassen, vor, daß er, was er ihr an jenem Tage versprochen hätte, halten würde; daß er hoffte, das Beschlossene allmählich besser durchführen zu können, als er es bis jetzt getan hätte, daß er aber zunächst einer großen, neuen, anregenden Tätigkeit bedürfe; daß er deshalb die ihm angebotene Stelle in Südamerika auch jetzt noch zu übernehmen gedächte und ihr freistellte, ob sie mit Mario ihn begleiten oder ihm Mario allein mitgeben wollte.

»Daß du das tun willst«, sagte Verena, »halte ich für gut und richtig, und ich glaube dir, daß du nur dorthin und nicht anderswohin gehen willst, was gegen dein Versprechen wäre. Aber weder möchte ich dich sofort mit Mario begleiten, denn es fragt sich, ob es überhaupt angezeigt ist, eine Familie mit dorthin zu nehmen, was bis jetzt nur eine dürftige Ansiedlung zu sein scheint, noch möchte ich aus demselben Grunde Mario mit dir gehen lassen. Liegt dir sehr viel daran, will ich nicht dagegen sein, aber ich gebe dir zu bedenken, ob du sicher bist, erstens daß das dortige Klima günstig ist, und zweitens daß wenigstens das Notwendigste für seine Erziehung dort getan werden könnte.«

Michael gab zu, daß die Kultur dort noch in den Anfängen sei; doch sei es unsicher, meinte er, wie Mario es aufnehmen würde, wenn er nun trotz alledem so weit ohne ihn fortreisen wollte. Darüber, sagte Verena, würde er leicht zu beruhigen sein, wenn ihm sein Vater nur nicht ins Ungewisse entführt würde; er ließe sich im ganzen leicht zerstreuen und sei für neue und angenehme Eindrücke so empfänglich, daß er leicht auch etwas Liebes darüber verschmerze; auch könne er ja mit Bestimmtheit versprechen, entweder ihn nach Verlauf eines Jahres zu holen oder zu besuchen, je nachdem wie er die Verhältnisse dort gefunden haben würde.

Sie saßen einander gegenüber und sprachen ruhig und freundlich zusammen wie gute Eheleute. Verenas schöne Augen hatten nicht das Feuer der früheren Zeit, sondern blickten nachlässig höflich wie auf einen häufigen Besucher auf ihn; aber anders hätte er es ja nicht wünschen mögen, und er war ihr dankbar, daß sie ihm in dem, was er als das einzige Mittel, ihn aus seiner Not zu reißen, ansah, nicht entgegen war. Er sagte sanft: »Ich danke dir, daß du mir hilfst und nicht daran denkst, wieviel Leid ich über dich gebracht habe, statt Freude, wie ich versprochen hatte.« Der kühle Ausdruck in ihrem Gesichte veränderte sich nicht, indem sie sagte: »Wäre ich noch Protestantin, würde ich vielleicht rachsüchtig und schadenfroh sein, so aber versuche ich zu handeln, wie es den Geboten meiner Religion entspricht. Ich muß dir nun aber etwas sagen«, fügte sie langsam hinzu, »was alle deine Wünsche, einerlei, ob ich sie unterstütze oder nicht, vielleicht noch hintertreiben könnte.«

Michael erschrak, nicht, weil er es für möglich gehalten hätte, es könne irgend etwas ihn hindern, sich vor dem unvermeidlichen Untergange zu retten, aber weil er sogleich dachte, es handelte sich um etwas, was aus seinem Vaterhause käme, etwas Schweres, Peinliches, wovor ihm graute. Die Befürchtung, daß die geschäftlichen Angelegenheiten schlechter gingen, als Raphael eingestehen wollte, hatten sich ihm schon bei seinem letzten Besuche zu Hause aufgedrängt, wo seines Bruders mißvergnügtes Wesen, sein bleiches, aufgedunsenes Gesicht ihm aufgefallen waren, und seitdem hatte die Malve manche Bemerkung in ihren Briefen einfließen lassen, die auf einen üblen Stand des Geschäftes deuteten, was schließlich Mario bei seiner Ankunft im Beginn des Winters ausdrücklich bestätigt hatte. Er hatte sich nicht darum bekümmert, teils weil Raphael sich jede Einmischung seinerseits mit Schärfe verbeten hatte, indem er sagte, daß er, Michael, einst die Last doch wohl deswegen auf ihn gewälzt hätte, weil er glaubte, er könne sie besser tragen, und bei diesem Glauben möge er nur bleiben, teils aber auch weil es ihm widerstrebte, mit dieser Vergangenheit in Berührung zu kommen. Ferner war ihm nicht viel daran gelegen, ob im Geschäft etwas mehr oder weniger verdient wurde, und seit er selbst mit Sicherheit auf größere Einnahmen rechnen konnte, hätte er allenfalls gelassen auf das Vermögen, das ihm noch zukam, verzichtet.

Indessen schien es doch, nach dem, was Verena erzählte, bei weitem schlimmer zu stehen, als er für möglich gehalten hatte. Schon bei Lebzeiten des Alten, besonders seit er sich mehr zurückgezogen hatte, hatten verschiedene bedeutende Häuser keine Aufträge mehr gegeben, offenbar weil Raphael nicht dasselbe Vertrauen genoß wie sein Vater. Sofort nach dessen Tode aber war ein Konkurrenzgeschäft in der Stadt eröffnet worden, das einen großen Teil der Kundschaft an sich zog, und seitdem war das alte in erschreckender Weise zurückgegangen. Schlimmer noch als dies war, daß Raphael, ungeduldig darüber und des Geschäftes überdrüssig, angefangen hatte, in Kaffee, Petroleum und Öl zu spekulieren und dabei fast immer, im Grunde ohne Übung und Umsicht in solchen Dingen, unglücklich war. Während er seiner Mutter und seiner Frau jeden Einblick in die geschäftlichen Angelegenheiten verwehrte, hatte er sich ihr zuweilen anvertraut, so daß sie wenigstens so viel wußte, es stehe schlecht, und ungefähr, wie es dahin gekommen war. Sie hätte den Eindruck, sagte Verena, daß er ihr nicht alles gesagt und ihr die Lage noch günstiger habe darstellen wollen, als sie wirklich sei; sie hätte Mario hauptsächlich deshalb allein zu ihm reisen lassen, damit Raphael nicht ohne Rat und gewissermaßen nicht ohne Aufsicht bleibe, und sie hätte sich den ganzen Winter mit dem Gedanken getragen, Michael zu schreiben und ihn zu warnen. Als er sie gebeten hätte, so schnell wie möglich zu kommen, hätte sie es Marios wegen getan, nebenbei aber auch gehofft, ihn aufmerksam machen zu können, was für Gefahren seiner Familie drohten. Sie hätte aber sogleich gesehen, daß er, seine eigenen Angelegenheiten und Irrungen vor Augen, blind gegen alles andere gewesen sei und über den Zusammenbruch seines Hauses weg auf sein Ziel losgegangen sein würde. Da ihn nun aber Gott zur Besinnung gebracht habe, glaubte sie ihm alles sagen zu müssen; möglich sei es ja, daß durch sein Eingreifen noch tatsächliches Unglück verhütet und sogar eine Wendung zum Bessern herbeigeführt werden könnte, dann könnte er um so sorgloser und freier seine Reise antreten.

Michael hatte Verena mit wachsender Beängstigung zugehört; er glaubte seine Mutter, Raphael und seine kichernde blonde Frau, seinen jüngsten Bruder zu sehen, wie sie hilflos und töricht im Dunkel tappten, und Verena allein, mit scharfen, klugen Augen sehend, zwischen ihnen. Es schien ihm auf einmal glaublich, daß sie einen ungeheuren Schaden in ihrer Gedankenlosigkeit und sinnlosen Vergnügungssucht angestiftet hatten, und er begriff sich selbst nicht, daß er niemals daran gedacht hatte, darauf zu achten und nachzuforschen. Aber dann wieder sagte er sich, daß Raphael nicht mehr der Schmetterling aus der Jugendzeit war; er hatte jahrelang mit und unter seinem Vater gearbeitet und konnte beurteilen, was auf dem Spiele stand, auch hätte er Michaels Teilnahme wohl kaum zurückgewiesen, wenn er sich der Hilfe dringend bedürftig gefühlt hätte. Es konnte ganz wohl sein, daß Verena die Dinge, die sie nur halb verstehen und beurteilen konnte, zu bedenklich ansah; jedenfalls wollte er nicht sofort nach Hause reisen, sondern erst einen Brief seines Bruders abwarten. Seiner eindringlichen Aufforderung, ihn in seine Lage einzuweihen, würde er, wenn er wirklich in Not wäre, sich nicht entziehen. Verena zuckte die Achseln und sagte: »Dir wird er keine Rechenschaft ablegen, bis das Wasser über ihm zusammenschlägt«, machte aber keine weiteren Einwürfe.

Noch bevor eine Antwort von Raphael eintraf, kam ein Brief, der Michael meldete, die Anstalt in Südamerika könne erst ein halbes Jahr später, als geplant war, eröffnet werden, und die Angestellten und Arbeiter, die ihm untergeben sein sollten, würden demzufolge erst im Herbst, anstatt um Ostern abreisen. Es war nun nichts mehr, was ihn füglich zurückgehalten hätte, sofort nach Hause zu reisen, und es waren schon alle Zurüstungen getroffen, als statt einer Antwort Raphaels ein Brief der Malve kam, worin sie von Raphaels verzweifelter Laune schrieb, die ihren Grund in geschäftlichen Schwierigkeiten haben müsse, über die er sich nicht auslassen wollte, und worin sie durchblicken ließ, daß Michaels Gegenwart ihr sehr zur Beruhigung dienen würde. Noch am selben Tage verließ er mit Verena und Mario zusammen das Meer.

*

Sie kamen spät am Nachmittage an, und es machte sich sofort geltend, daß Michaels Gegenwart die Malve ebenso ängstigte wie beruhigte; unsicher in ihren Ausdrücken, wie sie sonst nicht zu sein pflegte, suchte sie ihn auf große Widerwärtigkeiten vorzubereiten, die sie selbst nur ahnte, und zugleich Raphael, für den sie dunkel fürchtete, zu entschuldigen. »Wer ihn vor fünfzehn Jahren gesehen hat, wie hübsch er damals war und wie er von Witz und Frohsinn übersprudelte, und sähe ihn jetzt wieder, der würde zweifeln, ob er denselben Menschen vor sich hätte«, sagte sie klagend und schob die Veränderungen zum größten Teile auf den Druck, den die schwarzblütige Schwermut des Vaters, mit dem er mehr als alle in steter Berührung gewesen sei, auf ihn ausgeübt habe. Als Raphael kurz nach dem Abendessen in das Wohnzimmer der Malve kam, wie er allabendlich zu tun pflegte, mußte Michael innerlich das, was seine Mutter gesagt hatte, bestätigen, nur daß er weniger gerührt als abgestoßen durch seines Bruders Anblick wurde. Er war dick und schwammig geworden, seine Farbe wechselte zwischen fahlem Grau und erhitzter Röte, und seine Augen konnten ruhigem Anblicken nicht lange standhalten. Er begrüßte Michael mit einem ironischen Lächeln, das etwa sagen sollte: Sind wir armen Teufel für dich Übermenschen auch noch auf der Erde? und suchte hinter halb ironischer Gleichgültigkeit die Unruhe zu verbergen, die seine Gegenwart ihm augenscheinlich verursachte.

Als er sich nach einer Viertelstunde wieder zum Gehen anschickte, stand Michael auf und sagte, er möchte ihn begleiten, um seine Frau zu begrüßen, die doch wohl noch nicht zu Bette gegangen sein würde, worauf Raphael mit nachlässig hingeworfenen Worten erwiderte, wenn er wolle, könne er es versuchen. Auf der Straße sagte Michael: »Du wirst selbst wissen, warum ich so spät noch zu dir komme: ich muß wissen, was im Geschäfte vorgefallen ist, denn daß es sehr bedenklich steht, wirst du mir nicht leugnen wollen.« – »Deine Teilnahme kommt zu spät«, antwortete Raphael, »es ist nicht mehr zu helfen, es ist aus. Wir liegen in den letzten Atemzügen, und der Herr Doktor kommt gerade zur rechten Zeit, um das Ableben festzustellen.« Es lag in der Art, wie er das sagte, keine verhaltene Verzweiflung, nichts Hoffnungsloses und Müdes, sondern eine schnöde Gleichgültigkeit, die Michael empörte. »Es handelt sich nicht nur um dein und deiner Frau Leben«, sagte er, »sondern um unserer Mutter, davon zu schweigen, daß auch mein Vermögen in deinen Händen lag. Meinen Rat und meine Hilfe habe ich dir früher angeboten, aber du wiesest mich wie einen, der sich unberechtigt und ungebeten einmischt, zurück. Aber darüber wollen wir jetzt nicht rechten; wenn es doch aus ist, wie du sagst, so kannst du mir die Lage so gut heute mitteilen, wie daß ich sie übermorgen aus den Blättern erfahre. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß sich das Schlimmste noch vermeiden ließe.«

Sie waren bei Raphaels Haus angelangt und begaben sich sogleich in sein Arbeitszimmer, das in einer verschwenderischen Art und Weise, die künstlerisch sein sollte, eingerichtet war. Raphael warf sich in einen Sessel und fing an, zu erzählen und auseinanderzusetzen in trockenem Tone, als ob es ihn selbst nichts anginge; die Summe, die nötig war, um seine Schulden zu decken, war allerdings bei weitem größer, als Michael sich vorgestellt hatte. Trotzdem schien es ihm unglaubhaft, es sollte, bei dem Ansehen, das die Firma in kaufmännischen Kreisen überall gehabt hatte, nicht möglich sein, sie aufzutreiben; allein Raphael behauptete, alles umsonst versucht zu haben. Das Geschäft arbeite fast gar nicht mehr, sagte er, und hätte infolgedessen fast allen Kredit verloren. Aber selbst wenn die Summe aufzutreiben wäre, würde sie nur die Schuldenlast vergrößern und den Todeskampf verlängern. Er hatte inzwischen kalten Punsch bringen lassen und trank nach jedem Satz, den er sprach, einen Schluck, worauf er lebhaft wurde und seine glasigen Augen zu glitzern begannen. Jetzt ließ er sich auch darüber aus, wie alles dies seiner Meinung nach gekommen war, wie er vergeblich versucht hätte, sich in das kaufmännische Wesen zu finden, wie er unter der Geldsucht, der er überall begegnet wäre, gelitten hätte und selbst daran zugrunde gehe, indessen Michael die frechen Malereien aus Raphaels Jugend ansah, die an den Wänden hingen, ohne sie zu sehen und ohne auf ihn zu hören. Während er nachsann, fiel ihm ein, daß der mächtigste Kaufmann in der Stadt, Peter Unkenrode, mit seinem Vater befreundet gewesen war, daß er ohne Zweifel imstande wäre, die nötige Summe herzugeben, und es, wie Michael ihn beurteilte, auch tun würde. Raphael lachte höhnisch auf, als Michael den Namen nannte; nie würde er sich vor dem hochmütigen und beschränkten Geldmenschen demütigen, selbst dann nicht, wenn er nicht im voraus wüßte, daß es umsonst sein würde. Er starrte eine Weile vor sich hin und sagte dann mit einem geistesabwesenden Lächeln:

Wie groß ist unsres Kalbs Vermögen!
Ist der ein Mensch, den das nicht rührt?

Michael stand auf und sah nach der Uhr; es war eben zehn; in einer so dringenden Lage glaubte er den Mann, der sich sicherlich noch nicht zur Ruhe begeben haben würde, zu dieser Stunde noch aufsuchen zu können. Auf Raphaels Vorstellungen, er möchte sich nicht nutzlos dem Protzen preisgeben und schmählichen Unannehmlichkeiten aussetzen, achtete er nicht und ersuchte ihn nur kurz, das Haus unverschlossen zu lassen und ihn zu erwarten, da er ihn von dem Erfolg seiner Anfrage unterrichten wolle.

Das schloßartige Gebäude, das Peter Unkenrode bewohnte, war noch hell erleuchtet, so daß Michael kein Bedenken hatte, einzutreten. Ein Diener führte ihn auf die Frage, ob er den Herrn zu so später Stunde noch stören könne, in ein mit ernster Pracht eingerichtetes Studierzimmer, wo er etwa eine Viertelstunde warten mußte, da Peter Unkenrode sich von der Gesellschaft, die zufällig bei ihm versammelt war, nicht sogleich losmachen konnte. Er war im Frack und weißer Binde und machte einen tadellosen, zugleich feierlichen und eleganten Eindruck; es schien unmöglich, daß der Mann mit der frischen Haut und den rötlichen, wenn auch spärlichen Haaren nicht viel mehr bis zum siebzigsten Jahre haben sollte. Nachdem er Michaels Entschuldigung wegen seines späten Eindringens bis zum Ende angehört hatte, sagte er mit gemessener Höflichkeit, daß er sich jederzeit freue, den Sohn seines armen Freundes bei sich zu sehen, um so mehr, als er das Vergnügen so selten hätte. Es lag in seiner Haltung Michael gegenüber eine gelinde Mißbilligung, als hätte er einen verlorenen Sohn vor sich, von dem sich aber die Rückkehr zum Guten noch erwarten ließe. Unter anderen Umständen würde seine richterliche Miene Michael vielleicht belustigt haben; aber sein Herz war schwer, und er empfand nichts als das grausame Schicksal, das sich langsam auf ihn heruntersenkte. Unkenrode ließ Michael vortragen, was ihn hergeführt hatte, ohne ihn zu unterbrechen oder durch eine Miene seine Gesinnung zu verraten, und sagte dann: »Als der Diener Sie meldete, wußte ich vom Anfang bis zum Ende, was Sie mir sagen würden; denn die verzweifelte Lage Ihres Bruders ist mir kein Geheimnis. Ihrem Vater hätte ich mehr als das, was Sie fordern, jeden Augenblick gegeben – freilich wäre er nie in eine solche Lage gekommen –, für Ihren Bruder dagegen ist meine Tasche leer. Ich würde als Kaufmann wie als Mensch einen Fehler begehen, wenn ich ihm mit Geld beispränge; denn es wäre in ein Sieb geschüttet, und weder ihm noch seiner Familie wäre eine Wohltat im rechten Sinne damit erwiesen. Sollten Sie mein Schuldner sein wollen, so würde ich es mir überlegen.«

Michael hatte vorausgefühlt, daß dies kommen würde, dennoch konnte er die Antwort nicht sofort über die Lippen bringen. Peter Unkenrode wartete ruhig, bis Michael ihn ansah und sagte: »Wenn ich Inhaber des Geschäftes wäre, würden Sie es sich überlegen. Es versteht sich von selbst, daß, wenn Sie mich zu Ihrem Schuldner machen wollen, ich das Geschäft wieder übernehme und nicht zurücktrete, bis die Schuld getilgt ist. Ich bitte Sie, zu bestimmen, bis wann Sie sich erklären wollen.«

Der Kaufmann betrachtete Michaels bleiches, todernstes Gesicht nicht ohne väterliches Wohlwollen, indem er sagte: »Ich habe keine Bürgschaft als Ihre Fähigkeit und Ihren Charakter. Der Stand Ihres Geschäftes, den ich besser kenne als Sie, ist so, daß ich einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Vermögens gleichsam einem morschen Schiffe anvertraue, dem einzig ein tüchtiger Steuermann Wert verleihen kann. Bedenken Sie nun, daß Ihre Vergangenheit einen Zweifel in Ihre Beharrlichkeit erlaubt.«

Michael sah ihm groß und fest in die Augen und sagte: »Ich habe, nachdem ich als Kind auf den Wunsch meines Vaters Kaufmann geworden war, als Mann meinen Beruf gewechselt und ein wissenschaftliches Studium ergriffen; aber was ich tat, habe ich mit Ernst und Eifer getan, wie es der Erfolg meiner jeweiligen Tätigkeit beweist.«

Der alte Mann nickte und sagte: »Wenn dem nicht so wäre, hätte ich mich nicht mit Ihnen eingelassen, und da es so ist, will ich mich nun auch nicht weiter bedenken; denn ich weiß, daß Ihre Umstände dringend sind.« Sie verabredeten eine ausführliche Besprechung für den folgenden Tag, da Peter Unkenrode seine Gesellschaft nicht länger allein lassen konnte, und Michael ging wieder zu seinem Bruder zurück, den er fest schlafend in seinem Sessel fand. Er weckte ihn und teilte ihm das Ergebnis seines Ganges mit, doch kostete es Mühe, sich dem Schlaftrunkenen verständlich zu machen. Unter den schweren Augenlidern hervor sah er Michael mit ödem Blick an und sagte: »Schließlich trifft es sich gut so, da euch wenigstens damit geholfen ist; mir ist, wie ich dir schon sagte, mit solchen Kleinigkeiten nicht mehr zu helfen.« Es war Michael schon vorher einmal die Vermutung aufgestiegen, es könnten noch andere Dinge vorliegen, die Raphael verschwiege, die sich nicht gutmachen und mit Geld zudecken ließen, aber er hatte sie nicht aufkommen lassen wollen.

»Was hast du getan?« stieß er hervor und sah seinem Bruder schreckenvoll in die geröteten Augen, die jetzt weit offen waren. So starrten sie sich eine Minute lang lautlos an, bis Raphael von ihm wegblickte und achselzuckend sagte: »Ich habe nichts anderes getan, als was manch einer tut, der dabei in Ehren und Freuden bleibt, weil das Glück ihn begünstigt. Ich habe keines mehr gehabt, seit ich meine Hände in den verwünschten Handel gesteckt habe, und deshalb heiße ich nun ein Schändlicher und ein Missetäter.«

Was er nun erzählte, war in Kürze, daß er in der Not, noch einmal sein Glück versuchend, mit Papieren spekuliert hatte, die er im Auftrage eines überseeischen Kunden gekauft und bei sich hinterlegt hatte. Vor einiger Zeit nun waren diese Papiere unerwarteterweise bedeutend gestiegen, und der Auftraggeber hatte ihn telegrafisch ersucht, die seinigen zu verkaufen, welche Raphael aber nicht mehr hatte und, wie der Stand nun war, nicht zurückkaufen oder ersetzen konnte. Die unredliche Handlung Raphaels mußte dem Betreffenden jetzt schon bekanntgeworden sein, und wenn er nicht abwarten wollte, daß es zu einer Anklage käme, blieb ihm nichts übrig, als seinem Leben ein Ende zu machen; denn wenn jener sich auch hätte abfinden lassen, so wäre sein Name in dem Kreise, wo er zu verkehren gewohnt war, doch anrüchig gewesen, und um sich in einem anderen Weltteile unter Kämpfen und Entbehrungen ein neues Dasein zu gründen, dazu fehlte es ihm an Kraft und Lebenslust und, wie er sich selbst ausdrückte, »an den prahlerischen Einbildungen, von denen die Köpfe derer voll sind, die sich und das Leben ernst nehmen«.

Michael empfand, nachdem sein Bruder die Geschichte erzählt hatte, kein Bedauern, nicht das leiseste Mitgefühl mit dem leichtfertigen Menschen, der aus nichtswürdiger Eitelkeit und Gewissenlosigkeit sich und die Seinigen ins Elend stürzte. »Und warum lebst du noch?« fragte er hart; »kannst du dich zu der einzigen unter der langen Reihe deiner gewissenlosen Handlungen nicht aufschwingen, die Mut erfordert?«

Raphael warf einen hastigen und scheuen Blick auf seinen Bruder und sagte nach kurzem Stillschweigen: »Es ist fast ein Zufall, daß ich noch lebe. Ich gehe seit einigen Tagen jeden Abend zu Mama, um sie noch einmal zu sehen und im stillen von ihr Abschied zu nehmen, und wenn ich fort bin, ist es mir, als könnte ich es ihr heute noch nicht antun und müßte vorher noch einmal bei ihr gewesen sein.« Michael wendete sich ab und starrte gegen die Wand. Hättest du eher Mitleid mit ihr gehabt, dachte er; vermochte aber in diesem Augenblicke nicht, es dem elenden Menschen zu sagen. Sie saßen einander schweigend gegenüber, als eine Uhr auf dem Kamin Mitternacht schlug, worauf Michael aufstand und sagte: »Ich würde den Tod dem Leben, das ich jetzt vor mir habe, vorziehen. Tue das, was dir zukommt und was nicht so furchtbar ist, wenn du es recht ins Auge faßt, schnell und so, daß die Mama soviel wie möglich geschont wird. Wenn mir morgen die Nachricht von einem Unglück, das dir zugestoßen sei, gebracht wird, will ich es ihr sagen und versuchen, daß sie nie erfährt, was die eigentliche Ursache gewesen ist.« Er wartete an der Tür stehend einen Augenblick auf Antwort, doch da Raphael unbeweglich in seinem Sessel saß und nicht aufsah, verließ er langsam das Zimmer und das Haus.

Verena schlief noch nicht und fragte unruhig, wie die Sachen ständen. Michael sagte kurz, er glaube dem Schlimmsten noch vorbeugen zu können, und bat sie, jetzt keine Fragen mehr zu stellen; er war aufs äußerste gereizt, und es war ihm, als ob er an den Worten, die das Schreckliche, was hinter ihm lag, wiederholten, ersticken müsse. Er wäre am liebsten in den Garten gegangen, unterließ es aber aus Rücksicht auf Verena, legte sich nieder und fiel fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf, denn während der langen Reise hatte er kein Auge zugetan.

Am folgenden Tage wagte er nicht, das Haus zu verlassen, da er stündlich darauf gefaßt sein mußte, daß die Unglücksbotschaft gebracht würde. Um allein zu sein, bat er Verena, zu seiner Mutter zu gehen, und stellte sich ans Fenster, damit er alle sähe, die ins Haus kämen. Das Mittagessen, zu dem er sich einfinden mußte, wie sehr er auch den Anblick seiner Mutter fürchtete, machte ihm Marios Anwesenheit erträglich; auch pflegte die Malve, wenn sie etwas Trauriges und Schreckliches ahnte, eine stolze Ruhe und Heiterkeit an den Tag zu legen, etwa wie eine Fürstin, die den Hermelin anlegt, um den Feind durch den Anblick ihrer Hoheit zu entwaffnen. Allmählich faßte sich Michael und sprach sogar beiläufig von seiner Unterredung mit Peter Unkenrode und dessen Wunsch und Ratschlag, er selbst möchte wieder in das Geschäft eintreten, denn das zu verheimlichen war weder möglich noch erforderlich. Sowohl für die Malve wie für Verena war diese Nachricht beglückend, doch kam es ihnen unglaublich vor, daß Michael darauf eingehen würde. Die Aussicht, daß Raphael dadurch erleichtert, vielleicht ganz befreit würde, wie sie annahm, stimmte seine Mutter froher, als sie seit langer Zeit gewesen war; sie fragte Michael, was er dazu gemeint hätte, und war ungeduldig, ihn zu sehen und mit ihm darüber zu sprechen.

»Liebe Mama«, sagte Michael, den die Freude ängstigte, »denke doch daran, daß ein Vorwurf für ihn darin liegt, wenn man ihm das Geld nicht anvertrauen will, aber mir.« Indessen ließ sie sich dadurch nicht beirren. »Ich weiß wohl, daß er nie ein guter Kaufmann war«, sagte sie, »und wenn er überhaupt kein tüchtiger Arbeiter ist, so hat er das von seiner Mutter, und ihr müßt sie dafür verantwortlich machen.« Sie lächelte nun in ihrer Zufriedenheit wieder, behaglich und kindlich, was Michael um so rührender erschien bei den feinen Falten, die sich jetzt deutlich sichtbar über ihre Stirn und um ihren lieblichen Mund zogen. Da sie von selbst den Wunsch äußerte, spazierenzufahren, ermunterte er sie dazu und forderte Verena auf, sie mit Mario zu begleiten; er selbst könne wegen geschäftlicher Verhandlungen, die er vorhätte, nicht mitkommen.

Als er allein im Hause war, begab er sich in seines Vaters Arbeitszimmer, wo alles unverändert geblieben war, denn die einfache, etwas veraltete Einrichtung hätte weder Raphaels noch Gabriels Geschmack zugesagt, und so hatte man alles bis auf weiteres stehenlassen. Er betrachtete die Bücher, die auf hohen Mahagonigestellen an den Wänden standen und auf die er sich besann, indem er die Titel las; es waren vielbändige, aufregende Romane darunter, die jetzt niemand mehr kannte und die er als Knabe mit brennendem Kopf gelesen hatte. Auf einem kleinen Bänkchen hatte er stundenlang in dem hohen, kühlen Raume gesessen, der für ihn der liebste und herrlichste auf Erden war, und wenn sein Vater ihn über den Büchern fand, die für sein Alter nicht paßten, hatte er gelacht und sich von ihm erzählen lassen, wie schrecklich schön und spannend es war. Er legte die Hand an einen der gediegen ausgestatteten Bände und wollte ihn herausnehmen, aber nach einem Augenblick des Zögerns schob er ihn langsam wieder zurück. An einer Wand hingen viele Bilder von seiner Mutter in den verschiedensten Lebensaltern und von ihm und Raphael, als sie Kinder waren; auf einem standen sie Hand in Hand in ganz übereinstimmenden Sonntagskleidern, artig und freundlich, er treuherzig, Raphael mit seinem lieben Schelmenlächeln. Während er sie ansah, horchte er nebenbei auf jeden Schritt im Vorgarten und auf der Straße. Als er Gabriel ins Haus kommen sah, den er noch nicht begrüßt hatte, trug er den Dienstboten auf, ihn jetzt nicht zu ihm hereinzulassen, da er beschäftigt sei. Nachdem er ihn in die oben gelegenen Zimmer hatte hinaufgehen hören, setzte er sich auf den drehbaren Stuhl, der vor seines Vaters breitem Arbeitstisch stand und der ihm vor vielen Jahren als eine Art Schaukel gedient hatte. Indem er den Federhalter mit der glänzenden Goldfeder, womit sein Vater geschrieben hatte, in die Hand nahm, fiel ihm ein, daß nun alle diese Sachen ihm von Rechts wegen zufielen, da er seines Vaters Nachfolger geworden war, und alles Fürchterliche, was diese Tatsache für ihn in sich schloß, stellte sich auf einmal riesengroß vor ihn hin. Er ging rasch ein paar Schritte im Zimmer auf und ab und blieb stehen und faßte mit beiden Händen nach dem Kopf; vor kurzem gab es noch glänzende Fittiche, mit denen er über die Wolken stieg, und er hätte keinen Seligen um sein Los beneidet; wie war es möglich, daß er nun auf einmal so gottverlassen und bettelarm war? Die Wände des hohen Zimmers schienen auf ihn eindringen zu wollen und ihm die Luft zum Atmen zu rauben; er ging rasch auf die Tür zu, doch öffnete er sie nicht, sondern blieb davor stehen, den Kopf und die Arme dagegen gelehnt.

Spät am Nachmittage rollte der Wagen wieder vor, und er hörte an Marios Lachen, daß sie heiter waren; er ging ihnen entgegen und begleitete seine Mutter ins Wohnzimmer, wo er nun auch Gabriel begrüßte, der noch größer und auch breiter geworden war, aber doch noch ein unreifes Aussehen hatte. Während des Abendessens wurden Schritte auf der Treppe hörbar, und es läutete an der Vordertür, worauf Michael eilig aufsprang, um zu verhindern, daß die Nachricht, die er erwartete, sogleich an seine Mutter käme; doch in der Tür stieß er mit Raphael selbst zusammen. Er warf einen strengen Blick auf ihn, vor dem dieser schnell wegsah, was Verena nicht entging; während Raphael sich sofort an die Seite seiner Mutter setzte, ging sie leise zu Michael hinüber, legte die Hand auf seinen Arm und flüsterte: »Was ist geschehen?« Michael sah indessen unverwandt auf seinen Bruder, um den seine Mutter den Arm gelegt hatte; er hörte, wie sie sagte: »Nun werden hellere Tage für dich kommen, mein Liebling«, und sah, wie Raphael, der bleich und erschöpft aussah, den Kopf an ihre Schulter legte und sie anlächelte. Erst als Verena ihn dringender am Arme zog, bemerkte er sie und folgte ihr durch die offene Tür in das Nebenzimmer, wo der Flügel stand. »Warum hast du ihn so angesehen?« flüsterte sie erschrocken. »Was hat er begangen? Sage mir alles, damit ich nicht mehr das unbestimmte Grauen fühlen muß wie eben.«

»Ich dachte, er wäre nicht mehr am Leben«, sagte Michael leise, »aber du siehst, ich habe mich getäuscht, und er lebt noch; das ist für den Augenblick genug.« Er setzte sich dabei an den Flügel und spielte ein paar Akkorde, damit drinnen nicht gehört würde, daß sie sprächen, und winkte Verena bittend, wieder hineinzugehen. Nach einigen Minuten brach er ab und sagte von der Schwelle der Türe aus gute Nacht, indem er vorgab, er wolle sich früh schlafen legen, da es die letzte Nacht so spät geworden sei; seine Mutter streichelte Raphaels Hand, die in ihrem Schoße lag, und nickte ihm, flüchtig aufsehend, freundlich zu. Bald darauf hörte er Raphael fortgehen und Verena kommen, stellte sich aber schlafend, um ihr nicht Rede stehen zu müssen.

Am andern Morgen wachte er um sechs Uhr auf; im Zimmer war es noch nicht hell, und draußen herrschte ein trübes, graues Licht, in dem sich die kahlen Äste der Pappeln schaudernd bewegten. Der gestrige Abend fiel ihm ein und zugleich, wie er vor kurzem daran gedacht hatte, daß Selbstmörder gewöhnlich nicht im Dunkel der Nacht, sondern am grauenden Morgen, wenn die Marter des Lebens von neuem anhebt, den Nagel suchen, an den sie sich aufhängen, oder die Kugel, mit der sie sich niederschießen wollen. Ein häßliches Gefühl überlief ihn, als er sich im Bette aufrichtete. Er beschloß, Verena vorzubereiten, damit sie ihm seiner Mutter gegenüber zur Seite stehen könnte, und da sie ihn hatte aufstehen hören, kam sie bald nach ihm in das Frühstückszimmer.

Sie war, nachdem sie alles gehört hatte, weit mehr erschüttert, als er vorausgesetzt hatte, und starrte ihn fassungslos aus ihren schönen braunen Augen an. Sie konnte nicht begreifen, daß Michael das wußte und nicht verhinderte, und ihre nächste Regung war, sofort zu Raphael zu eilen und ihn zurückzuhalten, falls es noch möglich wäre. »Er kann ja entfliehen«, sagte sie, »weit fort, und nie mehr von sich hören lassen; aber sterben!«

»Wozu?« sagte Michael. »Um ein jammervolles Leben irgendwo im Sande verlaufen zu sehen? Und glaubst du nicht, daß er es vorzieht, zwischen seinen feinen Zigarren und kostbaren Teppichen zu sterben, als Jahre von seiner Hände Arbeit zu leben?« Sie schüttelte den Kopf und sah auf die Tür; aber sie ging nicht vorwärts, sondern blieb in Gedanken verloren stehen. Plötzlich wendete sie sich zu Michael hin und sagte leidenschaftlich: »Du hast ihn in den Tod getrieben, du, du, der ihn hineingestoßen hat in diese Not. Wußtest du nicht, daß er immer schwach, flüchtig, leichtsinnig und gedankenlos war? Du hast ihn in eine Laufbahn geworfen, die er nicht suchte, weil du frei werden wolltest, ohne die Mühseligkeit und Plage, die du damit auf ihn häuftest, eines Bedenkens wert zu halten. Und nun er sich wirklich als allzu schwach und unzulänglich erweist und sich verwickelt und stürzt, hilfst du ihm nicht, sondern schlägst ihn mit Verachtung vollends zu Boden.« Sie stand schlank aufgerichtet vor ihm, und in ihrem durchsichtigen, schmalen Gesicht zürnten und drohten die Augen wie schwarze Flammen. Er hielt ihren Blick ruhig aus und sagte kurz: »Er hat sein Unglück selbst über sich gebracht; sterben muß er, damit seine Mutter ihn wenigstens als einen armen, geliebten Toten betrauern kann.«

Sie ging langsam, die feinen Hände ringend, im Zimmer auf und ab und sagte nichts mehr, denn sie begriff, daß sie nichts unternehmen konnte, um das Schreckliche zu verhindern. Indessen stand Michael am Fenster und hörte noch die Worte, die Verena gesagt hatte; er erinnerte sich daran, wie Raphael, als er ihm zuerst den Vorschlag machte, an seiner Stelle in das Geschäft einzutreten, beängstigt ausgesehen hatte, und wie er ihn unerbittlich geführt hatte, wohin er ihn hatte haben wollen. Er hatte niemals an ein solches Ende gedacht, und wer konnte wissen, ob es, wenn Raphael Künstler oder Nichtstuer geblieben wäre, nicht ebenso oder noch kläglicher gekommen wäre? Aber obwohl er kein Mitleid mit ihm fühlte, mußte er doch daran denken, wie er in der vorletzten Mitternacht, nachdem er ihn herrisch und verächtlich an seine Pflicht, zu sterben, gemahnt hatte, ohne ihm die Hand zu reichen oder Lebewohl zu sagen, aus dem Zimmer gegangen war. Sie waren doch zusammen Kinder gewesen, hatten zusammen gespielt und gelacht und waren von denselben Eltern geliebt worden. Aber er versuchte, diese Gedanken zu überwinden und dagegen im Sinne zu behalten, daß Raphael ein verkommener, genußsüchtiger Mensch war, der das Glück seiner geliebten Mutter um Ansehen und Wohlleben verspielt hatte, und daß viele, die nichts Schlimmeres als er verbrochen hatten, jahrelang in Zuchthäusern ein entehrtes und verhaßtes Dasein führten. Auch seiner Mutter, sagte er sich, fiele nicht das härteste Los von allen zu; sie konnte weinen und klagen, während er die Verpflichtung hatte, die bleiernen Tage weiter zu wälzen, und die Verantwortung, wohin und wie. Trotzdem wurde sein Herz immer schwerer, und fast hätte er wünschen mögen, daß es heute noch nicht geschähe. Als Verena stehenblieb und sagte: »Es ist halb neun Uhr«, drehte er sich um und erwog, ob er hinübergehen und sich nach Raphael erkundigen sollte. Einige Augenblicke später kehrte er sich wieder zum Fenster im Gefühl, er hätte eilige Schritte gehört, und wirklich sah er einen unbekannten Mann, der mit einem offenbar nach dem Namenschilde suchenden Blick an die Gartentür trat. Michael ging ihm entgegen und führte ihn schnell ins Zimmer; er brachte die Nachricht, daß Raphael, durch eigene Hand erschossen, auf freiem Felde vor dem Tor gefunden worden sei, und daß in einer Tasche seines Überrockes ein offener Brief gesteckt habe mit dem Vermerk, wer er sei, und daß man seinen Bruder Michael Unger sofort von seinem Tode in Kenntnis setzen möge.

*

Der Malve vorzuspiegeln, daß ein Unglücksfall Raphaels Tod veranlaßt habe, erwies sich doch als unmöglich, zugleich aber auch, daß dergleichen Maßregeln überflüssig waren; denn als Michael, um sie vorzubereiten, bei ihr eintrat, wußte sie sogleich, daß es sich um Raphael handelte und seinen Tod bedeutete. Am vorhergehenden Abend hatte sie wirklich geglaubt, was sie zu ihm sagte, daß nun hellere Tage kommen würden, hatte aber gespürt, daß er nicht daran glaubte und ganz anderes im Sinn hatte. Sie hatte ihn nicht fragen können, was sein Blick ihr sagen wollte, und fragte auch sich selbst nicht; als jedoch Michael eintrat, begriff sie, daß es das Lebewohl gewesen war. Sie schrie laut auf, warf sich in seine Arme und weinte lange; übrigens legte ihre Trauer den anderen keine Last auf. Weinte sie auch noch viel, so tat sie es doch nur, wenn sie allein war, und was Michael am meisten gefürchtet hatte, unterblieb ganz; sie stellte nie eine Frage, warum Raphael das getan hätte. Zum Teil war das, weil sie sich und Michael die Bitterkeit, es erklären und anhören zu müssen, ersparen wollte, mehr aber noch, weil es ihr gleichgültig war; sie wußte, daß in der Kaufmannschaft gewisse Dinge für unehrenhaft gelten, die es vom menschlichen Standpunkte aus, ihrer Ansicht nach, nicht zu sein brauchten, und um derentwillen sie niemanden, am wenigsten aber ihren geliebtesten Sohn, verachtet hätte. Was hätte es ihr genützt, alles Peinvolle, was er durchlebt hatte, im einzelnen nachzufühlen und sich alles Übelwollende vorzustellen, was über ihn gesprochen werden mochte? Für sie war er das arme, treue Kind, das ein grausames Geschick, ohne seiner Schwäche zu achten, zermalmt hatte.

Raphaels Frau, um die Michael vorher weniger bekümmert gewesen war, weil ihr Herz nicht als erheblich beteiligt angesehen zu werden brauchte, machte ihm weit mehr zu schaffen. Seit ihr Mann infolge der geschäftlichen Bedrängnis launenhaft und reizbar zu werden angefangen hatte, war es mit der Art dankbarer Anhänglichkeit, die sie für ihn hatte, immer bergab gegangen; denn sie konnte es ihm nicht verzeihen, daß es weniger vergnügt im Hause zuging. Sie fragte wohl zuweilen nach der Ursache seiner Verstimmung, aber nach einer gereizten oder barschen Zurückweisung drang sie nicht weiter in ihn; im Grunde nämlich fürchtete sie sich vor einer ernstlichen Eröffnung und war froh, ihn einfach als übellaunig betrachten und behandeln zu können. In den letzten Tagen hatte er vermieden, mit ihr zusammenzutreffen, um nur ihre Vorwürfe und ihr kindisches Gezeter, das er kaum noch verstand und das nur ein häßlicher, zerreißender Lärm für ihn war, nicht länger hören zu müssen; als er nun plötzlich, durch eigene Hand gestorben, stumm und ernsthaft vor ihr lag, ergriff sie Angst und Reue, und sie quälte ihre Umgebung mit übertriebenen Selbstanklagen. In den ersten Tagen war sie nicht davon abzubringen, ihre Lieblosigkeit hätte ihn in den Tod getrieben, und jede Erinnerung an die Verkehrtheiten und Fehler, durch die er von Anfang an den Anspruch auf ihre Liebe, wenn sie je geneigt gewesen wäre, ihn ernstlich zu lieben, verscherzt hätte, schien durchaus verschwunden zu sein. Es wurde Michael schwer, ihrem haltlosen und unvernünftigen Betragen gegenüber Geduld zu behalten, aber er tat es doch und suchte sie, soweit es notwendig war, mit der wirklichen Sachlage bekannt zu machen. Konnte ihr auch die Schuld ihres Mannes in ihrem ganzen Umfange vorenthalten bleiben, so mußte sie doch die Tatsache der veränderten Vermögensverhältnisse erfahren, und es war bei ihrer gänzlichen Unkenntnis von Geschäftsangelegenheiten und bei ihrem Eigensinn keine Kleinigkeit, ihr den Umschwung glaubhaft zu machen. Da sie sich darauf gesteift hatte, ihren Mann als schuldlos, ja fast wie einen Heiligen anzusehen, konnte sie sich eine solche Verarmung nur durch die Schlechtigkeit anderer Menschen erklären, und sie ließ es sich anmerken, daß sie im Grunde Michael, der unerklärlicherweise plötzlich an ihres Mannes Stelle stand, als den Anstifter ihres Unglückes betrachtete. Obgleich der Malve die Stellung, die ihre Schwiegertochter zu dem armen Raphael einnahm, wohltat, suchte sie ihr doch ein Verschulden seinerseits begreiflich zu machen und Michaels Handlungen im richtigen Lichte zu zeigen; dieser indessen blieb auch den maßlosesten Ausbrüchen ihrer Heftigkeit gegenüber ruhig, die ihn kaum mehr als eine lästige Mücke mit ihrem immer erneuerten Anschwirren berührte.

Das einzige, womit sie ihm wirklich zusetzte, war der Widerstand, den sie ihm offen und versteckt entgegensetzte, als er nach Verlauf der ersten Trauertage auf eine sparsamere Lebensführung dringen mußte, was sie als dreisten Angriff in ihre persönlichen Angelegenheiten auffaßte. Ihrer Meinung nach war ihr Haushalt musterhaft eingerichtet, und sie glaubte, indem sie sich stets mit noch reichlicher lebenden Frauen verglich, schon das möglichste an Einschränkung geleistet zu haben. Das erste, was Michael hatte verlangen müssen, war, daß sie ihr Haus räumte und mit ihren beiden Kindern, einem Jungen und einem kleinen, etwa zweijährigen Mädchen, zu seiner Mutter übersiedelte, die seit dem Tode des Alten ein großes Stockwerk ganz allein bewohnte. Damit war natürlicherweise eine Verminderung der Dienerschaft verbunden, und nachdem sie sich schließlich dazu hatte bereitfinden lassen, war sie in ihren Augen eine Dulderin, von der nur die Roheit von Henkersknechten weitere Entäußerungen fordern konnte. Gern erwiderte sie eine etwaige Mahnung Michaels mit einer Bemerkung über Verenas Benehmen, die allerdings in einem Punkte verschwenderischer als sie war, nämlich in dem, was die Kleidung betraf. Sie war seit ihrer Mädchenzeit, wo sie über wenig Geld verfügte, gewöhnt, sich mit allerlei netten und glänzenden, aber wertlosen Sachen auszustaffieren, die Verena geringschätzig Fetzen oder Fähnchen nannte und für andere wohl statthaft, für sich aber unmöglich fand. Die Stoffe, die Verena trug, durften wohl, je nach der Gelegenheit, bei welcher sie getragen werden sollten, unscheinbar aussehen, doch mußten sie gediegen und kostbar sein und doppelt prunkvolle Unterkleider verbergen. Sie hatte für jeden Anlaß und jede Tageszeit besondere Trachten, und wenn sie auch zuweilen ihre Vorurteilslosigkeit und Verachtung der öffentlichen Meinung darin zeigte, daß sie am Spätnachmittage ein Frühmorgenkleid trug, so hätte sie das doch nicht getan, wenn sie nicht bei der nächsten Gelegenheit hätte beweisen können, daß das richtige Gewand vorhanden war. In ihrem Urteil über solche Dinge war sie außerordentlich frei und tadelte es, wenn man sich über schlichte oder vernachlässigte Kleidung anderer Frauen lustig machte; denn es kam, ihrem Gefühle nach, nicht darauf an, wie diese sich trugen, wenn sie nur, als die Herrin, auf der aller Augen ruhten und nach deren Beispiel sich die, welche es konnten, richteten, immer musterhaft und tadellos war. Dies lebte freilich nicht in ihrem Bewußtsein; doch hatte sie irgendeinen Grund stets bereit, warum sie, obwohl es ihr selbst lästig war, stets so gekleidet sein mußte, und auch jetzt behauptete sie gegen Michael, sie würde alles Ansehen vor den Dienstmädchen und er allen Kredit bei den Leuten einbüßen, wenn sie plötzlich schäbig einherzugehen anfangen wollte. Überhaupt nahm sie es übel auf, daß Michael größere Anforderungen an ihre Sparsamkeit stellte, da sie doch jede Geselligkeit aufgegeben und den Speisezettel eingeschränkt habe, und wenn sich ihre Empfindlichkeit auch nicht in heftigen Worten ausdrückte, so suchte sie dagegen durch unnahbare Haltung jeglichem Einfluß in dieser Hinsicht vorzubauen.

Michael hatte in den letzten Jahren so häufig ihre Einsicht und ihren vernünftigen Sinn bewundert, daß ihn der kindische Trotz, mit dem sie unter dem Anschein erhabener Gesinnung ihren Putz umklammerte, in das äußerste Erstaunen setzte. Es stimmte ihn fast traurig, und er dachte darüber nach, ob sie sich wohl auch früher so gezeigt hätte, als sie noch die Hochherzige war, die nach Geisteskronen rang. Das braune Mädchen im zerlumpten Rock fiel ihm ein, das im Dorf am Zaun gestanden und nach dem Walde geblickt hatte, aus dem der bleiche Pfad sich schlängelte. Es kam ihm jetzt lächerlich und unbegreiflich vor, daß es ihn einmal so innig an Verena hatte erinnern können.

Dagegen rührte ihn die arme Malve, wenn sie freilich auch zu unpraktisch und unerfahren war, um ihm eine Stütze sein zu können. Ihr hatten haarsträubende Schreckbilder von Armut vorgeschwebt, Obdachlosigkeit, Brotrinden und baumwollene Kleider, was sie alles, da es ihr Liebling verschuldet hatte, ohne Klage über sich ergehen zu lassen entschlossen war. Die ängstlichen Fragen, die sie an Michael richtete, ob sie dies oder das behalten oder lieber verkaufen sollte, und ihr Schuldbewußtsein bei jeder, auch der notwendigsten Ausgabe, die gemacht werden mußte, taten ihm von ihr, der verwöhnten, nun alternden Frau, welche die Bedeutung des Geldes niemals begriffen hatte, so weh, daß er ihr am liebsten auch das Überflüssige in den Schoß geworfen hätte; doch bemerkte er, daß es ihr Freude machte, sich allerlei Kleinigkeiten zu entziehen, in der Meinung, ihm damit zu helfen, und so ließ er sie dabei, obwohl sie es tatsächlich zu nennenswerten Ersparnissen nicht brachte. Im Gegenteil führten ihre kleinen Einschränkungen jedesmal auf irgendeinem Wege vergrößerte Ausgaben am anderen Ende herbei, und Michael mußte ihr oft tröstend zureden, es habe nichts auf sich und werde auch so gehen.

Etwa eine Woche nach Raphaels Tode wurde eine Dame in Michaels Kontor geführt, die sich als die Geliebte seines verstorbenen Bruders zu erkennen gab. Es war ihm bekannt, daß aus Raphaels Verhältnis zu der ehemaligen Kellnerin, um dessentwillen er so viele böse Auseinandersetzungen mit ihm gehabt hatte, mehrere Kinder hervorgegangen waren, und daß es bis zu seinem Tode beständig fortgedauert hatte; also hatte er keine Ursache, die Wahrheit irgendeiner ihrer Angaben zu bezweifeln. Sie war eine hübsche, muntere Person, die freilich zu voll und auseinandergelaufen war; wenn auch nicht mit vornehmem Geschmack, war sie doch nett und elegant gekleidet. Raphael habe ihr, wie sie sagte, oft versprochen, sie in seinem Testamente reichlich zu bedenken, und sie käme nun, um sich zu erkundigen, wie es damit stehe; ob sie von der wahren Sachlage nichts ahnte oder sich nur so stellte, konnte Michael nicht unterscheiden. Als er sie davon unterrichtete und ihr erklärte, daß, selbst wenn sie Forderungen zu stellen hätte, diese augenblicklich nicht erfüllt werden könnten, zeigte sie anfangs Erstaunen und Schrecken, doch faßte sie sich bald und setzte ihm nun ein ungläubiges Lächeln entgegen, als sei dies die Ausflucht reicher Leute, die sich kein Teilchen von ihrem fetten Erbe wollten entgehen lassen. Raphaels stets offene Hand und seine Großmut, die er noch in allerletzter Zeit bewiesen habe, machten es ihr unmöglich, an einen so schlechten Stand seiner Verhältnisse zu glauben, sagte sie, und erweichte sich, indem sie diesen Erinnerungen nachging, bis zu Tränen. Michael war diese Frau und Raphaels Beziehungen zu ihr stets ein Greuel gewesen, und ihre Erscheinung und ihr Benehmen bestärkten ihn jetzt in seiner Abneigung. Offenbar hatte zwischen ihr und seinem Bruder wirkliche Zuneigung bestanden, das aber hob weder ihn noch sie in seinen Augen, vielmehr war es ihm widrig, zu denken, daß diese Frau im Grunde mehr als seine Schwägerin ein Glied seiner Familie war, und er sprach eigens kurz und hart mit ihr, um sie schnell zu entfernen. Kaum aber hatte sie bemerkt, daß sie ihm durch Gefühlsäußerungen nicht beikommen konnte und er wirklich gesonnen war, sie unverrichteterdinge heimzuschicken, als sie die Derbheit ihrer Natur und Sitten unverstellt herauskehrte und sich in lauten Vorwürfen und Beschimpfungen gegen ihn ergoß. Das wäre die Art der Reichen, sich den Wanst zu mästen und dem Notleidenden sein einziges Schäflein fortzunehmen; sie kennten alle Schliche und Tücken und bedienten sich ihrer, um den hilflosen Armen zu übervorteilen. Ihr Raphael sei nicht so gewesen, aber er hätte ihr oft von der Habsucht und Selbstsucht seiner Familie erzählt. Was hätte er aber von ihr, der Familie, gehabt? Der Vater hätte ihn mit Arbeit überhäuft und dennoch nichts als Vorwürfe für ihn gehabt, er hätte für alle, auch für Michael, arbeiten und Geld verdienen müssen, ohne Dank zu ernten; seine Frau, welche sie »die Andere« nannte, hätte in seinem Reichtum geschwelgt und sich mit seinem Namen gebrüstet, ihn aber durch Launenhaftigkeit und böse Worte geplagt und schließlich in den Tod getrieben; nur sie und ihre Kinder wären sein Trost und seine Zuflucht gewesen, bei ihnen hätte er ausgeruht von den Unbilden, die seine Familie ihm bereitet hätte. Und nun sollte diese Familie seinen Nachlaß aufzehren, und sie, die ihn geliebt und gehegt hätte, sollte leer ausgehen und im Elend verkommen?

Michael hatte diese laut und schnell ausgestoßenen Reden nicht hemmen können und sagte nun, da sie einen Augenblick innehielt: »Auf eine Beantwortung Ihrer Anklagen lasse ich mich nicht ein. Mein Bruder hat nichts als Schulden hinterlassen, die seine Familie erbt, welche Erbschaft Sie ihr vermutlich unverkürzt lassen wollen. Es steht Ihnen frei, sich bei den Gerichten zu erkundigen, ob es anders ist, als ich Ihnen sage. Von mir erlangen Sie weiter nichts, als daß ich Ihnen freiwillig verspreche, sowie ich in der Lage bin, etwas für Sie zu tun, mich nach Ihnen umzusehen und Ihre Verhältnisse kennenzulernen, um, wenn es nötig ist, Sie um Ihrer Kinder willen zu unterstützen.«

Die Frau war dunkelrot geworden und rief nun erst recht zornig aus, sie ließe sich nicht mit leeren Worten abspeisen, sie sei nicht so dumm, sich von großen Herren, die oft auch große Übeltäter wären, einschüchtern zu lassen. Nach den Gerichten würde sie freilich auch nicht laufen, die einen bis zum Jüngsten Tage herumzögen und zu guter Letzt doch denen recht gäben, die den größten Beutel hätten; aber sie wüßte sich selbst zu helfen, sie würde zu Raphaels Mutter und zu seiner Frau, ›der Anderen‹, gehen und ihnen nicht von der Schwelle weichen, bis sie erlangt hätte, was ihr zukäme.

Hierüber erschrak Michael; denn es war nicht zu bezweifeln, daß die Person ihre Drohung auf der Stelle und in vollem Maße ausführen würde. Er versetzte sich in die Bestürzung, die seine Mutter empfinden würde, und auch seiner Schwägerin wollte er es ersparen, daß sie nachträglich auf so gröbliche Art von dem Liebesverhältnis ihres Mannes unterrichtet würde, wovon sie vermutlich nicht das mindeste ahnte. Er wurde innerlich aufgeregter, doch hielt er an sich und sagte, immerhin mit strenger und drohender Betonung, er würde sich, wenn sie das täte, gerichtlicher Hilfe jedenfalls bedienen, und sie wüßte wohl schon, daß ein solches Vorgehen ihrerseits als Hausfriedensbruch bestraft werden würde. Sie würde dadurch nichts gewinnen und nur die Aussicht auf Unterstützung, die er ihr versprochen hätte, verscherzen.

Es war der Frau nicht entgangen, daß ihm ihre Drohung, trotz allem, was er vorbrachte, sehr unbequem war, und sie lachte deshalb laut und höhnisch auf und sagte, sie würde es darauf ankommen lassen; bis er mit den Polizeisoldaten käme, könnte sie wenigstens den Damen schon hübsch die Wahrheit gesagt haben. Jetzt übermannte Michael die Wut, und seine Hände ballten sich unwillkürlich; er sprang auf, stellte sich dicht vor die erschrockene Frau hin und sagte: »Wenn Sie mir nicht augenblicklich schwören, daß Sie keine von den Damen, weder meine Mutter noch meine Schwägerin, jemals, weder im Hause noch auf der Straße belästigen wollen, so erwürge ich Sie hier auf der Stelle. Sie sehen, daß ich nicht in der Laune bin, zu scherzen, und daß es ein kleines für mich ist, mit Ihnen fertig zu werden. Wenn Sie mit Hintergedanken Versprechungen machen und sie nicht halten, wehe Ihnen. Vielleicht hat mein Bruder Ihnen gesagt, daß ich keine Schonung für Gegner habe und niemanden frage, ob das erlaubt ist, was ich tun will, und wenn er Sie nicht gewarnt hat, tue ich es.«

Er fügte noch einiges hinzu, was seine Abneigung gegen das Weib und seine Absicht, sie um jeden Preis an der Ausführung ihrer Drohung zu verhindern, ihm eingab, und es zeigte sich augenblicklich, daß der Anblick einer männlichen Kraft und eines entfesselten Zornes Eindruck auf sie machte. Sie wich furchtsam zurück und hatte offenbar Lust, sich vor seine Füße niederzuwerfen; nicht nur versprach sie alles, was er verlangte, sondern er war auch überzeugt, daß sie es halten würde. Auch mochte es ihr einleuchten, daß Michael nicht so aussah, wie sie sich einen glücklichen Erben vorstellte. Sie entfernte sich, sobald er sie gehen ließ, demütig und mit dem Versuche, liebenswürdig zu lächeln, was er nicht bemerkte.

Es war noch ein aufgeregtes Zittern in ihm, und er setzte sich ermattet und angewidert in seinen Stuhl, wobei er zufällig in einem kleinen Spiegel, der neben dem großen Arbeitstische an der Wand hing, sein Gesicht sah. Sein Blick blieb überrascht daran hängen; er sah schmal und aschgrau aus, und in seinen Augen zuckte ein schwarzes, unheimliches Feuer. Er hatte niemals sonderlich auf seine Erscheinung achtgegeben, obwohl er wußte, daß die Leute ihn schön fanden, und auch jetzt fiel ihm weniger die Schönheit seines Gesichtes auf, als die Blässe und das Elend und die Wildheit, die sich erschreckend darin ausprägten. So hatte er vielleicht ausgesehen, dachte er, als sein unglückseliger Bruder am letzten Abend zu seiner Mutter kam, um noch einmal Abschied zu nehmen, und so sah er vielleicht aus, wenn er den armen Frauen ihren albernen Flitter wegriß; er stützte den Kopf in die Hand und blickte lange mit starren, trockenen Augen auf die Briefe und Papiere, die vor ihm lagen, ohne zu lesen.

* * *


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