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Der Freiherr hatte auf den lebhaften Wunsch von mehreren Seiten den Vortrag, den er bei Gelegenheit des Bilderstreites gehalten hatte, drucken lassen, woraus ihm bedeutende Unannehmlichkeiten erwachsen waren. Manche seiner Äußerungen über regierende Persönlichkeiten waren in der Tat beleidigend und gingen nicht unbemerkt vorüber; zwar wollte man den berühmten Gelehrten nicht ausdrücklich deswegen anklagen, aber es schien, als bestehe die Absicht, seine Stellung auf andere Weise zu erschüttern. Nachforschungen über sein früheres Leben brachten ohne Schwierigkeiten seine Doppelehe ans Licht, und es drohte ihm eine Anklage wegen Bigamie; doch brachte die Aussicht auf den Zusammenbruch seines ganzen bürgerlichen Lebens, der dadurch herbeigeführt werden mußte, den Freiherrn keineswegs aus der Fassung. Er war im Gegenteil bei bester Laune, und es hatte den Anschein, als ob er von dem Schlage, der gegen ihn geführt werden sollte, nichts wüßte, oder als ob er es nicht für der Mühe wert hielt, darauf achtzugeben.

Auf einer auswärtigen Gemäldeausstellung, die er besuchte, war ein Bild von Rose, das fahrende Leute darstellte, die mit einigen wilden Tieren den Jahrmarkt einer nördlichen Stadt aufsuchen: es ist ein früher Schnee gefallen, und die Abenddämmerung liegt grau über der öden Straße, während im Hintergrunde Lichter und allerlei luftige Umrisse auf die Stadt und das wimmelnde Treiben des Jahrmarktes deuten. Den Mittelpunkt bildet die Tiergruppe, ein Dromedar mit erhabenem Gang und hochmütigem Blick der Verachtung, ein mühselig schleichender Bär und ein Äffchen, das einer der führenden Männer in seinen Mantel gehüllt hat und das neugierig kläglich aus seiner Vermummung herausschaut. Das Dromedar und der Bär waren Gestalten der Trauer, edlen Gefangenen ähnlich, die schweigen, nicht weil sie stumm geboren sind, sondern weil keiner sie versteht, und die sich mit stolzer Ergebung hineinschicken, Geschöpfen zu dienen, die weit ärmer, elender, häßlicher und törichter sind als sie. Trotz der nebeligen Abendstimmung war tiefe Glut in dem Bilde, und es schien, was tatsächlich durchaus nicht der Fall war, eine Szene aus irgendeinem bedeutungsvollen Märchen darzustellen. Der Freiherr stand lange davor, und als er hörte, daß Rose auch in die Stadt gekommen war, um zu sehen, wie sich das Bild zwischen den anderen ausnehme, suchte er sie auf. »Kind«, sagte er zu ihr, »Sie haben ein schönes Bild gemacht, aus dem ein lebendiges Seelenbild in den Menschen werden kann, die es anschauen. Erzählen Sie mir, was Sie damit haben sagen wollen.«

»Ich habe gar nichts sagen wollen«, sagte Rose erschrocken, doch der Freiherr beharrte, warum sie denn eben auf diesen Gegenstand verfallen sei, da doch vieles andere hätte locken können. Sie wäre darauf gekommen, sagte Rose, weil sie eine Zeitlang, um Tierstudien zu machen, mit Leuten verkehrt hätte, die mit einer Menagerie von Ort zu Ort gezogen wären. Eines der Kinder des Besitzers, ein kleines Mädchen von zigeunerhaftem Aussehen, hatte ihr erzählt, wie sie einmal in schreckliche Not gekommen wären, so daß sie weder etwas gehabt hätten, um die Tiere zu füttern, noch um sich selbst zu ernähren. Auch zur Zeit, als sie mit ihnen umging, sagte Rose, hätten die Leute hohlwangig und ausgehungert ausgesehen, da, nachdem die Tiere das Ihrige bekommen hatten, stets wenig für sie selber übriggeblieben war. Damals nun, das war die Erzählung des kleinen Mädchens, hätten sie in der Not einen jungen Bären getötet, denn sie hätten eine Bärin mit mehreren Jungen gehabt, und mit Ausnahme des kleinen Mädchens selbst von dem Fleisch gegessen. Die Tiere indessen hätten die Speisen unberührt gelassen, vor allen Dingen natürlich die Bärenmutter, die noch dazu vor Hunger und Betrübnis in Krankheit verfallen sei. Jetzt hätte die ganze Gesellschaft geheult und gebetet, und der Vater, den Rose auch kannte und als einen großen hageren Mann von aufrechter Haltung und pathetischen, komödienhaften Gebärden schilderte, hätte laut geklagt, daß sie dies Unglück durch Ermordung des jungen Bären selbst auf sich herabgezogen hätten. Sie hätten damals in einem kleinen, ärmlichen Dorfe gelagert, wo die Tiere in einem leeren Stall untergebracht worden wären, während die Gesellschaft vor demselben, auf einem kleinen Platze, blieb. Des Nachts, da die Kinder in dem überdachten Wagen schlafen sollten und die Erwachsenen um ein kleines Feuer herum lagen, hatte das kleine Mädchen gehört, wie der Vater die Mutter mit Anklagen überhäufte, daß sie den Rat, den kleinen Bär zu töten, gegeben habe, und wie er zuletzt sagte, er werde der Bärin sein eigenes jüngstes Kind von anderthalb Jahren vorwerfen, für das sie ohnehin nichts zu essen hätten und das weit wertloser wäre als das Tier. Die Mutter habe ihn in ihrer Angst und Entrüstung beschimpft, worauf er sie geschlagen habe, so daß sie, der wieder eine Geburt bevorstand, an den Folgen gestorben sei.

Diese Geschichte hatte großen Eindruck auf Rose gemacht, war ihr oft gegenwärtig gewesen und hatte sich allmählich unvermerkt zum Bilde in ihr gestaltet.

Der Freiherr nickte und sagte: »So ist es wirklich. Wie Samen auf Blumen, fallen Bilder durch die Augen in die liebeglühende Seele, und sie wird schwanger und gebiert Kunstwerke, die ein lebendiges Dasein haben und sich auch wieder fortpflanzen können im Reiche des Geistes.«

»Das ist ein wunderbarer Gedanke«, sagte Rose aufmerksam. »Alles Leben ist ein Geschäft der Liebe, und was ist und geschieht, ist nichts als fliegender Same der großen Erdblume, die unsere liebestrunkenen Sinne entzünden soll, unsterbliche Schönheit hervorzubringen.«

Der Freiherr lachte und sagte: »Man müßte freilich viel trockene und häßliche Zahlen verrechnen, bis bei dem Exempel lauter Liebe und Schönheit herauskäme. Ist die blöde Wut jener elenden Leute etwas Schönes? Auch wäre es besser gewesen, wenn Sie, anstatt ein Bild daraus zu machen, ihnen etwas Vernunft beigebracht hätten, was freilich ungleich schwerer ist. Glauben Sie nicht, daß Sie Ihre Aufgabe hienieden erfüllt haben, wenn Sie einen liebenswürdigen Mann lieben und hie und da im halben Traume ein Bild malen. Denn bis jetzt haben Sie im Grunde noch nichts anderes getan, als von dem Erbsegen gezehrt, den die göttliche Mutter Ihnen mitgegeben hat, und Ihre Schulden noch nie mit eigenem Gelde bezahlt.«

»Es war doch gutes Geld«, sagte Rose vergnügt, »und einige hübsche, blanke Münzen darunter.«

»Täuschen Sie sich nicht«, rief der Freiherr, »sie haben nur für den Liebhaber Wert, auf dem großen Markte sind sie tot.«

»Ich besuche keine Märkte«, sagte Rose heiter, »und ich glaube nicht, daß ich eine andere Aufgabe habe, als zu leben und zu schauen und zu lieben und im Traume, wie Sie sagen, hie und da etwas zu schaffen, wovon ich nicht frage, ob es vergänglich oder unvergänglich ist.«

»Mir scheint es«, sagte der Freiherr, indem er sie scharf betrachtete, »Sie könnten Unvergängliches schaffen, das aber schafft sich nicht im Traume. Sie sind eine wonnevolle Duftblume und schwelgen in Ihrem süßen Dasein, als gäbe es sonst nichts auf der ungeheuren Weltwiese, wenn Sie auch wohl eine Biene naschen lassen, die zufällig des Weges kommt. Sollte das Ihr ganzes Leben und nicht nur eine Zwischenstufe sein, so wäre es zu wenig, und die Bienen würden Sie eines Tages welk und ohne Honig finden.«

»Ich will nicht darüber nachdenken, was ich bin und was ich kann«, sagte Rose, deren Gesicht eine sanfte Glut gerötet hatte, »ich weiß, daß ich nicht allein in der Welt bin, und doch bin ich es fast in mir, allein mit lieben, schönen Bildern. Mehr will ich nicht, und Sie sollen mir mein Glück und meine Kraft nicht antasten.«

Sie waren vor die Stadt hinausgegangen und traten in einen öffentlichen Garten ein, wo Musik war und wo man leidlich ungestört in Lauben sitzen konnte. »Es ist nicht mein Geschmack, in Volksgärten zu sitzen«, sagte der Freiherr, »doch ist es besser, als in der Sonne auf der staubigen Landstraße zu gehen, und loslassen kann ich Sie noch nicht. Glauben Sie, ich hätte Sie aufgesucht, um Ihnen eine Schmeichelei über Ihr Bild zu sagen? Das Wichtigste, was ich Ihnen zu sagen habe, ist, daß Sie die Verbindung mit Michael aufgeben und was in Ihren Kräften steht tun sollen, um ihn von sich zu lösen.«

Die Farbe wich aus Roses Wangen, indem sie fragte, ob er in seinem Auftrage spräche.

»Nein«, sagte der Freiherr, »wenn es so weit wäre, brauchte ich mich nicht mehr an Sie zu wenden. Kind, Sie wissen, daß ich nicht aus Gründen der gemeinen Moral spreche und diese Liebe bisher für weit günstiger für Sie gehalten habe, als wenn irgendein ehrenwerter Spießbürger Sie als Ehefrau in seinen Krautgarten gesetzt hätte. Diese Liebe hat Sie beide aus dem ersten Schlummer geweckt und in Ihre eigenen Tiefen untertauchen lassen, und war insofern eine weise, hilfreiche Meisterin. Jetzt ist Ihr Sinnen und Trachten darauf gerichtet, zu heiraten, und damit lenken Sie in Kreise ein, die aufwärts zur Oberfläche führen. Es hat Fälle gegeben, wo ein Verliebter Himmel und Hölle stürmte, um die Geliebte zu gewinnen, und in Flammen stand, so daß aller Augen mit Entzücken auf ihn blicken mußten; wie dann das diamantene Tor sich ganz gemächlich auftat und die Geliebte ihm entgegentrat, rosenrot angeglüht von seiner Feuerherrlichkeit, traf die Flammen ein Zugwind, daß sie erloschen, und bald war nur ein häßliches Häufchen kalter Asche übrig. Dies würde Ihnen zwar nicht begegnen, sondern Sie würden sich in Ewigkeit behaglich weiter lieben; Sie würden zusammen niesen und zusammen husten und sich begeistert ansehen, daß die Liebe es so weit mit Ihnen gebracht hätte. Sie würden aufhören zu sprechen und schließlich auch zu denken, weil jedem das Ergebnis schon zuvor bekannt wäre, und am Ende nur noch essen und trinken, weil das Fettwerden wenigstens doch jeder für sich allein besorgen muß.«

»Das trifft uns nicht«, sagte Rose ruhig. »Wenn wir wirklich ganz vereinigt würden, so läge zu viel Bitterkeit und Schrecken hinter uns, als daß wir jemals ohne Anspannung glücklich sein könnten.«

»Das sind Empfindungen von heute«, meinte der Freiherr. »Was Sie meinen, das verwischt und verwächst sich. Seine Eltern werden sterben, seine Frau wird sich trösten, sein Sohn wird lernen und lieben. Aber Sie werden ein Gütchen kaufen und gedeihen, innerlich indessen verschrumpfen, bis einmal die jungen Leute die Hände zusammenschlagen und flüstern: Dies gemütliche Pärchen wären Michael und Rose, die Helden unserer Träume?«

Sie stützte den Kopf in die Hand und sagte traurig: »Ich wollte, ich wüßte, daß wir einmal so ein gemütliches Pärchen sein werden.«

Auf Tisch und Bänken spielten zitternde Sonnenringe, die durch das grüne Gesträuch hereinfielen. Jelängerjelieber und Jasmin hauchten starke Gerüche aus, und die grelle Musik klang aus einem Pavillon gedämpft zu dem Platze hin, wo der Freiherr und Rose saßen. Die Erde wühlt in ihr, dachte der Freiherr, sprach es aber nicht aus, sondern sah sie nur zornig und fast mit Verachtung an. Sie empfand es und sagte: »Wenn Sie mir von dem Jammer seiner Familie sprächen, das verstände ich, wenn es mich auch nicht beirren könnte. Was Sie meinen und wollen, verstehe ich nicht einmal, und ich glaube, daß es mich nichts angeht. Aber das fühle ich, daß Sie Michael und mich unterschätzen; die Gefahr, zu versumpfen, liegt uns nicht gar zu nahe.«

Es drückte sich ein kalter, hochmütiger, unbeweglicher Wille in ihrem Gesichte aus, der jeden Eingriff eines andern in ihren Lebenstraum von vornherein abwehren zu wollen schien. »Und alle diese wundervolle Kraft, um einen Mann zu bekommen«, sagte der Freiherr ärgerlich; doch waren ihm die Worte mehr entwischt, als daß er sie mit Absicht ausgesprochen hätte, und er setzte rasch hinzu: »Ich bitte um Verzeihung. Sie waren mir so teuer wie ein edles Kind oder Weib, und darüber habe ich vergessen, daß Sie auch eine Dame sind.«

Rose war blaß geworden, aber sie sagte herzlich: »Ich bin keine Dame für Sie, doch für ein mannstolles Mädchen möchte ich Ihnen ebensowenig gelten. Ich glaube aber, Sie meinten es auch nicht so.«

Der Freiherr küßte ihre Hand, und sie sprachen von anderen Dingen: gemeinsamen Bekannten und allerlei Erlebtem. Er erzählte ihr von dem schlimmen Stande seiner Angelegenheiten, und daß er kürzlich einen Ruf nach einer entlegenen und ganz bedeutungslosen Universität bekommen habe, wobei ihm zugleich zu verstehen gegeben worden sei, an höchster Stelle werde gewünscht, daß er annehme. Er hatte ohne Besinnen abgelehnt, noch bevor ihm eine Adresse der Studierenden, die ihn dazubleiben bestürmen wollten, überreicht werden konnte; anstatt dessen wurde ihm ein Fackelzug gebracht, an dem sich die ganze Studentenschaft beteiligte. Zum Schlusse hatte der Freiherr vom Balkon herab eine Ansprache gehalten, in welcher er sagte, daß er noch keine Universität so geliebt hätte wie diese, weil sich an keiner anderen die Jugend so willig von seinem Geiste hätte begeistern lassen; daß er trotzdem, wenn es sein müßte, auf einen öderen Boden gehen würde, wo die wenigen Samenkörner, die er ausstreute, keimen könnten, der aber ohne ihn vielleicht ganz tot geblieben wäre: daß er aber jetzt an seiner Stelle verharrte, um ihnen zu zeigen, daß ein Mann sich nicht von jedem Lüftchen beugen und verwehen lasse, und den Wink Gottes, dem unbedingt Folge zu leisten sei, von dem der Machthaber zu unterscheiden wissen müsse.

»Ich frage mich selbst«, sagte der Freiherr zu Rose, »ob es Widerspruchsgeist in mir ist, daß es mich auf einmal reizt, meine Gedanken in die dichteste Volksmenge hineinzuschleudern, seit sie mir den Mund verbieten wollen. In meinen wissenschaftlichen Büchern stehen weit freiere und kühnere Dinge, als ich in meinem Vortrage sagen konnte, und diese sind jedermann zugänglich, ohne daß Fürsten oder Leihbibliotheken etwas dagegen haben. Habe ich dort wirklich nur zu mir selber gesprochen? Oder ist wirklich nur die Volksseele gedüngter Acker, wo geharnischte Männer aufgehen können, und der ausgelaugte Sand der Bildungswelt kann höchstens Rüben oder Kartoffeln tragen? Sicherlich werde ich nie mehr für die Feinschmecker, das leckere Gesindel schreiben, die meine Bilder von Gott durch die blauen Rauchringe ihrer Verdauungszigarre betrachten. Seit ich an jenem Abend, wo ich Sie zum ersten Male sah, über eure feinen Köpfe weg die staunende Dummheit der Taglöhnergesichter sah, lockte es mich beständig, ihnen laut und nachdrücklich zu sagen, wie dumm sie sind und wie lieb ich sie habe.«

»Staunende Dummheit steht auf meinem Gesicht gewiß auch oft, wenn Sie reden«, sagte Rose, und der Freiherr meinte lachend: »Das spricht für Sie.«

Die Sonne hatte sich inzwischen dem Untergange zugeneigt, und Rose machte Miene, aufzubrechen; allein der Freiherr hielt sie zurück, indem er sagte, am folgenden Morgen reise er fort und würde sie vielleicht in Jahren nicht wiedersehen, sie müsse ihm deswegen den Abend ganz schenken. »Ich habe das Gefühl, Sie wollen etwas von mir«, sagte Rose, »und deshalb möchte ich Ihnen entrinnen; aber ich vermag es nicht.«

Es blitzte triumphierend in den Augen des Freiherrn. »Nein, das kannst du nicht«, sagte er. »Doch sollst du mich nicht hinterlistig schelten, vielmehr will ich dir freimütig sagen, was ich von dir will: daß du mich liebst für diese letzte Abendstunde. Nicht etwa weil es mich an deinen roten Mund zöge, oder weil deine Augen mich trunken machten, nur weil ich deine Seele dicht an meiner fühlen und meinen Geist zu deinem Geist reden lassen möchte. Eher laß ich dich nicht, Mädchen, bis du deine Seele für einen Augenblick in meine Hände gegeben hast!«

Ein flüchtiges Beben überlief Rose. »Nur diese letzte Abendstunde«, sagte sie träumerisch. Dann erzählte sie ihm, was sie nach jenem kleinen Feste, wo sie miteinander bekannt geworden waren, mit Michael über ihn gesprochen hatte, und sagte: »Sie sehen, ich schlage Ihre Macht nicht gering an, und ich gebe mich ihr gern hin, weil ich weiß, daß es keine böse ist.«

»Nenne mich du für diese letzte Abendstunde«, bat der Freiherr sanft. Seine Augen waren fast schwarz geworden und ruhten streng auf ihr, während es von seinen lächelnden Lippen wie zarter Tau auf ihre Seele zu fließen schien. »Ich fühle deine Kraft«, sagte Rose leise, »und den reinen Hauch deiner Geistesflügel, die sich langsam und mächtig bewegen und mich tragen. Mir ist, wie mir als Kind war, wenn ich, sehr müde, an meines Vaters Brust einschlief und sein Wesen wie eine große Gottesallmacht um mich her spürte.«

Sie schwieg und sah ihn noch an. »Komm«, sagte er leise. Dann blieb es eine Weile still zwischen ihnen, bis Rose die Augen schloß und aufseufzte. »Deine Seele war in meinen Händen«, sagte der Freiherr, »ich habe sie geküßt und dir wiedergegeben. Nun wollen wir gehen.« Sie standen auf, und Rose nahm des Freiherrn Arm, den er ihr bot. »Kind«, sagte er, als sie den Garten verlassen hatten, »du bist schwächer als du sein solltest. Du könntest eine schöne, starke Herrin sein, und gibst der männlichen Kraft Gewalt über dich wie eine Magd. Was hättest du Michael geantwortet, wenn er deine Seele in dem Augenblick gerufen hätte, als sie in meinen Händen lag?«

Ihr Gesicht strahlte über und über. »Bei dir bin ich, hätte ich geantwortet«, sagte sie, »und wenn ich noch viel tiefer untergetaucht gewesen wäre. Ich lasse mich wohl einmal sinken, aber nur so, wie das Spielzeug an der Gummischnur, das man fest in der Hand hat, und das immer wieder nach oben schnellt. Entführen können Sie mich nicht gegen meinen Willen, und mit meinem Willen werden Sie es erst recht nicht.«

Sie lachten beide, und der Freiherr sagte: »Ich glaube Ihnen das, Sie können sich selber tragen. Aber es ist nicht genug damit, sondern dazu sind die Starken da, daß sie auch Schwächere auf sich nehmen und tragen. Wenn Sie denn durchaus keinen besseren Rat annehmen, so hoffe ich wenigstens, daß Sie den Michael heiraten und eine Anzahl Kinder zeugen, damit Sie es auf diese Weise lernen, die eigentlich die der schwächeren Sorte ist.«

»Was sollen die Kinder?« rief Rose ungeduldig. »Habe ich nicht meine Tiere? Die Kinder drängen sich zwischen die Eltern und zerren sie sacht auseinander. Müßte ich seinem Kinde einmal Mutter sein, so wollte ich es gerne um seinetwillen, sonst nichts. Ihn will ich und das Glück der Erde; nach Vollendung, Läuterung, Aufgabe, Ruhm und Unsterblichkeit frage ich nicht.«

»Ihr Genius weiß es besser«, sagte der Freiherr kurz; denn sie waren inzwischen bei ihrer Wohnung angekommen. »Jetzt muß ich Sie verlassen«, sagte er. »Wäre es nicht der Erzengel, den Sie lieben, würde ich versuchen, Sie ihm abtrünnig zu machen und auf meine Wege zu führen, obwohl Sie ein junges Weib sind und ich ein alter Mann bin. Nun muß ich es Gott und Ihrem Genius anheimstellen. Haben Sie Dank für die letzte Abendstunde.« Sie gab ihm schweigend die Hand; aber plötzlich, einer unwiderstehlichen Regung nachgebend, legte sie den Arm um seinen Hals und küßte ihn fest auf den Mund mit dem Jünglingslächeln.

*

Demnächst erschien eine kleine Schrift des Freiherrn über Ehe und freie Liebe, worin die diesbezüglichen Fragen freimütig behandelt wurden. Die Ehe wurde als ein notwendiges Übel aufgefaßt, das zwar dem ordnungslosen Sichpaaren wilder Horden vorzuziehen, aber keineswegs eine hochentwickelten Menschen entsprechende Einrichtung sei. Sie stifte dadurch Nutzen, daß sie die Menschen und namentlich den Mann zwinge, für die Folgen seiner Handlungen einzustehen, die er mit der Grausamkeit des Muskelstarken gern auf den schwächeren Teil ablüde. Bei der außerordentlichen Roheit, die durchgängig unter den Menschen herrsche, werde auch noch lange an dieser Einrichtung festzuhalten sein, keineswegs sei sie aber für etwas Heiliges zu halten. Schon der große Apostel habe gesagt, das Gesetz sei der Zuchtmeister für Sklaven, und wie man überall bei den schärfsten Gesetzen das Verbrechen am blühendsten fände, so sähe die Ehe, wo sie am strengsten vom Gesetze geschützt werde, inwendig recht unheilig aus. Sie sei ein Käfig, der weder andere vor den Bissen wütender Bestien schütze, noch die Eingesperrten hindere, sich untereinander zu zerkratzen und aufzufressen. Wenn sie sich wohl darin fühlten, würden sie träge und verlören allmählich den Gebrauch der Flügel. Da säßen die Frauen der höheren Stände wie kostbare Kakadus auf der Stange, ließen sich füttern und schlügen dafür von Zeit zu Zeit ein Rad oder pfiffen ein erlerntes Stückchen. Der Mann, besonders wenn er Geld hätte, setze sich meistens nur stundenweise, bei feierlichen Gelegenheiten und wenn recht viele Zuschauer kämen, in den Käfig hinein, übrigens flöge er, wohin er Lust hätte, zumal im Dunkeln. Für wahrhaft freie Menschen würde die Ehe von selbst zu freier Liebe werden: solange die Menschen aber Sklaven wären, sollte man nicht gleisnerischerweise die Ehe wie einen von Amoretten umgaukelten Rosentempel ausmalen, sondern frischweg predigen, daß, wer Anzeichen von Verliebtheit verriete, in die Zelle müsse, wo das störrische und lärmende Wesen gebändigt würde, und mit strenger, unerbittlicher Aufsicht Zucht halten, damit die Anstalt auch ohne Verzug ihren Zweck erfülle.

Eine Stelle in dem Buche handelte von den Pflichten des Mannes gegen die Frau, die weniger darin beständen, daß er sie heiratete, versorge und beschütze, als daß er ihr geistiger Träger und Führer sei. Zwar hätte jede Frau die Sehnsucht, den Druck, die Sorgen, die Verantwortung des äußeren Lebens und seiner Geschäfte auf einen Mann abwälzen zu können; aber noch heißer und ernstlicher verlange sie von ihm, daß er sie auf die Höhen des Geistes führe. Hier sei sie mitleidlose Richterin; wolle oder könne er das nicht leisten, entziehe sie ihm ihre Liebe, und wenn er sie mit den Schätzen der Welt belüde. Man sähe infolgedessen oft reiche Frauen kalt gegen Männer, die sie verwöhnten; hingegen reiche Mädchen eine behagliche Lebensstellung aufgeben, um armen, ausgestoßenen, rücksichtslosen Männern ins Elend zu folgen, weil sie ihnen aus glänzender Enge einen Blick auf die Höhen des Geistes eröffnet hätten.

Als Michael, der die Schrift aufmerksam las, zu dieser Stelle kam, wanderten seine Gedanken in seine Kinderzeit zurück und zu seinen Eltern. Er entsann sich mancher kleinen Zwischenfälle, wie sein Vater an einem Weihnachtsabend der Malve ein silbernes Diadem, mit einigen großen Diamanten verziert, schenkte, lange vorher in der Vorfreude über ihre Freude lebend, und wie sie es dann in die Hand nahm und nach flüchtigem Betrachten mit ein paar kühl anerkennenden Worten wieder hinlegte. Später schmückte sie sich oft damit, und Michael konnte das herrliche Juwel nie ohne ein Gefühl der Erbitterung gegen sie und schwärmerischen, brennenden Mitleidens für seinen Vater ansehen. Er besann sich, wie lebhaft und regsam sie im Gespräch mit anderen, namentlich mit Arnold Meier, sein konnte, und wie notdürftig und frostig die Antworten waren, die sie ihrem Manne gab: niemals hatte sie ihre Mitteilungen über dies und jenes, was sie gelesen oder gehört hatte, an ihn gerichtet. Er fühlte, wenn er daran zurückdachte, noch immer heißes Mitleid mit seinem Vater; aber zugleich hatte er ein besseres Verstehen für sie. Sie hatte in dem schönen, stattlichen Manne wohl auch einen starken Führer zu den Höhen des Geistes geahnt, hatte Brot des Lebens aus seiner Hand gewollt, und er hatte ihr Gold dafür gereicht, das Hungernde nicht sättigt. Vielleicht war sie, ohne es selbst zu wissen, gerüstet für Kämpfe und Entbehrungen an seiner Hand, indes er Teppiche und Felle von Tigern und Leoparden unter ihre Füße breitete und ihre Tapferkeit in den Wohlgerüchen des Reichtums erstickte. Sie hatte den Glauben an ihn verloren und angefangen, ihn zu hassen, der sie verweichlichte, wie schlaue Despoten es mit ihren Untertanen halten, um sie desto leichter zu Sklaven zu machen. Waldemar freilich hatte keinerlei tückische Absicht gehabt und nichts anderes gewollt, als ein glücklicher Ehemann mit einer schönen, heiteren, beglückten und liebenden Frau zu sein. Aber gerade das, daß nichts als eine schöne, heitere Frau aus ihr geworden war, empfand sie im tiefsten Grunde ihrer Seele, wohin sie fast nie mit offenen Augen schaute, mit Schmerz, und machte unwillkürlich ihn dafür verantwortlich. Man hatte stets belächelt, daß sie durchaus einen Künstler aus einem ihrer Söhne machen wollte; und doch zeigte sich darin nichts anderes als ihr dunkles, tastendes Verlangen, in den Söhnen noch die höheren Stufen zu erlangen, wohin ihr eigener Schritt und die Hand ihres Mannes sie nicht geführt hatten. Die Söhne aber hatten sie im Stich gelassen; denn was war er ihr gewesen? Was hatte er für sie getan?

Plötzlich stellte sich ihm Verenas Bild vor Augen; er sah sie, wie sie an dem letzten Geburtstage, den sie in ihrem elterlichen Hause verlebte, vor einem mit einer Menge reizender Kostbarkeiten beladenen Tisch stand, rasch einzelne Gegenstände mit ihren langen, schmalen Schattenhänden herausgriff, kurz ihr Gefallen daran äußerte, und wie Kieselsteine wieder hinwarf; und mit welcher gehässigen Verachtung hatte sie später oft von dem Reichtum gesprochen, der sie umgab. Aber zugleich empörte sich Michael gegen die anmaßende Schwäche, die aus eigener Kraft sich nicht erheben kann und den Mann verklagt; der sich nicht gewaltsam aufrafft und mitreißt.

Verena kam ihm vor wie ein Schlinggewächs, das sich mit tausend fadendünnen Ranken anklebt, um aus den Säften des stützenden Baumes farbenschwelgerische Wunderblüten zu erzeugen, und er wollte sich um jeden Preis der anklammernden Umschlingung entziehen, vor der ihm graute. Eine abergläubische Furcht, sein Vaterhaus zu betreten, setzte sich in ihm fest, wo ihm war, als züngelten aus unzähligen Ritzen und Spalten feine tastende Wurzeln, die sich in ihn einsenken und ihm die freie Bewegung rauben wollten.

In dieser Zeit bekam er einen Brief seines Vaters, der nur selten und kurz zu schreiben pflegte, mit verworrenem Inhalt; er klagte über den mißlichen Gang der Geschäfte, woran Raphael die Schuld tragen sollte, dessen leichtes, übermütiges und großsprecherisches Wesen das sonst reichlich dargebrachte Zutrauen verscheuche. Bedeutende Tatsachen waren nicht angeführt, und die geäußerten Befürchtungen erschienen Michael übertrieben; denn Verluste, wenn sie wirklich stattgefunden hätten, könnten ein so festgegründetes Geschäft nicht so schnell erschüttern, und unkluge Spekulationen, zu denen Raphael sich vielleicht hätte hinreißen lassen, konnte er schwerlich ohne Wissen seines Vaters unternehmen. Es wurde ihm unbehaglich über dem Brief zumute; Waldemar hatte nie anders als klar, in großen, leserlichen Zügen geschrieben, während jetzt etwas Fremdes auch darin sich zeigte. Da das Ergebnis des Briefes war, Michael möchte unverzüglich kommen und sich selbst Einblick in die Geschäftslage verschaffen und mit ihm beraten, konnte alles füglich Vorwand und Erfindung sein, um ihm einen Zwang zur Rückkehr aufzuerlegen. Daß er dem Rufe Folge leisten mußte, stand ihm sogleich fest, aber er hatte Furcht; weniger vor dem, was sein Vater ihm ausmalte oder was sonst etwa vorgegangen sein konnte, als Furcht, er möchte nicht mehr in sein Paradies zurückkehren können. Das schöne Vaterhaus mit den rauschenden Pappeln war ihm wie eine dunkle Burg eines gewaltigen Lehnsherrn, der allzu kühne Vasallen, nachdem sie sich manchen Übergriff ungestraft erlaubten, unter klugen Vorspiegelungen lockt, um sie in schauerlichen Verliesen verschwinden zu lassen. Spät am Abend packte er seine Sachen, was er mitnehmen und was er zurücklassen wollte, in einer Erregung zusammen, die ihm selbst töricht und unbegründet erschien. Ob er das blaublitzende Meer und die braunen, waghalsigen Kinder, die daran spielten, je wiedersehen, ob er seine Arbeit am offenen Fenster, das Rauschen der Wellen halb unbewußt im Sinne, beenden würde, war das einzige, was er denken konnte. Als er mit dem Einpacken fertig war, ging er ins Freie, warf sich in den Kies des Strandes und tauchte beide Hände ins Wasser, als hoffe er, die feuchte Götterhand des Meeres würde sie ergreifen und ihn festhalten. Während der ganzen Reise verließ ihn die Angst nicht; erst als er in die Nähe der Heimat kam, richteten sich seine Gedanken auf seinen Vater, und allmählich wurde er ungeduldig, ihn zu sehen, und unruhig, in welchem Zustande er ihn finden würde. Noch ehe der Zug in die Bahnhofshalle einfuhr, beugte er sich aus dem Wagenfenster, um zu sehen, ob er ihn, wie sonst wohl, erwartete; der Platz, wo der Zug halten sollte, war dichtgedrängt von Menschen besetzt, unter denen er zunächst niemanden erkannte. Sein Herz klopfte, und er blickte hastig von einem zum andern; auf einmal sah er die vertraute Gestalt und zugleich, daß er sie vorhin unter den größeren gesucht und deshalb übersehen hatte; sein Vater erschien ihm klein, das Gesicht indessen nur insofern verändert, als es dicker und dabei schlaffer geworden war. Schmerz und zärtlichste Liebe überfluteten sein Herz, und er sprang ungeduldig aus dem Wagen, eilte, sich durchdrängend, auf seinen Vater zu und umarmte ihn. Indessen erwiderte dieser die Begrüßung zerstreut und fragte nach Koffer und Gepäckschein; erst als sie nebeneinander im Wagen saßen und dies und jenes gesprochen hatten, ruhte sein Blick etwas gesammelter und mit ängstlicher Liebe auf Michael. Michael sagte, sich auf den Brief beziehend, seine Befürchtungen müßten doch wohl übertrieben sein, ein so altes bedeutendes Geschäft sei nicht so leicht zu erschüttern, doch werde er gerne, wenn ihm das zur Beruhigung diene, die Bücher durchgehen und sich einen Einblick in die Lage zu verschaffen suchen. Waldemar nickte und schien durch diese Worte befriedigt zu sein, ohne aber weiter darauf einzugehen, was Michael in dem Gefühl bestärkte, es handle sich hier hauptsächlich um übertriebene, vielleicht krankhafte Einbildungen. Diese Vermutung bestätigte seine Mutter, als sie mit ihm allein war; die schwermütige Verstimmung seines Vaters habe stetig zugenommen und jetzt einen Grad erreicht, der jedes Behagen innerhalb der Familie vernichte. Namentlich plage er Raphael mit Vorwürfen und Beunruhigungen, die meist jeden Grundes entbehrten, sie hingegen mit albernen Zumutungen, zu sparen und sich einzuschränken, was sich in ihrer Häuslichkeit, wie sie nun einmal eingerichtet wäre, gar nicht durchführen ließe, auch wenn irgendwelche Ursache dazu vorläge. Daß die Schwermut sich von der Zeit schreibe, wo Michael fortgegangen war, berührte sie nur flüchtig, wie ihr überhaupt daran zu liegen schien, ihn nicht zu verletzen.

Raphael schlug einen leichten, gutmütigen Ton gegen Michael an, als wären niemals tödlich kränkende Worte zwischen ihnen gefallen. »Sei froh, mein alter Junge«, sagte er, »daß du dich beizeiten aus dem Loche herausgemacht hast, wo es immer brenzlicher und ungemütlicher wird. Wir haben unsere Not mit dem Vater, und wenn wir uns einmal gütlich tun und lachen wollen, muß es hinter seinem Rücken geschehen; doch ist uns freilich selten danach zumute.« Auch er ließ keinen Vorwurf gegen Michael einfließen und beklagte sich über seine Lage nicht mehr, als die Notwendigkeit, das Benehmen seines Vaters zu erklären, mit sich brachte; doch sah er nicht gesund und heiter aus, ob er sich nun durch Sorgen oder durch eine unvernünftige Lebensweise geschadet hatte.

Verena war verreist, und es herrschten in der Familie sonderbare Vermutungen und Befürchtungen über den Zweck ihrer Reise. Sie hatte nämlich kürzlich in einem Kurorte einen katholischen Priester kennengelernt, der solche Macht über sie gewonnen hatte, daß sie sich seitdem wie eine Katholische gebärdete und ein endgültiger Übertritt ohne Zweifel drohte. »Sie ist eigensinnig und unbeugsam, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat«, sagte die Malve, »und da du fort bist, hat kein vernünftiger Mensch mehr Herrschaft über sie.« Michael atmete auf, als er hörte, daß sie fort war, doch tat es ihm weh, daß sie Mario mitgenommen hatte, mit dem sie sich überhaupt, wie die Malve erzählte, viel eingehender als früher zu beschäftigen anfinge. Gabriel zöge sie bereits zu ihren literarischen Abenden zu, was ihn keineswegs liebenswürdiger oder verständiger mache; überhaupt hätte die heutige Jugend etwas Erkünsteltes und Verstiegenes, was für Schönheit und Tiefe ausgegeben würde, ihr aber größtenteils Firlefanz zu sein scheine. Immerhin hätte sich Gabriels Geist in erstaunlicher Weise entwickelt; Raphael gestände es zwar nicht zu, hätte aber nicht den Mut, ein selbstgemachtes Gedicht in seiner Gegenwart vorzutragen. Sie erzählte in ihrer anmutig drolligen Weise, wie sie in glänzender Gesellschaft gesprochen haben würde, kindlich ehrlich und zugleich mit der Absicht zu belustigen; aber über ihre Worte hinüber sahen ihre süßblickenden Augen Michael klagend an.

»Arme Mama«, sagte er zärtlich, »du hast kein Glück mit deinen Söhnen.« Sie lächelte, indem sie antwortete: »Du scheinst ja nun doch ein berühmter Mann zu werden, und was Gabriel betrifft, so ist er an Verstand fast ein Wunderkind zu nennen. Meinem armen Raphael ist freilich ein schweres Los zuteil geworden, und ich bewundere oft, daß er sich seine gute Laune wenigstens nicht ganz hat rauben lassen; freilich ist das Verdienst zum Teile seiner klugen kleinen Frau zuzuschreiben.« Die Malve stand gut mit der jungen Frau, die ihr in mancher Hinsicht glich, nur daß sie eine viel leichtere und unbedeutendere Natur war und sich deshalb, und weil sie die jüngere war, der schönen, stattlichen Schwiegermutter willig unterordnete. Sie fürchtete Verena, machte sich aber gern hinter ihrem Rücken auf eine kindisch spitzbübische Art über sie und den Kreis, in dem sie verkehrte, lustig, was der Malve Spaß machte. Überhaupt war ihre Munterkeit und ihr lautes, helles Lachen in dem ernsten Hause unentbehrlich geworden und selbst dem alten Unger ein angenehmer Klang, den er vermißte, wenn sie sich längere Zeit nicht blicken ließ. Michael war sie nicht sympathisch, und er begriff nicht, daß ihre Oberflächlichkeit und ihre gedankenlose, oft alberne Lustigkeit sie eine solche Rolle in seinem Elternhause spielen lassen konnte; aber er unterdrückte seine Meinung; was hätte er ihnen auch zum Ersatz für ihre Jugend, ihr Lachen, ihre Harmlosigkeit bieten können?

Hauptsächlich ließ er es sich angelegen sein, seinem Vater die Haltlosigkeit seiner quälenden Einbildungen zu beweisen, was aber keine leichte Aufgabe und ganz nach seinem Wunsche gar nicht durchführbar war. Einesteils erklärte es Raphael für eine Torheit und beleidigend gegen ihn selbst, daß Michael Erklärungen über Dinge abgeben wollte, die er, Raphael, viel besser verstehen müßte und seinem Vater auch zum Überfluß auseinandergesetzt hätte, ohne Erfolg natürlich, da sie eben in seiner Einbildung beständen. Michael konnte demnach nicht wohl darauf bestehen, die Geschäftsführung, soweit sie Raphael anging, zu untersuchen, was auch Waldemar nicht ausdrücklich verlangte, der überhaupt niemals ganz offen mit dem, was er gegen Raphael auf dem Herzen hatte, gegen diesen hervortrat. So begnügte er sich damit, alles sorgfältig durchzugehen, was sein Vater ihm vorlegte, obwohl es ihm außerordentlich peinlich war, sich mit dieser Arbeit zu befassen, auf der ihm der Staub und Schutt aller der Jahre seiner Abwesenheit zu liegen schien. Gewann er nun aber auch einmal seinem Vater das Zugeständnis ab, er hätte die Dinge zu schwarz gesehen und sich durch trübe Stimmung zu weit in willkürlichen Befürchtungen fortreißen lassen, stellte sich jedesmal heraus, daß damit nichts gewonnen war und die düsteren Vorstellungen nach gewisser Zeit wiederkamen, so daß er schließlich an jedem Erfolge verzweifelte, solange sein Vater nicht in eine ganz andere Umgebung versetzt würde und dadurch notgedrungen andere Eindrücke in sich aufnehmen müßte.

Raphael und die Malve nahmen Michaels Vorschlag, er wolle seinen Vater mitnehmen und so lange wie irgend möglich vom Hause fernzuhalten suchen, beifällig auf und sagten, daß der Arzt immer auf Entfernung von den Geschäften und Veränderung der Lebensweise gedrungen hätte, daß aber kein Zureden ihn bewogen habe, dem Rate zu folgen. Michael brachte es mit Bitten endlich dahin, daß Waldemar versprach, ihn bis zu seinem jetzigen Aufenthaltsorte zu begleiten, unter dem Vorbehalte jedoch, daß Michael ihn ohne weiteres reisen ließe, wenn er sich unbehaglich fühlen und nach Hause verlangen sollte; was Michael versprach, aber leicht hintertreiben zu können glaubte, wenn sie erst einmal unterwegs wären. Es machte Michael einen eigenen Eindruck, daß niemand ihn diesmal zurückhalten wollte, vielmehr alle ihn aufs freundlichste zur Abreise antrieben, da sie voll Unruhe waren, irgendein Zufall möchte die Ausführung des Planes verhindern. Besonders seine Mutter und Raphael konnten den Augenblick nicht erwarten, wo der drückende Alp vom Hause weggewälzt würde; sie waren lustig wie Kinder, die ein paar Tage ohne Aufsicht bleiben sollen, und Michael konnte nicht umhin, an dem Übermut Freude zu haben, den sie dabei entfalteten.

Auch Michael hatte sich darauf gefreut, seinen Vater für sich allein zu haben und sein leidendes Gemüt durch seine liebevolle Nähe und durch reine, schöne Eindrücke, die er ihm zuführen würde, zu heilen oder doch zu lindern; doch zeigte sich auf Schritt und Tritt, wie schwer es war, dem schwerfälligen, alternden Manne beizukommen. Er hatte die Reise, was sich leicht einrichten ließ, über die Stadt geleitet, wo er studiert hatte, nicht nur, weil er sich gewöhnt hatte, zu glauben, ihre strahlende Schönheit müsse auf jedermann einen befreienden Eindruck machen, sondern weil er annahm, es würde seinen Vater interessieren, den Ort kennenzulernen, wo er so lange gelebt und sich so glücklich gefühlt hatte, wo ihm so mancher Platz lieb und bedeutungsvoll geworden war, den er ihm zeigen konnte.

Da sie bei vorgerückter Abendstunde ankamen, führte Michael seinen Vater sogleich in einen schön gelegenen Garten am See, wo sie das Abendessen einnehmen wollten. Er hatte vergessen, daß sein Vater ungeduldig und zornig zu werden pflegte, wenn die Bedienung lässig war, und erinnerte sich erst mit Schrecken daran, als der Ärger in jenem bereits zu kochen anfing. Daß es vergeblich sein würde, ihn durch Hinweis auf die Pracht der umgebenden Natur abzulenken, wußte er, und er machte ihn deshalb darauf aufmerksam, daß es spät sei, die Gerichte aber auf eine frühere Stunde bereit sein müßten, daß in Wirtschaften, wo die Gäste den ganzen Nachmittag und Abend zuzubringen pflegten, um die Aussicht zu genießen, in bezug auf Bedienung gewöhnlich weniger geleistet würde als in anderen, und daß es sein Fehler sei, gerade diese gewählt zu haben. Der Eifer und die Umständlichkeit, mit der sein Vater alles widerlegte, was er zur Entschuldigung der Wirtschaft vorbrachte, während es sonst so schwer hielt, ihn in ein Gespräch hineinzuziehen, machte ihm einen peinlichen Eindruck. Als vollends Waldemar, da er zu bemerken glaubte, daß später gekommene Fremde eher als sie bedient wurden, mit lauter Grobheit gegen die Kellnerin herausfuhr und drohte, auf der Stelle aufstehen und weggehen zu wollen, hatte er Mühe, ein widerwilliges Gefühl zu unterdrücken. Doch machte er sich diese Reizbarkeit selbst zum Vorwurf und bemühte sich, dem Vorgang eine komische Seite abzugewinnen, wodurch es ihm denn auch glückte, seinen Vater zu beschwichtigen. Eine Flasche Wein, von dem sein Vater behauptete, es sei eine geringere Sorte, als die aufgeklebte Etikette angab, veranlaßte noch einmal einen heftigen Zornesausbruch, bis schließlich, nachdem anderer herbeigeschafft war, der besser mundete, seine Stimmung sich milderte. Er fing nun an, von Reisen zu erzählen, die er in früherer Zeit gemacht hatte, und verweilte vorzüglich bei den Speisen und Getränken, die da und dort üblich waren, und erinnerte sich an allerlei kleine Vorfälle, die sich um dergleichen drehten.

Michael hörte zu, sah auf den dunklen, flimmernden See, auf dem zahllose Kähne schaukelten, und kämpfte gegen schwer heraufsteigende Sehnsucht und Traurigkeit. Er wollte von etwas anderem anfangen; aber er hatte nicht den Mut, seinen Vater zu unterbrechen, da er einmal in leidlich guter Laune zu sein schien; als er es schließlich doch tat, folgte ihm Waldemar wohl eine Weile, wurde aber bald müde und wünschte in das Gasthaus gebracht zu werden und zu schlafen.

Für den folgenden Tag hatte Michael eine Zusammenkunft mit dem Freiherrn gewünscht, den er sich sehnte wiederzusehen und von dem er überzeugt war, daß er seinem Vater gefallen, ja imponieren würde. Doch fügte es sich, daß an diesem Tage ein sozialdemokratisches Fest war und daß der Freiherr bei diesem Anlasse eine Rede hielt, weswegen er vor Mittag nicht abkommen konnte. Für Michael war dies höchst überraschend und, da er nun einmal in Gesellschaft seines Vaters war, ebenso unangenehm; denn er hatte darauf verzichtet, Boris und Arabell zu sehen, da er, wenn die Rede auf Politik käme, unliebsame Auftritte fürchtete, und mußte nun etwas Ähnliches mit dem Freiherrn besorgen. In aller Frühe veranlaßte ein Aufzug von Arbeitern, wobei rote Fahnen und rote Nelken getragen wurden, den alten Unger zu groben und leidenschaftlichen Auslassungen, in die Michael nicht einstimmen mochte und die er doch nur mit Vorsicht zu mildern wagen durfte. Es war nicht möglich, ihn im Laufe des Vormittags dauernd von diesem ärgerlichen Ereignis abzubringen, vielmehr war es, als verursache es ihm Genugtuung, einen für Groll und Beschimpfungen geeigneten Gegenstand gefunden zu haben.

Die Persönlichkeit des Freiherrn und die fröhliche Herzlichkeit, mit der er Michael begrüßte, ohne von ihm selbst mehr Notiz zu nehmen, als die Höflichkeit gebot, machte einen angenehmen Eindruck auf Waldemar. Der Freiherr war jünger und feuriger als je; erfüllt von Neuigkeiten, die seinen Prozeß wegen Bigamie betrafen, war er ungeduldig, sie Michael mitzuteilen: doch glückte es diesem, ihm durch einen beschwörenden Blick das Wort rechtzeitig abzuschneiden. Wie nun aber Michael dasselbe versuchen wollte, als der Freiherr seinen heutigen Vortrag und sonstige Erlebnisse von der Arbeiterfeier zu schildern im Begriffe war, fing dieser zu lachen an und sagte belustigt zu Waldemar: »Ihr Sohn möchte Sie hinstellen, als ob Sie ein Spion oder ein schreckhaftes Mütterchen wären; da Sie aber keinem von beiden gleichen, stehe ich nicht an, Sie zum Mitwisser der Übeltaten zu machen, die ich heute begangen habe, indem ich den Leuten mit der roten Fahne eine väterliche Ansprache habe zukommen lassen.« Er erzählte nun, was er gesagt und welchen Eindruck er gemacht hätte, durchaus wahrheitsgemäß und dabei so geschickt, daß der alte Unger nicht nur nichts einzuwenden hatte, sondern mehrmals herzlich lachen mußte und voll Billigung und Bewunderung war. Es schien ihm, als hätte der Freiherr seine eigene Überzeugung vertreten, nur meinte er, sollte man sie nicht aussprechen, da man anderen nicht damit nützen, sich aber schaden könnte. »Wissen Sie denn nicht, was für ein Reiz im Wagen liegt?« sagte er lachend. »Kennen Sie die Sage von dem See nicht, in den man kein Steinchen werfen durfte, ohne ein vernichtendes Unwetter herbeizuführen, und wie es die vorübergehenden Wanderer nun durchaus nicht lassen konnten, geschwind und unvermerkt wenigstens einen kleinen Kiesel hineinzuspritzen? Ernstlich, es hat etwas überaus Anziehendes, wo recht viele Menschen versammelt sind, laut und nachdrücklich zu sagen, was verboten ist. Ich hätte nie geglaubt, daß ein Mann wie ich, der voll vom echtesten Ahnenblut ist, einen so gassenbübischen Hang haben könnte. So sagte ich vor ein paar Tagen gelegentlich, ein Königsmörder wäre weit lobenswerter als die Massenmörder zu Pferd und zu Fuß, genannt Feldherren, denen Denkmäler wie Pilze nach dem Regen aus der Erde schössen, was natürlich nicht meine Meinung ist, da in Wahrheit die einen so wenig wie die anderen taugen.«

Während Michael lachte, machte Waldemar große Augen und fragte, ob es denn die Regierung gern sähe, wenn er in seiner Stellung als Universitätslehrer sich in solcher Weise hören ließe. Nein, sagte der Professor lachend, das sähe sie freilich nicht gern; aber die Tage, wo er Professor wäre, wären sowieso gezählt, und da er kein Vermögen hätte, müßte er sich beizeiten einüben, als Volksredner und Bänkelsänger sein Brot zu verdienen. Waldemar wurde mißtrauisch und unruhig und sagte: »Ich gestehe, daß ich nicht begreife, wie man so ernste Dinge so leicht nehmen kann. Es ist etwas Entsetzliches, wenn ein Mann in unseren Jahren plötzlich stellenlos und brotlos wird. Wie kann man sich im Alter noch auf neuen Gebieten in Wettbewerb mit jungen Leuten wagen? Sie sollten meiner Ansicht nach alles tun, um die glänzende Stellung, die Sie innehaben, nicht zu verscherzen.«

»Verzeihen Sie, wenn ich anderer Meinung bin«, sagte der Freiherr. »Alte Männer, wie Sie und ich, sollten, wenn sie es nicht schon vorher getan haben, wenigstens jetzt anfangen, ihren Blick vom Diesseits auf das Jenseits zu richten. Es kommt selten vor, daß ein gebildeter Mensch, der arbeiten kann und will, auf der Straße Hungers stirbt, aber sehr häufig, daß einer sich drüben das Brot nicht verdienen kann, um den verklärten Leib daraus aufzubauen. Schrecklich ist es, wenn man das Beste vergißt, wie es in den Märchen heißt. Die Menschen verzweifeln, wenn sie nicht wissen, wovon sie morgen leben werden, und fragen sich nie, womit sie sich die Ewigkeit hindurch ernähren werden. Gott hat drüben keine Vorratskammern für die Unbemittelten, sondern ein jeder muß sich selbst versorgen; denn ihre Werke folgen ihnen nach, steht geschrieben.«

Der Freiherr hatte das nicht unliebenswürdig, aber mit Hochmut gesagt; Waldemar schob seine Tasse zurück – denn sie hatten nach dem Essen den Kaffee zusammen genommen – und sah ihn starr, mit sichtlichem Bemühen, seine Gedanken zu ordnen, an. »Wir sollen glauben«, sagte er endlich, »daß unsere guten Taten belohnt und unsere Missetaten bestraft werden, das weiß ich. Ist es aber eine Missetat, zu arbeiten, um seine Familie zu erhalten und ihr Geld zu hinterlassen, wovon sie leben kann?«

»Eine Missetat? Nein, Pflicht ist es«, sagte der Freiherr. »Es ist aber bei weitem nicht genug, keine Missetaten zu begehen. Stellen Sie sich einmal die guten Werke, die Sie tun, wie Strahlen vor, aus denen Ihnen im Jenseits ein ätherischer Leib gewoben wird. Fehlt es nun an Strahlen, so muß Ihre Seele, nachdem der Staubleib verfallen ist, heimatlos auf der Erde herumschwirren, ohne Erdenleben zu besitzen, ein Zustand etwa wie der, in dem ein aus dem Gefängnis ausgebrochener Mörder lebt, der sein Gesicht nicht zeigen, seine Stimme nicht hören lassen kann, bei Tag verschwindet und im Dunkel gespenstisch umgeht.«

»Ich glaube, Sie wollen meinem Vater das Gruseln lehren«, sagte Michael lachend, während dieser wirklich, starr mit seinen großen Augen den Freiherrn ansehend, einem eingeschüchterten Kinde glich. Er wurde schweigsam und schien, vor Müdigkeit oder Zerstreutheit, dem Gespräche nicht gut mehr folgen zu können. Als er mit Michael allein war, äußerte er sich nicht abfällig über den Freiherrn, verlangte aber, die Reise sogleich fortzusetzen, da er ungeduldig sei, die Briefe zu erhalten, die er sich nach einer Stadt in Italien hatte nachschicken lassen. Michael redete nicht zu längerem Verweilen zu. Er hatte auf einen größeren Aufenthalt in verschiedenen italienischen Städten gerechnet und gehofft, was es dort an Schönheit und Merkwürdigkeit gäbe, würde seinen Vater eine Weile beschäftigen; allein dort erklärte Waldemar vollends, nicht eine Stunde mehr als notwendig sei bleiben zu wollen, da er Italien mehrfach bereist habe und in jeder Hinsicht unleidlich finde. Während sie im Eisenbahnwagen an reichen Bildern der edelsten Natur vorüberfuhren, zog er von Zeit zu Zeit sein Taschenbuch hervor, überlas seine Briefe, machte sich Notizen und rechnete; Michael erschöpfte sich in Versuchen, ihn bald geradezu durch scherzenden Tadel, bald auf Umwegen und mit List wenigstens vorübergehend seiner öden Qual zu entreißen.

Die ärmliche Behausung Michaels im Fischerdorfe erregte sein Befremden; er konnte sich durchaus nicht vorstellen, warum es ihm dort so wohl wäre, und auch für seine Arbeit konnte er kein rechtes Verständnis gewinnen. Doch war hier etwas, das ihn anzog und erfreute, nämlich das Meer, sei es, daß es Erinnerungen an manche frohe Fahrt in der Jugend, wo er viele große Reisen gemacht hatte, in ihm anregte, sei es, daß der ungeheure Anblick der allbeweglichen Flut unmittelbar wohltätig auf sein Gemüt einwirkte. Er bezeigte lebhaftes Vergnügen an einer Ruderfahrt, die sie unternahmen, schwatzte behaglich mit den Fischersleuten und legte sich, zum ersten Male seit sie unterwegs waren, mit allen Anzeichen von Ruhe und Behagen an den Strand, während Michael nach einem etwa eine Stunde weit entfernten Orte ging, um einen besonders guten Wein für seinen Vater zu kaufen. Diesem war die Zeit seiner Abwesenheit nicht lang geworden; er erzählte, zwischenhinein mit augenscheinlichem Vergnügen den feurigen Wein trinkend, von allerlei Jugenderlebnissen, die ihm eingefallen waren: von Stürmen auf dem Meere, von Kapitänen, Matrosen und anderen Schiffsbekanntschaften, von ängstlichen Stunden und beherzten Taten, frisch, anschaulich und nicht ohne eine künstlerische Freude an lebendiger Darstellung des einst Erlebten.

Michael war glücklich über diese Wendung und wählte jedes Wort behutsam, um die schöne Stimmung nicht zu verscheuchen; auch kam nichts Trübendes dazwischen, doch wurde Waldemar allmählich stiller und starrte schließlich, als es dunkel wurde, wortlos mit schwermütigem Blicke auf das unendliche schwarze Geflüster, ohne sich losreißen zu können.

Am andern Morgen erklärte er zu Michaels äußerster Überraschung, der schon Hoffnung gefaßt hatte, seinen Vater vielleicht einige Monate oder Wochen bei sich halten zu können, sofort nach Hause reisen zu wollen. Alle erdenklichen Einwände, die Michael machte, verfingen nicht; als er ihn auf das Meer hinwies, das er so liebte, schüttelte er heftig den Kopf und sagte, daß ihm vielmehr ein längerer Anblick des Meeres Schwindel verursachte. Michael sah ein, daß er den Widerstand aufgeben müsse, wenn er seinen Vater nicht bedenklich reizen wollte; erst als er nachgegeben hatte und sich selbst an den Vorbereitungen zur Reise beteiligte, wurde Waldemar ruhiger. Auch sich nach Hause begleiten lassen wollte er durchaus nicht; es hatte fast den Anschein, als sei er froh, eines Beobachters ledig zu werden. Indessen auf dem Wege zur Bahnstation, den sie zu Fuß machten, war er zugänglich und liebevoll. Da Michael ihm zuredete, sich vom Geschäfte zurückzuziehen, Raphael mehr Vertrauen zu zeigen und ihm dadurch seine Stellung lieber und leichter zu machen, sprach er von Raphaels Leichtsinn und Unzuverlässigkeit, von seinen Sorgen und daß er durchaus die Zügel nicht aus der Hand lassen dürfe. Er hatte Michaels Arm genommen, lehnte sich darauf und verlor sich mehr und mehr in Betrachtungen über den Druck seines Berufes, die Mühsal und Freudlosigkeit seines anstrengenden Lebens, wobei er zuweilen auffallende Zerstreutheit verriet. »Ich bin froh, daß ich dich nicht habe Kaufmann werden lassen«, sagte er plötzlich zu Michael, der nicht antwortete.

Als der Zug, in dem sein Vater saß, sich bewegte und das geliebte Gesicht ihm noch einmal ernsthaft freundlich zulächelte und dann verschwand, ergriff Michael plötzlich Unruhe und Reue, daß er ihn allein hatte reisen lassen, daß er ihm seine Begleitung nicht gewaltsam aufgedrungen hatte. Dem Anscheine nach ein gesunder Mann, fing er ja an, ein kindischer Greis zu werden. Er dachte daran, ihm mit dem nächsten Zuge nachzureisen, sagte sich aber, daß er wenig Wahrscheinlichkeit habe, ihn zu erreichen, da er sich vorgenommen hatte, durchzureisen, und daß er in diesem Falle schnell und schließlich ohne gerade gefährlichen Zufällen ausgesetzt zu sein, wieder zu Hause sein würde. Auf seinem einsamen Wege ins Dorf zurück strömten ihm die Tränen über das Gesicht; aber dennoch war ein großes Frohlocken in der Tiefe seines Herzens. Er fühlte, daß er frei zu werden begann; zu Hause hielt ihn keiner mehr, seine Frau schlug Wege ein, die sie notwendig immer mehr von ihm entfernen mußten, sein Vater ging den Weg, der langsam aus der Gegenwart in die Vergangenheit führt. Das mußte so sein; still ging er in eine unbekannte Ferne, wo er des Sohnes nicht mehr bedurfte, er hingegen ging dem unsterblichen Meere entgegen, dessen donnerndes Jauchzen er von weitem hörte. O Leben, o Schönheit! sang es. O Leben, o Schönheit!

*

Die Veröffentlichung seiner Arbeit erwarb Michael, auf den schon ein paar kleinere, früher erschienene Schriften aufmerksam gemacht hatten, einen guten Namen, und da er von mehreren Seiten lebhaft empfohlen wurde, bekam er, was sein dringendster Wunsch war, die Anstellung an einer zoologischen Anstalt, die kürzlich von der Regierung seines Landes am Mittelländischen Meere gegründet worden war. Dem Namen nach war ein anderer der oberste Leiter, ein Mann von einflußreichen Verbindungen, dem durch diese Stellung der Aufenthalt im südlichen Klima, der ihm gesundheitshalber verordnet war, ermöglicht werden sollte, dem aber alle Vorbildung fehlte, so daß er einen Beamten zur Seite stehen haben mußte, der die Anstalt für die Wissenschaft nutzbar machen konnte. Dies brachte den Nachteil mit sich, daß Michael keinen seiner Tätigkeit entsprechenden Titel führen und Gehalt beziehen konnte; von dem, was er erhielt, hätte er seine Familie nur bei bescheidensten Ansprüchen und wenn sie bei ihm gewesen wäre, erhalten können. Obwohl dies in seiner Lage nicht wenig ins Gewicht fiel, mußte er doch die Anstellung als einen großen Glücksfall betrachten; denn er hatte die beste Gelegenheit, weitere Studien zu machen, die ihn in seiner Laufbahn wiederum fördern konnten, und durch kleinere Veröffentlichungen hoffte er nebenbei Geld verdienen zu können.

Der Direktor war ein liebenswürdiger Weltmann, mit dem Michael gut auszukommen sicher war; er beanspruchte, von aller Arbeit und geschäftlichen Verdrießlichkeiten entlastet und womöglich gut unterhalten zu werden, schien aber dafür kein Gelüste nach Einmischung oder Scheinherrschaft zu haben. Die Ereignisse hatten Michael gehoben und getragen, mehr als er je hätte hoffen können; nur in dem einen Punkte, in seinem Verhältnisse zu Rose, war er mit dem stärksten Wollen immer noch nicht weitergekommen.

Ehe er seine Anstellung antrat, durch welche er in Zukunft mehr als früher gebunden sein würde, traf er sich mit Rose in Verona, das ungefähr in der Mitte zwischen ihnen lag. Es waren jetzt acht Jahre seit jenem Frühling verflossen, wo sie sich das erstemal gesehen hatten; ihm war zumute, als wäre er nach rastlosem Vorwärtsstürmen in ungewisse Ferne von Gefahren endlich an einem Ruhepunkte angekommen, wo er Atem holen und rückwärts schauen konnte. Sie fühlten sich beide gereift und gestärkt und durch äußere Anerkennung befestigt; denn auch Rose hatte mit ihren besten Arbeiten wenn auch nicht Beliebtheit bei der Menge, so doch die höchste Anerkennung von Kunstfreunden erworben. Als sie sich wiedersahen, umgeben von stolzester und mildester Schönheit der Erde, überkam sie eine Wonnegefühl, das schwindeln machte. Noch hatten sie die kühle, schäumende Etsch, die uralten Brücken und Türme, die einsame Herrlichkeit der ansteigenden Gärten und die violetten Zacken der Gebirge nicht unterschieden und empfanden schon die Schönheit des Bildes wie das Aroma eines starken Weines. Während sie auf einem Hügel vor der Stadt standen und schauten, sah Michael mit glücklicher Genugtuung das unersättliche Staunen ihrer Augen, die, wie zwei dunkle, ruhende Schmetterlinge über der Blume, an der Landschaft hingen, um Nektar zu saugen. »Wenn man das Sterben lebendig empfinden könnte«, sagte sie und ließ ihren feuchten Blick auf Michael wandern, »möchte ich jetzt sterben: die ganze Seele in die Schönheit der Erde hinunterstürzen, daß nicht ein Tropfen zurückbliebe.«

»Bei dir darf man nicht eifersüchtig sein«, sagte Michael; während sie Hand in Hand den Hügel hinunter gegen die Stadt gingen, erzählte ihm Rose, was sich an jenem Nachmittage im Konzertgarten zwischen ihr und dem Freiherrn zugetragen hatte. Er hörte schweigend zu und sagte nach einer Weile: »Wärest du nicht so, müßte ich dich nicht so lieben«, wobei er ihre Hand, die er im Gehen in seiner gehalten hatte, an seine Lippen zog. Trotzdem sah sie einen Schatten von Traurigkeit auf seinem Gesichte und rief erschrocken: »Nein, traurig darfst du nicht sein; zwischen uns muß lauter Glück und Liebe sein. Fühlst du nicht, daß ich nur dich liebe und nur dein bin und ewig dein wäre, auch wenn ich dich heute aus toller Leidenschaft zu einem anderen verließe?« Michael lachte. »Deine Arzneien sind so bitter, daß man lieber nie über Schmerzen geklagt haben möchte«, sagte er. »Ich fühle, daß du mich liebst und mein bist und daß du mich nicht so leicht verlassen wirst; aber dennoch fasse ich dich nicht völlig, das fühle ich auch. Du gibst dich mir ganz, und doch hast du in jedem Augenblick noch Überfluß, den du in jede Schönheit, die sich vor dir auftut, hinunterstürzest.« Plötzlich fiel ihm die Stelle aus der Schrift des Freiherrn über die Ehe ein, die er mit so viel Aufmerksamkeit gelesen hatte, und er sagte: »Oder ist es, weil ich deinem Geiste zu wenig geboten habe? Weil ich nie versucht habe, dich über die Erde zu den Höhen des Geistes zu tragen?«

Rose sah ihn verwundert an, und schließlich mußten beide lachen. »Ist das ein Auszug aus einer Rede des Freiherrn?« fragte sie. »Ich will keine Höhen, als die Höhen der Erde, und da bin ich immer oder doch oft. Was du meinst, ist dies: wie die Christen über dem Geliebten noch Gott und den Geliebten in Gott lieben, so liebe ich die Erde über alles. Wo ich ihre Götternähe fühle, glüht die Flamme der ewigen Andacht in mir auf und berauscht mich, denn sie ist wohlriechend, als ob sie mit Sandelholz und Weihrauch genährt wäre. Dann sind mein Leib und meine Seele Opfer der Erdmutter, auf die du nicht eifersüchtig sein darfst.«

»Ich will dich, wie du bist und nicht anders«, sagte Michael ruhig; es war auch nicht die leiseste Trübung in seinem Gemüte zurückgeblieben.

Sie fanden eine passende Wohnung in einem kleinen, außerhalb der Stadt am Strome gelegenen Hause, das einem noch jungen, von vielen Kindern umringten Ehepaare gehörte. Die Frau war eine hübsche, verständige Person, deren Gedanken nie über ihren Mann und ihre Kinder, mit denen sie sich ziemlich viel abgab, hinausgingen; sie war nicht träge, aber behaglich, und überließ soviel Arbeit wie möglich dem Dienstmädchen, dem anzusehen war, daß es in nächster Zeit ein Kind erwartete. Rose freute sich darüber, daß die Frau gutmütig genug war, das Mädchen trotzdem im Dienste zu behalten, was diese aber für selbstverständlich anzusehen schien. Sie war sehr gesprächig und erzählte, daß der Geliebte des Mädchens bei einem Streit mit einem andern, wobei auch Eifersucht im Spiele gewesen sei, erstochen worden wäre; das arme Geschöpf sei nun übel daran, würde aber vielleicht, wenn er nach Jahresfrist aus dem Gefängnis entlassen werde, den andern heiraten. Dieselbe Gutherzigkeit bewies die Frau einer Dame, die mehrere Zimmer bei ihr bewohnte: diese war nämlich ihrem Manne, der ihr aus unbegründeter Eifersucht, wie sie sagte, nach dem Leben stellte, entflohen und hoffte, sich in dem bescheidenen Häuschen, das von ihrer Heimat, dem südlichen Italien, so weit entfernt lag, vor ihm schützen zu können. Ihre zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, hatte sie bei sich; es waren hübsche, feine Kinder und sie selbst eine junge, schöne, reich und elegant gekleidete Frau mit großen, schmachtenden Augen im blassen Gesicht. Sie lebte äußerst zurückgezogen und scheute jedes Gespräch; ihre Unruhe und nervöse Furchtsamkeit teilten sich leicht denen, die um sie waren, mit, so daß es von Seiten der jungen Leute, wenn sie auch gut bezahlt wurden, wohl als ein Opfer gelten konnte, sie aufgenommen zu haben. Beide hielten die Dame, die sie mit großer Aufmerksamkeit behandelten, für unschuldig, und die Frau konnte Rose nicht genug davon erzählen, was die Frauen unter der bösartigen Eifersucht der Männer zu leiden hätten, und wie gut sie selbst daran sei, daß ihr braver Mann sie mit dergleichen verschone. Sie hatte ihre Freude daran und rühmte es oft, daß Michael und Rose, die sie für Eheleute hielt, so liebevoll und einig wären, wie sie es, behauptete sie, weder bei Einheimischen noch bei Fremden je gesehen hätte.

Rose konnte sich anfangs nur mühsam mit den Italienern verständigen, da sie der Sprache nicht mächtig war; doch brachte ihr Michael schnell so viel bei, daß sie sich notdürftig ausdrücken und sich mit Hilfe von ein paar Büchern und namentlich von Zeitungen selbst weiterbringen konnte. Wenn sie in früherer Zeit zusammen waren, hatte sie es nicht leiden mögen, wenn Michael sich in Zeitungen vertiefte; nun sie es selbst tat, ging sie damit um wie eine Frau vom Lande oder sonst des Lesens ungewohnte Leute, für die ein Zeitungsblatt lauter bedeutsame und schwerwiegende Offenbarungen enthält. Viele Tatsachen und Zustände der großen Welt, die ein aufmerksames Schulkind ihr hätte sagen können, waren ihr unbekannt und erschienen ihr um so wunderbarer, weil sie sich ihr zum ersten Male in einer fremden Sprache darstellten. Michael mußte unaufhörlich bestätigen, erklären und erläutern, und sie kam ihm vor wie ein Königskind, das man gleich nach der Geburt in einen Turm gesperrt und dort hat aufwachsen lassen und das ein Zufall plötzlich in das Getümmel der Welt gesetzt hat. Schließlich warf sie das Blatt fast immer mit Abscheu aus der Hand wegen der traurigen und häßlichen Dinge, die sie gelesen hatte: langweilige Schachzüge von Königen und Staatsmännern, planlose Untaten, harte Bestrafungen, trockene Aufzählung endlosen menschlichen Jammers. Anfänglich hoffte sie, Michael würde das meiste davon Lügen strafen, weil sie oft gehört hatte, daß man den Zeitungen Unwahrhaftigkeit vorwarf, und wenn er dann mit Achselzucken erklärte, das könne schon so sein, solches komme in der Tat vor, erzürnte sie sich gegen ihn, daß er so ruhig dabei bliebe.

Er sagte: »Wenn mich alles Schreckliche erschütterte, wovon ich höre oder lese, würde ich nie einen Augenblick auf festen Füßen stehen. Du mußt auch bedenken, daß einen nichts so hart treffen kann, wie es einem andern erscheint, weil alles, auch das scheinbar Zufällige, was uns heimsucht, mit unserm Wesen in irgendeinem Zusammenhang steht. Ferner, wenn wir die Welt vom Übel befreien könnten, würden wir ihr gewiß zugleich ihr Schönstes nehmen.« Rose sah ihn mit einem langen, sinnenden Blick an und sagte: »So reden die Leute, die nicht nachdenken und denen es gut geht; du solltest nicht so reden.«

In diesen Tagen waren die Blätter voll von dem Räuber Maffurio, der seit einigen Jahren in den Abruzzen sein Wesen trieb und dem die Soldaten kürzlich auf die Spur gekommen waren; täglich erwartete man von seiner Gefangennahme zu hören, doch hatte er, so unrettbar er umstellt schien, sich immer wieder durchschlagen oder entschlüpfen können. Maffurio war, kaum zwanzig Jahre alt, wegen einer aus Edelmut und Hilfsbereitschaft entsprungenen Tat zum Gefängnis verurteilt worden. Er hatte nämlich einem begüterten Bauern, der einer armen, alten, ihm verschuldeten Frau die einzige Kuh, von der sie ihren Lebensunterhalt bezog, als Schadenersatz weggenommen hatte, diese wiederum aus dem Stalle geholt und der alten Frau zurückgegeben, wobei er erst den Knecht des Bauern, dann diesen selbst, da sie ihn mit der Peitsche vertreiben wollten, nicht unerheblich verwundet hatte. Er hatte sich hernach versteckt und würde dem fahndenden Gerichtsboten, wie es oft geschah, unzweifelhaft entwischt sein, wenn ihn nicht ein junger Mensch, der sich wegen eines Mädchens an ihm rächen wollte, verraten und ausgeliefert hätte, so daß er verhaftet wurde. Er wurde schwerer bestraft, als es der Fall an sich mit sich gebracht hätte, einmal weil er sich der Verhaftung mit Anwendung von Gewalt hatte entziehen wollen, und zweitens weil die Regierung sich vorgesetzt hatte, die Selbsthilfe, wie sie sich in der dortigen Gegend noch ein jeder anzumaßen pflegte, endlich einmal auszurotten, was insofern manche Unbilligkeit mit sich brachte, als das Recht keineswegs immer tadellos gehandhabt wurde und das Volk nicht ganz mit Unrecht bei seinem alten Brauche sich besser zu stehen glaubte.

Es war dem Maffurio gelungen, aus dem Gefängnis zu entkommen, wie er sagte und wie das Volk allgemein glaubte, mit Beihilfe der schmerzhaften Mutter Gottes, welche seine besondere Schutzpatronin war. Seit dieser Zeit hauste er in den Höhlen und Klüften der Abruzzen, im ganzen ungefährlich, außer für etwaige Abgesandte der Regierung, Gendarmen und Soldaten, die zuweilen ausgeschickt wurden, um ihn zu fangen. Von solchen hatte er mehrere getötet, sonst stellte er niemandem nach, seit er seinem Rachegelübde gegen den Verräter, der ihn ausgeliefert, Genüge getan hatte. Diesem hatte er jahrelang aufgelauert, ja sich in dunklen Nächten in das Dorf gewagt, in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen; allein der Mann, der wußte, was seiner harrte, war vorsichtig und traute sich selten gegen die Wälder hin, bis eine längere Zeit vergangen war; da wurde er sicher, ging mit seinem kleinen Knaben in Geschäften über Land und wurde unterwegs in einsamer Gegend von Maffurio überrascht. Die Anwesenheit des Kindes, das laut weinte und um seines Vaters Leben bat, störte ihn und hätte ihn fast entwaffnet; doch nahm er sich zusammen, riß das Kind von dem Manne weg und erschoß ihn. Man sah ihn hernach selten; er hielt sich im dunkelsten Gebirge auf und kam nur zum Vorschein, wenn der Hunger ihn trieb. Frauen und Kinder aus den Bergdörfern, die ihn wie einen guten Geist verehrten, trugen ihm bereitwillig Speisen zu. Er war blaß und mager, und aus seinen Zügen sprach tiefste Melancholie; wenn man ihn um Hilfe ansprach, versagte er sie nie, und seine Handlungen schienen von Allmacht zu zeugen. Kinder überschüttete er mit Gaben, die durch gewaltige Raubtaten in seine Hände gekommen sein mußten, und sie liefen ihm ohne Scheu nach. Es hieß, wenn man sich bei Nacht allein auf irgendeinen Platz im Walde stellte und nach jeder Himmelsrichtung leise seinen Namen »Maffurio« spräche, so erscheine er und stände dem Schutzflehenden bei. Wilde Tiere, die er gezähmt hatte und die ihm auch Speise suchten, beschützten ihn gegen seine Verfolger; ein Soldat, der ihm aufgelauert hatte, sollte kürzlich von einer wilden Katze zerrissen worden sein. Dies war die Meinung des Volkes über Maffurio.

Roses Teilnahme für ihn war so groß, daß sie ihn am liebsten sogleich in den Abruzzen aufgesucht hätte, und sie stimmte keineswegs ein, wenn Michael sie auslachte, daß sie dem alten Märchen vom edlen Räuber Glauben schenkte. Auf der Straße gab es häufig umherziehende Sänger, die zur Mandoline Liebeslieder oder eine Art Balladen sangen, in denen politische oder andere Vorgänge, die im Volke Aufsehen erregten, breit und kindlich erzählt wurden. Michael und Rose saßen eines Abends auf dem Marktplatze vor einem Wirtshause, um die verwitterte Anmut der Gebäude, die ihn einschlossen, in Ruhe zu betrachten, als ein Mann und eine Frau, um Lieder zu singen, sich in ihrer Nähe aufstellten. Sie horchten mit Vergnügen auf die schmelzende Stimme des zerlumpten Mannes und griffen nach den Flugblättern, welche die Frau feilbot. Auf einem von diesen stand eine Ballade von Maffurio, dessen Bild in grobem Holzschnitt an der Spitze des Gedichtes zu sehen war, ein von dichten schwarzen Locken umgebenes Gesicht mit großen Augen, das jedenfalls aus der Phantasie entworfen war. Der zerlumpte Mann war auf Michaels und Roses Wunsch sogleich bereit, die Ballade zu singen, und es sammelte sich nun eine Menge atemlos lauschender Menschen um ihn, die begriffen, daß die Fremden das Lied zu hören gewünscht hatten und denen es dadurch noch wichtiger und lieber wurde. Von den unzähligen Versen, die schwungvoll und traurig, aber übermäßig pathetisch waren, gefiel Rose hauptsächlich einer, der auf deutsch etwa so lautete:

An meinen Händen klebt Blut,
Dir, Kind, darf ich nimmer sie reichen,
Und mein Herz war wie deins doch so gut.
Einst liebt ich Gott und die Welt;
Nun muß ich durch Wildnisse streichen,
Nur den klagenden Tieren gesellt.

Das Lied, das bunte Treiben auf dem Platze und der schwarzrote Wein, den sie tranken, hatten Rose erregt; sie war lebhaft und lustig und sah rosiger aus als gewöhnlich. »Wenn ich drei Wünsche frei hätte«, sagte sie, »würde ich mich mitten in den Abruzzenwald wünschen und leise nach allen Himmelsrichtungen rufen: Maffurio!«

»Und die beiden anderen Wünsche?« fragte Michael. Sie sah ihn lange nachdenklich an, dann sagte sie: »Nichts weiter. Ich will dir etwas Wichtiges sagen: Ich bin dazu gekommen, zu denken, daß wir nicht danach trachten sollen, uns zu heiraten, wenn es nicht das Schicksal von selbst so fügt.« Da Michael nichts erwiderte, fuhr sie nach einer Pause fort: »Nun du bei mir bist, wird es mir schwerer, das auszusprechen, als ich glaubte. Aber in manchen Augenblicken habe ich klar eingesehen, daß wir das Schönste auf Erden genossen haben, und daß keiner einen Preis erringt, der nicht Maß halten und zur rechten Zeit verzichten kann.«

»Ja«, sagte Michael langsam, »das Weiseste wäre ohne Zweifel gewesen, wir hätten uns nach jener Nacht am Bodensee nicht wiedergesehen und wie von einem fabelhaften Traume eine durch nichts getrübte Erinnerung davon behalten.«

»Es hat mich viel gekostet«, sagte Rose, »meine Weisheit auszusprechen; ich tat es mehr um deinet- als um meinetwillen, denn du hast das große Opfer zu bringen, und wer weiß, ob du es nicht zu teuer bezahlst.«

Sie war blaß geworden; sie standen auf und gingen, ohne den schwarzroten Wein in ihren Gläsern auszutrinken.

Während der schlaflosen Nacht stand Michael am Fenster und sah auf den mondlichten, schnellfließenden Strom. Es hatte Augenblicke gegeben, wo die quälende Angst, Mario zu verlieren, und der drückende Gedanke an seinen Vater und an seine Frau ebenso stark wie seine Liebe gewogen hatten, so daß er sie aufgeopfert hätte, wenn es nur sein und nicht auch ihr Schmerz gewesen wäre. Jetzt, da er die furchtbare Last gewohnt worden war, glaubte sie sich stark genug, ohne ihn, wenn auch nicht ohne seine Liebe zu leben. Die Ahnung eines großen, freien, reinen Lebens, das dann noch sein werden konnte, empfand er wohl; aber zugleich hätte er seine Träume von einer schönen, beseelten Häuslichkeit und von der großartigen gemeinsamen Wirksamkeit, die ihm vorschwebte, aufgeben müssen. Konnten sie nicht auch tapfere, glückliche Menschen sein, wenn sie Hand in Hand gingen? Er vermochte seine Zukunft, wenn er Rose gewaltsam herausrisse, nicht anders als in Fetzen und zerstückelt zu sehen. Es war ihm so, als wenn der mondfarbene Strom, der in traumhafter Eile dahinglitt, sie jetzt in diesem Augenblick mitnehmen und ihm auf immer entreißen würde, wenn er sie nicht entschlossen festhielte.

Am anderen Morgen sagte er zu Rose, daß er sie nicht lassen würde, wenn nicht sie sich ihm gewaltsam entzöge, und malte ihr aus, wie er sich ihre Zukunft vorgestellt hätte. Sie sah erstaunt in sein überwachtes Gesicht und sagte: »Ich bin nicht so stark, daß ich dich gegen deinen Willen verlassen könnte. Das Schönste, was es für mich gibt, ist, auf immer die Deine zu sein, wenn es sein kann.«

»Es muß sein«, sagte Michael ernst. Weiter sprachen sie nicht darüber. Als sie in träumerischer Seligkeit über den Markt schlenderten, sahen sie einen hübschen, dunkelbraunen Jungen, der in kleinen Käfigen eine Menge Singvögel zum Verkauf anbot. Rose war entrüstet, kaufte alle und ließ sie auf der Stelle fliegen, worauf sie dem Jungen, so gut es die fremde Sprache gestattete, Vorwürfe machte, daß er ein so grausames Geschäft betriebe. Der Junge hörte demütig und scheinbar beschämt zu, mit einem schelmischen Zwinkern in seinen glänzend braunen Augen, welches zu sagen schien, daß ein so gutes Geschäft schon die kleine Predigt wert sei. Ein schlecht gekleideter Mann, der den Handel unter augenscheinlicher Billigung Rosens beobachtet hatte, rief ihr ein paar Worte zu, die auf deutsch hießen: »Gesegnet seist du, gute Frau!«, was sie veranlaßte, sich nach ihm umzusehen. Er war blaß und mager und hatte leidende Augen vom dunkelsten Braun; seine Gesichtszüge waren, was freilich bei seinem elenden Aussehen nicht zur Geltung kam, von strenger, klassischer Schönheit. Rose wollte ihm ein Geldstück reichen, was er aber, durch Mienenspiel andeutend, sie habe schon viel für die Vögel ausgegeben und er habe sie nicht, um zu betteln, angerufen, mit der großen, schönen, braunen Hand ruhig abwehrte. »So denke ich mir Maffurio«, sagte Rose zu Michael, indem sie weitergingen, und sie gefiel sich in der Vorstellung, er sei es wirklich gewesen, der sich als Bettler aus irgendeinem Grunde mitten in die Stadt gewagt habe.

Die einzige Störung der letzten Tage ihres Beisammenseins war, daß sich ihnen unerwarteterweise die Dame mit ihren Kindern angeschlossen hatte, die im selben Hause wohnte, um auch etwas von der Stadt und ihrer Umgebung kennenzulernen, wozu sie sonst, da sie gänzlich unbekannt wäre, keine Gelegenheit hätte. Abzuweisen war sie um so weniger, als die hübschen Kinder eine rührende Freude bezeigten, einmal aus dem engen Gärtchen herauszukommen; so suchten sie sich zuweilen heimlich allein aus dem Hause zu stehlen und machten ein Abenteuer daraus. Belästigend war es doch, daß die Dame sich allem Anscheine nach in Michael verliebt hatte und, ungeachtet, daß Rose zugegen war, sich ihm durch zärtliche Blicke, sprechendes Mienenspiel, ja, geradezu ausgesprochene Andeutungen verständlich zu machen suchte, so daß es nicht leicht für ihn war, dies alles ohne Unhöflichkeit unbeachtet zu lassen. Am letzten Abend, als Michael und Rose einen Spaziergang machen wollten und sie mit ihren Kindern mitgegangen war, gerieten sie zufällig in ein Gewirr alter Häuser am Berge, wo die Reste eines römischen Amphitheaters zu sehen waren. Ein kleines Mädchen führte sie in einen Hof, den die Rückseite der hohen, schmalen und schmutzigen Häuser umgab und wo sich mehrere steinerne Sitze stufenförmig übereinander aufgebaut befanden; sie waren trümmerhaft und von hohem Gras überwachsen, und eine einzige hochstielige Pflanze mit blutroter Blüte wuchs aus einer Ritze hervor. Das bedeutendste Überbleibsel war der Schlußstein eines Gewölbes, an dessen Vorderseite ein ungeheurer Stierkopf ausgehauen war mit göttlich starrem, geheimnisvollem Blick. Während Rose sich zu dem furchtbaren Haupte niederbeugte, um es genau zu betrachten, richtete die Dame ihre glühenden Augen verzehrend auf Michael und wendete sie nur langsam ab, als Rose sich wieder aufgerichtet und ihm zugekehrt hatte, als wäre diese Nebenbuhlerin kaum einer Rücksicht wert. Dies ungezähmte Liebesverlangen war für Michael und Rose mehr unheimlich als abstoßend; sie machten sich mit den beiden Kindern zu tun, die scheu auf den alten Steinen saßen und die rote Blume betrachteten, dann erklärten sie unter dem Vorwande der bevorstehenden Abreise, wieder nach Hause zurückkehren zu müssen. Noch als sie bei einbrechender Nacht aus dem Hause gingen, um mit Zügen, die ungefähr gleichzeitig abfuhren, nach entgegengesetzter Richtung fortzureisen, lehnte sich die Dame in einem weißen Gewande aus dem Fenster, und ohne Rose anzusehen, schien sie Michael, der, den Hut lüftend, grüßte, mit schmachtenden Augen ein Zeichen geben zu wollen.

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