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Es war der letzte Sommer, den die Freunde zusammen an der Universität verlebten; mehrere von ihnen hatten ihre Studien schon vollendet und einige Monate der schönen Jahreszeit zugegeben, um vor dem Scheiden noch einmal alle liebgewordene Herrlichkeit zusammengedrängt zu genießen. An einem der letzten Tage veranstalteten sie, zugleich ein paar glücklich beendete Schlußprüfungen feiernd, ein Abschiedsfest in einem großen, am See gelegenen Garten, der in früherer Zeit einer alten, schwerreichen Patrizierfamilie gehört hatte, die jetzt ausgestorben war und deren letzter Erbe den Park der Stadt vermacht hatte unter der Bedingung, daß kein Stück davon veräußert und daß er gegen geringes Eintrittsgeld jedermann zugänglich gemacht würde. Das mit edler Einfachheit, doch verschwenderisch angelegte Wohnhaus wurde in eine Wirtschaft umgewandelt, und im Park ergingen sich, wenn es Abend wurde, Naturschwärmer und Liebespaare; da er eine ziemliche Strecke von der Stadt entfernt lag und es auch übrigens nicht an einladenden Spaziergängen und Wirtshäusern fehlte, war er selten überfüllt, und besonders spätabends konnten sich, so ausgedehnt wie er war, die Anwesenden leicht so verteilen, daß sie sich gegenseitig nicht störten.

Als die Freunde nach dem Essen, von übersprudelnder Ausgelassenheit ein wenig ausruhend, durch einen gegen den See abfallenden Buchengang wanderten, machte Veronika den Vorschlag, sie wollten etwas Dramatisches aufführen, in der Weise, daß kein Plan vorher beraten und verabredet würde, da ein ausgebildeter Vorgang mit Kopf und Schwanz überhaupt nicht zur Darstellung kommen sollte, sondern einer sollte beginnen, aus dem Herzen heraus etwas zu sagen, von dem er fühlte, daß es schön in die Dämmerung des alten Gartens hineinklänge, worin die übrigen dann schon irgendeinen Faden finden würden, an dem sie anknüpfen und weiterspinnen könnten. Michael und Herta äußerten Zweifel an der Ausführbarkeit des Einfalles und besonders an der eigenen Fähigkeit, sich zu beteiligen, wurden aber durch den Eifer, womit Sardanapal und Arabell ihn aufgriffen, überstimmt.

»Sicherlich«, sagte Robert, »hat jeder von uns vieles in sich, was er niemals laut und bei Tage gegen einen anderen, und wäre es sein bester Freund, ausspricht, ja was er zu sich selbst noch nie in vernehmlichen Worten gesagt hat und was die Nacht nun auslöst. Wir brauchen nur einen Augenblick die Augen zu schließen, uns in unser Inneres hinabzusenken und hie und da einen Stein zu lockern, der die wirren Geheimnisse der Seele, Nachtgesang, Fledermäuse, Nachtblumenduft, alles, was die Sonne scheut, bedeckt; dann werden uns von selbst Dinge von den Lippen streben, die uns weiter in eine Verschlingung, wahrer und spannender als das stärkste der gewöhnlichen Dramen, hineinziehen werden.« Hertas Augen hingen halb erschrocken, halb mit kindlicher Begierde, das Wundervolle zu erleben, an Roberts Lippen, und sie machte keinen Einwand mehr; auch Michael gab unter der Bedingung nach, daß Arabell und Sardanapal anfingen, und daß ihm verziehen würde, wenn er in seinem Ungeschick das feine Gewebe der Vorgänger zerrisse oder im Vorgefühle davon sich ganz zurückhielte. Es wurde nun eine geeignete Bühne ausgewählt: ein ebener, mit breiten Eichen besetzter Platz, der gegen den oberen Garten durch ein Gehölz von Zypressen und Tannen, durch einen bewachsenen Abhang und ein hohes eisernes Gitter gegen den See abgegrenzt war, von dem ihn aber noch die breite Landstraße und sogar eine Eisenbahnlinie trennte. Der Platz war gerade nur so hell, daß die Befreundeten sich gegenseitig erkennen konnten; denn es war zwar Mondschein, der den übrigen Garten beleuchtete, wovon aber die breiten, vielästigen Eichen nur dann und wann einen zufälligen Schimmer durchließen. Arabell stand eine Weile allein und bedeckte die Augen mit den Händen, als horchte sie in sich hinein, dann trat sie vor in die Mitte des Platzes, indem sie sagte:

Hier land ich nun. Das Festland Erde ließ ich
Und stieg ins Unterirdische hinunter
Durch meiner Seele dunklen Höhleneingang.
Hier tut mir silbergraue Dämmrung wohl,
Die der Gestalten strengen Umriß löst
Und so mich selber.
An steilen Hängen seh ich gleitende Schatten,
Die winken. Augenlos, geschlossenen Mundes
Nahn sie sich, doch mit deutender Gebärde,
Und dringen in mich ein. – O, wo seid ihr,
Gefährten mit der Zauberkraft der Sinne?
Sardanapal! – Ich denke dein, da stehst du,
Gelassen, als erwartetest du mich,
Die dich gerufen. Bist du's? Eine Sprache,
Tonlos vernehmbar wie Musik im Traum,
Strömt von dir her und haucht ins Ohr mir Kunde
Von deinem Dasein, die du einst verschwiegst,
Die nie ein Freund erraten! Bist du's nicht,
Der an der schönen Brust des Lebens hing,
Vom Wein, den es kredenzte, ewig trunken,
Nie übersättigt?
Du sagst: Dies ist mein Danaidenlos;
Ich schöpf und schöpfe in mein gähnend Herz,
Und es bleibt leer – ich spüre Leere, Leere,
Wenns bis zum Rande voll zur Lippe schäumt,
Mein Blick in Schönheit badet, Liebesbäche
Mich schmelzend überschwemmen – Leere, Leere
Zutiefst!

Sardanapal

Wie schwangre Frauen nicht sich selber nur,
Die Frucht auch speisen, die ihr Eingeweide nährt,
Und stets gesättigt dennoch darben – ein Geschick,
Süß der Geliebten des geliebten Guten –
So füttr' ich ein Gemächt, das ich nicht kenne,
In meinem Innern. Warum ahnt mir immer,
Es wüchs' ein Unhold in mir auf?
Buhlt ich mit einem Teufel unbewußt,
Der mich nun kettet mit lebendgem Pfande,
Das in mir wuchert? Hab ichs kaum vergessen,
Rührt sichs zur Pein – vielleicht, wenn ichs erblicke,
Werd ich mir selbst zum Abscheu, haß ich mich.
Vielleicht noch heute – morgen – großgesäugt
Von Überresten meiner Schwelgerei,
Bewältigts meine Seele
Und grinst aus meinen Augen schnöd euch an.

Herta

Siehst du, Bombastus? Wunderst du dich noch,
Daß ich nicht in den Bauch des Molochs wollte?
Ich weiß, du hast mich lieb, ein fetter Bissen
Wär ich für deinen Wurm, ein süßer Schluck
Im bodenlosen Schlunde. Ich gesteh dirs:
Das Liebeslied, das du so lieb verschwiegst,
Lockte mich dir ans Herz. Gekommen wär ich,
Obwohl du leise riefst – und daß ich nicht kam,
War wohl nur Angst, die mir ein Engel eingab,
Mich vor des Doppelgängers Gier zu retten;
Sonst weiß ich nicht warum.

Sardanapal

Ich weiß warum.
Mehr als du selber weißt, vertraun von dir
Mir deine Augen. Aber ich verschweig es.
Vor jedem Worte schauderts meinen Lippen
Wie vor Begrabnen, die aus Gräbern steigen.
O, daß wir den verbotnen Eingang nie
Zur Unterwelt gefunden hätten!
Der starre Gott hier unten läßt nicht los.
Wer wagt ihn anzuflehn und zu bezaubern,
Wer hat des Orpheus süße Stimm' und Leier?

Veronika

Wenn einer, hättest du sie wohl, der fragt.
Doch laß. Hier haben Luft und Erde Ohr und Stimme,
Hier schlägt die Nachtigall nicht im Gebüsch,
Und unsere Worte sind wie Blattgeflüster.
Du fühlst wie ich: wir kehren ohne Opfer
Nicht mehr zurück, die wir das Heiligtum
Maßlos entweiht und eine Flur betraten,
Die Sterbliches nicht trägt. Laßt uns denn selbst
Das Opfer wählen, das uns sühne. Einer
Sei uns den Furien geweiht. Sie werden
Die andern nicht verfolgen, die, befreit,
Verjüngte Augen in die Sonne wenden.

Arabell

Mich! Opfert mich! Ich sah ja nie die Sonne!
Ich lebte ja noch nicht! Ich scheide leicht
Vom fabelhaften Licht, das ich nicht sah,
Als nur gespiegelt in den eignen Augen,
Und da mit Schrecken. Heimat fühl ich
Mehr als auf Erden
In dieser weichen Dämmerung,
Gewöhnt an Schatten, bin ich hier bekannt,
Nichts Lebendes beschämt mich. Träume find ich,
Die einst im Kinderbett mit mir gespielt,
Als ich von Schlaf und Träumen noch nichts wußte –
O höret ihr, was für ein starker Ton
Die Seele mit sich reißt in einen Reigen
Des innersten Entzückens! – Lebet wohl!

Sie näherte sich mit dem Ausruf »Lebet wohl!« dem Hange, der an die Straße stieß, wie wenn sie sich hinunterstürzen wollte, und der Anschein eines Sturzes und jähen Verschwindens hätte sich auch, wie der Platz beschaffen war, ganz gut darstellen lassen. Aber Boris war ihr rechtzeitig nachgeeilt und umfing sie mit den Armen, indem er sagte:

Nicht du! Dein Haupt ist heilig, so geliebt,
Und würd es fallen, so beweint!
Ists wahr, daß du noch nicht gelebt, drum eben
Gehörst du noch dem Leben.
Glaub mir, ich schaffe dir das Wunder, wühl es
Dir aus der Erde, reiß es aus den Wolken,
Umdrängen soll dichs, bis du lachst und weinst:
Genug! Ich lebe!

Arabell

Ach, mein Ton verklingt!
Noch hör ich ihn – laß mich ihm nach! Mir ahnt ...

Herta

Nein, Arabell, nicht du! Dich täuscht ein Rausch der Seele.
Die liebt und so geliebt wird, ist gefeit.

Arabell

Die goldne Welle Lethes löscht mein Dürsten,
Vergessen wie Besinnen quillt aus ihr,
Besinnen und Erinnern ...

Boris

Leben mußt du!
Ich bin dein Gläubger, du entrinnst mir nicht,
Mußt mir erstatten, was ich ausgezahlt
Um dich und deine Liebe:
Die Heimat und die Steppe und den Himmel,
Die grenzenlosen, wo das Heimweh irrt
Ohn Ende; Freunde, nicht wie ihr seid,
Gesellen froher Tage, Schmerzensfreunde,
Verratne Dulder, die vergebens harren;
Dann meiner Jugend Hoffnung, Stolz und Adel,
Dann meinen Haß, dann meine Todesschmach
Und ewgen Ruhm ...

Arabell

Ich – dir?
Verlangt ich solche Opfer? Du Betrogner!
Nichts geb ich wieder! Leer und nackt, verlassen
Gehst du ins Elend. Ja, wenn ich dich liebte!
Weil du mich zwingst: ich liebe dich nicht! Dich nicht
Und keinen andern! Alles Gaukelspiel!
Könnt ich dich lieben, könnt ich jemand lieben,
Dann liebt ich mich, nur mich, die Allerärmste,
Die Liebeloseste.

Herta

Hör auf!
Dem Gotte gilt nicht, was du rasend sprichst.
Du hofftest doch, du wagtest. Gabst dich hin
Der Liebe, die dich wollte. Aber ich!
Jetzt leg ich auf den Opfertisch ein Herz,
Das warm empfindet, das, gelockt, ergriffen
Von schönen Blicken, Hauch der Zärtlichkeit,
Doch nie sich hingibt. Eine reife Frucht,
Der doch der letzte Tropfen Saft nie schwillt,
Mit dem sie sinken kann – sie schrumpft am Zweige.
Kein Becher voller Schaum, kein heißes Wort,
Kein sehnlich Glühn, das nach ihm langt,
Berauscht es je, daß es sich ganz vergäße
Und einmal sich verlöre. Hoch auf Bergen,
An eisgen Wänden ohne Pfad, auf Brücken,
Von spritzendem Gewässer naß und schwank
Wie Schilf, rührt es kein Schwindel an. Es kennt
Den Wahnsinn nicht, mit Lust und Grausen ringend,
Hinunter wollen, wo Vernichtung ist,
Und dennoch wollen. Sagen möcht ich,
Was ich euch sage, schluchzend, händeringend,
In Tränen mich ertränkend, doch ich lächle
Kein lügnerisches Lächeln. Wißt,
Ich bin auch jetzt nicht, wo ihr seid; ich bleibe
Nicht, wo ihr mich zurückgelassen wähnt.
Wie würden eure Herzen zucken, flammen,
Zerrissen wie Mänaden! Seht, meins zittert
Ein wenig nur, wie ichs zum Opfer biete,
Und mehr nicht, wenn ihrs annehmt.

Veronika

Das karge Opfer, glaubst du, könnte lösen?
Der Erstling ists, das Teuerste dem Herzen,
Was Götter fordern. Gibst du so dich preis,
Bist du nicht wert, daß dich die Binde schmückt,
Mein Herz zahlt teuer. Denn das Leben lieb ich,
Wie arme Kinder Glanz und Zauber lieben,
Wovon das Märchen fabelt. Zwar ich liebte
Nie einen Mann. Und könnte lieben! lieben!
O meine Weisheit gäb ich hin wie Stroh,
Und meinen Stolz und Rang und Glückesgaben,
Wär ich ein Bettelweib, ein Kind im Schoß,
Im Schmutz der Gasse. Nie hab ich gebetet,
Als nur um Liebe. Jeder Traum ist Liebe.
Doch daß ich nicht, weil sie mein Haupt verschmäht,
Verzweifelte, das trug mir Leben ein.
Es winkt und lachte mir: da tob dich aus!
Laß dir den Sturmwind um die Schläfe wehn!
Viel freut mich – o wie vieles würd ich missen:
Den Zorn des Kampfes – das Streiten der Gedanken –
Den Sturm aufs Ziel – und was ich wollte, was ich wollte!
Meine Fahne in neuentdeckte Länder pflanzen,
Meinen Namen auf eine Säule des Himmels graben,
Schmerzende Wunden tragen und weiterkämpfen –
Ihr opfert heißes Blut.

Michael

Wie ihr zum Tode drängt, seid ihr des Todes.
Ich wähle Leben! Das auch mich erwählt
Und mich gekrönt mit Rosen!
Der dunkle Gott ist meines Glücks nicht Herr.
Durch dies beklommne Schweigen, wo die Stimme
Der Sterblichen nicht klingt, soll rauschen,
Was Lebensbäume rauschen:
O Leben! o Schönheit!
O Leben! o Schönheit!
Ich kehre heil ins Tageslicht. Auch dann,
Wenn ihr mich opfern wolltet, euer Beil
Verletzt mich nicht. Aus jenen bleichen Ästen
Neigt sich die Gottheit, mich zu retten.
Aus jenem schwarzen Wasser taucht sie auf,
Mich zu beschützen; aus der Erde,
Und wär es tiefer als der Tartarus,
Reckt sie den Arm und schirmt mich, Götter lieben
Den Rasenden. Der das Verwegenste gewagt,
Den führen sie auf Wolken
An sichrer Hand. Der des Unmöglichen
Sich unterfing, dem haucht ihr Atem Mut,
Und seine Kräfte speisen sie mit Kräften
Verschmähter Seelen. Ihrem Liebling opfern
Sie Menschenopfer, schuldlos hingeschlachtet,
Und rechnens ihm nicht zu.
Ich habe Blut getrunken – Blut getrunken,
Und nicht geschaudert ...

Michael hatte bis dahin schnell und leidenschaftlich herausgesprochen, hielt aber jetzt ein, als suchte er nach Worten. Die anderen, die nicht ohne eine furchtsame Regung zugehört hatten, warteten atemlos, aber in diese Pause hinein tönte plötzlich das lange, gellende Pfeifen der Lokomotive und das Getöse eines vorüberbrausenden Zuges, wodurch Michael vollends aus dem Zusammenhang gebracht wurde. Indem er aufsah, bemerkte er, daß im oberen Teile des Gartens Fremde waren, die, über eine Brüstung herabgebeugt, horchten, augenscheinlich in lautloser Spannung, was sich da unten entspinnen würde. »Ich kann nicht weiter«, sagte er und trat, die Achseln zuckend, zu den anderen; »ich sagte euch zuvor, daß ich das Spiel verderben würde.«

»Gottlob, daß dir nichts mehr einfällt«, sagte Robert, der aufgeregt mit großen Schritten auf dem Platze auf und ab ging, und Veronika fügte hinzu: »Es ist ohnehin bald Mitternacht, und der Garten wird geschlossen. Auch gestehe ich zu, daß ich keinen Begriff habe, zu welchem Abschlusse wir hätten kommen können, also es ist wohl das beste, daß der Zufall uns einen aufgezwungen hat.«

Robert hielt mit seiner Wanderung ein, fuhr sich mehrmals mit seinen breiten, weißen Händen durch das lose Haar und sagte: »Ich bin froh, daß das Spiel ein Ende hat; es war mir so unheimlich geworden, als ob ich Geister gesehen hätte, Geister von geliebten Menschen mit fremden, veränderten Gesichtern. Wißt ihr noch, was wir gesprochen haben?« Er selbst, sagte er, hätte nur noch so viel Erinnerung davon, wie von einer Musik, die man zum ersten Male gehört habe und von der man sich einbilde, sie singen oder spielen zu können, wo einen aber das Gedächtnis schon beim zweiten oder dritten Takte im Stiche ließe. Veronika, die von allen die munterste war, neckte ihn, daß er offenbar ein schlechtes Gewissen habe; Arabell hatte Boris' Arm genommen, sie sah sehr bleich aus, und es schien, als wäre sie nach der vorausgegangenen Erregung in eine Erschöpfung verfallen, die ihr jede Anteilnahme unmöglich machte.

»Kinder«, sagte Veronika, »ich glaube, wir hatten uns alle in einen Taumel hineingeschwatzt, von dem wir, nun er verflogen ist, den Katzenjammer haben. Gehen wir nach Hause und verschlafen wir unsere Eseleien.« Robert streckte abwehrend die Arme aus und rief: »Ich beschwöre euch, graben wir erst ein Grab und bestatten wir alles darin, was heute abend wider unseren Willen, zu unserem eigenen Entsetzen, über unsere Lippen gekommen ist. Setzen wir einen Stein darauf, und rühre keiner jemals daran, ja, vergessen wir die Stelle und betreten sie niemals wieder. Ich wäre des Todes, wenn mir eines von diesen Gespensterworten jemals unter der Sonne begegnete.«

»Das übelste ist«, meinte Herta, »daß wir alle zusammen diese Stelle gewiß niemals wieder betreten.«

Michael hatte währenddessen unbeweglich abseits gestanden und starr vor sich hingeblickt; er fuhr zusammen, als Robert die Hand auf seinen Arm legte und ihn aufforderte mitzukommen, da es in der Stadt Mitternacht geläutet habe. Im selben Augenblicke wurde auch eine schrille Glocke laut, welche die Besucher mahnte, den Garten zu verlassen. Sie stiegen langsam, mit gesenktem Kopfe, die Wege zur Höhe des Parkes hinan und aus dem Tor auf die Straße, als ob sie in Wirklichkeit von einem Begräbnis kämen.

*

Auf den Rat des Freiherrn wählte Michael, nachdem er seine Studien an der Universität beendigt hatte, einen kleinen Ort am Adriatischen Meere, um seine Arbeit über Meerestiere zu machen. Nicht weit davon befand sich in einer größeren Stadt eine zoologische Anstalt, von wo er jederzeit alle erdenklichen Hilfsmittel an Instrumenten oder Büchern beziehen konnte. Arzt zu werden hatte er lange aufgegeben; anstatt in den Naturwissenschaften zu einem Abschlusse zu kommen, hatten sich ihm immer lockendere Ausblicke aufgetan, anstatt sich zu begnügen, war sein Interesse gewachsen, und es war ihm unversehens ein Lebensbedürfnis geworden, die Erscheinungen des Lebens auf dem Gebiete, wo er sich heimisch zu fühlen anfing, zu verfolgen. Dazu kam, daß er überzeugt war, weder seinem Vater noch seiner Familie überhaupt damit zu dienen, wenn er sich in seiner Heimat niederließe; denn es hatte sich zu deutlich gezeigt, daß sie nicht mehr in friedlichem Verständnisse nebeneinander leben konnten. Wie hätte er sich vollends zu den übrigen Landsleuten stellen sollen, die ihm größtenteils schon früher unleidlich waren und deren Zuneigung zu gewinnen er als Arzt doch hätte bestrebt sein müssen! Welche Enttäuschung hätte er seinen Eltern bereitet, wenn infolge mißlicher Beziehungen zur Bewohnerschaft seine Laufbahn verkümmert wäre und sie nach so viel Umstand und Aufwand nicht einmal auf ihn hätten stolz sein können.

Aufs Geldverdienen kam es ihm aber doch wesentlich an, vom Erwerb seines Vaters oder Bruders zu leben, wäre ihm unerträglich gewesen. Bis jetzt hatte er sich und seine Familie aus eigenem Vermögen erhalten, das er während seiner kaufmännischen Tätigkeit erübrigt hatte, und nun das zu Ende ging, konnten seine Ausgaben von seinem Erbe abgezogen werden. Da aber seines Vaters Vermögen im Geschäfte war, wünschte er möglichst wenig davon nehmen zu müssen, vielmehr bald selbständig zu werden; die äußere Unabhängigkeit sollte ihn auch die innere ganz als berechtigt empfinden lassen. Er hatte schon an der Universität außerordentlich einfach gelebt und hatte für sich selbst wenig Bedürfnisse; hingegen hatte er allerlei wissenschaftliche und praktische Pläne im Sinne, zu deren Verwirklichung ihm bedeutende Mittel notwendig gewesen wären.

Zunächst hatte er vor, sich gesammelt und nachdrücklich auf eine Arbeit zu werfen, die für die Wissenschaft unwidersprechlichen Wert haben und dazu ihn selbst äußerlich fördern sollte. Zur Wahl des einsamen, kleinen Ortes am Meere hatte ihn auch das bestimmt, daß dort nichts war, was ihn in irgendeiner Weise hätte ablenken können; Fremde hielten sich dort nicht auf, da es keine Gasthäuser und keinerlei Bequemlichkeiten für Reisende gab, und den Verkehr mit den Einheimischen stellte er sich durch seine Unkenntnis der italienischen Sprache, besonders der Dialekte, sehr erschwert vor. Das kam nun freilich anders; denn nach oberflächlicher Benützung einiger Bücher und hauptsächlich durch die Übung bei der notgedrungenen Unterhaltung mit seinen Wirten und den Leuten, die ihm beim Fischen behilflich waren, erwarb er bald große Gewandtheit in ihrer Sprache, so daß er sich mit ihnen und ihren Verhältnissen gründlich bekannt machen konnte. Wenn er des Abends seine Arbeit für ein paar Stunden unterbrach, fühlte er sich behaglich zwischen den einfachen, klugen und lebhaften Menschen, die ihn durch Erscheinung und Wesen anzogen; besonders die schönen, braunen Kinder, kühn und meergewohnt, mit ernsten Augen und blitzenden Zähnen, waren seine Lieblinge. Da sie wußten, daß er sie für einen glücklichen Fund aus dem Meere belohnte, umschwirrten sie ihn, wo er ging und stand, mit meist wertlosen Dingen, wie sie sich an seichten Stellen in Menge fanden, doch hatten sie so viel angeborenes Feingefühl, um nicht überlästig zu werden, und merkten sich die Stunden, wo der Andrang keine Störung für ihn war. Die mancherlei Entbehrungen, zu denen der Aufenthalt zwischen den ärmlichen Hütten ihn zwang, waren ihm bald keine mehr, ja er gewöhnte sich so durchaus an eine Vereinfachung der Lebensweise, daß ihm vielerlei, was er früher für unentbehrlich gehalten hatte, als zeitraubender Aufwand erschien.

Es ging von dem kleinen Orte eine Sage, die Michael freilich nicht von den Leuten selbst, sondern aus Büchern erfuhr: In uralten Zeiten wäre das Dorf größer und wohlhabender gewesen und hätte sogar einen beträchtlichen Handel mit Fischen nach dem Auslande unterhalten. Da hätte ein Mann eines Tages einen grünen Fisch mit zwei Schwänzen aus dem Wasser gezogen und fürsorglich nach Hause getragen, weil man wußte, daß ein so gestaltetes Wunder dem, welchem es in die Hände fiel, Glück und Reichtum brachte. Der Mann brachte den Fisch, auf den er große Hoffnungen setzte, in einer Wasserschüssel unter und wies die Familie an, ihn zu schonen und in hohen Ehren zu halten. Doch war er schon am folgenden Tage verschwunden, und zwar, nach fester Überzeugung des Mannes, von einem Nachbar gestohlen, der die zu erwartenden Reichtümer unter sein eigenes Dach bringen wollte. Zur Rede gestellt, leugnete der Nachbar die Untat, worauf der wütende, um seine glänzende Zukunft betrogene Mann ihn ohne weiteres über den Haufen stach. Dies nun aber wollten die Anverwandten desselben nicht ungerächt hingehen lassen und zogen ihrerseits den Mann zur Rechenschaft, was wiederum blutige Rachehandlungen von dessen Familie nach sich zog. In dieser Weise entspann sich um den grünen, zweischwänzigen Fisch, der nicht wieder aufzufinden war, ein gräßliches Kämpfen, das erst ein Ende hatte, als niemand mehr auf dem Platze war, um umzubringen oder umgebracht zu werden; denn sogar der Priester, der einigen Sterbenden den Trost der Kirche gereicht hatte, was andere nicht haben leiden wollen, wurde deswegen von diesen ohne Gnade erwürgt. Einzig eine taube alte Frau und mehrere kleine Kinder, die zum Ave-Maria in die Kapelle gegangen waren, blieben unbemerkt und verschont, und es sollten von diesen die nachmaligen Bewohner des Dorfes abstammen, das seitdem elend und ungedeihlich blieb.

Nahe am Meere befand sich eine alte Kapelle, in welche Steine einer offenbar noch viel älteren hineingebaut waren. Dort war auf einem Mauersteine ein kleiner, nunmehr verwitterter Fisch eingegraben, von dem sich glauben ließ, daß er doppelschwänzig sein solle; dies Bild mochte Anlaß zur Entstehung der Sage gegeben haben, doch konnten leicht in mittelalterlichen Zeiten vernichtende Rachekämpfe zwischen den heißblütigen Leuten stattgefunden haben.

Die Armut im Dorfe war in der Tat außerordentlich und wirkte nur deshalb nicht peinlich, weil ringsum nichts anderes zu sehen war und derselbe Zustand aller Menschen Los zu sein schien, dann, weil der große Glanz des Meeres und der Sonne alles überstrahlte. In manchen immerhin nicht unerheblichen Kleinigkeiten hätten sie ihre Lage selbst verbessern können; aber ohne Ausbildung und Anweisung, ließen sie alles weitergehen, wie es vor alters gewesen war, und lebten in einem trägen Schlendrian, soweit sie nicht durch die Fischerei in Anspruch genommen waren. Es war für Michael, der gewandt und erfindungsreich war, ein unbeschreibliches Vergnügen, sie in allerlei kleinen Fertigkeiten zu unterweisen, ihnen zu zeigen, wie sie ohne Unkosten sich das Essen nahrhafter und schmackhafter bereiten, wie sie sich die Wohnung bequemer machen und manch ein Werkzeug selbst herstellen könnten, wobei sie sich als anstellig und gelehrig erwiesen. Wenn er nach der nächsten Stadt fuhr, brachte er jedesmal nützliche Dinge für die Erwachsenen sowohl wie für die Kinder mit, und die ungeduldige Freude, mit der er erwartet wurde, versetzte ihn selbst in köstliche Erregung. Die Vorstellung, wieder einmal in einer großen Stadt unter gebildeten Menschen leben zu müssen, widerte ihn an; hier wäre für ihn und Rose eine Heimat gewesen, wo das Glück hätte festwurzeln können. Er erlebte nichts ohne sie, vielmehr genoß er alles doppelt, ja eigentlich wurde ihm alles erst dadurch ein Genuß, weil er im Geiste vor sich sah, wie golden ihre Augen dabei glänzten, wie sie die Arme nach dieser Schönheit ausbreitete. Er wußte, daß sie die Menschen ebenso liebhaben würde wie er, und daß, so fern ihr inneres Leben dem halb bewußtlosen, das jene führten, war, sie sich doch leicht und gut mit ihnen verständigen würde. Je länger er an diesem Orte war, desto mehr schien es ihm schönster Lebenszweck zu sein, diese warmherzigen, talentvollen Menschen in ein reicheres, fruchtbareres Leben einzuführen. Das Dorf, wo er mit Rose gewesen war, die heimische Ebene mit den vielfältigen Saaten fiel ihm oft ein; hier war der Boden jenseits des Dorfes unbebaut, unendlich erstreckte sich sumpfiges Land, wo nichts blühte, nichts wuchs, nichts Frucht trug, weil es wegen fieberbringenden Ausdünstungen gemieden wurde. Immer wenn er von einer hügeligen Erhöhung aus das öde Land betrachtete und in violettbraunen Streifen fern, fern am Horizont verschwimmen sah, grübelte er darüber nach, wie es möglich wäre, diese fette, fruchtbare Wüste für die Menschen ertragreich zu machen. Er wußte, daß einige Gelehrte an die Möglichkeit glaubten, daß die Menschen gegen die Schädlichkeit der Sumpfluft, vielmehr gegen die in derselben lebenden Krankheitserreger gesichert werden könnten, oder doch, daß die Gefahr sich verringern ließe; wenn das glückte und er ein namhaftes Stück Land in dieser Gegend erwerben könnte, hätte er einer der ersten sein mögen, es im Verein mit den ihm liebgewordenen Küstenbewohnern zu besiedeln. Angst vor Krankheit und Hinfälligkeit kannte er für sich selbst nicht, da er stets kräftig und gesund gewesen war, und was Rose betraf, die er sich an seiner Seite dachte, so hatte er ein unerschütterliches Zutrauen, es könne sie, die seine Liebe schütze, nichts antasten. Diese Aussicht, in die er sich unvermerkt immer fester hineinlebte, beschäftigte und beglückte ihn neben seiner Arbeit so, daß er weder Roses Gegenwart vermißte noch durch Gedanken an die unsäglichen Schwierigkeiten jeder Art, die zuvor überwunden werden müßten, beeinträchtigt wurde.

Als er eines Tages mit dem Dampfschiff, das an gewissen Tagen am Dorfe anlegte, in die Stadt fuhr, um verschiedenes in der zoologischen Anstalt zu erledigen, und wie gewöhnlich den Teil des Verdecks aufsuchte, wo die ärmeren Leute waren, da die eleganten Reisenden ihn langweilten und abstießen, sah er dort ein Mädchen mit einem kleinen Kinde im Arm, die ihm durch ihre große, kräftige Gestalt und ihr nicht gerade liebenswürdiges, aber ausdrucksvolles Gesicht auffiel. Im Näherkommen sah er, daß ihre Haut durch Pockennarben entstellt war, was aber den großartigen Eindruck der ganzen Erscheinung nicht störte. Indem er sich neben sie auf die Bank setzte und mit dem etwa einjährigen Kinde scherzend, dessen Zutrauen erwarb, kam er mit ihr ins Gespräch und erfuhr, daß sie bei wohlhabenden Leuten Dienstmädchen und hauptsächlich mit der Pflege und Aufsicht des Kindes betraut war. Sie hielten sich in einem kleinen Seebade in der Nähe auf und schickten das Mädchen zuweilen, um Einkäufe zu machen, in die Stadt, wobei sie das Kind mitzunehmen pflegte, damit es nicht unterdessen den Eltern zur Last fiele. Auf weitere Fragen erzählte sie bereitwillig, daß sie mit ihrer Stelle leidlich zufrieden sei, da sie das Kind liebte und auch gerne arbeitete; man sah ihr an, daß sie stark war und das Bedürfnis hatte, ihre Stärke zu betätigen. Übrigens, sagte sie, hätten die, welche dienen müßten, sowieso nicht auf viele Freuden zu rechnen, und ihr vollends sei so wenig am Leben gelegen, daß sie jeden Augenblick zu sterben bereit sei.

Michael erkundigte sich bescheiden, ob sie Kummer hätte, da sie das Leben gar so gering anschlage, worauf sie anfangs nicht antwortete, sondern abgewendet ins Meer starrte; doch nach einer Weile fing sie an, von ihren Eltern und von ihrer Heimat zu sprechen, was Michael, da sie nicht Deutsch und nur gebrochen Italienisch sprach, zum Teile entging. So viel verstand er indessen, daß ihre Mutter früh gestorben war und ihr Vater sich wieder verheiratete, daß die Stiefmutter aber die Kinder erster Ehe schlecht behandelt hatte, dann, was sie mit pathetischer Betonung erzählte, daß sie von großer, erstaunlicher Schönheit gewesen sei, bis sie mit vierzehn Jahren die schwarzen Blattern bekommen habe und infolge nachlässiger Behandlung der Stiefmutter, die es nicht für nötig gehalten habe, die üblichen Maßregeln zu treffen, für immer entstellt worden sei. Als sie sich nach der Krankheit zum erstenmal im Spiegel gesehen hätte, erzählte sie, habe sie sterben wollen, tagelang und nächtelang habe sie geweint, und nur der Kummer ihres Vaters habe sie bewogen, wieder Speise zu sich zu nehmen. Das Wundervollste war, sie von ihrer einstigen Schönheit sprechen zuhören; sie glich dann einer Marmorgöttin, die, jahrelang in Schutt vergraben, fast unkenntlich geworden ist, die keiner mehr anbetet und die doch das Haupt voll Hoheit und eine weiße, glänzende Stirne unter dem Schmutze trägt. Michael wollte sie damit trösten, daß sie auch jetzt keineswegs häßlich sei, was sie wirklich nicht war, aber sie ließ ihn nicht zu Ende sprechen und schüttelte heftig den Kopf; der Ausdruck ihres Gesichtes wurde schwer und traurig, ja fast böse, und sie verfiel wieder in ein starres Schweigen.

Erst nach geraumer Zeit gelang es Michael, sie durch Vermittlung des Kindes wieder anzuregen; indem sie zusammen mit demselben spielten, erheiterte sie sich, ihr Gesicht wurde hell, und von Zeit zu Zeit brach sie über irgendeinen sinnlosen Kinderspaß oder einen komischen Sprechversuch ihres Pfleglings in ein wildes Jubellachen aus, das etwas zugleich Erschreckendes und Hinreißendes hatte. So, dachte Michael, könnte man nur im hohen Gebirge lachen, wo es von einem Gipfel zum andern schallen, oder auf dem Meere, wo es die andonnernde Brandung überjauchzen sollte. Aus den Bergen stammte sie auch, wie sie nun erzählte; sie hatte der Stiefmutter wegen das elterliche Haus verlassen und einen Dienst gesucht und sich wohl dabei befunden, bis sie aus der Heimat ausgewandert war. Seitdem, sagte sie, hätte sie Heimweh. Michael beschloß bei sich, dem Mädchen in der Stadt irgendeine Kleinigkeit zu kaufen, ein Schmuckstück, ein buntes Tuch oder dergleichen, um ihr eine rechte Freude zu machen und ihr Gesicht lachen zu sehen. Allerdings mußte er, wenn er, wie sie, am selben Abend zurückfuhr, eine bedeutende Strecke zu Fuß zurücklegen, denn das Dampfschiff legte nicht wieder bei seinem kleinen Dorfe an; aber der Spaziergang am Ufer des dunklen Meeres war ihm willkommen.

Als Michael abends auf das Verdeck kam, saß das Mädchen schon auf demselben Platze wie am Morgen und begrüßte ihn mit sichtlicher Freude. Die Geschenke, die er ihr brachte, wies sie erst unwillig zurück, doch als er ihr vorstellte, daß sie ihn dadurch kränke, daß sie außerdem ihn nie wiedersehen und er ihr ein Unbekannter bleiben würde, nickte sie und nahm das Gebotene mit kindlichem Entzücken, das nicht enden wollte, an. Sie wurde zutraulich und erzählte unaufgefordert, da das Kind auf ihrem Arme schlief, was für ein Ereignis sie aus der Heimat getrieben hatte; sie habe seit früher Jugend einen Geliebten gehabt, einen starken und wunderschönen Menschen, der seinesgleichen nicht hätte; er sei aber noch sehr jung und unbegütert gewesen, so daß von Heiraten in absehbarer Zeit nicht hätte die Rede sein können. Ihre Bekannten und Verwandten hätten ihr deswegen zugeredet, sie möchte ihn verlassen und einen älteren, wohlhabenden Mann nehmen, der sich mit ernstlichen Absichten um sie bewarb. Der Mann sei Witwer mit mehreren Kindern gewesen, der sie gern gehabt hätte, er selbst hätte einen dicken Hals und den Kopf schief auf einer Seite gehabt, was sie mit erbittertem Spott nachmachte. Das Zureden und Drängen der Leute möge wohl sein Teil dazu beigetragen haben, dennoch begriff sie selbst nicht, wie es hätte geschehen können, daß sie dem Witwer, den sie doch nicht hätte leiden mögen, das Jawort gegeben und versprochen habe, dem Verhältnis mit dem jungen Geliebten ein Ende zu machen. Dieser sei auf die Nachricht von ihrer Treulosigkeit in den äußersten Zorn geraten, habe sie aufgesucht und zur Rede gestellt, ob es wahr sei, daß sie ihn verraten habe. Da sie auf seine ungestüme Frage weder ja noch nein geantwortet, sondern ihn nur trotzig und herausfordernd angesehen habe, sei er schnell auf sie zugesprungen und habe sie mit solcher Wucht ins Gesicht geschlagen, daß sie umgefallen wäre, wenn sie sich nicht an der Mauer, vor welcher sie gestanden sei, hätte halten können. Im selben Augenblicke hätte er sich umgedreht und sie verlassen, und sie hätte ihn seitdem nicht wiedergesehen.

Sie erzählte diese Tat des Geliebten, wie man von den sagenhaften Heldentaten heroischer Ahnen spricht, voll liebender Bewunderung, durchdrungen von seinem guten Rechte und der Schmählichkeit ihres Betragens. Sie hatte danach ihr Versprechen mit dem Witwer wieder rückgängig gemacht, trotzdem hatte der Geliebte sich ihr nicht wieder genähert, sondern war kurze Zeit später in die Fremde gegangen. Nach einigen Jahren, während deren er sich stets nur auf wenige Tage hatte blicken lassen und ihr absichtlich ausgewichen war, hatte sie sich entschlossen, die Heimat zu verlassen, und wollte auch jetzt, obwohl sie Heimweh hatte, nicht wieder dorthin zurückkehren. Sie war wieder traurig geworden und starrte mit dem stumpfen, leeren Ausdruck über das Wasser, eintönig summend und das Kind im Arm wiegend, das in seinem Schlafe unruhig geworden war.

Michael verließ das Schiff eher als das Mädchen; als er sich auf der Landungsbrücke noch einmal umdrehte, sah er, da sie aufgestanden war, um ihm nachzusehen, ihre herrliche, nur durch die modische Kleidung entstellte Gestalt und ihr gegen das dunkelgrüne Wasser grauweißes Gesicht mit den starken blonden Haaren. Während er durch die vorgeschrittene Dämmerung am Meere entlang nach Hause ging, lag ihm das Schicksal des fremden Weibes im Sinne. Es hatte für ihn etwas Beruhigendes, zu denken, daß das Kind bei ihr war, das augenscheinlich an ihr hing und das sie, wie er selbst gesehen hatte, mit eifersüchtiger Zärtlichkeit bewachte. Dennoch fügte sich ihr Bild nicht recht in das Verhältnis; sie hatte ein Gesicht der Leidenschaft, und in ihren Armen, wenn sie liebte, mußte wilde, unbändige Wonne sein. Wie das Meer in regelmäßigen Schauern vor seine Füße rollte und die warme Dunkelheit ihn enger umhüllte, kamen ihm allerhand Träume und Bilder; die uralte Heidengöttin Astarte stieg mit göttlichem Riesenleib aus dem kochenden Wasser, um ihr untergegangenes Reich zu suchen. Ihr von Steinwurf und Besudelung entstelltes Antlitz blickte ernst und mächtig auf die schwankenden Zypressen und die kläglichen Hütten am Strande; aber als sie nirgends einen Säulentempel, keine Priester, keine Jünglinge und Jungfrauen mit Opfer und Anbetung sah, wurde sie traurig, von einer schweren, weltbeschattenden, tödlichen Traurigkeit. Es wurde Michael von seiner eigenen Phantasie schwer ums Herz, und er war froh, als er, um eine Ecke biegend, das dürftige Licht in der Weinschenke seines Dorfes sah und die drückende Stimmung verschlafen konnte.

Nach einigen Wochen, als er vollkommen aufgehört hatte, an das Mädchen zu denken, sah er sie auf dem Schiffe wieder; sie hatte das Kind bei sich und starrte mit der düsteren Miene, die er an ihr kannte, ins Wasser. Sie erwiderte anfangs seinen Gruß nur flüchtig und mürrisch und ohne ihre Stellung zu verändern; doch brachte er durch freundliche Bemühung schließlich aus ihr heraus, daß ihre Herrschaft ihr gekündigt hatte, und daß sie des Kindes wegen darüber in solchen Trübsinn versunken war. Des Kindes wegen hätte sie alle mögliche Unbill von Seiten der Herrschaft erduldet, die sie unter anderen Umständen keine Stunde lang ertragen haben würde; nun hätte sie unmerklich das Kind, als wäre es ihr eigenes, liebgewonnen, und sie wüßte nicht, wie sie es aushalten sollte, es nicht mehr zu sehen. Sie schimpfte in groben und gemeinen Ausdrücken auf die Herrschaft, ohne daß sie selbst dadurch im geringsten häßlich und gemein erschienen wäre; etwas so Erhabenes lag in dem Übermaß ihrer Traurigkeit. Auf nichts, was Michael ihr zum Troste oder um sie einen Augenblick zu zerstreuen, sagte, ging sie ein; der Anblick des unaufhörlich und gleichmäßig bewegten Wassers schien betäubend und beruhigend auf sie zu wirken. Er blieb in der Nähe und beobachtete sie mit dem Kinde, das sie fest an sich gedrückt hatte und das zuweilen ein wenig weinte; allmählich beschlich ihn Angst, und er begriff nicht, wie die Eltern des Kindes das verzweifelte Mädchen allein mit demselben hatten fortschicken können. Es lag ein dunkles Verhängnis auf ihrem wunderbaren, entstellten Gesichte, und sie hatte niemanden, der ihr half, es zu bekämpfen. Während ihre schwere Seele sich vom Wasser hinunterziehen ließ, dachte sie wohl an die hohen, kühlen Berge in ihrer Heimat, an ihre unerhörte Schönheit, die verloren war, an den Mann mit dem dicken Halse und an den jungen, der sie im Liebesgram geschlagen hatte, an die vielen bösen, schneidenden Worte, die sie gehört hatte, und an das kleine Kind, das an ihr hing und das man ihr wegnehmen wollte. Grausam war die Fremde wie die Heimat, und die Ruhe des großen, singenden Wassers dicht unter ihr mochte sie mächtig anziehen, ohne daß sie darüber nachdachte.

Der Drang, ihr zuzurufen: Tu es nicht, tu es nicht! wurde immer stärker in Michael, und was ihn abhielt, ihm nachzugeben, war weniger der Gedanke, er könne sich einer allzu abenteuerlichen Vermutung hingegeben haben, als die Furcht, seine Mahnung könne in dem brütenden Mädchen etwas anregen, was ihr sonst in ihrer dumpfen Trauer nicht zum Bewußtsein gekommen wäre. Er atmete auf, als sie mit ihm zugleich den Dampfer verließ; auf dem Platze, der am Hafen lag, sah er sich nach ihr um und beobachtete, wie sie das Kind niedersetzte und zum Gehen aufforderte, wie es aber die kleinen Arme nach ihr ausstreckte und augenscheinlich getragen zu werden verlangte. Sie riß es mit ungestümer Zärtlichkeit an sich und ging, das vor Vergnügen hüpfende Kind auf dem Arme, weiter mit starken, leichten Schritten und schlank aufgerichtet, obwohl das Kind schwer sein mußte und sie dazu noch einen großen Korb am anderen Arme trug.

Sie war Michael kaum aus den Augen, als er bereute, daß er sie so habe gehen lassen; etwas, irgend etwas hätte er ihr noch sagen müssen, wenigstens das, daß sie noch immer schön sei wie eine Göttin. Er bog in die Straße ein, wo er sie hatte verschwinden sehen, und durcheilte ihrer mehrere, um sie wieder anzutreffen, doch war alles vergeblich. Immerhin blieb ihm die Hoffnung, daß sie wie das vorige Mal des Abends wieder zurückfahren würde. Er hätte viel darum gegeben, etwas für sie tun zu können, was ihr wieder Mut und Lust zum Leben gäbe, jedenfalls wollte er ihr Gesicht noch einmal hell und heiter sehen und kaufte verschiedene Gegenstände ein, die er ihr am Abend schenken wollte. Wäre sie eine reiche, vornehme Frau gewesen, dachte er, wie viele hätten sich beeifert, ihr den kleinsten Verlust in einem überreichen Leben zu ersetzen; die bittere Seelenqual dieses armen Mädchens kam keiner mit einem Hauch von Freundlichkeit zu mildern. Er fand sich so zeitig auf dem Dampfschiff ein, daß noch kein Mitreisender da war; unter den letzten, die kamen, war das Mädchen mit dem Kinde.

Seine Genugtuung, sie zu sehen, war so lebhaft, daß sie mit davon ergriffen wurde, und vollends, als er die mitgebrachten Geschenke vor ihr ausbreitete, trat vor der augenblicklichen Freude ihr Kummer in den Hintergrund. Das Kind, das eingeschlafen war, wurde sorglich verpackt in einem bequemen Winkel untergebracht, wodurch sie freie Bewegung bekam; sie trat mit Michael an die Spitze des Schiffes und ließ eine breite, blutrote Seidenschärpe, die er ihr gegeben hatte, im Winde wehn. Nachdem die Sonne untergegangen war, sammelte sich am Himmel ein Unwetter, die Wellen gingen höher, hoben und stürzten das Schiff und warfen von Zeit zu Zeit kleine Schaumgüsse auf das Verdeck. Das große Mädchen stand hochaufgerichtet und stieß, wenn das Schiff besonders hoch ging, einen lauten, jauchzenden Schrei aus, wie eine Möwe im Sturme; wie am ersten Abend schien ihr Gesicht weißgrau auf dem dunkelgrünen Wasser und den blaugrauen, tief hängenden Wolken. Michael atmete mit Genuß den Wassergeruch der feuchten Luft und betrachtete das erregte Mädchen; es zog ihn auf einmal, ohne daß er im mindesten vorher ähnliches gedacht oder nur für möglich gehalten hätte, ein heißes Begehren zu ihr hin. Ihr Kummer und seine Betrachtungen darüber waren ihm ganz fremd geworden, er empfand nur noch die stürmische Lebenskraft ihres blühenden Körpers, ihr schreiendes Lachen und das wilde Feuer ihrer Sinne. Er sprach und lachte mit ihr, und sie fühlte sogleich die Veränderung in seinem Wesen gegen sie und gab ihm nach; ihre blauen Augen sprühten Trotz und Hingebung zugleich, und die Bewegung des Mundes mit den blitzenden Zähnen bekam etwas Weiches und Berückendes. Michael war ihr so nahe getreten, daß er die Wärme ihres Gesichts zu spüren glaubte, als ein Schiffsarbeiter, um das Tau zum Anlanden benützen zu können, das gerade vor seinen Füßen aufgerollt lag, ihn bat, beiseite zu treten. Gleich darauf hielt das Schiff an einer Landungsstelle, und die Pfeife gab das Zeichen zum Ein- und Aussteigen. Durch das Stoßen und Drängen derer, die heraus und herein wollten, wurde das Kind aufgeweckt und fing an zu schreien, und das Mädchen, erschrocken über sich und das, was sie so plötzlich ergriffen hatte, setzte sich mit ihm auf einen anderen Platz und versuchte es zu beschwichtigen. Michael blieb an der Spitze des Schiffes stehen und blickte nach ihr hinüber; er konnte den Zauber, der sie kurz vorher in seinen Augen umgeben hatte, und sein jähes Begehren nicht mehr begreifen. Am liebsten wäre er sofort ausgestiegen, ohne sich von ihr zu verabschieden, doch widerstrebte es ihm, sich wie ein beschämter Übeltäter davonzuschleichen, und als die Haltestelle in Sicht war, wo er das Schiff zu verlassen pflegte, überwand er sich, zu ihr hinzugehen und sie anzusprechen. Er bat sie, ihm ihren Namen zu nennen, und nannte ihr seinen nebst seiner Adresse, indem er sie bat, wenn ihr irgend etwas fehlen sollte oder wenn sie Sorgen irgendwelcher Art hätte, sich an ihn zu wenden, da er alles tun würde, um ihr Rat und Hilfe zu schaffen. Auf die Frage, ob sie augenblicklich Geld gebrauche, schüttelte sie den Kopf und dankte: sie gab ihm die Hand, als er ihr seine reichte, ohne Mißtrauen, aber auch ohne Herzlichkeit und ohne daß ihr trotzig-düsteres Gesicht sich aufhellte.

Der Wind hatte sich gelegt, und das Wetter schien nicht recht zum Ausbruch kommen zu können; es war so dunkel, daß Michael Mühe hatte, seinen Weg zu finden. Langsam, mit immer steigendem Weh und Übelkeit des Herzens schleppte er sich hin; er hatte nicht geahnt, daß etwas so Niedriges so gewaltig in ihm war. Seit er Rose liebte, hatte er es für unmöglich gehalten, daß er jemals, auch nur für den flüchtigsten Augenblick, zu irgendeiner Frau könnte in Sehnsucht hingezogen werden, auch war er mit manchem reizenden Mädchen zusammengekommen, ohne je die Sicherheit zu verlieren, daß keine seinem Herzen neben Rose etwas bedeuten könnte. Und wie unerheblich wäre das, wenn es dennoch geschehen wäre, gegen das eben Erlebte gewesen! Wie eine tückische Bestie hatte ihn die Lust nach dem fremden Mädchen überfallen, und er hatte sich ihr ohne Gegenwehr hingegeben. Es fiel ihm ein, wie anders der Freiherr sich an seiner Stelle benommen haben würde, wie er in dem schweren, mühseligen, dumpfen Frauenleibe einen Geistesfunken entzündet hätte, der vielleicht nie wieder erloschen wäre. Welche Erinnerung würde das fremde Mädchen dagegen von ihm behalten? Er würde ihr nachträglich mit seinen Geschenken und seiner Freundlichkeit wie einer von den vielen erscheinen, die jedes arme, verlassene Mädchen für ihre groben Begierden kaufen zu können glauben, und eine Bitterkeit und Häßlichkeit mehr würde in ihren trüben Empfindungen zurückbleiben. Was war ihm beigekommen, daß er sich zugetraut hatte, den einfachen, ungebildeten Menschen, unter denen er jetzt lebte, ein Führer sein zu können! Er sehnte sich nach Rose, und zugleich war es ihm, als würde er sie niemals wiedersehen und niemals mehr ihrer froh werden. Was ihn bisher in allen seinen Qualen stark und glücklich gemacht hatte, seine Liebe, das hatte er nun selbst beschmutzt; es ekelte ihn so sehr vor sich selbst, daß er sein Bewußtsein, das ihm unablässig zuraunte, wer er war, hätte auf immer von sich tun mögen. Auf einmal wurde er müde, und wie er das schwarze Wasser mit leisen, schluchzenden Tönen ans Ufer spülen hörte, kam ihm eine seltsame Empfindung, als dränge das Schluchzen aus seiner eigenen Seele heraus, als zerränne sie über das ganze Meer und fühlte dessen bebende Bewegungen; es war ein wunderbares quälendes Sichverlieren im schwarzen Raume, wobei er doch in seinem Bewußtsein noch er selbst blieb. Es peinigte ihn, daß das Schluchzen neben ihm nicht aufhörte, daß eine fremde, ungreifbare Macht wider seinen Willen in ihm weinte, ohne daß er entrinnen konnte. Er wußte nicht, wie es kam, daß er plötzlich mit schmerzlicher Sehnsucht an seinen Vater denken mußte; deutlich wie nie zuvor empfand er den unzerreißbaren Zusammenhang, in dem er mit ihm war und aus dem er sich hatte losreißen wollen. Ein schreckliches Angstgefühl übermannte ihn, als sei er unbefugt aus dem Kreise herausgedrungen, in den er durch seine Geburt gesetzt war, um nach Höhen zu streben, auf denen sich zu halten ihm doch die Kräfte fehlten. Gegen dies beklemmende Gefühl sammelte sich endlich ein Wollen; er sagte sich, daß nur dann etwas Schlimmes geschehen sei, wenn er sich den Glauben an sich selbst dadurch rauben ließe. Solange er den Mut hatte, sie zu bekämpfen, würden ihn auch gefährliche und unschöne Triebe nicht ernstlich schädigen. Er atmete wieder freier; er empfand seine Jugend und seine Kraft, obwohl er ermüdet war, und lächelte; denn es war ihm zumute, als wäre ihm, wie er sich ermannte, eine Gottheit zu Hilfe gekommen und hätte sein gesunkenes Haupt wieder erhoben.

*

Obgleich es an sich nur ein unwichtiger Vorfall gewesen war, glaubte Michael doch nicht eher völlige Ruhe finden zu können, bis er Rose selbst erzählt hätte, was ihm auf dem Schiffe mit dem fremden Mädchen begegnet war. In dem kleinen Städtchen, wo sie lebte, war Winterwetter; von den Dächern hingen schmutzige Fetzen halbzerflossenen Schnees, und auf den ungepflasterten Straßen klatschte ihm der nasse Schmutz unter den Füßen. Rose saß fröstelnd in ihrem Zimmer und konnte sich nicht darein finden, Michael zu sehen, der seine Ankunft nicht gemeldet hatte; er hatte das Gefühl, als müsse er eine Weile warten, bis die harten, versteinerten Linien in ihrem Gesichte sich gelöst hätten. Als er fragte, womit sie sich eben beschäftigt hätte, wußte sie es kaum zu sagen; sie hatte lesen wollen, des Zwielichtes wegen aber sogleich wieder aufhören müssen, und war dann in Gedanken versunken, deren Inhalt sie nicht einmal angeben konnte. Ihr Atelier, das gegen Norden lag und sehr geräumig war, ließ sich bei der Kälte nicht heizen, und sie hätte schon seit längerer Zeit nicht arbeiten können; außerdem waren die Zeichnungen für den Freiherrn beendet, und sie hatte noch keinen neuen Einfall gehabt, der sie ganz erfüllte. Mit einem Lächeln, das nicht heiter war, sagte sie, es sei eben jetzt eine leere Stelle in ihrem Leben. Michael war gekommen, um Trost und Beruhigung bei Rose zu suchen, und hatte nicht einen Augenblick gezweifelt, daß sie mit vollen Händen würde geben können; nun erschien sie selbst bedürftig, und ihm entsank der Mut, zu sagen, was ihn hergetrieben hatte. Dann wieder war es ihm, als müsse irgendeine Erschütterung in das Schweigen kommen, und ohnehin nicht gewohnt, sein Benehmen bei ihr zu berechnen, strömte er seine ganze Erzählung auf einmal vor ihr aus. Rose legte ihre Hände um seinen Hals, da er vor ihr kniete, und hörte still zu, während ihre großen Augen mit ernstem, rätselhaftem Sinnen auf seinem Gesichte ruhten. »Sage mir ein Wort«, bat er endlich, nachdem er schon lange zu Ende gesprochen hatte. Sie legte statt aller Antwort den Kopf auf seine Schulter und stöhnte leise; dann stand sie auf und sagte: »Ach, es wird wieder und wieder so etwas kommen, vielleicht bei dir, vielleicht bei mir, und wir schleppen ein Gefühl von Pflicht, aneinander festzuhalten, mit uns herum, während doch eben dies Festhalten ein Verbrechen ist. Schließlich hast du statt einer Frau, die du nicht loswerden kannst, zwei.« Michael starrte sie schreckensvoll an; »o Rose«, sagte er nach einer langen Pause mit Tränen in den Augen, »liebst du mich denn nicht mehr?« Sie warf sich leidenschaftlich an seine Brust und weinte.

Sie beruhigten sich allmählich und beschlossen, aus der drückenden Enge des Stübchens hinaus ins Freie zu gehen, so wenig einladend es dort auch war. Sein Blick fiel, sowie sie aus dem Hause getreten waren, auf das hohe Münster, das ungeheuer in die Dämmerung stieg und das er im Kommen nicht beachtet hatte. Sie sahen einander innig in die geröteten Augen, und Michael sagte: »Etwas ist immer groß und rein auf der Erde, wenn man es auch vor Schmutz und Dunkel zuweilen nicht sieht.« – »Es ist die Schönheit«, sagte Rose, mit inbrünstigem Blick an dem gewaltigen Turme hinaufsehend, dessen Spitze die dunstige Kälte verhüllte. Sie traten durch eine Seitentür in die Kirche ein und setzten sich auf eine Bank im Mittelschiff. Das Innere war auch bei hellstem Tageslicht dunkel, nur daß durch die hohen, schmalen Fenster, wenn die Sonne schien, ein paar glühende Farbentropfen fielen; jetzt konnte man nur da etwas wahrnehmen, wo unter Bildern ewige Lampen brannten. Menschen sah man keine, doch hörte man dann und wann gedämpfte, langsame Schritte. Michael und Rose hielten sich an den Händen und legten ihre Stirnen auf das Holz der Betbank; ein gemeinsames Gefühl der Andacht jubelte und betete in ihnen.

Nachdem sie das Münster verlassen hatten, gingen sie durch die engen Straßen, plaudernd und lachend, ohne unter Schmutz, Kälte und Nässe zu leiden. Rose klagte sich an, daß sie nicht eine größere Stadt aufgesucht hätte, wo sie hätte arbeiten können; so hätte sie sich selbst der Einsamkeit und Unlust, allerlei überflüssigen Leiden und Demütigungen ausgesetzt. Sie hatte nun wieder ihr kindlich-zufriedenes Gesicht und ihre stillen Augen voll weicher Glut; dennoch konnte er sie nicht ohne Weh ansehen. Es fiel ihm ein, wie er sie einmal während jenes ersten Frühlings in seinem elterlichen Hause, im Garten auf dem Rasenplatz liegend, gefunden hatte, mit heimlich glänzendem Lachen über dem ganzen Gesicht, und wie sie auf seine Frage, was ihr so Reizendes begegnet sei, geantwortet hatte, ein Marienkäferchen, ein kleiner roter Käfer mit sieben schwarzen Punkten, sei auf ihre Hand geflogen und bei ihr geblieben, und sie hätte ihn dann über ihre Wange laufen gefühlt. Durch das winzige Leben, das sie dem ihren so nahe fühlte, war sie beglückt gewesen; eine stille, warme, ruhende Seele, um die herum alles Liebe, Spiel und Schönheit war. Sie wurde nachdenklich, als er sie an diesen Augenblick erinnerte. »Es scheint so fern zu liegen«, sagte sie, »wie der Frühling, wenn es Winter ist; aber er kommt ja wieder.« – »Als wäre es nie dagewesen«, sagte Michael zerstreut; mitten in das Glück, das er noch eben gefühlt hatte, war ein überwältigender Schmerz gedrungen.

Es wurde ihm mehr und mehr klar, daß es so nicht weitergehen dürfe, sowohl um seinet- wie um ihretwillen. Er mußte die verwirrten und verschrobenen Verhältnisse, in denen er lebte, auflösen, damit Rose auf immer die Seine werden konnte; wenn er den festen Willen hätte, es zu erreichen, sagte er sich, müsse es ausführbar sein. Sie äußerte keinen Zweifel und hörte still zu, wie er von ihrer gemeinsamen Zukunft erzählte; wie ein Bettelkind mit bloßen Füßen stand sie schon auf der Schwelle des goldenen Saales und wagte nicht hineinzutreten, sie, mit den Götteraugen und dem sonnenwarmen Herzen. Sofort bevor er nach Italien zurückkehrte, wollte er nach Hause reisen, das Äußerste versuchen und seine Frau bitten, ihm die Freiheit zu geben.

Bis dahin hatte er noch nie etwas Derartiges laut werden lassen und tatsächlich auch noch niemals ernstlich erwogen, höchstens als in weiter Ferne stehende Möglichkeit sich vorgestellt. Für unmöglich hielt er es nicht, daß sie selbst inzwischen dazu gekommen wäre, die Befreiung von ihm zu wünschen, der ihr nichts mehr war und sie nur noch an seinen Namen festband, vielleicht aber auch, wenn sie ihn immer noch liebte oder nur das Aufsehen scheute, ließ sie sich durch Bitten bewegen; denn je mehr Ursache sie hatte zu zürnen, desto eher ließ sie sich, so glaubte er sie zu kennen, zu unerwartetem, großmütigem Verzeihen und Beglücken fortreißen.

Er kündigte sein Kommen vorher in einem Briefe an, in welchem er seine Absicht andeutete, damit nicht etwa, wenn er unerwartet vor sie hinträte, Hoffnungen in ihr erregt würden, die er nicht erfüllen konnte. Als er die Wohnung betrat, erinnerte er sich lebhaft jenes Abends am Bette des kranken Kindes und fühlte, daß der Gedanke daran drohend und schmerzlich zwischen ihm und Verena stand; doch zeigte sie ihm durch die Art, wie sie ihn empfing, daß sie das vergessen wissen wollte, wenn es auch nicht vergessen war. Sie sagte, sogleich auf die Andeutung seines Briefes eingehend, sie hätte von Anfang an gewußt, daß er es dahin würde treiben wollen, und ihn von Anfang an gewarnt; denn sie könnte niemals in dies Verlangen einwilligen. Wenn es sich nur um sie handelte, würde es kein Bedenken geben: seit keine Liebe mehr zwischen ihnen sei, bedeute die Verbindung mit ihm nur Fessel und Druck für sie, da sie weder die Freiheit der unverheirateten noch die Annehmlichkeiten der verheirateten Frau besäße. Wollte sie nicht das ganze traurige Verhältnis den Leuten offenbar machen, so müsse sie sich benehmen wie seine Frau und seiner Eltern Schwiegertochter, geheimhalten müsse sie aber den wahren Stand der Dinge um des Kindes willen, um deswillen sie auch beschlossen hätte, unter keiner Bedingung jemals in die Scheidung zu willigen.

Sie sagte das so ruhig, so abgemessen und besonnen, daß ein Versuch, an ihrem Entschlusse zu rütteln, aberwitzig erschien; doch Michael fühlte sich wie einer, der um sein Leben kämpft, und der auch das Törichte, das Unsinnigste wagt, um sich zu retten. Er stellte ihr vor, daß sie auf die Dauer doch nicht vor Mario geheimhalten könnte, wie sie miteinander stünden; daß es jetzt, wo er noch ein Kind sei, leichter sein würde als später, ihn über die Wirklichkeit wegzutäuschen und ihn in Verhältnisse zu setzen, die ihm bald als selbstverständlich erscheinen würden; daß er mehr darunter leiden würde, wenn er uneinige Eltern, als wenn er geschiedene hätte; daß er, wenn sie geschieden wären und sie edel dächte, mehr von ihnen beiden haben könnte, als unter den gegenwärtigen Umständen.

Verena ging aber auf das, was Michael vorbrachte, gar nicht einmal ein: denn das alles, sagte sie, wären nur sophistische Gründe, die seine Leidenschaft sich ausgesponnen hätte, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Sie dürfe ihn hingegen nicht in seiner Leidenschaft und Pflichtvergessenheit bestärken und müßte im Gegenteile ihre Handlungen nur nach der Pflicht einrichten, die sie gegen Mario hätte: ihm die Familie zu erhalten; wenn er einmal reuig zurückkehrte, würde sie ihn zwar nicht mehr lieben können, aber sie würde, wie sehr sie auch darunter leiden möchte, in ein äußerliches Zusammenleben Mario zuliebe willigen und sich über jede Widerwärtigkeit durch den Gedanken erheben, daß sie das Heiligtum, das er feig und frevelhaft verlassen, geschützt und gerettet hätte.

Nein, sie irre sich, rief Michael heftig, er würde nie Reue fühlen und nie zurückkehren. Was er getan hätte, hätte er mit Willen nicht wie ein betörter Schwächling getan, und mit Bewußtsein der schweren Folgen, die sich daran geschlossen. Sehend nähme er die schwere Last auf sein Gewissen, da er eher das als das andere tragen könnte. Wenn sie fest und unerschütterlich wäre, so wäre er es nicht minder; er würde nie nachgeben, nie nachlassen, nie umkehren, nie bereuen. Er hätte sich inzwischen mehr von den Seinigen entwöhnt, als er früher geglaubt hätte, und könnte ihre Wege nicht mehr gehen, wie sie ihm auf seinen nicht folgen würden. Auch zwischen ihr und ihm wären zu viel bittere Worte gefallen, als daß sie gut und glücklich miteinander leben könnten, auch wenn er nicht eine andere liebte. Die Schuld und alle äußeren üblen Folgen nähme er auf sich; Mario würde er immer als sein Kind betrachten und alles für ihn tun, was ein Vater für sein Kind tun könnte, nur sein Selbst ihm opfern wollte er nicht; und das wäre auch deswegen sinnlos, weil, wenn er selbst nichts mehr wäre, er auch ihm nichts mehr sein könnte.

Während er sprach, wurde der Blick in Verenas Augen feindseliger und schärfer; es glühte eine geheime, kalte Genugtuung darin, daß sie ihm jetzt noch viel größeren Schmerz zufügen konnte, als er ihr getan hatte. Sie spürte, daß weit mehr Angst und Leidenschaft in ihm war, als er zeigte, und daß er vor dem zitterte, was sie sagen würde. »Das hat mit meinem Entschlusse nichts zu tun«, sagte sie langsam, »und schafft nutzlose Erbitterung. Ich nehme, wie ich dir vorher sagte, nichts von meinem Vorsatze und keines von meinen Worten zurück.« Michael fühlte einen großen Haß und eine große Verachtung; denn sie war ohne Schuld und in ihrem Rechte, und in solcher Lage, schien es ihm, müsse man schön und gut sein. Wenn er ihr unendlichen Schmerz zugefügt hatte, so hatte er ihr doch gezeigt, wie er selbst darunter litt, und begriff nicht, wie es ihr Herz erleichtern konnte, daß sie ihm so viel zuleide tat wie sie konnte, und die verletzendsten Waffen suchte, um ihn zu verwunden.

Es war nichts mehr zwischen ihnen zu sagen, und er konnte wieder gehen; doch schien es ihm unerträglich, fortzugehen, ohne irgend etwas ausgerichtet zu haben, ohne die kleinste Hoffnung mit sich nehmen zu können. Wen hätte er anflehen sollen, für ihn zu wirken? Nicht seinen Vater, nicht seinen Bruder, eher hätte er fließendes Wasser nach seinem Belieben formen können. Seine Mutter indessen, dachte er, würde sich eher rühren lassen; sie, mit dem weichen Gesicht, die selbst das Leiden fürchtete, würde ihren Sohn nicht zugrunde gehen lassen, seinen Schmerz, wenn sie ihn auch nicht ganz verstände, würde sie nicht ansehen können, ohne ihn zu trösten. Er ging leise die Treppe hinauf, die das Stockwerk, welches er mit Verena bewohnte, mit der höher gelegenen Wohnung seiner Eltern verband, und blieb horchend in dem kleinen Vorzimmer stehen, auf das sie führte. Das Zimmer seiner Mutter war in der Nähe, und wenn dort Menschen gewesen wären, hätte er Stimmen hören müssen; doch blieb alles still: wenn sie da war, mußte sie allein sein. Klopfenden Herzens drückte er den Türgriff nieder und öffnete; durch eine offenstehende Tür fiel ein schmaler Lichtschein, so daß sie wohl allein, in einem Sessel träumend, bei der Lampe sitzen mochte. Indem er näher kam, rief er leise: »Mama, ich bin's, Michael!« damit sie nicht erschräke, und lag im selben Augenblick zu ihren Füßen.

Obwohl sie freundlich lächelte, sah Michael ihr an, daß sie die Furcht zu verscheuchen suchte, er möchte etwas Schlimmes, Aufregendes bringen, aber er hatte keine Zeit zu Umschweifen. »Mama«, sagte er, »ich bin heimlich hier wie ein Flüchtling, und will in dieser Nacht noch fort. Nur dich sehen will ich einen Augenblick und dich anflehen, deinem Kinde zu helfen. Ich lag doch einmal winzig in deinen Armen und war nichts als ein Tropfen Blut von deinem Blute. Damals rührte es dich, wenn ich weinte, und doch brauchte ich deine Hilfe nicht wie jetzt. Frag nicht, ob ich recht habe oder schuldig bin, sondern hilf mir, daß ich nur leben kann. Sprich du für mich bei Verena, daß sie mir meine Freiheit wiedergibt; es ist ja nicht nur meine Freiheit, sondern mein Leben. Sei nicht hart gegen mich, ich kann doch nicht mehr leiden, als ich leide!«

Die Malve sah erschrocken das fieberhafte Wesen und Aussehen Michaels, die ihr mehr als seine Worte anzuzeigen schienen, daß er krank und irr war. »O Michael«, sagte sie, »wie unglücklich hast du dich und uns alle gemacht!« Als sie aber sah, wie es in seinem Gesicht zu zucken begann, strich sie sanft über seine Stirn und sagte: »Nein, sei ruhig, ich will dich jetzt nicht quälen. Wenn es sein muß, will ich dir beistehen, ob du recht oder unrecht hast. Es kann ja noch alles wieder gut werden.« Er lehnte sich an ihre Brust und empfand eine leise Beruhigung, ja ein süßes, fernes Wohlsein, wie er zum ersten Male mit Kinderglauben bei seiner Mutter ruhte. Ihre weichen Hände glitten über sein Haar, während ihn die Schläge seines Herzens und ihre Atemzüge wie ein Wiegengesang einhüllten. Plötzlich glaubte er ein Geräusch zu vernehmen und machte sich los. »Mama«, sagte er, »niemand außer dir soll wissen, daß ich hier war; denn ich will diese Nacht noch reisen.« Sie sah ihn beängstigt und beschwörend an und rief: »Du willst heimlich in der Nacht fort und mich in dieser Unruhe lassen? Was soll werden? Was wird dein Vater sagen? Wenn er durch Diener im Hause oder durch Bekannte, die dich auf der Straße gesehen haben, erfährt, daß du hier warst, ohne daß er es wußte?«

»Es ist einerlei«, sagte Michael traurig, »ihr müßt es ertragen. Es kann nicht alles glatt und eben gehen.« Sie umschlang ihn mit den Armen und rief: »Du kannst ja warten! Wir können sprechen und überlegen!« Doch er befreite sich gewaltsam und eilte durch die Gänge und den Vorsaal die Treppen hinunter; die Dienerschaft blickte ihm erstaunt nach, ohne daß er bemerkte, ob sie ihn erkannt hätten.

Als ihn draußen die winterkalte Luft berührte, wachte er wie aus einem fieberhaften Traume auf; warum war er bei seiner Mutter gewesen? Welchen Erfolg hatte er sich davon versprochen? Er wußte, daß sie alles so weitergehen lassen würde wie es ging, daß sie stets alles tun würde, um einem Bruch auszubiegen und das Schlimme, das wider ihren Willen käme, zu verhüllen. Bereute er auch nicht, daß er einen Augenblick so warm und gut an ihrer Brust gelegen hatte, so machte er sich doch klar, daß er keine Hilfe von ihr, noch von irgend jemandem sonst auf Erden zu hoffen hätte. Je nachdrücklicher er sich das sagte, desto fester und beruhigter wurde er in sich, und die Verzweiflung, die ihn gepackt hatte, als er Verenas unbeweglichem Hohne gegenüberstand, ließ ihn allmählich los, so daß er wieder freier atmen konnte.

Er sah nach der Uhr und überzeugte sich, daß er noch eine Stunde Zeit bis zum Abgang des Zuges hatte; es war noch nicht zehn Uhr. So schlug er die Landstraße ein, die jenseits des Bahnhofes aus der Stadt herausführt; sie war verschneit und menschenleer, so weit er sie bei der trüben Beleuchtung weniger Laternen überblicken konnte. Die reine Kälte tat ihm gut; er hüllte sich fest in seinen Mantel und wanderte schnell vorwärts, so daß er in einer halben Stunde schon die zusammengeduckten Lichter eines kleinen Dorfes von weitem sehen konnte.

Eben das Bewußtsein, allein zu stehen, sagte er sich, müsse ihm Kraft geben. Nichts, was ein Mensch wollen könne, sei unmöglich. Sähe Verena, daß er unerschütterlich bleibe, würde sie schließlich nachgeben. Er dachte auch daran, daß er sich so benehmen konnte, daß sie selbst von ihm geschieden zu werden wünschen müßte; aber das verwarf er sogleich wieder. Sein Wille war, Freiheit und Glück und die Möglichkeit, so zu leben, wie er es für gut und schön hielt, aber ohne häßliche Mittel zu erringen, und ohne die Achtung, die er vor sich selbst hatte, aufzuopfern, und er fühlte sich fähig dazu. Nur dürfe er den Glauben an sich nicht verlieren und sich nie in seinem entschlossenen Willen beirren lassen.

Er war unterdessen wieder umgekehrt und bemerkte, daß ein Mensch an der Straße stand, während er vorher auf der ganzen Strecke niemanden gesehen hatte. Ohne seinen Gedankengang zu unterbrechen, wunderte er sich doch darüber, daß der Mensch weder vorwärts noch rückwärts ging, sondern unbeweglich wie einer der Laternenpfähle stand; schließlich dachte er, es würde ein Soldat sein, der auf sein Mädchen wartete. Wie eine Schildwache stand er da, wie einer von der heiligen Feme, der richten will und weiß, daß das Opfer ihm nicht entrinnen kann. Michael war darüber von seinen Betrachtungen abgekommen und in eine unbehagliche Stimmung geraten, ohne zu wissen, warum; denn abgesehen davon, daß er überhaupt furchtlos war, war auf der mit Häusern besetzten Landstraße kein Anlaß zur Furcht, und der Mensch stand ohnedies breit in der Nähe einer Laterne, keineswegs wie einer, der auflauern will. Da er nun aber einmal angefangen hatte, auf die schwarze, unbewegliche Gestalt zu achten, die immer größer und kenntlicher wurde, während er die lange, gerade, schneeleuchtende Straße heraufkam, konnte er den verlorenen Gedankenfaden nicht wieder aufnehmen; im Vorbeigehen sah er, daß es wirklich ein Soldat im Mantel war, der zu einem zärtlichen Stelldichein geladen sein mochte.

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