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Buchschmuck: Heinrich Vogeler

XII

Das erstemal in meinem Leben brachte ich in diesem Jahre den ganzen Sommer zu Hause zu. Sämtliche Familien meines Standes pflegten vom Juni oder Juli an auf einige Monate zu verreisen, meistens ins Gebirge, um der Hitze auszuweichen, die für unerträglich galt. Ich hatte mir unter dieser berüchtigten Hitze etwas Lästiges, aber nur gradweise von der gewöhnlichen Sommerwärme Verschiedenes vorgestellt und empfand auch anfänglich nichts anderes. Allmählich aber legte sich ein beklemmender Druck auf mich, der einerseits ermattete, andererseits rastlos prickelnd umtrieb, als müßte man irgendwohin, um ihm zu entrinnen. Es war ein Gefühl, als befände man sich in einem Zimmer, das seit langer Zeit fest verschlossen gewesen wäre, und wo man Fenster und Thüren nicht mehr öffnen könnte. Ein Durst von ganz neuer Art stellte sich ein; meine Eingeweide kamen mir vor wie ein brennender Schwamm, brennend mit still fortglimmendem Feuer, weil keine Luft hinzukäme, auf den alles Wasser, jede Feuchtigkeit wie Oel wirkte und das Feuer schürte; je mehr er einschluckte, desto dicker schwoll er auf und gloste stetig weiter. Das Baden im Meere war mir keine Erquickung, vielmehr ermattete das warme, schläfrige Wasser, das sich wie Schleim an einen hängte, mich noch mehr. Trotzdem suchte man immer wieder hilfesuchend das große freie Meer auf, wo man den ganzen Himmel überblicken und sogleich gewahr werden konnte, ob sich etwa ein Gewölk zusammenschlich und sich ballte und dehnte, um zu regnen. Wenn meine Geschäfte erledigt waren, pflegte ich fast täglich allein, da alle meine Bekannten auf Reisen waren, auf einem schmalen Pfade, der das Ufer entlang lief, spazieren zu gehen.

Eines Abends traf ich dort die Farfalla. Die Luft war an diesem Tage dampfend gewesen dabei ohne Bewegung, und die Nacht brachte keine Erlösung. Das Meer lag da wie der verwesende Leichnam eines Lindwurmes, der langsam verfault und sich in seine giftigen Stoffe auflöst; aber niemand vermag den ungeheuren schwarzen Kadaver von der Stelle zu bewegen, der Meilen und Meilen bedeckt und verpestet. Es kamen mir Vorstellungen, die mir selbst wie Fieberphantasien erschienen: ich sah die Erde bedeckt von knieenden Menschen, die die Hände gen Himmel streckten und um Regen flehten, damit der Riesenwurm, der noch im Tode mordete, weggeschwemmt würde; nicht durch gewöhnlichen Regen sondern durch Güsse und Ströme, die tage- und nächtelang aus dem geborstenen Himmel brächen. Erst müßte es rinnen und rieseln dann plötzlich rauschen, stärker und stärker, als ob Urwälder voll Tannen vom Winde hin- und hergepeitscht würden; wie eine silbergraue Masse müßte der Regen die Luft erfüllen und sie in stürmische Bewegung setzen; eine Sündflut müßte es sein, die den allgemeinen Greuel, die große Pest der Erde überwallte und vernichtete. Anstatt dessen blieb es totenstill. Einige Schiffe starrten mit großen schlaffen Segeln aus dem Wasser, daß man sie für versteinert hätte halten können. Ein blauschwarzes Gewitter hing zwar über dem ganzen Himmel, aber zu ausgebreitet, als daß es sich hätte entladen können. Zuweilen wetterleuchtete es und es sah dann aus, als thäte sich der Himmel aus übergroßer Mattigkeit auseinander und man könnte in seinen sterbenskranken gelben Leib hineinsehen

Indem ich stand und dies betrachtete, zu erschöpft, um den Entschluß zum Weitergehen fassen zu können, fiel mein Blick auf die Farfalla, die auf einer steinernen im Meer verlaufenden Treppe saß, mit den Füßen und einem Teil des Kleiderrockes im Wasser. Sie hatte mich schon eine Weile gesehen, mich aber nicht angeredet, wohl weil ich mich seit geraumer Zeit in der Altstadt nicht hatte blicken lassen und sie nicht zudringlich erscheinen wollte. Ihr Gesicht war hohl und schlaff geworden und ihre Augen starrten wie zwei Verschmachtete aus der Wüste heraus. »Das Meer hat Raum für allen Schmutz und alles Elend«, sagte sie nicht ohne ihr altes liebenswürdiges Lächeln; »ich glaube, ich lebte nicht mehr, wenn ich nicht jede Nacht kommen und alle Not ins Meer werfen könnte.« Carmelo hatte keine Arbeit oder wollte nicht arbeiten, Galanta konnte in ihrem Zustande nur wenig verdienen, an Riccardo zehrte die Hitze; er lag Tag und Nacht im Hausflur und stöhnte wie eine arme Seele im Fegefeuer. Die Farfalla hatte Geld von einem Wucherer borgen müssen und nun galt es allwöchentlich die Zinsen zu bezahlen; »wenn man das Geld mit Nadeln aus meinem Leibe herausstechen könnte, wollte ich genug herbeischaffen«, sagte sie, »aber die Wucherer sind schlimmer als der Teufel, der doch Blut an Zahlungsstatt von seinen Schuldnern annimmt.« Dieser Wucherer war der gefürchtetste und verhaßteste Mann in der Altstadt, der eine Menge von Menschen fast wie Sklaven in der Hand hatte. Als junger Mensch hatte er einen Raubmord begangen, war zu fünfundzwanzigjähriger Zwangsarbeit verurteilt und hatte sich in dem langen Zeitraum eine Summe Geld verdient, mit der er sich nach seiner Entlassung in der Altstadt als Geldverleiher niederließ. Wie die Gradella war er schäbig, geizig und erbarmungsloser als sie; seine Tücke und Gehässigkeit wurde einer fürchterlich geheimnisvollen Krankheit zugeschrieben, die er aus dem Gefängnis mitgebracht haben sollte. »Denn es ist bekannt«, sagte die Farfalla, »daß die Gefängnisärzte den Sträflingen Gift geben in der Arznei, woran sie langsam hinsiechen, ohne daß jemand merkt, was die Ursache ist.« Vergebens bemühte ich mich, ihr die Sinnlosigkeit dieses Märchens darzuthun, sie blieb, ohne sich auf eine Begründung einzulassen, hartnäckig bei ihrer Behauptung. In alter Zeit, sagte sie, hätte man den Gefangenen ein Ohr abgeschnitten, daß man sie als Bestrafte erkannte, jetzt wäre das nicht nötig; die wenigen, die lebend aus dem Zuchthause kämen, unterschieden sich von allen anderen Menschen durch ihre vertrocknete, wachsgelbe Haut, stiere Blicke wie von Toten und gelbliche Färbung des Weißen im Auge.

Ich machte der Farfalla einen Vorwurf, daß sie sich nicht an mich gewandt hätte, ehe sie sich diesem Halsabschneider in die Hand gab. »Wer weiß, ob Sie dann heute noch so freundlich mit mir sprächen«, sagte sie mit einem offenen Blick aus ihren hellen erschöpften Augen, der mich erröten machte, obgleich ich mir bewußt war, daß sie mir Unrecht that. Uebrigens hatte das Gespräch sie wieder belebt und erheitert, und sie erzählte mir allerlei Histörchen aus dem Leben des Wucherers mit soviel Weisheit und Anmut, daß ich sie unvermerkt bis fast an die Grenze der Altstadt begleitete. Es wollte mir nicht in den Kopf, daß sich nie einer fand, den verhaßten Wucherer zu verklagen wegen der hohen Zinsen, die er seinen Opfern erpreßte; aber das, sagte die Farfalla, würde keinem in den Sinn kommen, weil alle ihn brauchten, wenn nicht heute, so morgen. Sie meinte, daß er kaum jemals Geld in der Altstadt eingebüßt hätte.

Als ich am anderen Tage in die Triumphgasse einbog, sah ich lauter Weiber mit Kindern im Arm auf dem Pflaster sitzen, denen es in den engen Räumen zu heiß war. Einige spielten Lotto und blickten still und verdrossen auf ihre Karte, während eine mit kreischender Stimme die Zahlen ausrief. Riccardo lag auf einer Matratze im Hausflur und sah gespensterhaft wie ein blaßgrauer Schatten aus, war aber trotzdem in einem lebhaften und lustigen Gespräch mit mehreren Männern die um ihn herum waren.

Die Farfalla lachte so, daß ihr die Thränen in die Augen kamen. Sie erklärte mir, nachdem sie mich begrüßt hatte, den Grund ihrer Heiterkeit; Riccardo nämlich hatte behauptet, wenn man am ersten Januar einen Kreuzer beiseite legte, den folgenden das Doppelte davon und immer so weiter, würde man am letzten Tage des Jahres so und so viele Millionen besitzen. Dies war allen unglaublich vorgekommen und der Bucklige, der rechnen konnte, war auf die Leiter gestiegen um die Sache durch fortwährendes Multiplizieren und Addieren an der Wand herauszubekommen; ein großer Teil der Mauer war schon mit ungestalten wackeligen Zahlen beschmiert. Außer ihm war da noch ein blasser, schmaler Mensch mit kindlichem, etwas blödem Gesicht, und ein alter, weißhaariger Mann, der ehemals Lehrer an einer Volksschule gewesen war, sich dem Trunke ergeben und seine Stelle verloren hatte, dann in der Römerstadt auf die tiefste Stufe der Armut herabgesunken war. Obgleich er von irgend einem verschollenen Kriege her einen Stelzfuß hatte und halb blind war, erregte er doch, wenn man ihn näher betrachtete, kein Mitleid; die Form seines Gesichtes war brutal und der leere Blick seiner Augen lauernd und böse. Wie mir die Farfalla sagte, trugen ihm seine weißen Haare, seine Blindheit, sein hohes Alter reichliche Almosen ein, die er aber alle vertrank; seine Tochter, die fleißig arbeitete, konnte kaum ein paar Kreuzer vor ihm retten, um sich notdürftig zu ernähren und zu kleiden, ja er zwang sie sogar, gleich ihm, auf dem bloßen Fußboden zu schlafen, da die Leute, wenn er Betten hätte, ihn nicht so sehr bedauern und so reich beschenken würden. Trotz dieser Eigenschaften genoß er ein gewisses Ansehen wegen der Bildung, die man ihm zuschrieb, und er wurde auch jetzt als der Schiedsrichter betrachtet; mit laut knarrender, unsicherer Stimme wiederholte er mehrmals, daß Riccardo ein Wunder und ein großer Geist sei, der, ohne je eine Schule besucht zu haben, solche Kenntnisse besäße, und versicherte, daß der Bucklige, der sich dadurch aber nicht stören ließ, nicht nötig habe, die Probe zu machen. Die Farfalla und der blöde junge Mann lachten halb bewundernd, halb ungläubig und verfolgten mit Spannung die Rechnung des Buckligen bis ich Riccardos Behauptung als völlig richtig bestätigte.

Riccardo selbst sah höchst belustigt aus und sagte mit glänzenden Augen auf seine Mutter blickend: »Da klagst du immer über Geldmangel, und es giebt ein so einfaches Mittel, reich zu werden; du verstehst es nur nicht« Die Farfalla lachte, wie sie über jeden Scherz zu lachen pflegte, aber ich fühlte deutlich, daß ihr Herz nicht dabei war. Ganz zutiefst in dem freundlichen Blick, mit dem sie Riccardo ansah, war etwas, das mir Grauen erregte: eine kalte, auf äußerster, tötlicher Erschöpfung beruhende Verzweiflung. Es fiel mir ein, daß man in barbarischen Zeiten seine Feinde dadurch zu Tode marterte, daß man ihnen den Schlaf entzog, etwa indem man sie durch Nadelstiche oder Stöße, so wie ihnen die Sinne zu schwanken anfingen aufweckte. Wie ein so Gefolterter sah sie aus, ihre Augen sagten: wenn wir nicht schlafen können, müssen wir sterben; aber die stechende Sorge, wie sie das Geld zum Leben herbeischaffen sollte, ließ nicht einen Augenblick nach. Ich las es so genau in ihren Zügen daß ich nicht begriff, wie es Riccardo entging, der sonst viel tiefer sah als ich und einzig seiner Mutter gegenüber blind und grausam war. Er klagte wie ein verwöhntes Kind, daß kein Eis da wäre, damit er seine Limonade kalt trinken könnte, daß die Eier nicht frisch wären, daß er nicht häufiger Wäsche wechseln könnte; genau so, wie manche Menschen sich gegen Gott beklagen und ihm vorwerfen, daß er trotz seiner Allmacht nicht pünktlicher alle ihre Wünsche erfülle.

Ich fragte nach Carmelo; niemand wußte, wo er war. In dieser heißen Zeit, wurde mir erzählt, gäbe es wenig oder keine Arbeit; die Männer ständen des Morgens lange Stunden am Markte in der Sonnenhitze und warteten, dann, wenn keiner sie brauchte, gingen sie in das nahe Gehölz oder unter die Heidenkirche, wo es kühl wäre, und brüteten über bösen Gedanken. »Halb verhungert und verschmachtet sind sie«, sagte die Farfalla, »nach Hause mögen sie nicht gehen, wo die verwahrlosten Kinder weinen und alles voll Unrat ist, weil die lotterigen Weiber, statt Ordnung zu schaffen auf der Straße sitzen und Lotto spielen, um sich zu trösten daß sie nichts zu essen haben.« Der alte Invalide ballte die Hände und sprach von Revolution und Umsturz der Gesellschaft, in der sich einige wenige mit dem für alle bestimmten Futter mästeten; nach seinen gestammelten Andeutungen waren die Empörten schon bereit, den Brand in das üppige Babel hineinzuschleudern. Die Farfalla lachte und sagte: »O die mit ihren Revolutionsplänen! Es braucht sich nur ein Schutzmann an der Ecke zu zeigen und sie laufen alle davon!« worauf auch Riccardo und der Bucklige wie über eine Sache, die sie nichts anging, herzlich mitlachten.

Auf dem Heimwege ging ich durch das Eichenwäldchen das sich oberhalb der Stadt hinzieht, das aber die Sonne nicht genug ausschließt, um Kühle bewahren zu können. Die Blätter waren so mit Staub bedeckt, daß sie mehr grau als grün aussahen und in ihrer saftlosen Starrheit glichen sie den blechernen, die man wohl an Totenkränzen sieht. Nirgends war Bewegung, außer daß zuweilen ein Vogel von einem Busche oder Baum zum anderen flog, lautlos, ohne daß der leiseste Ton aus seiner Kehle gekommen wäre. Weit und breit gab es keine Quelle, nicht das kleinste Rinnsal, das man etwa hätte plätschern hören; dieser Wald war wie verflucht vor Jahrhunderten und der Zauber, durch den er hätte erlöst werden können, vergessen. An einer Biegung des Weges sah ich einen Haufen Männer auf der Erde lagernd, Tagelöhner der Kleidung nach, augenscheinlich arbeitslose, von denen die Farfalla gesprochen hatte. Sie waren ganz stumm, und doch schien etwas Wichtiges unter ihnen vorzugehen; wie eine Bande Verschwörer kamen sie mir vor, die mit Blicken eine unerhörte That beraten, deren Namen sie nicht auszusprechen wagen. Als sie mich kommen sahen, blickten mich alle mit einem dreisten oder höhnischen Lächeln an und ich fühlte die lange Strecke, die ich in ihrem Gesichtskreise blieb, ihre feindseligen Augen auf mir. Ich setzte mich, als ich entfernt genug war, in eigentümlicher Beklommenheit auf eine Bank und sah durch die spärlichen Bäume auf die Stadt hinunter. Ueber dir, dachte ich, sitzen die Aussätzigen die Verbannten, die Feinde, und mischen aus ihrem Elend und ihrer Unwissenheit und Verzweiflung einen hitzigen Stoff, um die Stätte ihres Jammers und unseres Glanzes in die Luft zu sprengen. Die Sonne war schon untergegangen und ein blaugrauer Dunst begann sich dick auf die Dächer zu wälzen; vielleicht warteten sie, bis es überall Nacht war, in die sie das Verderben hineinsäen konnten und sahen dann von hier oben knirschend vor Lust und Wut, dem Schauspiel zu, wie Hunderte von Palästen donnernd auseinander barsten und als schwarze Trümmer in das feurige Meer stürzten.

Aber die Stadt schlummerte und zechte gemächlich weiter, ja es reifte in derselben Nacht ein kleiner Verschwörungsplan gegen die Arbeiter, dem sie ohne Gegenwehr erlagen. Es galt nämlich die Wahl eines gefährlichen Volksfreundes und Aufrührers zu hintertreiben und einen anderen Kandidaten durchzudrücken, der den herrschenden Kreisen zusagte, und eine Versammlung von einflußreichen Herren, Kaufleuten und Beamten beschloß, das Volk bei Gelegenheit einer großen Festlichkeit durch reichliche Verschwendung von Wein und leutseligen Worten zu überrumpeln.

Den Vorwand zum Feste gab die Einweihung einer neuen Schule, doch vertraute man weniger auf die dabei gehaltenen Reden als auf die sich anschließende Lustbarkeit in Zelten und Buden auf einer großen Wiese vor der Stadt. In übelster Laune entschloß ich mich, gegen Abend über den Platz zu gehen, ohne aber, das hatte ich mir fest vorgenommen, an der Bearbeitung der Leute zum politischen Zwecke auch nur im geringsten teilzunehmen. Auch verlautete davon so weit ich bemerken konnte, nichts mehr, aber ebensowenig von aufrichtiger Fröhlichkeit. Angesichts dieser Festwiese schien es mir auf einmal sonnenklar, warum Gott immer wieder Not und Elend, Elend und Not auf die Menschen schüttet: denn es war etwas allzu Häßliches, was Freiheit und Genuß aus ihnen machte. Rote, schwitzende Gesichter, Gelächter und Gekreisch, Tabaksqualm und schwere, heiße, stinkende Luft, dazu das Durcheinanderspielen verschiedener Musikbanden als grober Sinnenkitzel – es war, um einen voll Trauer und Ekel an der Menschheit zu stimmen. Ich grollte vor allen Dingen denen, die es angestiftet hatten; einige Herren in schwarzen Röcken durch Schleifen als Festvorstand ausgezeichnet, bewegten sich unermüdlich zwischen dem Volke, munterten zum Trinken des Weines auf, der aus einigen Fässern umsonst floß, von den reichsten und angesehensten Männern der Stadt gespendet, und schäkerten mit den Frauen und Mädchen, teils aus Berechnung, teils zu eigenem Vergnügen. Einen von ihnen, einen älteren, aber strammen, strotzenden Menschen, sah ich im lebhaften Gespräch mit der Farfalla und anderen jüngeren Frauen, unter denen auch die kleine Nanni, ihre Tochter, war. Später hörte ich, daß es derselbe war, dessen Fürwort die Farfalla hauptsächlich die Erlangung des Tugendpreises für ihre Tochter verdankt hatte, und dem sie nun in der Weinlaune verrieten wie es mit dieser Tugend eigentlich bestellt war, und wie viel List und Keckheit die Nanni hatte anwenden müssen, um ihr vorwitziges Früchtchen unvermerkt über die hochzeitliche Grenze zu schmuggeln. Der alte Herr lachte, daß sein dickes, erhitztes Gesicht und sein Bauch schütterten, und ebenso gewaltsam kicherten die Frauen; ich war überzeugt, ohne eigentlich zu wissen, warum, daß es unanständige Scherze waren, die diese unschöne Lustigkeit erregten. Es war keine Einbildung von mir, daß die Farfalla ganz anders aussah und sich benahm, als sie gewöhnlich und mir gegenüber war; die übertriebene, beinahe gefallsüchtige Lebhaftigkeit ihrer Bewegungen, die hitzige Röte ihres Gesichtes und das aufgeregte Spiel ihrer müden Augen entstellten das Bild, das ich von ihr hatte, und machten sie zu einer widerlichen Fratze, einem listigen kupplerischen alten Weibe.

Mir war übel bis in die Seele geworden und ich wollte mich schnell entfernen, als ich im Vorübergehen auf einer langen Bank unter einem ausgespannten Segeltuche Riccardo sitzen sah. Neben ihm und ihm gegenüber am hölzernen Tische saßen junge Männer und Mädchen, alle die Augen auf ihn gerichtet, der eifrig etwas erzählte. So hinfällig wie ich ihn noch vor kurzem gesehen hatte, hatte es etwas Unglaubliches für mich, ihn in solcher Munterkeit hier zu sehen, trotz seiner Hohlwangigkeit beinahe schön mit der blassen Stirn unter den schwarzen Locken und dem anmutig bewegten Munde. In dem Gedränge konnte ich leicht unbemerkt in der Nähe seines Platzes bleiben und hören, was er sagte: er war dabei, seinen Zuhörern auseinanderzusetzen, in welcher Weise den Menschen das Fliegen ermöglicht werden sollte, worüber er in Zeitungen mochte gelesen haben. Erst sprach er von einigen Versuchen die bereits angestellt waren und warum sie mißglücken mußten, und bewies, daß er ziemlich gut erfaßt hatte, worauf es dabei ankam; dann ging er dazu über, auszumalen wie es sein würde, wenn die Kunst des Fluges allgemein unter den Menschen geworden wäre. Dann würden wir nicht mehr durch Staub und Schmutz schleichen und bei jedem Schritt die mühselige Last unseres Körpers empfinden, niemand würde mehr das Gift und die Unreinheit der Straße einatmen müssen, sondern jeder könnte dieselbe Luft trinken wie Vögel und Sterne. Dann würden Schiffe mit großen Flügeln langsam zwischen den Wolken dahergefahren kommen aus fernen Ländern voll fremder Menschen und Tiere, und man würde hinauffliegen können, um sie zu begrüßen, und des Nachts würde die Dunkelheit voll bunter Flämmchen sein, die den Flug der späten Wanderer bezeichneten. Wenn einer mit seiner Geliebten allein sein wollte, setzte er sie auf seinen Rücken, breitete seine Flügel aus und trüge sie leise sausend über die Spitzen der Türme und Berge und über Meere weg ins Gewölk. Und wenn unsere Brust sich erst an das edlere Klima des Luftreiches gewöhnt hätte, würde ein neues Zeitalter der Entdeckungen anheben und mutige Abenteurer würden nach den strahlenden Inseln der Gestirne im Aethermeere steuern.

Gehoben durch seine Mienen, Blicke und Geberden, war die Schilderung so voll Zauber und leibhaftigem Dasein, daß ich die Leute gut begriff, die stumm und gespannt an diesen hübschen fabelnden Lippen hingen, Was mich am meisten fesselte und rührte, war er selbst, mit dem prachtvoll starken gewölbten Bau seiner Brust über dem siechen Unterkörper, mit dem warmen, übervollen Herzen und dem zierlichen Kopfe, einer von diesen Vögeln unter den Menschen, die sich nie an den schwerfälligen Erdengang gewöhnen und aus unseren steinernen Käfigen immer hinausstreben in freiere und leichtere Räume. Wie gern hätte ich ihn auf purpurnen Flügeln das Abendrot entlang schweben sehen, einen Veilchenkranz auf dem Kopfe und ein jauchzendes Bübchen auf dem Rücken, das mit winziger Hand nach den sinkenden Rosenblätterwolken griffe. Armer Riccardo! An die Krücke gebunden auf ein Marterbett unheilbarer Leiden verdammt, an immer offenen Wunden sich verzehrend, war er doch ein Licht, das viele verkümmerte Seelen aus ihren Sümpfen und Morästen hervorgelockt, irr und neugierig, in dumpfer Ahnung und Sehnsucht umflatterten


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