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Buchschmuck: Heinrich Vogeler

VIII

Mit dem kleinen Berengar hatte es folgende Bewandtnis. Ich hatte in einer sogenannten Wohlthätigkeitsangelegenheit mit jenem Fleischhauer Toni zu sprechen, von dem mir die Farfalla als von dem stets bereitwilligen Taufpaten aller armen und verlassenen Kinder in der Römerstadt erzählt hatte, und fand ihn in seinem kleinen Laden, ausnahmsweise ungefähr so aussehend, wie ich mir ihn nach dem, was ich von ihm wußte, vorgestellt hatte. Sein Gesicht war allerdings durchaus nicht besonders: viereckig in der Form, lachend von Herzensgüte, Gesundheit und guter Laune; übrigens war er dick und fest, keineswegs schwammig, von kräftigem Knochenbau, weder groß noch klein und trotz seines Umfangs behende. Als er mein Anliegen vernommen hatte, wurde sein Gesicht noch freundlicher als zuvor und er führte mich behufs ungestörter Besprechung in ein kleines, nett ausgestattetes Wohnzimmer, wo er mich auf das Sofa drückte und sich auf einen Sessel neben mich setzte, ohne seine schmutzige weiße Schürze abzubinden. Während wir mit einander sprachen, trat ein Bübchen ins Zimmer, das sich dadurch, daß es dem Fleischer ohne weiteres auf den Schoß sprang, als seinen Sohn zu erkennen gab, ihm aber nicht im mindesten glich; es hatte etwas so Feines, Munteres und Herzliches, daß ich den Toni beinah um sein mit sichtlichem Stolze ausgeübtes Vaterrecht beneidete. Bei Nennung seines Namens Berengar tauchte mir die Erinnerung an jenes Verschen von der Kastellmauer auf, das ich bei meinem ersten Besuch in der Römerstadt gesehen hatte und ich fragte den Jungen, ob er der Dichter desselben und Maler der darüberstehenden Fratze gewesen sei. Das kleine Ding, auf seines Vaters Schoße sitzend und mit den Beinen baumelnd, sah mich aus seinen schmalgeformten, dunkelbewimperten Augen pfiffig zwinkernd an und lachte nur ein wenig, wobei aber gleich die ganze blanke Reihe seiner Zähne sichtbar wurde, die mich an das Gebiß einer Maus oder eines anderen Nagetierleins erinnerten. Unter dem laut schallenden Gelächter des Vaters sagte ich das Verslein, das ich noch im Gedächtnis hatte: Drei Dinge, die sind wahr, ich heiße Berengar, ich gehe ins zehnte Jahr und wer dies liest, der ist ein Narr! und wendete mich dann scherzend gegen den Kleinen, die Wahrheit der Sache sei mir doch zweifelhaft, denn erstens könne ich nicht glauben, daß ein so zwerghaftes Männchen mehr als neun Jahre alt sei, und zweitens hätte ich selber den Vers gelesen, hätte aber die feste Ueberzeugung, kein Narr zu sein. Der Kleine sah mich mit einem unbeschreiblichen Blick voll Schelmerei und List an, als wollte er sagen: ach, verstell dich nicht, du weißt wohl, daß deine Weisheit im Grunde keinen Pfifferling wert ist! was er doch thatsächlich von ferne nicht mit Bewußtsein denken konnte, und zugleich war dieser Blick voll strahlender Wärme, ja eigentlich verständnisvoller Güte, wie sie auch über sein Alter weit hinausging.

Der Vater, der sich inzwischen ausgelacht hatte, griff von meinen Worten das auf, was seinen Sohn anging und bestätigte, daß er allerdings zehn Jahre alt sei; wenn auch ungewöhnlich klein und zierlich, sei er doch kräftig genug und außerdem ein anstelliges Bürschlein, das seinem Vater schon Geld verdienen helfe. Nun erzählte er mir, daß er täglich mehrere Stunden bei einem großen Kaufmann beschäftigt sei, allerlei Besorgungen mache und seit kurzem auch die Briefe zur Post trage und die ankommenden abhole, wichtige Briefe sogar und Geldsendungen, denn der Kaufmann habe ihn als gründlich gescheit und unbestechlich ehrlich kennen gelernt. Dabei legte der breite, starke Mann seine Arme um den Jungen, der sich wie ein zahmes Vögelchen auf den väterlichen Knieen wiegte und mit seinen glänzenden Augen munter umherblickte, das Loben und Rühmen stolz, aber doch mit Humor tragend, ich möchte sagen mit einer gewissen Ueberlegenheit, als dächte er bei sich: »Es macht dem alten Manne so große Freude, wenn sie meine Ehrlichkeit preisen, warum sollte ich nicht ehrlich sein? Sowieso kann ich den Leuten vorgaukeln, was ich will, es kostet mich alles gleich wenig.« Mit solchen und ähnlichen Worten konnte ich mir einbilden, die feuchten, erdbeerroten Lippen des Bübchens spielen zu sehen, die mir eine unbegreifliche Lust erweckten, sie tüchtig zu küssen, fast als wenn es ein reizender Frauenmund gewesen wäre. Hiermit kam mir ein Gedankengang, den ich auch äußerte, daß der Junge vermutlich seiner Mutter gliche, die wohl eine anmutige Person sein würde; erst als ich sah, daß das Gesicht des guten Mannes, indem er zustimmend nickte, sich verdunkelte, fiel mir ein, was mir die Farfalla von dem unverbesserlichen Leichtsinn der Frau erzählt hatte, und ich bereute, die Frage gethan zu haben. Jetzt konnte ich mir das Verhältnis gut zusammenreimen: die Frau stellte ich mir als ein ebenso geschmeidiges und listiges Vögelchen vor, wie der kleine Berengar war, willig dem treuen, festen Stamm, der es beherbergte, durch Zwitschern und Singen Freude zu machen, aber vermöge seiner geflügelten, leichtbeweglichen Natur unfähig, immer in demselben Gezweige sitzen zu bleiben. So begriff ich, wie ihr immer wieder verziehen wurde, wenn auch unter heimlich nagendem Kummer und nach innen verschleichenden Thränen. Ich fühlte nun auch erst völlig nach, wie der Mann das Kind lieben mußte; vielleicht sah er immer den bösen Feind die Kralle nach ihm ausstrecken, um es bei der Erbsünde zu fassen und es lag deshalb in der Art, wie er es mit beiden Armen umfaßte, etwas Beschützendes und zugleich Triumphierendes, als fühle er sich Manns genug, seinen Liebling vor den bösen Gewalten zu behüten. Während mir dies blitzschnell durch den Kopf fuhr, betrachtete ich den Kleinen mit verdoppelter Teilnahme; er sah in der That recht wie ein Gassenbübchen aus, funkelnd vor Uebermut und tollen Streichen, aber die Formung des Gesichts war durchaus rein und es lag etwas darin, woraus man mit Sicherheit über sein Innerstes schöpfte. Unwillkürlich streckte ich die Hände nach dem feinen Köpfchen aus und hielt es einen Augenblick dazwischen fest; ich hatte ein Gefühl, als müßte ich es segnen, so wenig ich mich auch im Ganzen berechtigt und ermächtigt weiß, Segen auszuteilen. Für einen ganz kurzen Moment sahen mich die flinken Springinsfeldaugen ernsthaft an, heilig ernst, wie nur Kinder blicken, in denen, wie man glauben möchte, die Seele sich zuweilen plötzlich auf ihre überirdische Heimat besinnt, auf die Schuld, um deretwillen sie leiden muß, und auf die schwere Aufgabe, die sie hienieden zu erfüllen hat. Es ging mir eine gerührte Wärme durch Herz, als die freien, forschenden Augen so dicht in meine sahen, aber irgend ein Vorgefühl kam mir nicht, auch nicht das leiseste, daß diese reine große Kinderstirn schon unsichtbar gezeichnet war, als dem jenseitigen Dunkel verfallen. Er hüpfte gleich darauf, da er wohl schon übermäßig lange still gesessen hatte, von seines Vaters Knieen herunter und lief ins Freie, um seine Mußestunden zu genießen.

Diesen Besuch hatte ich im Frühjahr gemacht; danach sah ich den kleinen Berengar nur noch einmal lebend, kurz nachdem ich im Beginne des Herbstes von meiner jährlichen Sommerreise zurückgekehrt war. Von mancherlei neuen Eindrücken erfüllt und von unterdeß angesammelten Geschäften überhäuft, hatte ich kaum wieder an das Triumphgäßchen gedacht und erkannte den Jungen nicht, der aus dem Bankgebäude, an dem ich gerade vorüberging, herauskam. Erst als er im Vorübergehen mich mit seiner hellen, zwitschernden Vogelstimme kurz und ehrerbietig grüßte, kam mir jener Frühlingsabend wieder in den Sinn samt dem Wohlgefallen, das mir der Kleine erregt hatte. Ich drehte mich schnell nach ihm um und sah, da er eben dasselbe gethan hatte, das offene Gesicht mit demselben unbeschreiblichen Lächeln, das diesmal ganz deutlich zu sagen schien: Und du wolltest kein Narr sein? und trollst so wichtig deines Weges, als müßtest du dem lieben Gott regieren helfen, obgleich du nichts anderes im Kopfe hast, als Kaffeepreise, Oelpreise oder Zollgesetze oder ein Theaterstück oder sonst eine Thorheit? Uebrigens drehte er das Köpfchen geschwind wieder und schritt nun stramm vor sich hin, ohne links oder rechts zu blicken, im Bewußtsein, daß er jetzt Geschäftsmann war, mit kurzen, flinken, selbstbewußten Schritten. Ich stand noch und sah ihm nach, in zerstreuten Gedanken darüber, wie der lächelnde Blick dieses Bübchens so viel sagen konnte, wovon doch sicher nichts in ihm war, als ich etwas sah, ohne es wahrzunehmen, wie es einem zuweilen zu gehen pflegt, was mir erst später mit merkwürdiger Deutlichkeit zum Bewußtsein kam. Ich sah nämlich einen Mann, wie ich dem kleinen Berengar nachblickte, der mir durch seine Erscheinung einen peinlich widrigen Eindruck machte und mich zugleich an irgend etwas erinnerte; aber, wie schon gesagt, ging dies alles jenseit meiner Aufmerksamkeit in mir vor, und es fiel mir erst wieder ein, als ich von der Ermordung des unglücklichen Kleinen hörte und der Verdacht sich gegen Torquato, den Bruder des Jurewitsch und der Galanta, wendete. Da sah ich plötzlich wieder jenen Mann vor mir, der mit einem seltsam gierigen, ich möchte sagen krankhaften Blick dem Jungen nachsah, und wußte nun auch, woran er mich erinnert hatte, nämlich an Riccardos Schilderung von Torquato, wie er einem großen Raubvogel mit langem nackten Halse, kleinem Kopf und grausam gebogenem Schnabel geglichen hätte. Vielleicht wirkte sein Aeußeres gerade durch eine bei aller Verzerrung noch kenntliche, ich möchte sagen in Verwesung übergegangene Schönheit so schrecklich.

Der Hergang war wahrscheinlich so: Torquato, der über das Thun und Treiben des kleinen Berengar Bescheid wußte, hatte den Plan gefaßt, das Kind, dem öfters größere Summen von seinem Herrn anvertraut wurden, zu berauben. Er hatte sich zu diesem Zweck schon vor längerer Zeit ein Zimmer in einem geeigneten Stadtviertel gemietet, wo er als feiner Herr auftrat; sein Verschwinden aus der Römerstadt wurde nicht bemerkt oder nicht beachtet, teils weil ihn niemand vermißte, teils weil er stets ein vagebondierendes Leben geführt hatte. Wochenlang beschäftigte er sich damit, alle Wege und Gänge seines Opfers auszukundschaften; wenige Tage nachdem ich beide kurz nacheinander gesehen hatte, vollführte er den Mord. Was man aus den Thatsachen und Zeugenaussagen über die That selbst zusammenstellte, war dies: Torquato hatte gesehen oder erfahren, daß dem Kleinen eine beträchtliche Summe eingehändigt worden war; er folgte ihm eine Strecke und lockte ihn dann unter irgend einem Vorwande auf sein Zimmer. Es scheint, daß er vorgab, mit Berengars Herrn in Geschäftsverbindung zu stehen und durch den Jungen einen Brief an ihn befördern zu wollen; ob das Kind ihn früher schon in der Altstadt gesehen und ob er ihn wiedererkannt hatte, in welcher Weise der entsetzliche Mann sich in sein Zutrauen geschlichen hatte, das alles konnte nicht genau ermittelt werden. In seinem Zimmer überfiel und tötete er den arglosen Kleinen mit einem scharfen Messer, verbarg den blutüberströmten Leichnam in einem Wandschrank, erfüllte sein Zimmer mit Karbolgeruch, schloß es ab und verabschiedete sich von seiner Wirtin, indem er sagte, daß er für einige Tage verreisen müsse. Da das schon öfter vorgekommen war und er immer gewünscht hatte, daß sein Zimmer während seiner Abwesenheit von niemandem betreten würde, schöpfte sie keinen Verdacht und wurde erst aufmerksam, als ein abscheuerregender Geruch von dort ausgehend sich verbreitete. Die Umstände hatten etwas so Befremdendes und Unheimliches, daß die Frau das Zimmer durch die Polizei öffnen ließ, worauf man den Boden voll Blut und im Schrank das tote, furchtbar zugerichtete Kind fand.

Dies geschah mehrere Tage nach dem Morde; vermißt wurde der kleine Berengar natürlich sogleich. An einen Unfall dachte niemand; als sich am Abend noch keine Spur von ihm gezeigt hatte, wurde die Vermutung laut, er hätte mit der großen Summe das Weite gesucht. In dieser Fassung las ich den Bericht in der Zeitung, und ich gestehe, daß auch ich, obschon ich mich zu den Gebildeten zählte, zunächst der Suggestion des Gedruckten unterlag und das Gelesene für selbstverständlich wahr hielt. Das Bild des zierlichen Bübchens erschien vor mir, wie ich es ganz kürzlich so wacker über die Straße hatte dahinschreiten sehen, und Betrübnis und Unwillen ergriffen zugleich mein Herz. Daß er das hatte thun können! Vielleicht an jenem Morgen, als er sich noch nach mir umsah und lächelte, hatte er gedacht: du willst kein Narr sein und glaubst an meine Tugend! du ahnst nicht, was für einen Streich ich euch spielen will! Das war die menschliche Natur, daß Sünde und Schwachheit sich von Glied zu Glied forterbte und daß eine Handvoll Unkraut Berge von Güte überwuchern können. Mangel, welcher Art es auch sei, hatte das Kind ja nie gelitten, es konnte nichts anderes sein als anererbte Leichtfertigkeit und Abenteuerlust, was es zu einer solchen That bewogen hatte. Die Teufelskralle hatte es doch gepackt und mit sich gezerrt, armes, verlorenes Kind, das sich vielleicht kaum gewehrt hatte, weil es den bösen Feind nicht kannte und nicht verstand. Später war es mir ein Trost, daß ich wenigstens nicht hart und rasch über den kleinen Dulder geurteilt hatte; mir waren sogar die Augen naß geworden, als ich mir vorstellte, wie er in Heimweh und Gewissensqualen sich verzehren würde, oder wie die reinen Züge, das lachende Auge, das feine, sprechende Mündchen entstellt, verzerrt und besudelt werden würden. Fast noch innigeres Mitleid fühlte ich für den unglücklichen Vater, der mit aller seiner überschwänglichen Liebe das gefährdete Kind seiner schwachen Frau nicht hatte retten können und der vielleicht gegen sich selbst wütete, daß er das kleine Wesen so früh schon ins Leben hineingestellt und mannigfachen Versuchungen preisgegeben hatte.

Ich ging zu dem Herrn, in dessen Dienst Berengar gestanden hatte, und fand in ihm einen leidlich verständigen und gutmütigen Mann, der das, was geschehen war, aufrichtig bedauerte, und zwar am wenigsten des dabei eingebüßten Geldes wegen. Er sprach ungefähr in diesem Sinne: Man darf sich nun einmal auf diese Leute nicht verlassen; früher oder später kommt gewiß einmal das Laster zum Vorschein; das Elend verdirbt die Menschen; jeder Arme ist der Möglichkeit nach ein Dieb, und wird er es nicht thatsächlich, so haben nur Mittel und Gelegenheit gefehlt. Auf meinen Einwand, im Hause des Fleischers Toni hätte kein Mangel geherrscht, zuckte er die Schultern und sagte: »Es steckt zuviel schlechtes Blut in diesen Familien; taugt auch einmal einer etwas und es geht ihm gut, so kommt von ungefähr so eine Blutwelle von irgend einer Großmutter oder Tante oder sonst einem Anverwandten und richtet alles zu Grunde.«

.Ich sagte, wenn das wahr sei und die Armut nicht nur den Leib, sondern auch die Seele verdürbe, sei man doppelt verpflichtet, ihr zu steuern. Hierauf wollte er offenbar nicht eingehen, sondern kam wieder auf den kleinen Berengar zurück und sagte: »Diesem Jungen hätte ich mein ganzes Hab und Gut in die Hände gegeben, so vertraute ich ihm; künftig werde ich nicht mehr ein solcher Gemütsnarr sein.« Es kam noch ein älterer Angestellter dazu, der stolz und eifrig daran erinnerte, daß er dies vorausgesagt und immer darauf aufmerksam gemacht hätte, was für einen verschmitzten Blick der kleine Spitzbube gehabt habe, als ob er alle auslache; und der dann eine Geschichte von Knaben im selben Alter erzählte, die als Räuber in der Umgegend irgend einer Stadt lebten und wüste Unthaten vollführten, was ich nicht mit bis zum Ende anhörte.

Auch in der Altstadt war man von der Schuld des Kleinen überzeugt, ja während sonst Vergehen aller Art hier milde beurteilt zu werden pflegten, wurde über diesen Fall mit einer gewissen Lieblosigkeit gesprochen, was auf Rechnung der Abneigung gegen die Mutter zu setzen war, mit der man ihn wegen der äußeren Aehnlichkeit in Eins faßte. Dagegen war, soviel ich bemerken konnte, die Teilnahme für den Toni warm und aufrichtig; man sagte mir, als ich auf dem Wege zu ihm war, dem wäre nicht zu helfen, die Wunde ginge ans Herz, er hätte sich eingeschlossen und nähme keinen Trost an.

Es gelang mir trotzdem, mir Zutritt zu dem Unglücklichen zu verschaffen, nämlich dadurch, daß ich, durch die Thür auf ihn einredend, darauf verfiel, zu sagen, Berengars Schuld sei ja durchaus noch nicht erwiesen, ich käme, ihm Mut und Hoffnung zuzusprechen. Der Anblick des guten Mannes that mir bis in die Seele weh: der Ausdruck kindlicher, hilfloser Verzweiflung in dem biederen Gesicht, die roten, angeschwollenen Augen, aus denen noch fortwährend Thränen liefen, und der freilich an sich geringfügige Umstand, daß er ohne die schmutzige Fleischerschürze war; er schien aus dem Alltag herausgetreten zu sein, um dem Schicksal ins Auge zu sehen, das ihn angerufen hatte. Er setzte sich, nachdem er mich eingelassen hatte, sogleich wieder hin und sah mich mit seinen dicken, weinenden Augen starr an, ohne ein Wort zu sagen. In dem Wunsche, ihm wohlzuthun, sprach ich von der Lieblichkeit des Kindes, von seinem reinen Gesicht, das sich mir unvergeßlich eingeprägt hatte, erzählte, wie ernst und munter er ausgesehen habe, als ich ihn kürzlich auf der Straße antraf und sagte, daß so kein Mensch aussähe, der im Begriffe wäre, Böses zu thun. Meine Worte waren nicht ganz wirkungslos; er atmete ein paarmal hintereinander tief und legte die Hand auf meinen Arm mit einer unwillkürlichen Bewegung, um mich festzuhalten. Ich hatte das Gefühl, als spräche ich weiter unter dem Zwange seiner Augen und seiner Hand, denn es kam mir fast von selbst über die Lippen: dem Kleinen könne ja auch ein Unglück zugestoßen sein, er könnte ins Meer oder in einen offenen Keller gefallen sein; hätte er aber wirklich etwas Unrechtes begangen, so sei er sicherlich von bösen Menschen verführt worden, Kinder wären allen Einflüssen leichter zugänglich als Erwachsene und was dergleichen mehr war; bis ich bemerkte, daß der dicke Kopf des trauernden Mannes sich auf die Brust senkte und sein stilles Weinen in ein lautes Schluchzen überging, augenscheinlich weil er mich vergessen hatte oder nicht mehr auf mich und mein Reden achten konnte. Meine Frage, ob es ihm lieb wäre, wenn ich am folgenden Tage wiederkäme, beantwortete er mit einem eifrigen, jedenfalls aufrichtig gemeinten Nicken.

Ich fand aber diesmal nur seine Frau zu Hause, die mir mitteilte, ihr Mann sei in die Kirche gegangen, ein Ereignis, das, vermutlich wegen seiner Seltenheit, großen Eindruck auf die Frau gemacht haben mußte, denn sie sah mich mit weit geöffneten, erschreckten Augen an, denselben schmalen, schwarzumränderten Augen, wie sie mir an dem Kleinen so gut gefallen hatten. Uebrigens war sie nicht ganz so liebreizend, wie ich sie mir damals vorgestellt hatte; sie war noch nicht alt, aber schon etwas dick und unförmig geworden, und das Gesicht, wenn auch fein und anmutig, hatte keinen Schmelz, keine Blüte mehr. Hauptsächlich fehlte ihr das Grundgute, Zuverlässige, das in der Tiefe von Berengars Schelmenaugen lag und das ohne Zweifel ein Erbteil des Vaters war. Im Betragen hatte sie nichts von dirnenhafter Koketterie; ihr Leichtsinn und ihre Treulosigkeit, wenn das diesbezügliche Gerede auf Wahrheit beruhte, war wohl mehr von der Art eines leckerhaften Kätzchens, das von allen Schüsseln naschen möchte, namentlich von den verbotenen.

Da ich erklärte, auf ihren Mann warten zu wollen, ging sie mehrmals vorsichtig ab und zu, bis sie sich ein Herz faßte und mich fragte, ob man vielleicht unten in der Stadt neue Nachrichten von Berengar hätte. Als ich verneinte, sagte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln, das glaube sie wohl und so sei es auch am besten; an sie würde er schon einmal Botschaft gelangen lassen, und wenn auch nicht, so zweifle sie doch nicht, daß er nach einigen Jahren, die Taschen voll Gold und Silber, aus Amerika zurückkehren werde. Ich fragte, im Innersten erschreckt, ob er denn wirklich dahin gegangen sei. »Wohin sollte er sonst gegangen sein?« sagte sie; »er war nicht so dumm; ich habe immer gedacht, er würde noch einmal etwas Besonderes werden und seinen Eltern Glück und Segen ins Haus bringen.« Dabei sah sie mich mit dem listigen Blinzeln an, das ich von dem Kleinen her kannte und das mir jetzt, in ihrem Gesicht und bei dieser Gelegenheit, einen fast unheimlichen Eindruck machte.

Ich sagte, ohne auf die Sache einzugehen, sie möchte ihrem Manne nichts von solchen Vermutungen sagen, da er sicherlich dergleichen nicht gerne hören würde; worauf sie lachte und meinte, ob ich sie für so thöricht hielte. Zuerst hätte sie davon anfangen wollen, aber er sei in eine erschreckliche Furie geraten, und nun schwiege sie davon. Seiner Zeit würde er sich schon hineinfinden, besonders wenn ich ihm gut zureden wollte. Dies zu versprechen, fühlte ich mich nicht bewogen, sagte indessen auch nichts dagegen, was sie für ein Zeichen der Einwilligung halten mochte. Sie sei ihrer Sache noch mehr sicher, sagte sie, seit der Mann in der vorigen Nacht folgendes Traumgesicht gehabt hätte: Berengar sei in einem Schifflein über Meer gefahren, das Meer hätte wie flüssiges Feuer ausgesehen und das Schiff wie eine große, weit offene Lilie. Wenn ein leiser Hauch über das offene Meer geflogen wäre, hätten die hohen Wellen oder Flammen sachte hin- und hergeschwankt und in purpurnen violetten und gelben Farben geleuchtet, so himmlisch ruhig, daß er sich nicht einmal gewundert hätte, wie sie rund um den Lilienkahn herum sein könnten, ohne ihn zu verzehren; ja nicht einmal versengt hätten sie ihn. Ohne Segel und Ruder flog das Schifflein schnell weiter mit dem kleinen Berengar, der mit dem Kopfe nickte und mit den Augen freundlich wehmütig zu winken schien. Wie es sich nun mehr und mehr entfernte und erst wie ein Wölkchen, dann wie ein blasser Stern am Horizont erschien, konnte sich der Vater vor Sehnsucht nicht mehr lassen und warf sich in das flammende Wasser hinein, erwachte aber im selben Augenblick.

Die Frau hatte den Traum in umständlicher Weise und mit offenbarer Freude an der Ausmalung der Bilder erzählt; als sie fertig war, setzte sie schneller und mit ihrem gewöhnlichen Tone hinzu: »Der Traum ist leicht auszudeuten, denn das Schiff auf dem Meere zeigt die Reise nach Amerika an und Flammen ohne Rauch bedeuten Glück, besonders Gold. Ich hätte noch mit einer Frau in der Nachbarschaft gesprochen, die sich auf das Auslegen der Träume versteht, wenn es nicht so selbstverständlich wäre; auch dachte ich, es wäre besser, mit niemandem davon zu sprechen.« Ich bestärkte sie darin und nahm ihr außerdem das Versprechen ab, ihrem Manne, wenn sie wirklich jemals einen Brief von Berengar bekäme, denselben nicht zu zeigen, ehe sie mit mir gesprochen hätte. Dann mußte ich mich, da ich nicht länger Zeit hatte, entfernen, ohne den Toni gesehen zu haben.

Tags darauf wurde die schauerliche Entdeckung gemacht, von der ich bereits Bericht erstattet habe. Die Kunde davon verbreitete sich in kürzester Zeit und erregte überall lebhaften Anteil. Bilder des Kleinen waren vorher zum Zwecke von Nachforschungen in den Zeitungen veröffentlicht und an den Mauern angeklebt, so daß jedermann eine Vorstellung von ihm hatte. Die grauenerregenden, geheimnisvollen Umstände, der blutige Hintergrund, daß es sich um ein Kind handelte, alles trug dazu bei, das Volksgefühl aufzurühren, und je mehr die Menschen vorher bereit waren, dem armen Jungen das Aergste zuzutrauen und womöglich seine Eltern dafür verantwortlich zu machen, desto leidenschaftlicher war jetzt ihr Mitgefühl. Sie hatten das arme Bübchen in kurzer Zeit zu einem kleinen Marterheiligen gemacht und malten ihn sich aufs reizendste aus, dessen mißhandelter Leichnam in einem so abschreckenden Zustande war, daß er dem Publikum vorenthalten werden mußte. Blumen und Geldsendungen wurden in Menge die Altstadt hinauf in das Haus des Fleischers als Ausdruck der öffentlichen Teilnahme getragen. Mitten unter der Blumenpracht saß der Vater am Tische in jenem netten, schön aufgeräumten Zimmer, wo ich ihn das erstemal gesehen hatte, sah die zahlreichen Leidbesucher eintreten und hörte an, was sie Gutes und Herrliches über den kleinen Berengar zu sagen wußten, ohne selbst ein Wort dazu zu sprechen. Ich glaube, daß ich der einzige war, dessen Anwesenheit er überhaupt mit Bewußtsein empfand, weil er in mir denjenigen sah, der nie an der Unschuld seines Sohnes gezweifelt hatte. Jetzt war es mir unbegreiflich, wie man jemals etwas anderes hatte vermuten können als das, was wirklich geschehen war und was so naheliegend erschien, ja als das einzig Mögliche. Noch lange hat mich das Bild des Kleinen verfolgt, den ich wenige Tage vor seinem kläglichen Ende dicht neben seinem Mörder sah, als hätte das Schicksal mir ein Zeichen geben, noch einen Weg zur Rettung offen lassen wollen. Ich hatte nichts geahnt, sein Leben nicht gerettet und war nach seinem Tode nicht einmal für seine Unschuld eingetreten. Deutlich sah ich die geheimnisvollen Kinderaugen vor mir, wie sie erschrocken nach einem Freunde suchten, der es verteidigte, wie sie sich allmählich mit Thränen füllten, wie sie sich plötzlich auf mich richteten, bang und doch vertrauensvoll, mit dem überirdisch ernsthaften Ausdruck, der mir an jenem Abend aufgefallen war, und wie langsam die Frage, die darin lag, in Erstaunen und Traurigkeit überging, eine bitterliche, unvergeßliche, grausame Traurigkeit. Ich glaube, wenn an jenem Tage ein Mädchen begraben wäre, das ich verführt, verlassen und in Schande und Tod gestürzt hätte, es hätte mich kein peinlicheres Gefühl von Reue niederdrücken können, als um dies Kind, dem ich nichts schuldig war und dem ich im Grunde auch nichts zu Leide gethan hatte. Wenn ich den unglücklichen, von allen bejammerten Vater ansah, erfaßte mich Neid; ihn umschwebten jedenfalls andere Gesichte. In seiner Unbeweglichkeit war nichts Versteinertes, sondern er war starr, wie man sich die Verzückten denkt, die ein göttliches Geheimnis von Angesicht schauen; so entstellt wie sein ohnehin nicht schönes Gesicht durch anhaltendes Weinen war, konnte ihn doch niemand ohne eine Regung von Ehrfurcht anblicken. Man fühlte, daß er in diesem Augenblick nicht auf der Erde war, daß ihn nichts Menschliches anfocht. Es bekümmerte ihn nicht, daß Berengar tot war, für ihn war er im Gegenteil neu aufgelebt, ihm noch einmal geboren und schöner und reiner als damals auf die zitternden Arme gelegt. Vielleicht lag er im Geiste voll Wonne und Demut vor dem verklärten Bilde seines Kindes niedergeworfen und drückte seinen großen, guten Mund auf die durchsichtigen Hände; vielleicht sah er ihn wie im Traume auf dem Lilienschiff über das purpurne Meer treiben, vom Hauche Gottes gelind in einen Himmelshafen geblasen, von wo er ihm lächelte und winkte.

Dagegen jammerte und schluchzte jetzt die Frau herzzerreißender und unbändiger, als ich ihr zugetraut hatte. Ich hatte den Verdacht, daß sie zum Teil auch den Untergang des verfänglichen Luftschlosses beweinte, das sie für Berengar in Amerika erbaut hatte; aber zum größeren Teil war es gewiß der mütterliche Schmerz über den Tod des einzigen Kindes. Was in ihres Mannes Seele vorgegangen war und jetzt vorging, konnte sie auch nicht von ferne mitempfinden; nur das hatte sie begriffen und das packte und schüttelte sie, daß ihr Kind tot war, schrecklich hingemordet, daß es nie mehr heimkommen würde, daß sein zwitscherndes Lachen verstummt war, sein schmeichelndes Auge hin, daß sie es nie mehr in die Arme nehmen und herzen und an sich drücken, nie mehr auf die feuchten Lippen und auf die frischen Wangen küssen könnte.

Ich dachte bei mir: ach, wenn erst die langen, grauen Werktage kommen und mit ihrem Besen die letzten vermoderten Blätter der Rosen und Astern zusammenfegen und auskehren, die jetzt hier in Haufen liegen und duften, und der Toni wieder in seiner blutigen Schürze an der Fleischbank steht, eine Woche, einen Monat, ein Jahr nach dem anderen, da wird ihm auch die furchtbare Schmerzensglorie dieses Tages erlöschen und er wird nichts als die kinderlose, freudlose, zukunftlose Einsamkeit in seinem Hause spüren. Vielleicht sogar, wenn die Frau nach Jahren einmal erzählt, wie jener Traum sie belogen habe, und davon spricht, wie es wäre, wenn jetzt der Berengar aus weiter Ferne zurückkäme, schlank und fröhlich den Berg hinauf, den Eltern in die Arme, wird er nicht mehr in eine erschreckliche Furie geraten, sondern schweigen und still in sich dem Gedanken nachhängen und zusammenfahren, wenn ein zufälliges Knarren über den Fußboden läuft. Warum ist der Himmel nicht durch einen Sturz in das Purpurmeer, durch einen Ansturm, in heißer Wallung des Herzens unternommen, zu gewinnen? Das wäre leichter, als sich durch eine sandige, aussichtslose, unabsehbare Landstraße, mühsam in den Staub gebückt, hinaufzuarbeiten. Es könnte aber freilich wohl keiner das majestätische Einerlei der ewigen Gottesruhe ertragen, der für die Eintönigkeit des alltäglichen Erdendaseins zu schwach wäre.


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