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Buchschmuck: Heinrich Vogeler

I

Im Traume habe ich die Triumphgasse wiedergesehen. Ich stieg die steile, höckerige Straße herauf, die ich in Wirklichkeit so oft begangen habe, ohne wie damals vor dem Hause des heiligen Antonius Halt zu machen; erst als ich oben, am Ende der Gasse, angelangt war, blieb ich stehen und drehte mich um. Die Laterne am Eckhause brannte, denn es war Nacht; das wohlbekannte schmutzigrote Flämmchen hinter dem staubigen, auf einer Seite zerbrochenen Glase, das die abschüssige Gasse kaum zur Hälfte beleuchtete. Der Himmel war dunkel und sternenlos, nur am Horizonte zog sich ein grellweißer Streifen hin, unter dem ich den Ausschnitt des Meeres, der von hier aus wahrzunehmen ist, sehen konnte. Jetzt erst fiel es mir auf, daß es totenstill in der Gasse war. Wie spät war es denn? Die Laterne brannte ja noch, und überdies pflegte das Leben erst lange nach Mitternacht im Triumphgäßlein einzuschlummern, ja, verworrenen Lärm aus den nächsten Schänken hörte man bis gegen den Morgen. Kein Lachen, kein Singen, kein Zirpen der Mandoline, nicht einmal das Geflüster des Brunnens hörte ich. Einmal war es mir, als schlüge Riccardos Krücke in dem ihr eigenen Takt auf die Steine, und ich wollte rufen: Riccardo, wo bist du? wo warst du so lange? aber ich brachte den Laut nicht aus der Kehle. Während ich mich mühte zu sprechen, erlosch plötzlich die Laterne neben mir und ein unheimliches Gefühl überlief mich; denn es war kein Nachtwächter, überhaupt niemand an mir vorübergegangen. Als ich suchend die nun ganz verdunkelte Gasse hinunterblickte, bemerkte ich etwas dicht über der Erde sich Bewegendes, schleichend, kriechend, furchterregend, noch eh' ich es genau erkannt hatte. Immer deutlicher traten pantherartige Geschöpfe aus dem Dunkel hervor, mit langsam nach beiden Seiten fegendem Schwanze, und grünlich glühende Punkte, die näher schwebten, wurden gierige, grausame Raubtieraugen. Trotz der Gefahr, in der ich mich befand, und der Angst, die ich fühlte, wunderte ich mich, daß ich die Bestien nicht brüllen hörte: denn sie öffneten den Rachen weit, so daß ich die spitzen Zähne darin erkennen konnte. Da ertönte ein schriller, entsetzlicher Schrei aus den Häusern hervor, die bisher so ausgestorben stumm gestanden hatten. Da hinein mußten die Untiere, die ich nun auch nirgends mehr sah, geschlichen sein und die Bewohner in ihren Betten angefallen haben. Die Fenster und Thüren waren alle geschlossen, aber wie ich angestrengt hinblickte, schien es mir, als ob aus den Ritzen des Gemäuers Blut hervorrieselte. Ja es war kein Zweifel, in dicken, dunklen Tropfen quoll es zwischen den Steinen hervor, immer schneller und stärker, und floß die Mauern hinunter auf das Pflaster. In diesem Augenblicke ertönte noch einmal ein gellender Schrei, der mich zugleich weckte: es war in Wirklichkeit Geschrei auf der Straße, wenn auch nicht so laut und fürchterlich, wie es mir im Traume geklungen hatte.

Ich war schon zehn Jahre Eigentümer des Hauses zum heiligen Antonius, als ich es zum erstenmal sah; mein Vater hatte es gekauft und nach seinem Tode war es in meinen Besitz übergegangen, wurde aber nach wie vor von demselben Manne verwaltet, so daß ich nicht nötig fand, mich darum zu bekümmern. Nach der Ueberlieferung war dieses Haus im frühen Mittelalter von Hugo von Belwatsch, dem ersten unserer Vorfahren, der sich in dieser Gegend niederließ, erbaut worden, weshalb mein Vater, der Familienerinnerungen gern pflegte und auch mich, seinen einzigen Sohn, nach diesem Ahnen benannt hatte, das seitdem ziemlich wertlos gewordene Haus erwarb und einen Teil seines Vermögens unvorteilhaft darin anlegte. Daß ich dies gedenkreiche Haus niemals in Augenschein genommen hatte, ist erstens daraus zu erklären, daß ich mich zu der erwähnten Neigung meines Vaters gleichgültig verhielt, ferner wird die Römerstadt, als der älteste, engste und verfallenste Stadtteil, nur vom niedrigen Volke bewohnt und von den Wohlhabenden gemieden, die sich nicht gern dem Anblick des Elends und dem Almosensturm zerlumpter Kinder aussetzen, übrigens auch da nichts zu suchen haben. Zwar giebt es auf diesem von vielen Völkern und Geschlechtern heimgesuchten Boden zahlreiche Altertümer aus heidnischer und christlicher Zeit, für die ich in der Fremde wohl Sinn hatte, die ich aber, wie es zu gehen pflegt, zu Hause nicht achtete. Da ich außerdem viel auf Reisen war und sonst in dem regelmäßigen Trott dahinlebte, der mich immer dieselben Wege von meiner Wohnung in das Kontor oder Kaffeehaus führte, blieb mir die Altstadt fremder als Mekka und Jerusalem, von denen ich doch durch Bilder eine ziemlich deutliche Vorstellung hatte.

Da meldete mir an einem Frühlingstage der Verwalter meines Hauses, es sei ihm unmöglich gewesen, den Zins, der allwöchentlich bezahlt wurde, einzutreiben; die Mietsleute, die sonst nicht unpünktlich gewesen wären, verweigerten jetzt die Zahlung einmütig, daß es einer Revolution gliche; ich müßte durchaus selbst hingehen und ihnen mit unbeugsamem Ernste androhen, daß ich sie bei dauernder Widerspenstigkeit samt und sonders auf die Straße werfen würde. Dieser widerwärtigen Aufgabe mich zu unterziehen, hatte ich keine Lust, und gab dem Verwalter anheim, lieber den Leuten einen Monat Frist zu lassen oder ihnen in Gottes Namen einen Teil der schuldigen Summe zu erlassen. Das wies er aber entrüstet von der Hand. Er hatte den Namen eines gutmütigen Mannes und war es auch, von grenzenloser Ergebenheit gegen solche, die über ihm standen, ohne kriechend oder berechnend zu sein, von Kopf bis zu Füßen rechtlich. Gegen die Armen konnte er grob und hart sein, weniger aus Neigung und Anlage, als weil er es für seine Pflicht und die richtige Art hielt, mit ihnen umzugehen. Selbst aus dem Volke hervorgegangen, beobachtete er es nicht viel, noch dachte er selbständig, sondern ging davon aus, daß mit den armen und elenden Leuten irgend etwas nicht richtig sein, irgend ein Verschulden vorhanden sein müsse und jedenfalls kein Grund vorliege, sie zu bemitleiden oder gar etwas Erhebliches für sie zu thun. Bei jeder Gelegenheit stellte er sich auf die Seite der Besitzenden und brachte auch jetzt eine Menge Beispiele bei von der Faulheit, Falschheit und Niedertracht dieser Leute, die meine Güte nur benutzen würden, um mich zu hintergehen und auszubeuten. Da sei namentlich die alte Farfalla, die Rädelsführerin in allen Dingen, so keck und ausgepicht, daß sie es scheinbar ganz unschuldig, mit ein wenig Witz und Gelächter, über den lieben Gott sowohl wie über den Teufel, davontragen würde. Kurz, wenn ich ihn loswerden wollte, blieb mir nichts übrig, als zu versprechen, daß ich hingehen und die Sache selbst untersuchen wollte. Seine Begleitung, die er mir antrug, da er mir offenbar das bluttriefende Tyrannenwesen, das seiner Meinung nach erforderlich war, nicht recht zutraute, schlug ich aus; denn ich wollte nicht wie Kaiser Wenzel oder Johann von Leyden auftreten mit dem Henker Knipperdolling zu meiner Rechten.

Am Nachmittage des folgenden Tages machte ich mich auf und stieg die Anhöhe zur Römerstadt hinan, anfänglich übler Laune in Anbetracht des unliebsamen Geschäftes, das ich vorhatte, aber bald fühlte ich mich, mir selber zum Trotz, auf wunderbare Weise erheitert, so angenehm wurden alle meine Sinne gereizt. Während unten über der Stadt ein qualmiger Druck brütete, unter dem die Seele sich krümmte, war hier, je höher man kam, ein wenig säuselnde Bewegung in der reineren Luft, und der süße Geruch der Oelweiden, die hier und da in Gärten blühten, kam und ging, als atmete sie ihn aus und ein. Als nun plötzlich der Anblick des Meeres sich aufthat, das, wie es an Gewittertagen zu sein pflegt, schwärzlichgrün und steif wie ein schlafendes Riesentier dalag, dem nur zuweilen im Traume die Haut schaudert, war es mir, als tauchte das ewige Jenseit siegreich über unserer armen Welt aus bemalter Pappe empor, und ich blieb unwillkürlich stehen, um tief zu atmen. An dieser Stelle hatte vielleicht vor Jahrhunderten der erobernde Römer den Speer in den wildbewachsenen Boden gerannt und blitzenden Auges Umschau gehalten über Berge und Thäler; wahrsagende Adler waren aufgerauscht und unvergängliche Mauern waren aufgetürmt worden, auf die heute noch der Betteljunge mit rotem Ziegel seine Fratzen malt. Da ich gerade an der neuen Kastellmauer entlang schritt, von der einzelne Teile aus der Römerzeit herrühren sollen, erblickte ich wirklich mit wenigen Strichen nach Kinderart gezeichnet ein rundes Jungengesicht mit ausgestreckter Zunge und folgendes Verslein darunter geschrieben:

Drei Dinge sind wahr:
Ich heiße Berengar,
Ich geh' in's zehnte Jahr,
Und wer dies liest, der ist ein Narr.

Ich mußte darüber lachen, gerade weil durchaus nichts Besonderes oder gar Geistreiches daran war, sondern Bild und Spruch nur eben das Straßenbubengenie ausdrückten, wie es immer war und wohl immer sein wird. Unbemerkt war ich in eine enge, von hohen Martern eingeschlossene Straße gelangt, wo sich ein ärmliches Leichenbegängnis langsam den sanft ansteigenden Weg hinanbewegte. Jetzt erst kam mir zum Bewußtsein, daß schon seit einiger Zeit das Geläute der Heidenkirche in Bewegung war, wohin die Leiche augenscheinlich geführt wurde. Der Sarg war mit den geschmacklosen Zeug- und Wachskränzen bedeckt, wie das Volk sie liebt, und aus den Leidtragenden, die dürftig, zum Teil sogar lumpig gekleidet waren, konnte man schließen, daß der Verstorbene zu den Allerärmsten gehört hatte. Voran ging dem Zuge der Pfarrer der Römerstadt, ein noch junger Mann von so auffallendem Aeußeren, daß ich die Augen nicht von ihm abwenden konnte; während die Mehrzahl der Geistlichen in den kleinen Kirchspielen durch eine gewisse Roheit der Körperbildung und Stumpfheit der Bewegungen ihre bäuerliche Herkunft verraten, zeigte das schöne, feine Antlitz dieses Menschen, sein schlanker, erhabener Gang, selbst der Wurf seines schwarzen Gewandes natürlichen Adel und gebildeten Sinn, und seine ganze Erscheinung umgab ein unerklärliches Etwas von Auserlesenheit, Absonderung vom Gewöhnlichen oder wie ich es nennen soll, was vielleicht in alten Zeiten das phantasievolle Volk als Heiligenschein zu sehen sich eingebildet haben mag. Die kerzentragenden Chorknaben und die kümmerlichen Menschen, die folgten, sahen aus wie sein Ehrengeleit, das in bescheidener Verehrung mit ihm trauerte. Ich begleitete den Trauerzug bis zum Dome, den ich, ich muß es gestehen, noch niemals einer eingehenden Betrachtung unterzogen hatte. Dies uralte, etwas ungefüge, aber ausdrucksvolle Münster wurde allgemein die Heidenkirche genannt, weil es über einem römischen Venustempel erbaut worden war; einzelne Trümmer desselben waren wahllos in die Mauern der Christenkirche eingefügt, was ihr ein merkwürdiges, malerisches Ansehen gab. Insbesondere zog eine korinthische Marmorsäule meinen Blick immer wieder auf sich, die, wie eine Gefangene in den gewaltigen viereckigen Turm eingeschlossen, mit reizender Wehmut aus den grauen Steinen hervorsah. Während nun der Sarg vom Wagen gehoben wurde, blickte ich in das tiefe, niedrige Innere der Basilika und unterschied in der schwachen Beleuchtung das schwarz verhängte Gerüst, worauf der Sarg während der Feierlichkeit stehen sollte. In dem Augenblick, als er, von einigen Männern getragen, über der Schwelle schwebte, verstummte das Geläute und anstatt dessen erhob sich mit dumpfem Zittern die Stimme der Orgel.

Ich blieb an der offenen Thüre stehen, um den hübschen Pfarrer sprechen zu hören. Aus seinen Worten ergab sich, daß der Verstorbene ein armer, braver Handwerker war, den irgend ein anderer niedergestochen hatte, und er sprach von dem Ermordeten, der nicht zu beklagen, weil er von Gott in einen höheren Stand hinübergenommen sei, von der Witwe, die mit einem Kinde zurückbleibe und ein zweites eben jetzt erwarte, schließlich von dem Mörder, der von allen der unglückseligste sei, weil er seine Seele mit Blut befleckt habe, so daß er hienieden schon in einer Verdammnis lebe, aus der nur Gottes Allmacht und die Fürbitte der Menschen ihn retten könnten. Alles war weitaus gemeinplätziger, als ich mir von einem so fein und eigenartig aussehenden Manne versprochen hatte; doch sein Aeußeres gewann im Sprechen noch, indem er seine Worte mit einem wehmütigen Lächeln begleitete, das er ihnen wie eine Liebkosung mitgab, um sie in die Herzen der Hörer einzuschmeicheln.

Oberhalb des Domplatzes beginnt die eigentliche Altstadt, ein häßliches Labyrinth enger und schwarzer Gassen, die einen anmuten wie eine Höhle oder ein unterirdischer Keller, den man von fröhlichen Sonnenhügeln her betritt. Als ich, auf einem kleinen Platze angelangt, mich nach den Namen der Straßen umsah, die hier einmünden, entdeckte ich zwischen ein paar kleine bucklige Häuser eingeklemmt, die geraden strengen Linien eines römischen Siegesthores; es machte den Eindruck, als klammerten sich die Häuser daran und hätten es schon ein gutes Stück in den Erdboden hinuntergezogen. Der Triumphbogen war im Ganzen wohl erhalten, nur wenig angeschwärzt und verbröckelt sahen die dicken, pomphaften Fruchtgehänge aus, die sich am Fries hinzogen; ein feinblätteriges Schlinggewächs, das oben aus den Ritzen hervorwuchs und jetzt im ersten lachenden Frühlingsgrün prangte, fiel üppig und zierlich zugleich über die steinernen Symbole herab. Um den einen Pfeiler herum, der stark aus der Mauer des Hauses heraustrat, während der andere ganz in das gegenüberliegende hineingepreßt schien, spielten ein paar winzige Kinder mit wackelndem Gange Haschen oder Verstecken. Durch dieses Thor hindurch kroch das Triumphgäßlein mühselig bergan.

Weiter oben, etwa in der Mitte der Straße fand ich mein Haus, schmal und hoch, dunkel von Schmutz und Alter, dem immerhin die Dicke der Mauern und die steinerne, mit zwei mächtigen Steinbällen verzierte Treppe, die zur Hausthür führte, als Wahrzeichen vornehmen Ursprungs diente. Nachdem ich vergeblich an mehrere Thüren geklopft hatte, fand ich im dritten Stock eine geöffnet, durch die mich eine schwache, sehr wohlklingende Stimme anrief, wer ich sei und was ich wolle.

Ich betrat die Wohnung der Farfalla, auf die mich der Verwalter als auf eine gefährliche Person aufmerksam gemacht hatte, fand sie selbst aber nicht zu Hause; die Stimme, die ich gehört hatte, kam von ihrem jüngsten Sohn Riccardo. Er lag halb angekleidet auf einer breiten Bettstatt und deutete zur Entschuldigung, daß er mir nicht entgegenging, auf eine Krücke, die am Kopfende des Bettes lehnte. »Manchmal gehe ich so leicht, daß man mir die Krücke kaum anmerkt, aber heute habe ich keinen guten Tag«, sagte er, indem er mir das blasse, magere Gesicht zuwendete, aus dem mich ein paar dunkle, außerordentlich lebensvolle Augen ansahen. Diese strahlenden Augen in dem abgezehrten Gesicht hatten etwas von Edelsteinen, die man in die Augenhöhlen einer Mumie eingesetzt hat: sie schienen nicht mitgelitten zu haben, unsterblich in dem gebrechlichen, knöchernen Gehäuse zu schweben und ihres unantastbaren Daseins ruhig und zuversichtlich zu genießen; in ihrem Blick lag eine reine Sicherheit, als entginge ihnen nichts und als irrten sie niemals. Auch mich mußte Riccardo schnell überschaut und einigermaßen eingeteilt haben, wenigstens war er, als ich meinen Namen nannte, nicht überrascht, sondern, als hätte er mich erwartet und kenne mich schon lange, sagte er freundlich, es wäre gut, daß ich einmal anstatt des Verwalters käme, ich würde mich bald überzeugen, daß ich durch ein wenig Gelindigkeit eher gewinnen als verlieren würde. Was denn im Werke sei, fragte ich, daß meine bisher so pünktlichen Mieter auf einmal nicht zahlen wollten? Seine Mutter nebst vielen anderen Bewohnern des Hauses und der Straße, antwortete er, hätten beschlossen, eine Wallfahrt auf den heiligen Berg zu unternehmen, was mit beträchtlichen Kosten verbunden sei. Da nämlich auf einem nicht allzu weit entlegenen Berge die gnadenreiche Mutter Gottes verehrt wird, der Mai aber der Marienmonat ist, in welchem die Himmlische sich tiefer als sonst zur Erde neigt, um das Flehen der Menschenkinder zu vernehmen, ist es altes Herkommen, sich ihr in diesem Monat zu verloben und etwa mit dem täglichen Absingen eines Gesanges in der Kirche oder mit einer Wallfahrt sich die Gewährung eines bestimmtes Wunsches als billige Gegenleistung zu verdienen.

Das Haus stehe leer, erzählte mir Riccardo, weil alle zum Begräbnis des Benvenuto gegangen wären, eines jungen Arbeiters, den alle wegen seiner Herzensgüte, Aufrichtigkeit und Pflichttreue lieb gehabt und geachtet hätten, und der von einem betrunkenen Taugenichts mit dem Messer niedergestochen sei. Mich fesselte dabei am meisten Riccardo selbst und seine Art, zu erzählen: Gesicht und Hände wirkten dabei so lebhaft mit, daß ich meinte, man müsse ihn aus Mienen und Geberden allein verstehen können. Ich glaubte den armen Benvenuto mit den Augen, die immer lächelten, und dem großen Munde, der nicht nein sagen konnte, vor mir zu sehen; den Mörder aber mit seinem Adlergesicht, schielend, verwildert, entsetzlich, und die Szene des Mordes so deutlich, daß ich verwundert fragte, ob er denn dabei gewesen sei. Er sah mich ebenso erstaunt an, wie ich ihn, und erst nach einer Pause erklärte er mir, es sei überhaupt niemand dabei gewesen, und man wisse gar nicht, wer der Mörder sei; es sei spät in der Nacht geschehen und man hätte nur streitende Stimmen gehört und eine männliche Gestalt entfliehen sehen, aber nicht erkannt. Dann schwieg er und fügte nach einer Weile wie erläuternd hinzu: »Wenn ich nachts nicht schlafen kann, kommen die Bilder von allem, was ich am Tage gesehen oder auch nur gedacht habe, so deutlich vor meine Augen, wie man im Traume sieht, nur daß ich wach bin; deshalb ist es mir manchmal, als hätte ich etwas wirklich gesehen, was ich mir nur vorgestellt habe.« Und wie er währenddessen seine Augen still auf mir ruhen ließ, hatte ich das unheimliche Gefühl, als löste er eine unsichtbare Hülle von mir ab, um sie vielleicht auch in Gottweißwas für unerhörten, verhängnisvollen Szenen an sich vorüberziehen zu lassen.

Bald darauf wurden Stimmen im Hause laut und die Farfalla trat ins Zimmer, einen großen Totenkranz aus Cypressen und Rosen in der Hand, den sie Riccardo aufs Bett legte. Sie sagte: »Den hat Anetta mir für dich gegeben, weil er dir Freude machen würde, dem armen Benvenuto aber nicht mehr.« Wirklich schien das Geschenk Riccardo nicht grauenhaft, sondern sehr willkommen zu sein, denn er brach in einen Ruf des Entzückens aus und beschäftigte sich mit den Blumen, als ob es lebendige kleine Kinder wären, während seine Mutter mich begrüßte. Ich sah in ihr zunächst nichts anderes, als ein altes, häßliches, in etwas verlotterter Kleidung einhergehendes Weib mit starker Nase und klugem, aber nicht eben warmem Gesichtsausdruck, an der mir nur der helle Blick gefiel, mit dem sie mich ansah, und die unbefangene Art, in der sie mit mir verkehrte. Sie bedauerte, daß ich habe warten müssen, meinte aber, Riccardo würde mir die Zeit schon gut vertrieben haben; denn sein Geist und seine Zunge liefen fünfmal um die Erde, während er mit seinen Beinen einmal durch Zimmer hinkte. Ich ging sogleich auf die Hauptsache los und sagte, daß ich geneigt wäre, wegen des Zinses einen beliebigen Aufschub zu gewähren, knüpfte aber, denn die Worte des Verwalters hatten doch in mir nachgewirkt, die Ermahnung daran, sie möchten deshalb nicht auf meine Gutmütigkeit oder gar Thorheit pochen, sondern sich hernach der alten Ordnung befleißigen, da es sonst mit meiner Nachsicht bald ein Ende haben würde. Die Farfalla dankte mir im Namen aller herzlich, aber durchaus ohne Ueberschwang; übrigens, sagte sie, wüßten alle, daß das Zinszahlen ein Verhängnis sei, dem man nicht entrinnen könne, und noch ehe das tägliche Essen gekauft sei, pflegten sie die betreffenden Kreuzer für die Miete zurückzulegen. Ich fragte, warum denn die Wallfahrt so kostspielig sei, worauf sie mir verschiedenes aufzählte, als Hauptsache aber das Almosen, das jeder der Kapelle hinterlassen müsse; »denn«, sagte sie, »in der Kirche ist alles Geschäft und ein einträgliches dazu.«

»Warum geht ihr denn«, fragte ich, »wenn ihr diese Meinung von der Kirche habt?« »Ja«, sagte sie, »einen Sinn hat es im Grunde nicht. Aber wenn man im Elend ist, streckt man die Arme aus und fleht aufs Geradewohl in den Himmel hinein, wie auch Ertrinkende um Hilfe schreien und die Arme ausstrecken, selbst wenn weit und breit niemand zu sehen ist, der retten könnte.« Weniger die Feinheit dieser Bemerkung war es, die mich stutzig machte, als die Art und Weise, wie die Farfalla sie hinwarf, und das Lächeln, mit dem sie sie begleitete. Es klang nicht, als wäre sie diese Elende, die verzweifelt nach Hilfe jammerte, sondern als hätte sie die Beobachtung an anderen gemacht, ohne mehr als einen kühlen, menschlichen Anteil daran zu nehmen. Ich betrachtete mit etwas mehr Aufmerksamkeit als vorher diese Augen, die so frei, so überlegen auf der eigenen Not ruhten: sie waren denen ihres Sohnes sehr ähnlich, obwohl sie heller und kälter waren und nicht die eindringende, ich möchte sagen krankhaft seherische Kraft des Blickes besaßen. Sie sprach gewandt und augenscheinlich gern, wenn auch ohne Aufdringlichkeit, und so kurzweilig, daß ich mich von Minute zu Minute, fast gegen meinen Willen, dadurch aufhalten ließ.

Ich wünschte etwas über den jungen Pfarrer zu erfahren, der mir durch seine Schönheit aufgefallen war, und sie erzählte mir, daß er als Findling von armen Leuten auferzogen und wahrscheinlich das Kind von sehr vornehmen und hochstehenden Leuten sei. »Daß er hübsch ist«, sagte sie, »finden die Weiber in der Römerstadt auch; nicht eine, alt oder jung, die nicht in ihn verliebt wäre, sogar die Männer gingen für ihn durch Feuer.« Auf meine Frage, ob er diese Zärtlichkeit der Frauen erwidere, sagte sie gleichmütig, das könne man nicht wissen, jedenfalls habe er für jede ein Scherzwort und ein Lächeln bereit. Sogar die Gradella, ein altes, widerliches und hassenswürdiges Weib, grüßte er mit einem Blick, der nach der Meinung der Mädchen süßer sei als ein Kuß von anderen Männern. Die Gradella lieh Geld auf Wucherzinsen aus, hielt damit viele Bewohner der Altstadt in der Hand und hatte manch einen ins Verderben gebracht, war aber nicht nur mitleidslos, sondern sogar voll Schadenfreude, und pflegte zu sagen, es gehe jedem, nach dem er's verdiene; sie selbst sei arm, führe aber einen frommen Wandel, und deshalb schlüge ihr ein Krümlein Brot besser an, als einem gottlosen Geldsack sein Spanferkel und seine Mastgans. Sie selbst war steinreich, staffierte sich aber, um nicht angebettelt zu werden, ärmlich aus und erzählte gern, wie wunderbar Gott sie mit einem Nichts speise und erhalte. Eine Mittagspause ausgenommen, saß sie vom Morgen bis zum Abend mit einem Strickstrumpf in der Kirche, nicht nur aus Frömmigkeit, sondern auch aus schwärmerischer Liebe für den Pfarrer Jurewitsch, was sie weder ihm noch anderen verhehlte. Einige Leute waren der Ansicht, er wisse, daß sie ihm ihre Truhen voll Geld vermachen wolle, und daß das die Ursache seines lieblichen Betragens gegen die ausgepichte Sünderin sei. Die Farfalla verteidigte ihn in diesem Punkte, denn habgierig sei er nicht, er könne nur, wie alle Männer, ein Weib nicht böse ansehen, das ihm schmeichele.

»Mir schien es vielmehr«, sagte ich, »als ob seine Gedanken überhaupt nicht bei irdischen Dingen verweilten, entweder weil er melancholisch von Natur ist oder weil ein unheilbarer Kummer ihn beschäftigt.« Das wäre richtig, sagte die Farfalla, und eben diese Traurigkeit mache die Weiber vollends toll. Als den Grund seines Kummers, der allgemein bekannt sei, erzählte sie mir folgendes: Als der Jurewitsch zum erstenmal in der Heidenkirche predigte, hielt er am Schlusse des allgemeinen Gebetes einen Augenblick inne und sagte dann leise, aber vernehmlich die merkwürdigen Worte: »Freunde, betet mir zu Liebe für zwei Seelen, an die ich denke.« Er war dabei so schön, wie er erst die Augen niederschlug, sie dann wieder öffnete und mit bittendem Ausdruck, schüchtern und doch würdevoll, auf die Gemeinde richtete, daß von da an ihm alle Herzen ergeben waren. Anfänglich glaubte man, er hätte bei jener Aufforderung, die er an jedem Sonntag ebenso wiederholte, an seine unbekannten Eltern oder an seine verstorbenen Pflegeeltern gedacht; allmählich aber wurde es klar, daß es sich um Lebende handelte, nämlich um seine mißratenen Pflegegeschwister, Galanta und Torquato, die er wegen ihrer Verdorbenheit mehr als Tote betrauerte. Ihr Vater war ein Trunkenbold gewesen, Galanta war eine Dirne und Torquato alles Nichtswürdige, was man sein kann. »Der Jurewitsch ist«, sagte die Farfalla, »wie eine Lilie mitten aus einem Kehrichthaufen herausgeblüht, während seine Geschwister einheimische Mistgewächse sind und bleiben müssen. Es ist zwar vielen zur Gewohnheit geworden, ein Gebet für die beiden Seelen des Pfarrer Jurewitsch zu murmeln; aber was kann das helfen, da sie einmal als stinkendes Unkraut gewachsen sind und sich nur im Unrat wohl fühlen. Ueberhaupt ist Beten bei weitem nicht so wirksam wie Fluchen. Kein Fluch fällt zur Erde, und wer von vielen verflucht wird, den schlägt Gott nieder, und wäre er Kaiser oder Papst, dagegen die Fürbitte hört er nicht, vielleicht weil sie gemeinhin leiser ausgesprochen wird als ein Fluch.«

Ich hatte mit Anteil zugehört, aber doch meinen Widerwillen gegen die dumpfe Armseligkeit der Umgebung nicht überwinden können. Ich dachte, was für ein Mann war Hugo von Belwatsch, mein Ahn, daß er in solcher Höhle hausen mochte, und atmete hoch auf in stolzer Zufriedenheit, daß ich ich war und heute lebte. Die Farfalla und ihr Sohn dauerten mich zwar, aber zugleich war ich ungeduldig, sie abzuschütteln und aus diesen Winkeln herauszukommen. Ein hoher, teppichschwerer Raum, von einer verhüllten Ampel nur so viel erhellt, daß man die warme Dunkelheit darin sehen konnte, stellte sich mir vor, wo an diesem Abend noch eine blonde Frau mit vollen Wangen und rosigem Lächeln mich erwartete. Wie einen durchnäßten und verschmutzten Anzug, der eine Weile lästig und ekelhaft an einem geklebt hat, wollte ich diese Armut um mich her abstreifen und wegwerfen. Auch war es inzwischen dunkel geworden und das Unwetter, das sich tagsüber angesammelt hatte, war dicht vor dem Ausbruch. Ich verabschiedete mich kurz und eilte so schnell wie möglich das holprige Gäßlein hinunter. Einzelne dicke Regentropfen waren in der Luft und ganz in der Ferne glaubte ich das halblaute, gurgelnde Heulen des kommenden Sturmes zu hören. Wie, dachte ich, nicht ohne ein vernehmliches Gefühl des Unbehagens, wenn aus diesen schwarzen Thorwegen vermummte Gestalten spähten, die mir auflauerten? Konnten diese Kinder des Elends, die Verstoßenen, nicht gewittert haben, daß einer aus der Lichtwelt in ihre Finsternis geraten sei? Und wäre es zu verwundern, wenn sie sich verbündet hätten, um mir das Gold, mit dem sie mich natürlicherweise auswattiert glaubten, abzunehmen und die Lücken ihres schlotterigen Daseins damit zu stopfen? Ich atmete auf, als ich den Heidenturm sah, dessen nackte, plumpe Gestalt sich drohend gegen den Himmel stemmte, der sich wie eine schwarze, zum Bersten schwere Lawine langsam herunterließ In dem Augenblick, als ich in die enge, ummauerte Gasse einbog, fuhr der Sturm los, als hätte er sich an dieser Ecke verborgen gehalten, um mich zu überfallen. Nun sauste er wie ein furchtbarer Vogel Rock dicht über mir mit gedämpftem Brüllen, zuweilen mit zottiger Klaue meine Haare oder meine Schulter streifend. Erst als ich ganz unten in der Stadt war, blieb das Untier zurück, als dürfe es den geweihten Ring, der mich nun aufnahm, nicht berühren; aber bis an den Morgen hörte man von oben her das unheilvolle Gebrüll und die zornigen Flügelschläge, vor denen die Luft sich stöhnend zwischen den Häusern verkroch.


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