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Schluß

Der Wagen Behaeddins hatte sich bis zur »Punta«, dem Ostende der Wohnviertel Smyrnas durchgearbeitet, einem freien Platze, auf dem die breite Straße begann, der die Flüchtigen folgten. Nach rechts hin glühte schon das Feuer. Ein Zug Armenier, die man aus den stets erneut zu Brandherden werdenden Häusern ihrer Quartiere gefangen abführte, sperrte den Weg. Mit dem kleinen Finger je einer Hand aneinandergebunden, schritten sie, zwei und zwei, von Soldaten bewacht, dahin, einem ungewissen Schicksal entgegen. Der Strom der Flüchtlinge brachte sie zum Stehen. Der Wagen des türkischen Offiziers hielt in der schwarz drängenden Menge, über die der unweite Feuerschein blutige Lichter warf. Ein seltsames Schweigen erfüllte den unregelmäßigen Platz, über dem das Schreiten der vielen Schritte wie das Geräusch trockenen Sandes, der unablässig zu Tale rieselt, schwebte. Aus unweiter Entfernung kam das Brausen des Brandes, hartnäckig, gierig und unerbittlich.

Plötzlich legte sich aus dem Dunkel eine Hand auf den Wagenschlag. Ein hochgewachsener Mann beugte sich vor und sah Behaeddin forschend ins Gesicht. Ein brauner, kurzgeschnittener Bart fiel auf einen langen, braungelben Mantel, der bis an den Hals geschlossen war. Auf dem Kopfe trug er die hohe, graugelbe Filzkappe eines Derwisches.

»Bist du nicht Behaeddin? Behaeddin Fewsi Sadeh?« fragte er mit tiefer Stimme.

»Der bin ich. Doch was willst du? Wer bist du?« antwortete der Offizier, sich vorbeugend.

»Ein Derwisch, wie du siehst. Wende deinen Wagen und fahre mit mir dorthin, wo man dich braucht.«

»Wo man mich braucht? Wo ist das?«

Der Derwisch hatte den Wagenschlag geöffnet und stieg ein.

»Glaube mir. Folge mir. Ich werde dich führen.«

Der Derwisch setzte sich.

»Doch wer bist du? Was willst du von mir? Wer sendet dich?«

Der Zug der Armenier, dem die Soldaten Platz durch die Menge der Flüchtlinge geschaffen hatten, setzte sich in Bewegung.

»Mich sendet Halid Bey Tschelebi. Haidar Resched hat ihn darum gebeten. Mein Name ist Sia. Doch du kennst mich nicht. Ich aber kenne dich. Und ich will nichts von dir. Im Gegenteil, geben will ich dir, was du suchst.«

Unruhig, ungeduldig suchte Behaeddin in den Augen des Derwisches, der so plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht war, zu lesen. Die Namen, die er genannt hatte, bürgten für ihn.

»Und was suche ich?« fragte er.

»Frieden für dein Herz. Wie solltest du je ihn finden können, wenn der Traum deines Lebens, dir unbewußt und fern von dir verebbt?«

»Du redest in Rätseln. Wir sind nicht in der Moschee. Ich habe ...«

»Doch, du hast Zeit, mein Freund. Und wenn nicht jetzt, wann bist du in der Moschee? Wenn nicht jetzt, wann willst du Gott dienen und ihm danken? Das Unmögliche hat er möglich gemacht. Und ich bin gesandt, dich zu führen.«

»Doch wohin?«

»Zu Halideh.«

»Zu Halideh! Ist sie hier? Man hat sie befreit, so viel weiß ich. Ich erwarte sie.«

»Sie liegt im Sterben«, antwortete der Derwisch einfach. »Zu ihr will ich dich führen, denn zwischen ihr und dem Tode steht eine Wolke, undurchsichtig und grausam. Du allein kannst sie zerstreuen.«

»Halideh liegt im Sterben? Hier in Smyrna? Wie ist das möglich?« rief Behaeddin und legte die Hand auf den weiten Ärmel des Mannes, der sich Sia nannte.

»Beim Einzug der Truppen wurde sie von einer armenischen Bombe getroffen. Sie leidet große Schmerzen. Doch sie kann nicht sterben. Und niemand außer dir kann ihr helfen.«

»Sterben! Wer spricht von Sterben? Sie soll leben. Sie vor allen anderen muß leben.«

Der Derwisch antwortete nicht, sondern sah Behaeddin mit einem sonderbaren, halb mitleidigen, halb forschenden Ausdruck an.

»Doch wo ist sie? Schnell, sage mir, wo sie ist, daß ich zu ihr gelangen kann.«

»Wir müssen diese brennende Straße hinabfahren. Dann nach links abbiegen, nach dem Bahnübergang. Dort wirst du sie finden.«

Sich vorbeugend, gab Behaeddin dem Fahrer den Befehl, die angegebene Richtung einzuschlagen.

»Doch die Straße brennt, Bey«, wendete der Fahrer ein.

»Tue, was ich dir sage. Sofort«, war die ganze Antwort.

Schwankend setzte sich der Wagen in Bewegung. Am englischen Bahnhof vorbei glitt er der brennenden Straße immer näher.

»Schneller!« rief Behaeddin. »Schneller, so schnell du kannst. Wir müssen hindurch.«

Der Fahrer gehorchte. Nur eine Straßenseite stand in Flammen, die heulend und pfeifend aus den Fenstern lohten. Geborstene Ziegel lagen am Boden und fielen im plötzlichen Aufbrechen des Feuers von den berstenden Dächern. Der Wagen fuhr sehr schnell. Er sprang über die Steine des holprigen Pflasters. Ziegel brachen unter den Rädern.

»Jetzt links«, sagte der Derwisch.

»Links!« rief Behaeddin, sich wie sein Begleiter an der Seite des Wagens festhaltend, mehr stehend als sitzend.

Gehorsam wendete der Fahrer in die sich öffnende Seitengasse. Hier rast das Feuer rechts und links. Weiterfahren schien sicherer Tod. Der Fahrer hielt.

»Zögere nicht. Es ist nur eine kurze Strecke«, sagte der Derwisch ruhig.

»Vorwärts!« rief Behaeddin.

Der Fahrer wendete sich bleich und zitternd um:

»Bey, du siehst, es ist unmöglich. Ich bitte dich.«

Der Derwisch beugte sich vor und legte dem Mann die Hand auf die Schulter.

»Fürchte nichts, mein Sohn. Fahre. Es wird uns nichts geschehen«, sagte er beruhigend und befehlend zugleich.

Mit einem Zusammenzucken, blickte der Soldat dem Derwisch erschreckt in die Augen. Dann drehte er sich um und ließ den Wagen von neuem anlaufen. Er fuhr schnell und schneller. Von beiden Seiten leckten die Flammen. Glühende Balken lagen über der Straße, doch noch standen die Außenmauern der Gebäude. Doch plötzlich, ebenso schnell, wie sie in diese Hölle hineingeraten waren, hatten sie sie hinter sich. Vor ihnen lag ein Garten, still und dunkel, mit ragenden Bäumen, zwischen denen in einiger Entfernung Lichter schimmerten. Der Wagen fuhr, wie von Geisterhänden gelenkt, auf glattem Boden lautlos darauf zu.

»Dies ist das Hospital. Dort links ist der Eingang«, sagte der Derwisch. »Dort müssen wir hin. Dort liegt Halideh und kämpft, – nicht um ihr Leben, Behaeddin, bedenke das gut. Nicht um ihr Leben. Um ihr Sterben kämpft sie. Diesen Kampf sollst du ihr erleichtern, damit, wie sie, du Frieden finden kannst, wenn nicht jetzt, dann später.«

Wortlos sah der Offizier in die stillen Augen des seltsamen Gefährten.

Der Wagen hielt vor dem Tor des Hospitals. Der Derwisch stieg aus, und Behaeddin folgte ihm.

In einem fast leeren, weißgetünchten Zimmer fanden sie Halideh, die, von Binden verhüllt, auf einem niedrigen Lager lag. Eine Lampe brannte hell in einer Ecke. Eine Schwester des Roten Halbmondes saß neben Halideh auf einem Stuhl. Durch die offenen Fenster, zwischen den Bäumen, leuchtete die brennende Stadt.

»Was ist dies? Was fehlt ihr? Wo ist sie verwundet?« fragte Behaeddin, auf das Bett zutretend.

Der Derwisch blieb am Eingang stehen.

Beschwichtigend hob die Schwester die Hand.

»Sie ist blind. Und sie hat beide Arme verloren. Auch ihr Körper ist schwerverletzt.«

»Halideh! Halideh, erkennst du mich nicht. Ich bin es, Behaeddin«, sagte der Offizier, ohne die Schwester zu beachten und beugte sich über die Verwundete.

Der obere Teil ihres Gesichtes war ganz in Binden gehüllt, nur der energische, jetzt bleiche und müde Mund, das etwas breite feste Kinn waren sichtbar.

Ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich. Ihr Körper wurde wie vom Fieber geschüttelt. Bei den Worten Behaeddins wurde sie plötzlich still.

»Ah, du bist gekommen, Behaeddin Bey. Ich erwartete dich nicht«, sagte sie laut, als spräche sie aus einer Entfernung. »Nur meine Gedanken suchten dich.« Es war ganz still im Zimmer, so still, daß das leise Summen der Lampe in der Ecke hörbar war. »Du bist da, Behaeddin. Nun sage mir, hast du die Pläne gebracht? Der Pascha braucht sie. Anatolien braucht sie. Bedenke, wie viele sterben müssen, wenn du sie nicht hast.«

»Die Pläne ...« Behaeddin begriff nicht sogleich. »Jawohl, Halideh. Ich habe sie. Doch wir haben sie nicht gebraucht. Sie waren falsch. Wir haben ohne sie gesiegt. Anatolien ist frei.«

»Die Pläne waren falsch! Falsch sagst du! Also habe ich nichts verschuldet. Mein Ausbleiben hat uns nicht geschadet. Das sagst du, Behaeddin Bey, du, der mir nie gelogen hat, der mich niemals täuschte. Ah, die Pläne waren falsch. Gott sei Dank.«

Mit einem Seufzer sank sie wie in sich zusammen.

Bestürzt, verwirrt, unverstehend blickte Behaeddin sie an.

»Halideh«, flüsterte er leise. »Halideh ...«

»Und Anatolien ist frei! Ja, ich entsinne mich jetzt. Wir zogen in Smyrna ein, als alles versank. Plötzlich wurde es Nacht. Sage dem Pascha, ich habe meine Pflicht getan. Meine Pflicht. Und lebe wohl, Behaeddin. Ich gehe jetzt ... und keine Pflicht trennt mich mehr von dir ... Lege deine Hand auf meine Lippen. Anatolien ist frei und du bist bei mir.«

Sie hatte immer in dem gleichen, lauten, eintönigen Tonfall gesprochen. Plötzlich brach sie ab.

Ganz leise sagte sie:

»Deine Hand, Behaeddin. Deine Hand auf meine Lippen.«

Willenlos legte er seine Rechte auf den Mund der Sterbenden, der leicht zitterte. Ihr Körper streckte sich. Ihr Atem blieb aus. Das Herz Halidehs hatte aufgehört zu schlagen. Sie war frei, frei wie Anatolien.

Behaeddin richtete sich auf.

»Warum ...?« sagte er, wie betäubt. »Warum ...?«

»Frage nicht«, antwortete der Derwisch, auf ihn zutretend. »Störe sie nicht. Wunschlos wandelt sie jetzt im Garten ihrer erfüllten Träume.«


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