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13. In Feindes Hand

Als man Halideh und ihre Begleiter in dem niedrigen, stallartigen Gebäude in Emed eingeschlossen hatte, war das Erste, was sie tat, nach einem sicheren Versteck für die Pläne zu suchen. Das Haus, in dem sie untergebracht war, bestand aus nur zwei Räumen, deren Trennungsmauer halb in Trümmern lag. Auf der einen Seite gaben zwei schmale, mit Holz vergitterte Fenster dem größeren Raum etwas Licht. Der andere lag ganz im Dunkeln. Die hölzerne Tür führte unmittelbar ins Freie, und war mit einem Vorlegeschloß verschlossen. Der Boden im Innern bestand aus gestampftem Lehm und war mit Mörtelstücken, Steinen, Fetzen alter Decken und Kleidungsstücken, mit Staub und Unrat aller Art bedeckt. Eine Decke war nie vorhanden gewesen, sondern das Holzgerüst des Ziegeldaches schloß die Räume nach oben hin ab. An vielen Stellen war die Dachbedeckung zerbrochen, Gerüstsparren abgestürzt, und Spalten und Risse ließen den Himmel frei.

Während ihre Begleiter auf dem verschmutzten Fußboden eine Ecke, so gut es ging, zu reinigen suchten, bemühte Halideh sich, ihre Pläne in Sicherheit zu bringen. Da sie aus im ganzen sieben Lichtbildern bestanden, deren Abmessungen Sadik so klein gewählt hatte, daß sie in einen gewöhnlichen Briefumschlag Platz fanden, hatte Halideh sie im Futter ihrer Reitstiefel eingenäht getragen.

Unter allen Möglichkeiten, die Pläne sicher zu verstecken, erschien ihr nach einigem Suchen ein Platz unter und zwischen den Ziegeln des Daches am geeignetsten. An einer Stelle, wo die Bedachung noch halbwegs in Ordnung war, mußte es möglich sein, die Pläne in ihrem Umschlag so weit zwischen die aufeinander liegenden Teile der Ziegeln zu schieben, daß sie weder von innen noch von außen sichtbar waren.

In dem kleineren, dunklen Raum fand sie, was sie suchte. Nachdem sie die Pläne ihrem Versteck entnommen hatte, ließ sie sich von zweien ihrer Begleiter in die Höhe heben und schob vorsichtig das kleine Paket zwischen zwei lose Dachziegel, deren Lage sie sich durch Abzählen der Reihen genau einprägte. Nun mochte man sie und ihre Begleiter untersuchen, ihr die Kleidungsstücke nehmen, man würde nichts finden. Und um zu dem Versteck der Pläne zu kommen, mußte man das ganze Dach durchsuchen, eine Arbeit, die Mehmed und seine Leute sicherlich nicht ausführen würden.

Aufatmend ließ sich Halideh von den Schultern der beiden, die sie in die Höhe gehoben hatten, zur Erde gleiten.

»So!« sagte sie befriedigt, »das im Augenblicke Wichtigste wäre geschehen. Wie sollen wir nun weiterkommen? Da dieser Mehmed uns nicht oben an der Quelle niedergeschossen hat, wird er irgend etwas anderes mit uns vorhaben. Wahrscheinlich wird er uns an die Griechen verkaufen wollen.« Damit ging sie mit den beiden anderen, einem Soldaten, Dschemal mit Namen, und Sabri, dem jüngeren der beiden Offiziere aus Jalowa, zu ihren Begleitern zurück, die sich auf den Boden ausgestreckt hatten.

»Du magst schon richtig vermuten«, antwortete ihr Sabri im Gehen. »Die Verhandlungen, von denen du sprichst, werden aber sicherlich Zeit in Anspruch nehmen. Die müssen wir nützen.«

Bei den anderen angelangt, setzte sich Halideh ebenfalls nieder.

»Einer von uns muß suchen, zu entfliehen. Er muß die Papiere mitnehmen, die ich eben versteckt habe. Wer soll es sein?«

»Du mußt es sein«, antworteten mehrere der anderen zugleich.

Doch Halideh hob verneinend den Kopf.

»Ich muß hierbleiben. Mich kennt Mehmed besonders. Mein Fehlen würde sogleich bemerkt werden. Auch ist die Flucht so wichtig, daß sie der unternehmen sollte, der die beste Kenntnis dieser Gegend hat. Das ist Nadir aus Kutahia. Er ist hier bekannt. Ihm müssen wir zur Flucht verhelfen, und er soll so schnell wie möglich in unsere Linien gelangen und die Papiere abgeben. Bist du bereit, das auszuführen?« wandte sich Halideh an ihn.

Nadir, der in der Nähe des Fensters gesessen hatte, kam näher.

»Sicherlich will ich gern alles tun, was du verlangst, hast du mich doch aus den Händen der Griechen gerettet. Und ich kenne die Gegend hier gut. Auch zu Fuß werde ich spätestens in drei Tagen jenseits der Bahnlinie und in unseren Stellungen sein.«

»Bist du des Weges sicher? Wie muß man gehen, um am schnellsten vorwärtszukommen?« fragte Halideh prüfend.

»Von hier gibt es einen Weg, auf dem man in einem Tage das Tal von Hadschi Kebir erreichen kann. Dort trifft man auf die große Straße, die nördlich nach Kutahia führt. Wenn man ihr etwa drei Stunden lang zu Fuße folgt, gelangt man in eine Talsenke, die sich nach Osten streckt. Dort zweigt ein Weg nach der Altyntasch Owa ab. Die Owa ist von den Griechen besetzt. Daher würde ich dieses Tal im Norden durchqueren, um in die Berge des Obruk Dagh zu gelangen. Jenseits dieser Berge verlaufen mehrere Täler nach Osten. Man kann von dort in zwei bis drei, höchstens in vier Stunden an der Bahnlinie sein. Am dritten Tage aber erreicht man sicherlich unsere Linien.«

Die Ausführungen Nadirs, die kurz und bestimmt gegeben wurden, entsprachen dem, was Halideh aus der Karte in der Erinnerung hatte. Es war kein Zweifel; der Mann kannte die Gegend gut.

»Diesen Weg wirst du also benutzen. Wie aber bringen wir dich hier heraus? Das Haus wird auf allen Seiten bewacht!« bemerkte Sabri, Nadir ansehend.

»Es wird sich schon eine Möglichkeit finden lassen. Zunächst müssen wir aber suchen, Nadir so zu verstecken, daß man ihn nicht gleich sieht. Ob wir fünf waren oder sechs, wird man vielleicht nicht mehr so sicher wissen. Man muß erst die Sättel nachzählen, und daran wird man nicht denken. Und wir brauchen nur darauf zu bestehen, daß wir nur fünf gewesen sind«, sagte Dschemal leise.

»Dann mag sich Nadir in dem dunklem Raum aufhalten. An der Zwischenwand, wo die Steine zusammengefallen sind, kann er sich hinlegen, sollte jemand kommen. Dort wird man ihn nicht sogleich suchen, besonders, wenn man uns alle hier zusammen sieht. Vor heute abend oder morgen früh wird man sich doch nicht um uns kümmern. So schnell werden die Verhandlungen mit den Griechen nicht von der Stelle gehen«, erklärte Halideh. Und zu Nadir gewendet, fügte sie hinzu: »Geh, setze dich dort ins Dunkle, wenigstens so, daß man dich vom Fenster aus nicht sehen kann. Einer von uns wird achthaben, ob sich jemand der Türe nähert und dir dann ein Zeichen geben, damit du dich rechtzeitig hinter den Steinen ausstrecken kannst.«

Nadir warf einen etwas zweifelhaften Blick in die bezeichnete Ecke, stand dann aber von seinem Platz auf, ging quer über den Raum und setzte sich auf den stehengebliebenen Mauerrest.

»Hier kann mich allerdings niemand von außen sehen«, sagte er dann und suchte in seinem Gürtel nach einer Zigarette, die er anzündete.

Dschemal deutete in die fernere Ecke.

»Dort hinten«, erklärte er, »ist zwischen dem Dach und der Außenmauer ein Spalt, groß genug, Nadir durchzulassen. Wenn es dunkel wird, werden wir einige der Holzstücke hier anzünden, nahe am Fenster und uns herumsetzen. Sicherlich wird dann der Posten auf dieser Seite herankommen und mit uns sprechen. Da er uns alle zusammen sieht, wird er nicht auf den Gedanken kommen, daß einer von uns unter seinen Augen entweichen könnte. Dann muß man versuchen, daß auch die anderen Posten herbeikommen. Ihnen wird es ebenfalls langweilig geworden sein. Ich weiß das aus Erfahrung. Dann muß Nadir sehen, durch den Spalt zu fliehen. Wir können ihm einen Gürtel oben festmachen, an dem er sich leise herablassen mag. Die Mauer ist so niedrig, daß er leicht hinabspringen könnte. Doch das würde zuviel Geräusch machen.«

»Bravo! Dschemal. Bravo!« rief Halideh. »Das ist ausführbar. So werden wir die Sache versuchen.« Damit stand sie auf, um sich die Stelle, die Dschemal bezeichnet hatte, anzusehen.

»Doch die Papiere! Wie soll er zu den Papieren kommen? Sie ihm mitzugeben, während er diesen Fluchtversuch unternimmt, ist zu gefährlich. Sollte man ihn bemerken und festnehmen, so wird man ihn mit Sicherheit genau untersuchen. Die Papiere darf er erst dann erhalten, wenn er außerhalb des Bereiches der Posten und außerhalb der unmittelbaren Gefahr ist. Und ohne die Papiere hat seine Flucht nur wenig Zweck, außer für ihn selbst. Hilfe kann er uns kaum bringen. Gerade die Papiere aber müssen so schnell wie möglich in unsere Linien gelangen. Und wenn man sie bei ihm findet, ist die Arbeit vieler Wochen vergeblich gewesen, und die Papiere werden nicht nur nutzlos, sondern können sogar zum Schaden für uns ausschlagen«, erklärte Halideh, nach der anderen Seite des Raumes zurückgehend.

Der Einwurf Halidehs war berechtigt, und alle verstanden ihn. Ein jeder wußte, daß die Auslieferung an die Griechen gleichbedeutend mit Erschießen war. Man würde sie als Spione behandeln und kurzen Prozeß mit ihnen machen. Es war bekannt, daß die Griechen eingelieferte Spione gut bezahlten, und hier wie überall fanden sich feile Verräter, die ihre Landsleute um Geld auslieferten. Jeder der Genossen Halidehs wußte, daß nur die Flucht Aussicht bot, das Leben zu retten. Doch keiner hatte eine Einwendung gemacht, als sie den Mann aus Kutahia dazu bestimmte, den einzigen Ausweg zur Rettung zu versuchen, um wenigstens die Pläne in Sicherheit zu bringen.

Nadir saß auf den Resten der Zwischenmauer, während die anderen zur Ecke in der Nähe des Fensters zurückkehrten. Das Gebäude stand am Ende des Ortes und allein. Vor ihm lag eine Dreschtenne, noch glatt gestampft und mit den Spreuresten des gedroschenen Getreides bedeckt. Hinter der Tenne fiel das Gelände nach Osten ab, das dicht mit großen Steinen besät war. Einige hundert Meter hangabwärts sah man den ostwärts verlaufenden Weg, von dem Nadir gesprochen hatte.

Der Posten, der diese Seite des Hauses bewachte, saß im Schatten einiger großer Agaven, die ihre fleischigen Blattzungen starr in die Luft reckten, an einer Seite der Tenne, nach Süden zu. Er hielt sein Gewehr quer über die Knie gelegt und rauchte. Leichte Staubwolken tanzten den Hügel heran, und hier und dort auf der Tenne wirbelte liegengebliebene Spreu in kleinen plötzlichen Windkreisen.

»Nein«, sagte Halideh. »Nein. Auf diese Weise ist es unmöglich. Ich kann die Papiere Nadir erst dann geben, wenn er außerhalb der Gefahr ist, von den Posten bemerkt zu werden. Wir müssen einen anderen Weg finden.«

Durch das Fenster sah sie, wie der Posten aufstand und auf das Haus zuschritt. Gleichzeitig hörte sie Stimmen, die sich näherten. Mehmed mit einem halben Dutzend seiner Leute kam um die Ecke und ging auf die Tür zu.

»Schnell, lege dich hin!« rief sie dem im Dunkeln des Raumes sitzenden Nadir zu. Die anderen waren aufgestanden und traten neben Halideh an das Fenster.

Mehmed ließ die Tür öffnen. In das Innere des Hauses tretend, blickte er um sich. Seine Leute waren ihm gefolgt und füllten den Eingang.

»Ah!« sagte er, »ihr habt es euch hier schon ganz wohnlich eingerichtet. Man sieht, ihr habt bei den Aufrührern etwas gelernt. Viel Besseres werdet ihr wohl auch nicht gewöhnt sein. Nun wollen wir aber feststellen, welche Vögel wir eigentlich gefangen haben.«

Halideh trat auf ihn zu und sagte:

»Und wer bist du? Du, der hier auf der Seite der Griechen Anatolien verrät!«

Mehmed lachte.

»Ich habe dir schon gesagt, wer ich bin. Doch ich kann noch anfügen, daß wir alle hier Tscherkessen sind und nichts mit euch faulen, dummen anatolischen Bauern zu schaffen haben. Lange genug habt ihr Türken uns zum Narren gehabt, eure Versprechungen nicht gehalten, uns das schlechteste Land, den steinigsten Boden als Wohnsitze angewiesen. Wir sind dessen aber überdrüssig geworden. Und mit diesen Griechlein werden wir schon allein fertig werden, wenn sie nur erst mit euch fertig sind. Alles zu seiner Zeit. Also du, der so schön spricht, wer bist du?«

Halideh war nahe an Mehmed herangetreten und sah ihm forschend ins Gesicht.

»Jetzt sehe ich, daß du Tscherkesse bist. Bisher hieltest du deine vertrocknete Nase im Schatten. Doch auch die Rechnung, die wir mit euch haben, wird beglichen werden.«

Während sie diese Worte langsam und ruhig aussprach, sah sie plötzlich, wie Nadir aus seinem Versteck hervorkam und auf Mehmed zuging. Unwillkürlich machte sie eine Bewegung, wie um ihn zurückzuhalten. Doch zu ihrer Verblüffung lächelte Nadir und winkte ihr zu.

»Sei unbesorgt, Hanum Effendi,« sagte er spöttisch, »der Bey kennt mich.«

Mehmed wandte sich ihm zu.

»Ah! du bist es? Hast du alles erledigt?«

»Ja, Bey. Die Papiere ...«

Blitzschnell hatte Halideh die Lage begriffen. Sie waren von Nadir verraten worden. Mit einem Satz sprang sie auf ihn zu und schlug ihm mit der ganzen Wucht ihres kräftigen Armes unter das Kinn, daß er, vom Stoß hochgehoben, wie ein Sack nach hinten fiel.

»Verfluchter Hund!« schrie sie, außer sich vor Empörung. Sie sah noch, wie Dschemal den Fallenden packte und mit aller Gewalt in die Mitte der Leute Mehmeds schleuderte. Doch zwei, drei Fäuste hatten sie schon an der Kehle. Einige Schüsse krachten. Halideh fühlte, wie es ihr warm über den Leib lief und verlor das Bewußtsein.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in Dunkelheit. Hals und Kopf schmerzten wie Feuer. Ein brennender Durst quälte sie. Sie versuchte, sich zu bewegen, doch die Glieder, schwer wie Blei, versagten den Dienst.

Nach und nach sammelten sich ihre Sinne. Vor sich sah sie zwei fahle Flecken, die sie stumpfsinnig betrachtete. Erst nach einiger Zeit begriff sie, daß dies die Fenster des Raumes sein mußten, in dem man sie und ihre Begleiter eingeschlossen hatte. Dann bemerkte sie auch ein leises Stöhnen neben sich. Tiefes Atmen wie Röcheln.

Sie versuchte zu sprechen, zu rufen, doch die geschwollene Zunge versagte den Dienst. Nur ein unverständliches Gurgeln kam ihr über die Lippen.

Jemand schien es aber doch gehört zu haben. Eine Gestalt schob sich zwischen sie und das eine Fenster, kam näher.

»Bist du es, Bey?« hörte sie die tiefe Stimme Dschemals fragen, und eine harte Hand strich ihr über das Gesicht.

Halideh machte eine unbeholfene Bewegung des Verstehens.

»Ah! Du lebst. Gott sei gedankt. Bleibe ruhig liegen. Ich habe etwas Wasser für dich«, und nach einigen Minuten wurde ihr der Hals einer Feldflasche an die Lippen gehalten. Doch sie war nicht imstande, zu schlucken. Das Wasser lief ihr über den Hals.

»Warte. Sei ruhig. Ich werde es dir einflößen«, sagte der Soldat, und goß ihr vorsichtig nur einige Tropfen zwischen die Lippen.

Sorgsam wie mit einem Kinde wiederholte der Anatolier die Handlung, geduldig Halidehs Kopf hebend, um ihr die Arbeit des Trinkens zu erleichtern. Denn es war eine Arbeit, eine schwere Anstrengung, die sie ganz erschöpfte. Als Dschemal merkte, daß sie genug hatte, legte er sorgfältig ihren Kopf wieder auf den Boden, wo er anscheinend etwas Erde zu einem Kissen zusammengescharrt hatte.

Halideh fiel fast sofort in Schlaf.

Sie erwachte erst, als ihr die Sonne schon hell ins Gesicht schien. Ihr geschwollener Hals hatte sich etwas gebessert. Auch die Zunge war beweglicher geworden. Sie blickte um sich.

Unter dem Fenster, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, saß Dschemal auf dem Boden. Der andere Soldat, Ahmed, lag in einer Ecke flach auf dem Rücken. Schwere, rasselnde Atemzüge hoben seine Brust. Von ihrem Platz aus konnte sie nicht sehen, ob er wach sei oder schlafe.

Die beiden Offiziere lagen etwas rechts von ihr, der eine regungslos und mit blutbedecktem Gesicht, der andere unruhig sich hin und her wälzend.

Halideh blieb eine Weile ganz still und suchte ihre Gedanken zu sammeln. Langsam kehrte ihr die Erinnerung zurück. Sie sah wieder, wie Nadir lächelnd näherkam. Sie fühlte, wie sie bei seinen höhnischen Worten erst erstarrte und dann von maßloser Wut gepackt wurde und auf ihn zusprang. Von den Papieren, den Plänen hatte dieser Verräter gesprochen!

Sie suchte sich aufzuraffen. Es gelang ihr endlich, eine sitzende Stellung einzunehmen. Das Geräusch ihrer Bewegungen hatte Dschemal geweckt. Er kam an ihre Seite.

»Was ist es, Beyim? Hast du Hunger, Durst? Ich habe nur ein wenig Wasser.«

»Nein«, flüsterte Halideh mit Anstrengung. »Komm näher!«

Der Soldat neigte seinen Kopf.

»Sage mir ... Die Papiere ... Die Pläne ... Wo sind sie?

»Wir konnten es nicht ändern, Bey. Wir wurden schnell überwältigt. Ich kam zu unterst zu liegen. Deshalb blieb ich unverletzt. Sabri ist tot. Ich konnte nichts für ihn tun. Er blutete vom Kopfe, und eine andere Kugel muß ihm etwas in der Brust zerrissen haben. Ahmed ist bewußtlos. Er röchelt. Doch er hat keine Wunde. Er muß einen Schlag erhalten haben oder gefallen sein. Nur Fahsli Effendi ist gesund. Er schläft.«

Halideh hatte die leise gesprochenen Worte nicht unterbrechen können. Als Dschemal schwieg, flüsterte sie nochmals:

»Die Papiere, Dschemal! Sage mir, haben sie sie gefunden?«

»Dieser Hund, den Gott verdammen möge, dieser Sohn einer Hündin, dieser aussätzige Auswurf hat sie Mehmed gegeben«, sagte der Soldat. »Ich konnte ihn nicht daran hindern.«

»Sie sind also verloren! Wir müssen sie wiedererlangen ... Die Pläne ... Schnell ...«

Halideh begann irre zu reden. Sie bäumte sich, um aufzustehen. Nur mit Mühe konnte Dschemal sie halten. Plötzlich gab ihr Körper nach. Sie brach in sich zusammen, und Dschemal bettete sie sorglich auf die Erde.

Nach dem kurzen Kampfe, in dem man die wehrlosen Gefangenen leicht überwältigt hatte, war Nadir fortgetragen worden. Später hatte man ihn zu dem Tscherkessenführer gebracht.

»Du hast deine Sache ganz gut gemacht«, empfing ihn dieser. »Doch dein Bote aus Tawschanly erreichte mich erst, als ihr schon in den Egrigös Dagh abgebogen wart. Wenn einer meiner Leute euch nicht zufälligerweise im Tale gesehen hätte, würde ich euch lange haben suchen können.«

»Mehr als dich benachrichtigen, konnte ich nicht tun. Das kannst du dir selbst sagen. Doch wir sind auch viel früher von Dere Köy aufgebrochen, als beabsichtigt war. Ein Fremder, der dort in der Dunkelheit plötzlich auftauchte, warnte diese Anatolier. Und dann: warum gab man diesem Boten ein so schlechtes Pferd? Er hätte uns trotzdem noch mit Leichtigkeit überholen können, ritt ich doch mit Absicht einige Umwege.«

»Nun, beklage dich nicht. Wir haben sie ja doch gefangen. Morgen werde ich wegen ihnen verhandeln.«

»Ich höre aber, daß einer von ihnen gefallen ist. Du weißt doch, daß die Griechen nichts für tote Anatolier zahlen, oder doch nur sehr wenig. Das haben sie von den Engländern gelernt. Den Verlust mußt du tragen«, sagte Nadir, der ausgestreckt auf einem Diwan lag, während Mehmed ihm zu Füßen saß und rauchte.

»Ganz im Gegenteil. Dir werde ich ihn abziehen. Was hast du mit deiner plumpen Voreiligkeit die Leute in Wut zu bringen.«

»Dachtest du vielleicht, ich würde endlos in dem Stinkloch sitzenbleiben, in das du uns eingepfercht hattest?« entgegnete der andere heftig.

»War ich nicht gekommen, dich abzuholen? Mußte ich dir nicht Zeit geben, festzustellen, was sie untereinander besprachen? Dummkopf! Willst du dein Geld im Schlafe verdienen? Was ist es mit den Papieren?«

»Ich denke gar nicht daran, es dir zu sagen, wenn du mich benachteiligen willst. Ich kann sie selbst verwerten.«

»Bilde dir das nicht ein. Du wirst mir die Stelle zeigen, und das sogleich. Wer mit mir spielt, verbrennt sich die Finger ärger als am Feuer. Laß dir das gesagt sein.« Mehmed sprach drohend und sah den andern unter seinen buschigen Augenbrauen feindselig an.

»Und was gibst du mir, wenn ich dir nachgebe?« fragte Nadir.

»Was soll ich dir geben? Du bekommst deinen Teil von dem, was man mir zahlt.«

»Und den Toten willst du mir auch abziehen? Nein, Mehmed, daraus wird nichts. Du hast ihn erschießen lassen. Du hast für ihn aufzukommen. Und die Papiere verkaufe ich. Von dem, was ich dafür erhalte, werde ich dir deinen Teil geben.« Nadir hatte sich aufgesetzt und rieb sich den schmerzenden Hals.

Mehmed gab keine Antwort, sondern stand auf und ging zur Tür, die er öffnete. Er sprach einige Worte, die Nadir nicht verstand und schloß die Türe wieder.

»Nun? Hast du meine Worte überlegt? Siehst du ein, daß ich im Rechte bin?« fragte Nadir.

Mehmed setzte sich wieder hin und strich sich mit der Hand über den langen Schnurrbart, den er trug. Nach einer Weile sagte er:

»Wir werden hierüber noch sprechen. Sei ohne Sorge.«

Kurz darauf wurde die Türe geöffnet, und zwei der Leute Mehmeds traten ins Zimmer.

»Setzt euch neben ihn. Rechts und links. Er ist noch etwas schwach«, befahl Mehmed ruhig.

»Was soll das heißen?« fuhr Nadir auf, als die beiden Männer neben ihm Platz nahmen.

»Haltet seine Hände«, sagte Mehmed gleichgültig. »Er könnte sie ungeschickt gebrauchen.«

Nadir versuchte aufzuspringen, doch die Leute des Tscherkessen hatten ihn schon an beiden Armen ergriffen und zwangen ihn, sitzenzubleiben. Jeder nahm eine der Hände Nadirs zwischen die seinen, und der Verräter fühlte, wie seine Handrücken gegen kleine Steine, die die Männer in den Handflächen hielten, drückten. Noch tat der Druck nicht weh.

»Willst du mir nun sagen, wo die Papiere sind? Ich habe keine Lust, sie lange zu suchen«, fuhr Mehmed, ohne die Stimme zu erheben, fort. Dabei gab er seinen Leuten einen Wink, die ein jeder eine Hand Nadirs zusammenpreßten und gegen die Steine drückten. Der Schmerz war unerträglich.

»Laßt,« ächzte er, »laßt! Das ist ...«

»Willst du sprechen?« fragte Mehmed, ohne sich zu rühren.

»Ja doch, ja«, stöhnte Nadir.

Mehmed machte eine Bewegung, und die beiden Männer verminderten ihren Druck, Nadir sank zusammen, krampfhaft versuchend, seine Hände zu befreien. Doch die Tscherkessen hielten fest.

»Also mein Freund, wo sind die Papiere?«

»Im Dache des Hauses. Unter den Ziegeln. In der sechsten Reihe von oben und der fünfzehnten Reihe vom Giebel«, antwortete Nadir zwischen geschlossenen Zähnen.

»In der sechsten und fünfzehnten Reihe! Ich danke dir für die Genauigkeit deiner Angaben, mein Freund. Doch vielleicht hast du dich geirrt. Komm, wir wollen uns überzeugen«, und Mehmed gab Befehl, Nadir nach dem Hause, wo die Gefangenen lagen, zu führen. Er selbst folgte.

Ohne die am Boden liegenden Verwundeten auch nur anzusehen, ließ er sich von Nadir die Stelle zeigen, wo Halideh die Pläne versteckt hatte. Einer seiner Leute stieg von außen auf das Dach und setzte sich, die Ziegel an der betreffenden Stelle abhebend, in den Besitz der Papiere, die Mehmed sich aushändigen ließ und zu sich steckte.

Mit dem noch immer stöhnenden Nadir in sein Haus, das ziemlich weit entfernt lag, zurückgekehrt, öffnete er den Umschlag und zog die sieben Lichtbilder hervor.

»Was soll das vorstellen?« fragte er Nadir, die verkleinerten Pläne, die die Oberfläche der Negative in Strichen und Punkten bedeckten, unverstehend betrachtend.

»Wie soll ich das wissen? Es sind Papiere, die ...«

»Ach was! Papiere! Es sind Bilder, die noch nicht fertig sind. Du hast wieder einmal gelogen. Ihr Verräter lügt immer. Dies Zeug«, und Mehmed warf dem andern die Pläne verächtlich vor die Füße, »ist sicherlich nicht das Richtige. Doch ich werde dich schon zum Sprechen zwingen.«

»Es ist das, was sie versteckt haben. Mehr kann ich nicht sagen«, entgegnete Nadir und bückte sich, um die Bilder aufzuheben.

Er betrachtete sie von oben und unten, von rechts und links, drehte sie diesen Weg und jenen. Doch auch er konnte nichts davon verstehen. Die Schrift war viel zu klein, um seinen ungeübten und unbewaffneten Augen als Schrift zu erscheinen, und die Linien und Punkte der Stellungen und Ortschaften waren für ihn stumm.

»Da hast du recht. Ich verstehe dies auch nicht. Ich kann nur sagen, daß sie dies mit großer Mühe versteckten und großen Wert darauf legten. Ich weiß nicht, was es bedeutet.«

»Du siehst doch, was es ist. Es sind photographische Bilder, die aber nicht gelungen sind. Du hast doch gesehen, wie Paßbilder angefertigt werden? Man blickt in einen Kasten, in dem ein Spiegel ist, und auf dem Spiegel drückt sich das Bild ab. Dann kommt es heraus und wird gewaschen. Manchmal ist es richtig abgedrückt, manchmal nicht. Dann muß von neuem begonnen werden. Wenn es richtig ist, wird es wieder in den Kasten geschoben, und man erhält ein Bild. Wenn nicht, wird eben von neuem angefangen. Dieses hier sind schlechte Abdrucke. Hier, das soll ein Baum sein, und dies ein Stück Wasser. Und dies sind Binsen und Blätter. Hier sind zwei Augen. Dieses hier sind alles schlechte, wertlose Abdrucke. Alles ist undeutlich und verwischt«, Mehmed hatte die Lichtbilder wieder an sich genommen und zeigte Nadir, was er zu sehen vermeinte.

»Weshalb sollten sie es aber so sorgfältig versteckt haben? Und ich sollte es schnellstens in die türkischen Linien bringen!?« wendete Nadir ein, noch immer zweifelnd.

»Ah! Dorthin solltest du es bringen? Deshalb sprang der eine so schnell auf dich zu? Sie hatten dich durchschaut, und die Türken würden dich schön empfangen haben. Wer weiß, was die Übersendung dieser wertlosen Bilder für eine geheime Bedeutung haben mochte. Dir hätte es schön ergehen können, mein Freund, wenn du so dumm gewesen wärest, hinzugehen. Ich sehe, du hast noch manches zu lernen, Nadir Bey Effendi.«

»Meinst du?« antwortete der andere zögernd. »Als es sich aber unmöglich erwies, mir die Bilder nach der Flucht zu geben, sollte die Flucht überhaupt unterbleiben.«

»Was faselst du da? Nach der Flucht! Welcher Flucht?«

Nadir erklärte dem andern den Plan Halidehs und weshalb sie ihn dann aufgegeben habe.

Nachdenklich nahm Mehmed die Bilder, die er aus der Hand gelegt hatte, wieder auf und hielt sie gegen das Licht, sie bald so, bald so betrachtend.

»Sicherlich ist das alles nur ein Vorwand gewesen, ein Versuch festzustellen, ob der Verdacht, den sie gegen dich hatten, begründet war oder nicht, denke ich. Dies hier ist wertlos. Eben deshalb versteckten sie es so sorgfältig. Deshalb gaben sie vor, es sei wichtig, um dich dazu zu bringen, dich zu verraten. Hättest du selbst einen Vorschlag gemacht, diese Bilder fortzubringen, so würden sie sicher gewesen sein, daß du irgendwie mit uns in Verbindung stündest. Das hättest du dir doch aus deiner Erfahrung mit der Überwachung der Gefangenen in den griechischen Gefängnissen sagen können. Denn zu fliehen war doch ganz unmöglich. Das wußten sie. Sie wollten nur sehen, was du sagen würdest. Daß du den Mund hieltest, war das Klügste, was du tun konntest ...«

»Dies hier, mein lieber Freund, ist ohne Bedeutung«, und Mehmed warf die Negative auf den eben ins Zimmer gebrachten Mangal, wo sie auf den glühenden Kohlen sofort aufpufften und verbrannten.

»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Nadir bedauernd. »Wer weiß ...«

»Ich weiß. Du hast gar keine Kenntnis der Wissenschaften. Dies war die erste Form oder Film, wie sie es nennen, eines Lichtbildes. Wenn du dieses wertlose Zeug den Türken gebracht hättest, würde man dich sicherlich festgenommen und dir unsanft auf den Zahn gefühlt haben. Dabei wäre es ihnen nicht schwer gefallen, aus dir die Wahrheit herauszubekommen, und man würde versucht haben, diese Leute zu befreien. Diese verkleidete Frau, dieses Mannweib, scheint ein Teufel an Schlauheit und Tücke. Sei froh, daß du den Mund hieltest.«

»Du magst vielleicht doch recht haben. Möglicherweise war das Ganze eine Falle. Schon das Auftauchen jenes Mannes in Dere Köy war mir verdächtig!«

»Sicherlich war es eine Falle. Und mir verdankst du, nicht hineingegangen zu sein. Nimm also ruhig, was ich dir als deinen Anteil geben werde. Du sollst nicht zu kurz kommen, denn es werden sich wohl noch andere Gelegenheiten finden, etwas zu verdienen. Und dein Leben, als angeblicher Mitgefangener die anderen zu belauschen und ihre Unterhaltungen zu berichten, wie du es in Brussa führtest, hat mehr Schattenseiten als Annehmlichkeiten. Ich wenigstens kann mir den Aufenthalt in griechischen Gefängnissen nicht sehr verlockend vorstellen.«

»Das ist wahr. Aber mir den Toten abzuziehen, das, mein ...«

»Also teilen wir uns in den Schaden! Mehr kann ich nicht tun«, unterbrach ihn Mehmed. »Jetzt wollen wir etwas essen. Ich bin hungrig.«

Hinter dem Egrigös Dagh war die Sonne untergegangen. Schwarz und fest umrissen standen die schroffen Zacken des Gebirges in dem rotgoldenen Himmel, ihren Schattenmantel schnell und schweigend über das kahle Hügelland im Osten breitend.


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