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7. Gift

Während Haidar Resched durch die dunklen, verlassenen Straßen Stambuls seiner weit draußen in Ejub liegenden Wohnung, wo er sich vor allen Späheraugen noch am sichersten wußte, zuschritt, ging Psalty die Große Perastraße hinauf. In einer der Seitenstraßen hatte sich ein Spielklub aufgetan, den er hin und wieder besuchte, weniger um zu spielen – denn wo alle falsch spielen, ist meine Kunst weggeworfen, wie er lachend seinen Freunden zu erklären pflegte –, als um alte Bekanntschaften aufzufrischen und neue zu machen.

Die hellerleuchtete, schmutzige Treppe hinaufsteigend, blieb er einen Augenblick in dem dunstigen Vorzimmer stehen und rückte seinen Schlips vor dem blind angelaufenen Spiegel gerade. Dabei legte sich eine Hand auf seine Schulter, deren Besitzer er in dem undeutlichen Spiegelbild nicht erkennen konnte. Sich umwendend, sah er sich Major Baring gegenüber, der eben sagte:

»Gerade der Mann, den wir brauchen. Man kann gar nicht besser tun, als hierher zu kommen.«

»Alloh«, rief Psalty, die Hand des anderen auf seiner Schulter ergreifend. »Alloh! Wie geht es Ihnen? Was machen Sie hier?«

»Ich will Sie meinem Freund, Hauptmann Faringdale, vorstellen. Er brennt darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Sehr erfreut«, antwortete Psalty, dem Vorgestellten die Hand schüttelnd. »Doch wollen wir nicht tiefer in diese anziehenden Gemächer eindringen, wo es etwas weniger wüstenähnlich ist als hier?«

»Ein beachtenswerter Vorschlag«, lachte Baring. »Gehen wir. Vorderhand aber wollen wir die Spieltische zur Seite lassen. Ich glaube, nach rechts hin gibt es ein um diese Zeit ungestörtes Zimmer, das als Oase gedacht ist.«

»Wo die Kamele getränkt werden! He, nicht? Tut das Lea oder Rachel«, suchte der andere Engländer witzig zu bemerken.

»Keine von beiden, mein Lieber. Man sieht, du bist erst frisch importiert. Wir werden dort von einigen schonen Zaristinnen bedient. Alle Fürstinnen und alle wie durch ein Wunder der Tscheka entronnen, wenn es nicht bolschewistische Jüdinnen aus Odessa sind. Wer kann das unterscheiden? Papiere hat hier niemand von diesen Herrschaften, und, na, uns kommen sie ganz gelegen, um diese verlumpte und verrottete Stadt mit einem leichten Firnis zu überziehen, so ein Mittelding zwischen Warschau und Irkutsk.«

»Mußt du aber viel gereist sein, Baring, um das zu wissen«, erwiderte Faringdale. »Mir erscheint das alles noch sehr ungefirnist.«

Damit waren die Männer in das Zimmer gelangt, das Baring vorgeschlagen hatte, und setzten sich in einer Ecke nieder. Als sie ihre Whisky-Soda vor sich stehen hatten, wandte sich Baring an Psalty und sagte:

»Wie steht es? Kommt Miß Valera? Sie hatte es mir versprochen, aber vielleicht haben Sie sie in der Zwischenzeit gesehen.«

»Was heißt Zwischenzeit?« entgegnete Psalty. »Ich war im Pavilion und sah sie im letzten Zwischenakt. Sie sagte mir, sie würde hierherkommen, aber erst spät.«

»Nun, es ist ja auch noch früh am Tage. Kaum ein Uhr. Wissen Sie übrigens, daß wir heute einen besonders guten Fang getan haben?« fragte Baring weiter, sein Glas durstig leerend.

»Wie sollte ich das? Ich hatte anderes zu tun, als die Bureaus nach Neuigkeiten abzugrasen«, antwortete der Grieche, der über den neu Vorgestellten nicht Bescheid wußte und sich daher vorsichtig zurückhielt.

»Ach so. Ist ja richtig. Diese Herren Froschesser haben da, weiß der Teufel wie, die Hand auf einen anatolischen Spion gelegt, von denen sich so viele herumtreiben. Der betreffende Kerl ist uns nun schon signalisiert worden. Beradin oder so ähnlich heißt er, und wir hatten die Beschreibung den lieben Bundesgenossen geliefert. Zufälligerweise sah einer unserer Agenten, wie er bei ihnen eingeliefert wurde, und daher konnten sie nicht anders, als ihn uns mit saurer Miene auszuliefern.«

Die eine der den Bolschewisten entflohenen Prinzessinnen stellte ein neues Glas und eine neue Flasche Soda vor den Major hin. Ihre Blicke streiften dabei Faringdale, der ihr zuwinkte, sein Glas leerte und es ihr hinhielt.

»Noch einen, meine Schönste«, sagte er dabei auf russisch.

»Ich höre. Sofort«, antwortete das Mädchen mit einem verstohlenen Lächeln, das Psaltys Aufmerksamkeit erregte.

»Nicht so laut erzählen, meine Lieben; auch hier sind Spione.«

»Ach, diese russischen Gänse verstehen doch alle kein Wort Englisch. Lassen Sie nur. Hier ist man ganz sicher. Und die Wand hinter uns ist aus Stein und eine Außenmauer. Man belauscht uns nicht. Auch ist es ja ganz gleichgültig. Die Sache kann ruhig in den Zeitungen stehen. Also dieser Beradin, oder wie er heißt, wird uns ausgeliefert und fällt in die Hände meines Freundes Faringdale, der diese Dinge jetzt zu bearbeiten hat, bevor sie vor das Kriegsgericht kommen.«

»Nun! Und was kann ich dabei tun? Der Mann ist doch festgenommen. Verurteilen könnt ihr ihn doch allein, und zum Erschießen habt ihr doch auch genug geübte Leute. Oder soll ich euch welche von der Tscheka besorgen?«

Die anderen lachten.

»Nein, das ist nicht unbedingt nötig«, sagte Faringdale. »Überhaupt ist das mit dem Erschießen jetzt so eine Sache. Wir müssen etwas Rücksicht nehmen. Diese anatolischen Bandenbrüder verstehen keinen Spaß und haben uns das schon mitteilen lassen. Der Gefangene gibt zu, kemalistischer Offizier zu sein. Spionage hat er natürlich nicht getrieben. Gefunden haben wir an ihm nichts. Nun wird er und zwei seiner Kameraden schon seit einiger Zeit von uns gesucht. Wir hatten erfahren, daß sie auch hier fällig waren. Gestern abend sollten sie alle zusammen aufgehoben werden. Man hatte mir telephoniert, daß sie sich in einem Motorboot an der Brücke eingeschifft hätten und den Bosporus hinauf gefahren seien. Ich sandte sofort ein Marinepolizeiboot hinter ihnen her. Man findet die drei mit noch einem vierten in einem Haus am Ufer, dem Palast Fuad Alis, einem halbzerfallenen Gebäude. Als die Wachmannschaft eindringt, schießen diese Spione den Führer, einen Leutnant Reed, nieder und verschwinden in dem dunklen Fuchsbau. Das Haus wird umstellt und bewacht und ist heute stundenlang von oben bis unten durchsucht worden. Man hat alle, die man darin fand, verhört und halbtotgeprügelt, aber das Gesindel will nichts gehört noch gesehen haben. Die drei Gesuchten waren und blieben verschwunden, bis plötzlich die Franzosen den einen heranschleppten. Er wird nun von dem zweiten Leutnant des Wachbootes als der wiedererkannt, der diese Nacht sich der Gefangennahme durch das Niederschießen Reeds entzogen habe. Der Mann behauptet aber, die Nacht in Stambul verbracht zu haben und zeigt auch einen türkischen Polizeianmeldeschein. In dem Haus, das er angibt, bewohnt zu haben, bestätigt man seine Angaben. Wir können also nichts gegen ihn tun, als ihn gefangenhalten. Wir sind aber sicher, daß er Reed erschossen hat.«

»Wenn Sie sicher sind, so erschießen Sie ihn doch. Und wenn Sie nicht sicher sind, so erschießen Sie ihn ebenfalls. Warum plötzlich diese zarte Rücksichtnahme auf Beweise? Das war doch bisher nicht so«, sagte Psalty, Faringdale mit einem lauernden Blick ansehend.

Er wußte sehr wohl, daß es jetzt anders war, und daß der englische Oberkommissar nach langen Verhandlungen mit London Weisungen erteilt hatte, das Erschießen kemalistischer Offiziere und anderer mit der anatolischen Bewegung sympathisierender Leute auf Grund von Urteilen englischer Kriegsgerichte einzustellen. Für Psalty war dies nur ein weiterer Beweis, daß England eine Schwenkung beabsichtigte, sich seiner Sache nicht mehr so unbedingt sicher fühlte. Er erwartete daher irgendeinen Vorschlag seitens Faringdales, irgendeine Bitte, aus der er schon wissen würde, seine Vorteile zu ziehen.

»Verdient hat der Kerl das Erschießen, und erschossen soll er auch werden, aber nicht durch uns. Wir können dies nicht tun«, erklärte der Engländer hastig. »Uns fehlen die Beweise. Der Marineoffizier kann sich in der Dunkelheit, bei dem schwachen Licht einer fast sofort ausgelöschten Petroleumlampe auch getäuscht haben«, fügte er etwas leiser hinzu.

»Und ich soll Ihnen die fehlenden Beweise liefern?« fragte Psalty brutal.

»Liefern ist wohl nicht das richtige Wort, mein lieber Mann«, lenkte Baring ein. »Faringdale ist überzeugt von der Schuld dieses Türken. Auf jeden Fall ist er ein Spion, und als solcher, ob er nun Reed erschossen hat oder nicht, gehört er vor ein Kriegsgericht. Auf Grund der Unterlagen, die wir haben, können wir ihn aber nicht einmal vor ein Kriegsgericht stellen.«

»Ja, soll ich Ihnen dabei helfen? Ich kenne den Mann doch gar nicht!« sagte Psalty, um nach kurzem Innehalten fortzufahren: »Dann müssen Sie ihn eben laufen lassen, fürchte ich.«

»Ausgeschlossen! Als Spion oder als der Spionage verdächtig wird er von uns der griechischen Behörde ausgeliefert und von ihr in Eski Schehir abgeurteilt werden«, erklärte Faringdale.

Bei diesen Worten schoß Psalty ein Gedanke durch den Kopf. Wie, wenn er diese Verhandlungen zur Förderung seiner eigenen Pläne mit Varbetian benutzte? Er brauchte einen Grund, bei ihm Haussuchung zu halten. Zwar würde sich das auch von Smyrna aus haben bewerkstelligen lassen, aber hier schien sich eine Möglichkeit zu bieten, einen besonderen Grund zu finden. Und dann würde die Behörde bei Varbetian die Stellungspläne, und er das Diamantenpaket finden. Die ganze Sache würde viel glaubhafter, viel glatter erscheinen, wenn Varbetian irgendwie in die Verhandlungen gegen den Türken in Eski Schehir verwickelt werden konnte.

Psalty warf Baring einen schnellen Blick zu, mißtrauisch, ob das Ganze nicht vielleicht eine Falle sei, in die man ihn locken wolle, um das Diamantenpaket Varbetians irgendwie ohne seine, Psaltys, Hilfe an sich zu bringen. Doch der Engländer saß ruhig und wie unbeteiligt auf seinem Platz, anscheinend damit beschäftigt, der einen der Prinzessinnen Blicke zuzuwerfen.

»Und was soll ich dabei tun?« fragte Psalty, sich eine Zigarette anzündend.

Es entstand ein Schweigen, da keiner der beiden Engländer antwortete. Endlich sagte Psalty:

»Die Griechen werden den Mann schon verurteilen. Darauf können Sie sich verlassen!«

Baring sah Psalty einen Augenblick an.

»Reed, den der Türke erschossen hat, war ein Verwandter Faringdales«, sagte er kurz.

Faringdale nickte.

»Am liebsten würde ich den Hund selbst erschießen«, murmelte er.

Psalty dachte eine Zeitlang nach. Endlich sagte er bedächtig und den Blick auf sein Glas gerichtet:

»Ich muß den richtigen Namen dieses Türken wissen. Möglicherweise finde ich ihn in Verbindung mit einem anderen türkischen Spion auf einer Liste, in einem Briefe, in irgendeiner Aufstellung. Ich werde sehen, ob tatsächlich etwas Belastendes gegen ihn vorliegt. Das werde ich dem griechischen Kriegsgericht in Eski Schehir dann nicht vorenthalten.« Er sah plötzlich auf und fand den Blick Barings mit einem spöttischen Ausdruck auf sich gerichtet.

»Wird es sehr teuer kommen, diese Nachforschungen zu führen?« fragte der Engländer wie beiläufig, ohne aber, daß der Hohn aus seinen Augen verschwand.

Einen Augenblick zögerte Psalty. »Wie wäre es mit tausend Pfund Sterling?« dachte er. Doch dann zuckte er unmerklich mit den Achseln.

»Teuer? Wieso? Warum teuer? Sollten sich entsprechende Hinweise finden, so stehen sie natürlich dem Kriegsgericht zur Verfügung«, antwortete er, dem andern, der ihm gegenübersaß, voll ins Gesicht sehend.

»Nun, in diesem Lande ist doch nichts umsonst«, bemerkte Baring und griff nach seinem Glase.

»In England auch nicht, noch in Frankreich. Weshalb sollte es hier anders sein?«

Faringdale war diesem kurzen Wortwechsel mit einem Ausdruck des Unverständnisses gefolgt.

Als die andern schwiegen, sagte er:

»Aber es ist doch selbstverständlich, daß etwaige Auslagen ersetzt werden. Alle Unterlagen, die er beschaffen kann, werden bezahlt und die Auslagen erstattet. So ist es üblich. Wo kämen wir hin, wenn wir vom Zufall und vom guten Willen irgendwelcher Unbeteiligten abhängig wären? Wenn Herr Psalty daher Ausgaben hat, soll er sie mir ruhig ausgeben.«

»Auslagen? Wofür Auslagen? Um Beweise herbeizuschaffen, die diesen Türken an die Mauer stellen? Dazu sind keine Auslagen notwendig. Entweder sind sie irgendwo bei den Akten oder nicht. Neues kann ich nicht herbeizaubern.«

Einen Augenblick überlegte Psalty, ob er seine Mitwirkung bei dieser Sache nicht glatt verweigern sollte. Doch Baring schien zu merken, daß er zu weit gegangen war und sagte:

»Davon spricht niemand, lieber Psalty. Es wäre aber vielleicht möglich, daß sich in anderen Verhandlungen gegen andere Leute Belastendes für diesen Türken, dessen genauen Namen wir Ihnen beschaffen werden, findet. Dazu ist immerhin eine gewisse Arbeit des Nachforschens erforderlich. Überstunden und so weiter. Die müssen natürlich liquidiert werden. Und Hauptmann Faringdale wird solche Rechnungen begleichen.«

Baring sprach ohne Hintergedanken, bestrebt, den Eindruck seiner vorigen Worte zu verwischen. Psalty blickte ihm in die Augen und sah darin nichts als gespannte Aufmerksamkeit. Rasch versöhnt entgegnete er daher, seinem ersten Gedankengang wieder Folge gebend:

»Ich werde dafür sorgen, daß man in den betreffenden Akten nach entsprechenden Anhaltspunkten sucht«, sagte er langsam, zu Baring gewendet.

Einen Augenblick zögerte dieser mit seiner Antwort. Dann schien er verstanden zu haben.

»In Smyrna wird sich wohl am ehesten etwas Belastendes finden, in diesem Mittelpunkt der türkischen Spionage«, gab er zur Antwort.

»Wahrscheinlich. Ich muß nur den genauen Namen des Mannes wissen.«

In diesem Augenblick kam Halideh zur Türe herein und ging langsam auf den Tisch zu, an dem Psalty und die Engländer saßen.

»Darf ich Blumen anbieten?« sagte sie leise, aufmerksam von einem zum andern blickend.

»Blumen? Jawohl, mein Kind. Rufe die Prinzessin von dort drüben, die große mit dem schwarzen Haar und den grausamen, grauen Augen. Sie soll sich Blumen wählen«, sagte Baring lachend.

Halideh wandte sich um und machte der Russin ein Zeichen, die langsam näherkam und am Tisch stehenblieb.

»Hier, wählen Sie, bitte. Die schönsten«, sagte Baring und schob ihr den Korb hin.

Während dieser Worte hatte Faringdale sein Notizbuch herausgezogen und ihm ein Blatt Papier entnommen, das er vor sich ausgebreitet hielt.

»Können Sie Türkisch lesen?« fragte er, zu Psalty gewendet.

»Ein wenig. Geben Sie her. Ich werde versuchen, es zu entziffern.«

Faringdale reichte das Blatt Papier über den Tisch, und Psalty legte es vor sich hin. Es enthielt nur ein einziges Wort. Halideh, die neben und etwas rückwärts von Psalty stand, warf einen Blick darauf und sah, daß es den Namen Behaeddin Fewsi Sadeh trug.

»Bei uns wählen die Herren die Blumen für die Damen. Ist das hier anders?« hörte sie die Russin in gebrochenem Englisch sagen.

»Wie es hier ist, weiß ich nicht. Bei uns haben die Damen das Vorrecht. Wählen Sie, schönste Prinzessin. Denn eine Prinzessin sind Sie doch sicherlich«, entgegnete Baring und versuchte, die Hand der Russin zu ergreifen.

»Sicherlich. Aber Sie scheinen kein Prinz zu sein«, antwortete die Russin plötzlich und ging ebenso langsam, wie sie gekommen war, an ihren Platz zurück.

Baring sah ihr verblüfft nach.

»Was in des Teufels Namen ...!« sagte er. Dann griff er nach seinem Glas und stürzte dessen Inhalt hinunter.

»Be–ha–ed–din Fe–u, nein, w–si Sa–deh«, hatte Psalty buchstabiert. »Gut, ich werde mir den Namen merken«, bemerkte er und gab das Papier zurück.

»Und wenn Sie einen auf diesen Namen Bezug habenden Hinweis in Smyrna finden, so verständigen Sie die griechische Behörde in Eski Schehir.«

»Möglicherweise finde ich das Erforderliche schon hier«, antwortete der Grieche. »Es ist das nicht ausgeschlossen. Viele Fäden laufen von hier nach Smyrna.«

In seinem Kopf war blitzschnell der Plan entstanden, Saranti zu bewegen, einen Brief an Varbetian zu schreiben, in dem der Name Behaeddin in irgendeinem Zusammenhang erwähnt wurde. Diesen Brief, der ja ohne Unterschrift bleiben konnte, sollte dann die griechische Zensur in Smyrna öffnen, oder er konnte direkt dem Kriegsgericht zugestellt werden. Auf Grund dieses Briefes würde er dann die geplante Haussuchung abhalten lassen, bei der die Pläne der Stellungen gefunden werden sollten, während er, Psalty, das Päckchen mit den Diamanten an sich nehmen wollte. So würde Varbetian nur um so sicherer ins Gefängnis kommen, wahrscheinlich für immer verschwinden, und Behaeddin des Einverständnisses mit einem türkischen Spion, in dessen Hause kompromittierendes Material gefunden worden war, überführt werden. Auch sein Schicksal war damit besiegelt.

Halideh hatte sich genau die Worte Psaltys gemerkt: »Das Erforderliche würde sich hier finden lassen, hier, in Konstantinopel!«

Dies stand mit Behaeddin in Verbindung. Man suchte also noch nach Belastungstatsachen. Noch war er daher nicht verurteilt. Haidar Resched hatte recht gehabt. Gut, sie würde ihn befreien. Mochte dieser Psalty immer sein Schlechtestes tun. Sie streifte ihn mit einem verächtlichen Blick ihrer grauen Augen, als sie ihren Blumenkorb wieder aufnahm, um weiterzugehen.

»Laß die Blumen hier«, sagte Faringdale, in den Korb greifend. »Dann sind wir vor weiteren Angeboten sicher«, fügte er, zu den anderen gewendet, erklärend hinzu.

»Soll ich die betreffende Nachricht Ihnen zustellen oder nach Eski Schehir senden?« hörte Halideh Psalty zu Faringdale sagen.

»Wann können Sie etwas in der Hand haben?« fragte Faringdale schnell. »Sollten Sie es hier finden, dann bitte ich, es an mich zu senden. Wenn der Mann aber schon nach Eski Schehir gebracht ist, dann besser direkt dorthin.«

»Wann findet die Überführung statt?« fragte Psalty.

»In drei Tagen. Über Brussa. Dort nehmen ihn die Griechen in Empfang. Können Sie mir etwas in drei Tagen beschaffen?«

»Übermorgen werden Sie es haben«, entgegnete Psalty.

Während dieser kurzen Worte hatte Baring den Blumenkorb genommen und die Blumen auf den Tisch gebreitet. Halideh einen Schein in den leeren Korb legend, sagte er:

»So, meine Schöne. Nun kannst du nach Hause gehen. Deine Nachtarbeit ist getan.«

Bei diesen Worten wendete sich Psalty um und erblickte Halideh, die bisher hinter ihm gestanden hatte. Er war so mit seinen Gedanken und seinem Gespräche mit Faringdale beschäftigt gewesen, daß er dem Herantreten einer der vielen Blumenverkäuferinnen an den Tisch keine Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Doch sein gleichgültiger Blick schien sie nicht zu erkennen. Und dann wurde seine Aufmerksamkeit durch das Erscheinen der Valera abgelenkt, die im Türrahmen stand und suchend um sich blickte. Er sprang auf und ging ihr entgegen.

Halideh trat einen Schritt zurück, um ihm den Weg freizugeben. Hinter der Tänzerin erschien Saranti.

Ihren Korb vom Tisch nehmend, verschwand Halideh unbeachtet. Sie trat zu den russischen Damen und wechselte einige Worte mit der, die die Blumen Barings zurückgewiesen hatte. Dann verließ sie das Haus. Am Eingang kauerte ein Junge auf den Steinen des Bürgersteiges. Als sie an ihm vorbeiglitt, unauffällig, mit leisem Schritt, sah er ihr eine kurze Zeit nach. Aufstehend kreuzte er die Straße und ging auf der anderen Seite in gleicher Richtung mit ihr weiter, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Halideh bog in eine Seitengasse ein, durchschritt einen dunklen Torweg, der zu einem schmalen, zwischen hohen Mauern verlaufenden Wege Zugang gab. Auf den holprigen Steinen, mit denen er gepflastert war, mußte sie langsam und vorsichtig ihre Schritte setzen. Der Weg führte eine Zeitlang ziemlich gerade. Dann wandte er sich zur Linken. An der Biegung brannte eine Laterne, die einzige. In ihrem trüben Licht schimmerten die grauen Steine wie Moder und die verstaubten Pflanzen, die zwischen ihnen Wurzeln geschlagen hatten, wie Flecken der Verwesung. Wasser tropfte neben der Laterne aus einer beschädigten Leitung und fiel in regelmäßigem Prall sprühend von Stein zu Stein.

Halideh blieb einen Augenblick stehen und netzte sich die Finger, mit denen sie über die heißen Augen und den ausgetrockneten Mund strich. Weitergehend verschwand sie hinter der Biegung, wo der Weg sich nach rechts öffnete. Links lief die Mauer weiter. Vor Halideh dehnte sich ein Trümmerfeld. Zu ihren Füßen schimmerten die Lichter von Bebek und leuchteten auf den Wassern des Bosporus. Gegenüber hob sich dunkel das asiatische Ufer, umsäumt von einigen wenigen Lichtern in Beylerbeg. Eilig schritt Halideh zwischen den Ruinen weiter, bis sie an einige Stufen kam, die links den Abhang hinaufführten. Hier blieb sie stehen und sah um sich. Sie war ganz allein. Dunkel lagen die zerfallenen Mauern und die Überreste der verbrannten Häuser. Der Wind spielte klappernd mit einigen Blechstücken, die irgendwo am Boden lagen. Halideh stieß einen scharfen, kurzen Pfiff aus. Dann sprang sie, mehr als daß sie ging, die abwärtsführenden Stufen hinab, wandte sich zur Seite und verschwand in einer Maueröffnung, einem Spalt zwischen zerfallenden Quadern, der in einen dachlosen Raum führte. Hier brannte, hinter aufgestellten Ziegeln verborgen, eine Laterne am Boden. Sadik saß auf einem Stein und rauchte. Halideh ließ sich ihm gegenüber am Fuß der Mauer nieder und stellte ihren Korb neben sich.

Keiner von beiden sprach ein Wort. Die Flamme der Laterne brannte still und stetig. Der Wind klagte leise oben in den Ruinen. Plötzlich stand lautlos der Junge, der Halideh gefolgt war, am Eingang des seltsamen Raumes. Sadik sprang auf, ihm zu. Doch eine Handbewegung Halidehs ließ ihn innehalten. Der Junge war unwillkürlich zurückgewichen. Aber Halideh winkte ihm, und er kam zögernd näher, bis er neben ihr stand.

»Setz dich hier zu mir«, flüsterte sie, Sadik ein Zeichen machend, ebenfalls näher zu kommen.

»Dies ist Ibrahim, einer meiner Bekannten«, sagte sie zu Sadik, ihre Hand auf den Arm des Jungen legend. »Er wird morgen früh um elf Uhr hierherkommen und dir eine Nachricht bringen.«

Und zu Ibrahim gewendet, fuhr sie fort:

»Du kennst die große, schwane Dame im Klub, die mit den grauen Augen? Sie wohnt in der Nähe des Tarimplatzes, in der Straße, die an der Apotheke abzweigt, in dem Hause Nummer 17, bei einer Frau Sultan Hanum. Dort gehst du morgen früh hin und sagst, daß du wegen des verwechselten Unterrockes kämst. Vergiß das nicht. Und daß du die russische Hanum sprechen wolltest. Du kämst von der Wäscherei Kufopulos; kannst du dir das merken?«

»Wegen eines Unterrockes, der verwechselt ist, schickt mich die Kufopulos. Das ist leicht.«

»Und das Haus?«

»Ist in der Krummen Straße, so heißt sie, die du meinst, mit der Apotheke an der Ecke beim Tarimplatz. Nummer 17. Ich werde das leicht finden. Und was weiter?«

»Man wird dir einen Brief geben. Ein Blatt Papier. Das wirst du hierherbringen und diesem Effendi geben, der hier auf dich warten wird. Weiter nichts.«

»Es ist gut, Hanum Effendi. Morgen früh bin ich hier. Wenn man mir aber nichts gibt, kein Papier und keine Nachricht?«

»Auch dann mußt du herkommen. Doch man wird dir sicherlich eine Nachricht geben. Es ist ein Befehl.«

»Ah, es ist ein Befehl. Dann allerdings!« sagte Ibrahim befriedigt.

»Und auch für dich ist es ein Befehl, diese Nachricht zu holen und hierherzubringen«, sagte Sadik, sich über Halideh vorbeugend und dem Jungen plötzlich ins Gesicht sehend.

Seine Stimme war tief und stählern.

Erschrocken fuhr der Junge zurück. Halideh legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Habe keine Furcht. Er und ich sind eins. Er spricht mit der Stimme Anatoliens, mit der Stimme, die euch befreien wird.«

Ibrahim führte die Hand an Herz und Mund und Stirn, wie ein Mann.

»Auch ich bin Anatolier. Ich bin aus Konia. Das Haus meines Vaters hat Saranti Effendi genommen. Da ist mein Vater gestorben. Meine Mutter ging zu Fuß. Dann fiel sie hin und blieb liegen. Ich konnte sie nicht begraben. Die Hunde haben sie gefressen, und ich fürchtete mich. Ich lief fort und kam hierher, vor einigen Jahren. Soldaten nahmen mich mit. Grau und groß, aber lustig. Deutsche, die schlechtes Türkisch sprachen. Ich hatte es gut bei ihnen. Aber sie sind fortgegangen, und diese anderen sind gekommen. Sie sind bunt und klein, bis auf diese Engländer, die gelb sind. Aber sie sind nicht lustig, und Türkisch sprechen sie überhaupt nicht. Werden die anderen, diese Deutschen, wiederkommen?«

»Nein. Es gibt nur noch uns Türken. Wir sind allein. Nur wir Anatolier!« antwortete Halideh.

»Ah. Nur wir Anatolier. Das ist gut. Kommt ihr Anatolier bald nach Stambul?«

»Wir sind schon unterwegs. Wir kommen. Doch sei still und sage es keinem.«

»Und werde ich dich dann wiedersehen? Werde ich auch einen schwarzen Kalpak tragen dürfen, wie man sagt, daß ihn der Pascha trägt?«

»Ich werde dir dann einen schenken.«

»Und wo werde ich dich finden, Hanum Effendi?«

»Wenn du morgen die Nachricht bringst, wie es befohlen ist, so wird dieser Effendi hier dir ein Blatt Papier geben. Das mußt du verwahren. Wenn wir Anatolier nach Stambul gekommen sein werden, dann gehe zum anatolischen Wali und gib das Papier ab. Dort wird man dich zu mir führen, und ich werde dir den schwarzen Kalpak geben.«

Ibrahim sah Halideh einen Augenblick ernsthaft und prüfend an.

»Das wirst du tun. Ich glaube dir«, sagte er. »Wir sind Anatolier.«

»Und nun gehe.«

Gehorsam stand der Junge auf. Sadik hielt ihm eine Zigarette hin, die er unter die zerrissenen, schmutzigen Reste seines Fes steckte. Er grüßte und verschwand.

Sadik sah Halideh forschend an.

»Was ist es?« fragte er leise.

»Ich weiß es noch nicht. Doch wichtiges hat sich zugetragen. Haidar Resched hat heute nach dir gesandt. Man hat dich aber nicht gefunden. Ich hoffte, daß du hierherkommen würdest. Es ist gut so. Behaeddin ist gefangen. Die Engländer werden ihn den Griechen ausliefern. Anscheinend kann man ihm aber nichts beweisen. Daher soll dieser Psalty eingreifen und, ich weiß nicht welche, Belege herbeischaffen. In drei Tagen wird Behaeddin nach Brussa gebracht und dort den Griechen übergeben werden, um in Eski Schehir vor ein Kriegsgericht zu kommen. Bis dahin wird auch Psalty seine Beschuldigungen beibringen. Es hat das nichts zu sagen, denn ich werde Behaeddin vorher befreien.« Halideh schwieg, als habe sie alles gesagt.

Sadik stellte keine Fragen, sondern rauchte ruhig vor sich hin.

»Irgendwie steht dieser Psalty mit Saranti in Verbindung. Ebenso die Tänzerin. Die Pläne, die man in deren Wohnung abgezeichnet hat, sind aller Wahrscheinlichkeit nach, nein, fast sicher für diesen Juden bestimmt. Er war dort und sah sie sich an«, fuhr Halideh, wie in einem Nachsatz fort.

»Sah sich was an?« fragte Sadik plötzlich.

»Die Pläne der griechischen Stellungen bei Afiun Karahissar, sagte ich dir das nicht? Mit dem Glas haben Tahssin und ich festgestellt, daß es sich um diese Pläne handelt. Haidar Resched wird dir morgen Nachricht senden, um sie in der Wohnung der Valera zu photographieren. Er hat uns verlassen, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Von morgen mittag an mußt du zu Hause sein. Beschaffe dir alles, was du brauchst. Einen guten Apparat, den besten. Die besten Magnesiumkerzen. Die Bilder müssen sehr gut werden.«

»Das sind Kleinigkeiten. Ich werde mich bereit halten.«

»Die Nachricht nun, die dieser kleine Ibrahim bringen wird, mußt du dem Boten geben, den Haidar Resched zu dir senden wird, mit der Weisung, sie mir sofort zuzustellen. Sie wird russisch sein. Ich habe die Russin gebeten, mir mitzuteilen – Doch warte. Du kannst das sonst nicht verstehen. Also. Ich war im Pavilion, wo ich Ibrahim traf und ihm sagte, er solle heute abend in meiner Nähe bleiben und mir überallhin folgen. Aus Andeutungen der Valera entnahm ich, daß sie später in den Spielklub des Vellisarides gehen wollte. Ich vermutete, daß sie dort Psalty treffen würde. Das traf zu. Er saß mit Baring und einem anderen Engländer, der Faringdale heißt, an einem Tisch. Ich verkaufte Baring Blumen. Psalty erkannte mich nicht, da er mich nur einen Augenblick sah. Aus der Unterhaltung Psaltys und Faringdales hörte ich, was ich über Behaeddin weiß. Daß man von Behaeddin sprach, ergab sich aus einem Blatt Papier, auf dem sein Name in türkisch stand und den Psalty für den Engländer entzifferte, und der mir vor die Augen kam. Dann erschien die Valera, gefolgt von Saranti. Irgend etwas erscheint mir nun da im Werk. Ich bat deshalb dir mir befreundete Russin, die an dem Tisch bediente, darauf zu achten, ob zwischen Psalty und Saranti irgendeine Verabredung getroffen wird. Sie soll mir mitteilen, ob sie etwas erfahren konnte oder nicht, und gegebenenfalls, was abgesprochen wurde.«

»Warum das? Die Hauptsache ist doch, daß wir uns die Pläne beschaffen«, warf Sadik ein.

»Das ist deine Sache, und Haidar Resched wird dir das vorbereiten. Er verfügt über viel Einfluß und ist sehr klug. Ich bin überzeugt, daß wir sie morgen um diese Zeit besitzen werden. Doch in den Beziehungen Psaltys, Sarantis und Barings ist irgend etwas Geheimnisvolles, wenigstens etwas, das ich nicht verstehe. Irgendwie stehen diese Leute mit den Smyrnioten in Verbindung. Und dann diese Belege gegen Behaeddin! Ich habe das Gefühl, daß Psalty sich dazu dieses Saranti bedienen will. Und mein Gefühl täuscht mich nie.«

»Und was willst du tun? Da wir doch selbstverständlich Behaeddin befreien werden, so laß sie doch ihre Pläne schmieden.«

»Nein, Sadik. Nein. Ich muß suchen, das Geheimnis zu lüften, das über diesen Plänen liegt. Weshalb, warum werden sie, und noch dazu mit dem Einverständnis dieser Engländer abgezeichnet und mit türkischer Schrift versehen. Für uns sind sie sicherlich nicht bestimmt. Was hat ein Grieche, der für den griechischen Nachrichtendienst arbeitet, der dort offiziell eine hohe Stellung einnimmt, dieser Psalty, damit zu tun. Sie an uns auszuliefern! Es wäre das ja nicht unmöglich. Doch woher sollen wir das Geld nehmen, ihn zu bezahlen, und welche Sicherheit haben wir, daß die Pläne, die er uns liefert, die richtigen sind? Und dann, alle Interessen dieses Psalty sind eng mit den griechischen Erfolgen verbunden. Wenn die Griechen geschlagen werden, hat er nicht nur ausgespielt, sondern er verliert all die Güter und Werte, die er sich jetzt aus dem Besitztum vertriebener Türken in Smyrna angeeignet hat. Keine Summe, die wir ihm bieten könnten, würde das aufwiegen.«

»Und Saranti?« sagte Sadik.

»Ja, das ist etwas anderes. Da seine Güter in unserer Hand sind, wäre es denkbar, daß er durch die Auslieferung der Pläne Vergünstigungen vom Pascha erhofft. Doch dies ist kaum auch nur als Hypothese anzudeuten. Er ist, wie du weißt, Engländer. Was auch immer geschieht, England können wir nicht besiegen. Können es nicht zwingen, etwas zu tun, das es nicht tun will. Die Griechen können wir besiegen, ins Meer werfen, wenn Allah will. Die Engländer können wir hindern, in Anatolien einzudringen. Aber mehr nicht. Saranti ist daher sicher. Er wird auch im ungünstigen Falle sich Entschädigungen erzwingen können. Welche Veranlassung sollte er haben, uns irgendwie entgegenzukommen? Wenn er es täte, auf Kosten der Griechen, das heißt also auf Kosten Englands, so würde er seine Stellung nur schwächen, Vorteile einbüßen, für die wir ihm nichts bieten können. Ist das nicht so?«

»Ich kann dir nur zustimmen«, sagte Sadik einfach.

»Gut. Was also soll Saranti mit den Plänen zu tun haben? Das ist das Rätsel. Und Psalty will, so sagt mir mein Gefühl, ihn auch dazu benutzen, Behaeddin zu verderben. Das spricht erst recht gegen jede Vermutung, daß Saranti die Pläne haben will, um sie uns auszuliefern, gegen was auch immer für Vorteile. Dies alles macht mich unruhig, und ich muß suchen, mir Gewißheit zu verschaffen.«

»Wie willst du das tun? Ich sehe keinen Weg. Weder Saranti noch Psalty werden es dir verraten.«

»Du hast recht. Ich muß einem glücklichen Zufall vertrauen. Ich muß soviel wie möglich auf dem Wege Sarantis zu finden sein. Der Zufall ist oft, ist immer mächtiger als alles Pläneschmieden. Nur muß man ihn zu nützen wissen.«

»Gut. Vertraue also dem Zufall. Ich bin ganz deiner Meinung.«

»Deshalb habe ich die Russin um Nachricht gebeten.« Damit erhob sich Halideh.

Auch Sadik stand auf. Einen losen Stein aus der zerfallenen Mauer nehmend, hinter dem eine Öffnung sichtbar wurde, schob er die Laterne in die Höhlung und löschte sie aus. Dann stellte er den Stein wieder an seinen Platz.

»Also du sendest mir morgen die Nachricht, die du erhältst. Ich erwarte sie im Laufe des Nachmittags«, sagte Halideh, sich zum Gehen anschickend.

»Du kannst dich darauf verlassen«, antwortete Sadik aus der Dunkelheit.

Ohne ein weiteres Wort verließ Halideh das Versteck in den Ruinen und ging den Weg zurück, den sie gekommen war, während Sadik sich nach Bebek hinab wandte und von dort durch das noch immer lebhafte Treiben der Hafenstraßen dem stillen Stambul und seiner ihm von Haidar Resched besorgten Wohnung zustrebte.

Als Halideh das Haus Isset oghlu Omers erreicht und ihr Zimmer betreten hatte, fand sie auf dem Diwan Tahssin sitzend, der beim Schein der kleinen Lampe einige Papiere las. Bei dem Eintritt Halidehs blickte er auf und begrüßte sie:

»Hier. Das hat Sadik gesandt. Sehr interessant«, sagte er. »Er hat seine Zeit heute gut angewendet.«

»Was ist es? Ich war eben mit ihm zusammen. Er hat mir kein Wort davon gesagt, daß er einen Bericht hierher gegeben habe.«

Tahssin lachte leise.

»Das sieht ihm ähnlich. Er ist mit Worten sparsamer als Bettler mit Goldstücken!«

»Nun, ganz so schlimm ist es nicht, denn er spricht doch immerhin; aber die Goldstücke des Bettlers ...«, entgegnete Halideh, sich neben Tahssin auf den Diwan setzend.

»Allerdings. Hin und wieder spricht er«, bestätigte Tahssin lachend. »Übrigens, hier drüben hat sich heute abend nichts geregt. Hast du etwas erfahren?«

Halideh berichtete kurz, wie sie den Abend verbracht hatte.

»Und nun, was hat dieser stumme Sadik entdeckt?« fragte sie, als sie mit ihrem Bericht zu Ende war.

Tahssin warf einen Blick auf die losen Blätter Papier, die er in der Hand hielt, und reichte sie Halideh hin.

»Diese Nachrichten soll ich an den Pascha gelangen lassen. Sadik hat in Erfahrung gebracht, daß der Großwesir im Rücken unserer Stellungen Anhänger für seine servile Politik den Mächten gegenüber sucht, um der Schattenmacht des Sultans einen Boden zu schaffen. Das ist uns nun ja bekannt. Sadik hat aber jetzt Nachrichten, denen zufolge man beabsichtigt, nachdem schon entsprechende Vorbereitungen getroffen worden sind, von Silleh als Aufstandsmittelpunkt Ostanatolien zu beunruhigen. Silleh soll mit Geld und Waffen versehen werden. Und die Sendboten der Sultansregierung sind schon unterwegs, um die letzte Hand an die Vorbereitungen zu legen. Sie werden mit einem griechischen Schiff nach Samsun befördert und werden dann schon Gelegenheit finden, Silleh zu erreichen. Schwer ist das ja nicht, wenn die nötigen Vorbereitungen getroffen sind. Sadik gibt alle Einzelheiten, und sogar die Namen der vier Beauftragten. Wir brauchen sie also nur in Silleh zu erwarten, um sie dort mit ihren Anhängern gefangenzunehmen. Ich werde diesen Bericht Sadiks noch in dieser Nacht chiffrieren, so daß er morgen nach Ineboli gesandt werden kann. Der Pascha hat ihn dann in drei Tagen, und es bleibt genügend Zeit, alle Vorkehrungen zu treffen, das Zwischenspiel in Silleh zu stören.«

Als Tahssin zu Ende war, schwieg Halideh eine Zeitlang. Endlich sagte sie:

»Ob da dieser Saranti nicht ebenfalls seine Hand im Spiele hat?«

»Das hätte Sadik sicherlich erfahren. Er erwähnt den Mann mit keinem Wort. Du bist einmal auf Saranti eingestellt, und außer ihm scheint niemand mehr für dich zu existieren.«

»Das ist es nicht, Tahssin. Aber gib mir eine Erklärung für die Anfertigung der Pläne und für die Anwesenheit Sarantis in der Wohnung der Valera im Zusammenhang damit«, antwortete Halideh nachdenklich.

»Nein, Halideh. Ich kann dir keine Erklärung geben. Ich halte mich an Tatsachen. Hier haben wir die Pläne. Versichern wir uns ihrer. Hier haben wir Silleh. Und diesen Rückenangriff. Vereiteln wir ihn. Hier haben wir Behaeddin gefangen. Befreien wir ihn. Das sind einfache, klare Ziele. Das sind Tatsachen. Alles übrige ist müßige Spekulation.«

»Müßig? Vielleicht hast du recht. Doch wir sind so von Gefahren umgeben, daß wir jedem Verdacht nachgehen müssen.«

»Darin hast sicherlich du recht. Behalten wir diesen Saranti und den Griechen im Auge. Mit Glück und Aufmerksamkeit werden wir, hoffentlich wenigstens, die Gefahren, die uns von dieser Seite drohen können, vermeiden. Jetzt werde ich schlafen gehen. Willst du die Wohnung der Valera für die nächsten Stunden bewachen? Wecke mich, wenn du müde wirst. Ich habe den ganzen Abend hier ruhig gesessen, und du bist unterwegs gewesen«, sagte Tahssin aufstehend.

»Vorderhand bin ich noch nicht müde. Laß mir diese Berichte. In zwei Stunden werde ich dich wecken, dann kannst du hier chiffrieren, und ich lege mich hin«, antwortete Halideh, die Hand auf die neben ihr liegenden Berichte Sadiks legend.

»Gut. So wecke mich in zwei Stunden.«

Damit verließ Tahssin das Zimmer, um sich in dem anstoßenden Raum niederzulegen.

Halideh vertiefte sich in die Darlegungen Sadiks, die ausführlicher als seine sparsamen Worte waren und jede Einzelheit der beabsichtigten Unternehmung der Sultansregierung, die sich auf die Engländer stützte, und auf Kosten des Landes die Stellung des Herrscherhauses zu sichern suchte, aufzeigten.

Als sie mit Lesen fertig war, faltete sie die Papiere nachdenklich zusammen und legte sie unter den Teppich, der den Diwan bedeckte. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, die sie langsam zu Ende rauchte, hin und wieder einen Blick auf die gegenüberliegende Wohnung der Tänzerin werfend, die dunkel und schweigend dalag. Endlich stand sie auf und klopfte leise an die Wand zwischen ihrem Zimmer und dem Tahssins. Nichts rührte sich. Sie klopfte nochmals, etwas stärker. Mit dem gleichen Erfolg.

»Wenn er nicht die Berichte chiffrieren müßte, würde ich ihn schlafen lassen, so müde bin ich nicht, und die Valera scheint nicht zurückzukommen.« Mit diesen Gedanken öffnete sie ihre Türe und trat auf den Gang hinaus, um in Tahssins Zimmer zu gehen und ihn zu wecken.

Als sie seine Tür öffnete, sah sie auf dem Stuhl neben seinem Bett eine ganz heruntergebrannte Kerze in einem Stearinteich flackern. Der Windzug ließ die Flamme heller brennen. Tahssin lag angezogen auf seinem Bett. Halideh trat zu ihm und berührte leicht seinen Arm, ihn beim Namen rufend. Doch er rührte sich nicht. Das Gesicht der Wand zugekehrt, schien er fest zu schlafen.

Halideh beugte sich über ihn. Das Zimmer war ganz still. Die sterbende Flamme warf seltsame Lichter und Schatten über Wand und Decke. Halideh beugte sich tiefer; von plötzlicher Furcht erfaßt, horchte sie auf die Atemzüge des Liegenden. Sie hörte nichts. Sie berührte ihn mit der Hand. Er war sonderbar starr. Von Schauder erfaßt, drehte sie ihn gewaltsam auf den Rücken. Tahssin war tot.

Halideh hatte die Türe offen gelassen. Mechanisch ging sie zurück und schloß sie leise. Dann griff sie nach einer neuen Kerze, die auf dem kleinen Tische zu Füßen des einfachen Bettes stand, und zündete sie an. Ruhig leuchtete sie Tahssin ins Gesicht. Ruhig hob sie eins seiner Lider in die Höhe. Das Auge war starr, gebrochen, und das Lid blieb stehen, wie sie es gehoben hatte. Den Körper des Toten abfühlend, suchte sie nach einer Wunde, konnte aber keine finden. Sie ließ ihre Blicke im Zimmer herumgehen, das unberührt schien. Alles lag und stand an seinem Platze. Die kleine, braune Handtasche Tahssins, die seine gesamten Habseligkeiten barg, stand geschlossen und unversehrt in einer Ecke. Auf dem Diwan am Fenster lagen einige Zeitungen neben einer leeren Kaffeetasse.

Halideh trat darauf zu und betrachtete die Tasse. Ein plötzliches Mißtrauen, ein Verdacht war in ihr erwacht. Die Tasse aufhebend, roch sie an dem darin befindlichen Rest. Ein leicht süßlicher Geruch kam ihr entgegen.

»Vergiftet«, fuhr es ihr durch den Kopf. »Also steht der Kawedschi, der Kaffeewirt, im Solde ..., doch im Solde von wem? Psalty, die Engländer, Saranti fuhren ihr durch den Kopf. Doch sie verwarf diese Gedanken ebenso schnell, wie sie kamen. Diese Leute würden plumper vorgegangen sein, mit Verhaftung, Erschießen, Erdolchung, mit Ersticken oder irgendeinem handgreiflichen Mord. Hier hat jemand anders gearbeitet. Etwas Asiatisches war geschehen! Der Bericht!! Irgendwie hatte man erfahren, daß Tahssin ihn erhalten hatte, und blitzschnell war gehandelt worden. Morgen, nein, in sehr kurzer Zeit würde die Polizei kommen, das Haus inspizieren, wie das jetzt Sitte war, und die Ausweise nachprüfen, die Berichte finden, alle Papiere beschlagnahmen und den Bericht an sich nehmen. Vielleicht war sie schon unterwegs. Kamen da nicht Schritte die Treppe hinauf? Ging nicht unten die Tür?«

Halideh begriff plötzlich, daß sie schnell, sehr schnell handeln mußte. Sie trat zu dem Toten und suchte nach dem Schlüssel seiner Ledertasche, in der der Chiffrierschlüssel verwahrt lag. Als sie ihn gefunden hatte, öffnete sie schnell die Tasche, der sie das wichtige Papier entnahm. Sonst befanden sich dort nur einige Wäschestücke. Den Koffer schließend, steckte sie den Schlüssel wieder in die Tasche des Toten. Nach einem letzten Blick auf den Kameraden ihrer Arbeit ging sie zur Tür, die Kerze in der Hand, und das Geheimdokument im Innern ihres Kleides verborgen.

Einen Augenblick blieb sie lauschend stehen. Nichts rührte sich. Der brennende Docht in dem Behälter auf dem Stuhl war erloschen. Beherzt öffnete sie endlich die Tür und trat auf den Gang. Nichts war zu hören. Leise schloß sie die Tür hinter sich und ging vorsichtig und ruhig in ihr Zimmer zurück.

Sich auf den Diwan setzend, überlegte sie. Es mußte schnell gehandelt werden. Ihr erster Gedanke war, das Haus zu verlassen. Daran hinderte sie aber die Notwendigkeit, die Wohnung der Tänzerin im Auge zu behalten und die Schwierigkeit, mit Haidar Resched und Sadik in Verbindung zu treten. Nein, sie mußte bleiben. Aber ihre weibliche Kleidung mußte sie ablegen, lautete doch ihr Ausweis auf den Namen Kiamil aus Erzerum.

Daß man Tahssin wegen des Berichtes, den ihm Sadik hatte zukommen lassen, vergiftet hatte, bezweifelte sie keinen Augenblick. Diesen Bericht mußte man bei ihm finden. Wenn man ihn nicht fand, würde man weiter suchen. Fand man ihn, würde man die Nachforschungen einstellen. Hastig zog Halideh die beschriebenen Bogen, die Tahssin das Leben gekostet hatten, hervor und begann mit fliegender Hand auf der Rückseite des Chiffrierschlüssels die Namen und Daten und sonstige Einzelheiten desselben, die sie fürchtete, nicht genau im Gedächtnis behalten zu können, zu vermerken. Als sie nach einigen Minuten damit fertig war, ging sie vorsichtig in das Zimmer Tahssin Beys zurück und schob den Bericht in die Innentasche seiner Jacke, die offen war.

Wieder in ihrem Zimmer angelangt, entledigte sie sich eilig ihrer Frauenkleidung und legte männliche Sachen an. Die anderen rollte sie sorgfältig zusammen und barg sie in dem Korb, der ihr als Gepäckstück diente. Dann faltete sie das Papier des Chiffrierschlüssels, auf dessen Rückseite ihr Auszug aus dem Bericht stand, zu einer schmalen Rolle eng zusammen. Ihre Bettstelle etwas anhebend, schraubte sie geschickt den Knauf an einem der Füße ab und schob die Rolle in das Innere des eisernen Rohres, aus dem das Gestell bestand. Den Knauf wieder anschraubend, brachte sie das Ganze in seine Stellung zurück. An ein Chiffrieren des Berichtes war vorderhand nicht zu denken.

Die Uhr zeigte auf drei. »Sehr lange konnten sie nicht mehr zögern«, dachte sie, in das Licht der Lampe starrend.

Halb ausgekleidet legte sie sich zu Bett, nachdem sie das Licht ausgelöscht hatte. Durch die Spalten der Fensterläden konnte sie die Wohnung der Valera im Auge behalten. Nach und nach fiel sie in einen leichten Halbschlaf, aus dem sie plötzlich Schritte aufschreckten, die den Gang entlang kamen.

»Da sind sie. Jetzt heißt es ruhig sein«, dachte sie. Dabei fiel ihr Blick durch die Läden auf die Fenster der Tänzerin. In dem Schlafzimmer brannte das elektrische Licht. Dies gab Halideh ihre ganze Ruhe wieder. Sie drehte sich zur Seite und wartete.

Doch schon klopfte es an ihre Türe.

»Öffnen Sie. Die Polizei. Die Polizei revidiert die Ausweise«, hörte sie sagen.

Die Stimme eines aus dem Schlaf Geweckten, nachahmend, antwortete sie. Langsam und bedächtig machte sie Licht, zog die Hausschuhe über die bloßen Füße, und knöpfte die Jacke, die sie trug und deren Kragen sie hochschlug, zu. Dann nahm sie ihren Ausweis zur Hand und ging, die Lampe neben der Türe auf einen Stuhl stellend, und öffnete.

Zwei Polizisten und der Torwächter des Hotels standen da und erwarteten sie. Doch sie sah, daß andere schon das Zimmer Tahssins betreten hatten, aus dessen halb geöffneter Tür Licht schimmerte.

»Ich habe richtig vermutet,« dachte sie, dem zunächst stehenden Polizisten den Ausweis hinhaltend, den er mit einer Liste verglich, die er in der Hand hielt.

»Kiamil Bey aus Erzerum«, sagte er, und verglich die Züge Halidehs mit dem Lichtbild des Ausweises. Seiner Liste eine Bemerkung anfügend, gab er den Ausweis zurück.

»Sie sind allein?« fragte er.

»Bitte«, und Halideh öffnete die Tür des Zimmers weiter.

Der Polizist warf einen Blick durch den Raum und bückte sich, um unter das Bett sehen zu können.

»Es ist gut. Die Sache ist erledigt«, sagte er, und trat zurück.

»Ich kann mich also wieder schlafen legen?« erwiderte Halideh fragend.

»Jawohl. Es ist alles in Ordnung.« Der Polizist schien es plötzlich eilig zu haben, sie wieder in ihrem Bett zu wissen.

»Legen Sie sich ruhig hin. Wir bedauern die Störung, doch es ist unsere Pflicht, die Hotels zu revidieren. Bei Ihnen ist alles in Ordnung. Wir werden Sie nicht weiter belästigen.«

Halideh nickte und schloß die Tür, deren Schlüssel sie umdrehte. Sie löschte die Lampe und nahm den Feldstecher, um einen Blick in das Schlafzimmer der Valera zu tun.

Nur mit einem Nachthemd bekleidet, stand die Tänzerin vor dem Spiegel und flocht sich die Haare, die ihr lang und schwarz bis tief in den Rücken fielen. Auf dem Bettrand saß Baring, halb angezogen. Neben ihm auf einem Stuhl standen Gläser und Flaschen.

Baring rauchte, und nach dem Gebärdenspiel der beiden zu urteilen, schienen sie sich angelegentlich zu unterhalten.

»Heute nacht geschieht nichts mit den Plänen«, sagte sich Halideh, den Feldstecher weglegend. »Ich kann ruhig die Entwicklung der Dinge hier abwarten.«

Sie setzte sich auf den Diwan, nahe der Wand, die an das Zimmer Tahssins stieß. Dort ging man hin und her. Dann hörte sie, wie jemand den Gang hinunterschritt. Nach einiger Zeit bog ein Wagen in die Seitenstraße ein und hielt vor dem Eingang des Absteigehauses. Kurz darauf wurde etwas Schweres den Gang entlang und die Treppe hinab getragen.

»Das Letzte, was ich je von Tahssin hören werde. Dort tragen sie seinen Körper fort. Wohin, wird niemand erfahren.« Sie trat ans Fenster und spähte durch die Spalten des Ladens in das fahle, graue Dämmerlicht des Morgens, das schmutzig und kalt in der Tiefe der Gasse lag.

Doch sie konnte nichts als undeutliche Bewegungen erkennen. Dann wendete der Wagen und fuhr davon.

Halideh lauschte noch einige Zeit. Nichts rührte sich. Das ganze Haus lag still und schweigend, wie von einer unbestimmten Furcht erfüllt, von einer Ahnung des lautlosen Todes, der es heimgesucht hatte.

Nach einiger Zeit ließ die Spannung der Aufmerksamkeit nach, mit der Halideh auf jedes Geräusch geachtet hatte. Aufatmend erhob sie sich. Das Licht im Schlafzimmer der Valera war erloschen. Mit kalten und unbarmherzigen Fingern rührte das Morgengrauen an die Umrisse der Dinge, und bald würde die Sonne aufgehen. Bald würde das Leben eines neuen Tages erwachen, neuer Haß.

Halideh zuckte die Achseln. Die Sonne kam aus Osten, aus Anatolien, dem Lande des Sonnenaufganges. Tahssin war tot, gefallen, als habe ihn eine Kugel niedergestreckt, eine Granate zerrissen. Ein Opfer mehr, das gerächt werden mußte. Ein Samenkorn mehr, das, in die Furchen der neuen Zeit gelegt, einer neuen Ernte entgegenschlummerte. Halideh blieb einen Augenblick im Zimmer stehen, die grauen Augen weit geöffnet, als verfolge sie in einer Vision ihre Gedanken, die sich unwillkürlich mit dem Schicksal ihres Kameraden beschäftigten.

Dann beugte sie sich mit entschlossener Bewegung zur Erde. »Noch ehe deine Glieder steif werden und dein Antlitz grau, soll die Rache ihre Arbeit beginnen. Der Pascha wird sie sicherlich vollziehen«, murmelte sie und nahm den Bericht aus seinem Versteck.

Die Lampe wieder anzündend, machte sie sich an die Arbeit und chiffrierte die Angaben, die Tahssin das Leben gekostet hatten, und führte kurz und klar die Tatsachen an, die sich soeben um sie abgespielt hatten.

Als sie fertig war, stand schon die Sonne am Himmel, und die Lampe brannte als gelber, schmutziger Fleck in ihren Strahlen. Halideh löschte sie, legte die fertigen Nachrichten auf den Tisch zwischen einige Zeitungen und streckte sich auf ihrem Bett aus. Sie fiel fast sofort in tiefen Schlaf.

Ein Klopfen an der Tür weckte sie. Verwirrt sprang sie auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es schon drei Stunden nach Mittag war. Als sie die Tür öffnete, trat ihr Haidar Resched entgegen. Sein Gesicht war undurchdringlicher als sonst. Er begrüßte sie stumm und setzte sich auf den Diwan, an dieselbe Stelle, die er am Abend vorher eingenommen hatte.

Halideh war ihm gefolgt und nahm neben ihm Platz. Sie stellte keine Fragen. Sie begann keine Erklärungen. Sie wartete.

Endlich griff Haidar in das Innere seines Rockes und reichte ihr ein Blatt Papier. Halideh entfaltete es langsam und las es durch. Es war die Mitteilung, um die sie die Russin im Klub gebeten hatte, und die Ibrahim Sadik bringen sollte. Sie war länger, als Halideh erwartete, und brachte ihr Nachricht, daß Psalty und die Valera am Abend um neun Uhr sich mit Saranti und dessen Frau im Kasino zu Beikos treffen und dort zusammen zu Abend essen würden. Saranti würde sein eigenes Motorboot benutzen, während die beiden anderen mit dem Verkehrsdampfer, der die Brücke um sieben Uhr verließ, kommen würden. Die Rückfahrt sollte dann gemeinsam mit Sarantis Boot erfolgen.

Halideh übersetzte die russischen Worte, und aufstehend verbrannte sie das Papier in einem Aschenbecher.

»Gut. Hierüber wollen wir nachher sprechen«, antwortete Haidar. »Auf jeden Fall begünstigt dies das Vorhaben Sadiks in hervorragender Weise. Er wird um neun Uhr die Tür der Wohnung der Tänzerin offen finden. Ich habe ihn heute nachmittag selbst aufgesucht und hörte von ihm über den neuen Anschlag, den die verkauften Verräter der Regierung des Sultans ins Werk setzen. Hat Tahssin den Bericht erhalten?«

Halideh sah Haidar Resched einen Augenblick an. Einen Augenblick zögerte sie mit der Antwort. Dann sagte sie, ihren Platz neben ihrem Besucher wieder einnehmend:

»Er hat ihn erhalten. Und er hat ihn mit seinem Leben bezahlt.«

Haidar Resched machte keine Bewegung. Kaum, daß die Perlen des Tespich, das er in den Händen hielt, schneller durch seine Finger glitten. Endlich sagte er, leise, wie zu sich selbst:

»Ich fürchtete das.« Lauter fügte er hinzu: »Deshalb bin ich selbst gekommen. Sadik hatte den Bericht von einem unserer Vertrauten im Ministerium des Auswärtigen erhalten und hat ihn gestern abgeschrieben. Durch einen Zufall forderte man das Original, als es in Sadiks Händen war. Unser Vertrauensmann konnte es sich zwar noch rechtzeitig verschaffen, doch beim Abschreiben war ein Abdruck des Namens und der Anschrift Tahssins auf einem Blatt Papier des Originals haften geblieben. Man forschte nach. Die Tatsachen wurden mir heute morgen mitgeteilt. Ich eilte zu Sadik und von ihm hierher. Zu spät. Wie ich fürchtete. Diese Regierung hat die Skrupellosigkeit von den Engländern gelernt, deren Sklave sie ist. Und sie arbeitet schnell, als gelte es ihr Leben. Und ohne Zweifel, es geht um ihr Leben und um den Bestand Jahrhunderte alter Einrichtungen. Von Einrichtungen, die seit Jahrhunderten veraltet sind und nicht sterben können, weil niemand da ist, der ihnen das Grab zu graben den Mut hat. Wird der Pascha diesen Mut finden?«

»Sein Wille ist im Willen des Volkes beschlossen. Was das Beste ist für das Volk, das wird er ausführen«, antwortete Halideh mit Nachdruck.

»Auch ich habe dieses Gefühl«, entgegnete Haidar Resched, Halideh mit seltsam forschendem Ausdruck ansehend. »Doch wo ist dieser Bericht jetzt?«

Halideh berichtete, was sie getan hatte, als sie entdeckte, daß Tahssin vergiftet worden sei.

»Die für den Pascha bestimmte Darlegung ist fertig chiffriert«, schloß sie. »Ich gebe sie dir. Sie muß so schnell wie möglich nach Ineboli gelangen und von dort telegraphisch übermittelt werden. Sie trägt meine Unterschrift und eine Erklärung des Geschehenen.« Damit reichte sie Haidar Resched die Blätter, die er zählte und zu sich steckte.

»Du hast hervorragende Umsicht bewiesen. Nicht an mir ist es, dir das zu sagen. Doch gestatte, daß ich meiner Bewunderung Ausdruck gebe.«

»Nicht mir darfst du danken. Der Wille des Pascha selbst, sein Wille, der in einer höheren Macht, in einer mir unbekannten Macht beschlossen ist, sein Wille stählt mich. Er dient Anatolien, und ich diene Anatolien durch ihn.«

Haidar Resched sah auf. ›Hatte der Derwisch nicht Ähnliches gesagt? Einer höheren Macht! Ihm aber war sie nicht unbekannt erschienen. Der Fürst des Geistes!‹ Haidar schwieg eine Weile, in Gedanken versunken. Endlich raffte er sich auf.

»Gut, ich werde dafür sorgen, daß diese Blätter noch morgen früh nach Ineboli auf den Weg kommen. Und was hast du gestern erfahren?«

»Übermorgen wird Behaeddin nach Brussa überführt werden. Übermorgen muß ich daher Stambul verlassen. Ich werde die Bilder, die Sadik heute nacht von den Plänen nehmen wird, selbst nach Anatolien bringen und sie dem Pascha übergeben. Ich will die Negative haben, damit wir sofort Abzüge und Vergrößerungen anfertigen lassen können. Vorher aber will ich noch suchen, zu erfahren, in welcher Verbindung Saranti mit diesen Plänen steht. Daher werde ich heute abend nach Bejkos gehen.«

Halideh hatte leise, aber bestimmt gesprochen, wie jemand, dessen Entschluß unabänderlich ist.

»Und was erwartest du dort zu erfahren? Wie willst du etwas erfahren?« fragte Haidar Resched.

»Vielleicht erfahre ich nichts. Der Zufall muß mich leiten. Dem Zufall aber muß ich wenigstens die Hand bieten.«

Von neuem war Haidar Resched über die Ähnlichkeit zwischen den knappen Worten Halidehs und den Ausführungen Halids, des Derwisches, erstaunt. Sollte es Zufall sein, daß sie den gleichen Namen trugen? Oder hatte der gleiche Name etwas mit den gleichen Anschauungen und Gedanken zu tun, die sie beide an den Tag legten?

»Wie kommt es, daß du so auf den Zufall baust?« fragte Haidar. »Du, die doch so mit Vorbedacht und Entschlossenheit handelt! Was nennst du Zufall?«

»Ich bin nicht gelehrt, Haidar Bey Effendi. Ich handle, wie ich muß. Ich nenne es Zufall, wenn ich die Möglichkeit sehe, zu handeln. Vielleicht, daß man in der Sprache der Gelehrten es anders bezeichnet. Aber um zu handeln, müssen die Umstände vorhanden sein; günstige oder ungünstige Umstände sind nur Worte. Eine möglichst große Vielfältigkeit der Umstände muß vorhanden sein, damit man wägen, wählen, handeln kann. Und das ist, was notwendig ist, was ich Zufall nenne.«

Halideh sprach einfach, ungekünstelt.

»Den Umständen also legst du alles Gewicht bei. Was aber sind Umstände?« fragte Haidar von neuem, begierig zu hören, ob sich noch weitere Ähnlichkeiten mit Halids Gedankengängen zeigen würden.

»Das geht mich nichts an. Wie soll ich dir sagen, was Umstände sind. Du weißt das besser als ich. Du hast die gelehrten Bücher studiert. Du kennst die Philosophien Europas. Ich bin in all diesen Dingen unwissend. So erlaube, daß ich handle, während du denkst. Vielleicht, daß deine Gedanken mein Handeln tragen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich heute abend in Bejkos sein muß.«

»Vielleicht trägt dein Handeln mein Denken«, erwiderte Haidar Resched nachdenklich. »Es gibt Wechselwirkungen, die verborgen sind, und von denen wir nichts wissen. Doch ich will deinem Handeln helfen. Ich will die Umstände, die dir zu Gebote stehen werden, vermehren. Du sollst das schnellste und schönste Motorboot haben, das noch in unserem Besitz ist. Es gehört meinem Freunde Memduch Bey. Und du sollst eine Gesellschaft bei dir haben, die dir unbedingt ergeben ist. Ich werde dir meine Tochter und meine Nichte mitgeben, meine Tochter Senije und meine Nichte Nasiheh. Dazu drei meiner Freunde, junge Leute, die gern einen solchen Ausflug mitmachen, und die dir auf das Wort gehorchen werden. Ich werde dafür sorgen, daß du im Boot selbst ein vollständiges Kleid findest. Meine Tochter soll das alles mitbringen.«

Halideh hatte ihm ohne eine Bewegung zugehört. Als er schwieg, saß sie eine Zeitlang in Nachdenken versunken.

»Wer sind die jungen Leute, die uns begleiten sollen?« fragte sie plötzlich.

»Ich muß sie erst suchen. Ich denke an zwei meiner Neffen, Brüder von Nasiheh, Bedri und Kemaleddin. Den Dritten werde ich schon finden. Auch ich will mich dem Zufall anvertrauen«, und Haidar Resched lächelte leicht.

»Es ist gut. Ich nehme deinen Vorschlag an. Laß das Boot um acht Uhr an der Brücke bereitliegen, damit wir acht Uhr zehn abfahren können. Ich werde nicht mehr hierher zurückkehren, sondern mich zu Sadik begeben und morgen, spätestens übermorgen mit den Plänen nach Brussa gehen, um Behaeddin zu befreien. Tahssin fehlt mir sehr. Ich hatte auf ihn gerechnet. Sadik sollte hierbleiben. Ein Grund mehr, Behaeddin so schnell wie möglich zu befreien. Wenn du veranlassen kannst, daß man ihm von meinem Vorhaben Kenntnis gibt, und besonders, wenn es möglich wäre, mir in Brussa mitzuteilen, an welchem Tage man ihn weitertransportiert, nach Eski Schehir, und auf welcher Straße, so würde das meine Aufgabe sehr erleichtern. Es ist nicht unbedingt erforderlich, denn ich kann das alles auch selbst in Brussa erfahren. Doch ich habe wenig Zeit ...«

»Alle diese Angaben wirst du erhalten. Wohin soll man sie dir mitteilen?«

Haidar Resched, der bisher als Beschützer und Helfer Halidehs, als der Ältere und Einflußreichere nicht daran gedacht hatte, Weisungen von ihr entgegenzunehmen, empfand den Wechsel in der Ausdrucksweise des Mädchens wie eine Bestätigung der Worte des Derwisches, daß der Erfolg mit ihr sein werde. Trotzdem Halideh kurz und bestimmt gesprochen hatte, sie, die bisher mit ehrerbietiger Zurückhaltung seinen Worten gefolgt war, fühlte er sich nicht verletzt. Eine neue Halideh saß vor ihm, überlegen, zielsicher, handlungsbereit. Und er dachte an die seltsamen Bilder, die Halid ihm in dem dunklen Stein gezeigt hatte, die Zukunft Halidehs. Sicherlich, sie würde Erfolg haben. Er vertraute ihr.

»Es sei, wie du sagst. Um acht Uhr wird das Boot bereitliegen. Meine Tochter wird dich erwarten. Das Boot heißt Latifeh. Es ist weiß, mit roten Verzierungen. Du wirst es leicht erkennen.«

»Ich danke dir für deine Hilfe«, antwortete Halideh, als Haidar Resched aufstand. »Vermittle die Nachrichten, die ich brauche, unserem Vertrauensmann in Brussa. Dort werde ich nach ihnen fragen oder fragen lassen. Und für heute abend ...« Sie neigte leicht den Kopf. »Du bist gütig, sehr gütig. Ich werde um acht Uhr an der Brücke sein. Und den Bericht habe ich dir gegeben!«

»Morgen ist er nach Ineboli unterwegs. Ich verspreche es dir. Und jetzt werde ich die Sache mit dem Boote in Ordnung bringen. Geld für Bejkos wird meine Tochter bei sich haben. Sadik wird heute abend die Pläne photographieren. Du bist frei, für Behaeddin zu arbeiten.«

»Ja, ich bin frei. Und ich werde ihn befreien«, antwortete Halideh, Haidar Resched zur Tür geleitend.

Als er das Zimmer verlassen hatte, ging Halideh gewohnheitsmäßig ans Fenster und spähte mit dem Glas in die Zimmer der Tänzerin. Sie lagen leer und verlassen.


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