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8. Auf dem Bosporus

Dort, wo der Bosporus bei Büjükdere und Therapia zum See sich weitet, erhebt sich auf der Nordseite ein bewaldeter Hügel. Seine Hänge sind zum Park ausgestaltet, und durch die hohen Bäume führen breite, bequeme Wege. Auf der Spitze des Hügels steht inmitten einer von breitästigen Platanen und Eichen beschatteten Terrasse ein weißes, schloßartiges Gebäude, das Kasino von Bejkos.

Gegenüber, auf der europäischen Seite, oberhalb und hinter Büjükdere liegt Jildis-Kiosk, das Schloß, in dem Sultan Abdul Hamid fast sein ganzes Leben verbrachte. Dort soll er einen Armenier, der ihm eine besonders schöne Sklavin gebracht hatte, zu einem Fenster seiner Gemächer geführt haben.

»Soweit dein Auge reicht,« soll der Sultan gesagt haben, »sei der Wald, den du dort siehst, dein.«

Damit verschenkte er Bejkos, den einzigen großen Wald an den Usern des Bosporus. Und das Auge des Armeniers reichte weit.

Breit, und im Lichte des sternenbesäten Abendhimmels glänzend, lag die Wasserfläche zwischen Bejkos und Jildis-Kiosk, dem Sternenpalast. Einzelne Lichter umsäumten die Ufer wie Perlen, und die Gärten und Parkanlagen der Schlösser, die sich bis an den Rand des Wassers erstrecken, bildeten samtne Schatten unter dem Dunkelblau des Himmels.

An einem der weit auseinander gestellten Tische auf der Kasinoterrasse saßen die Sarantis mit Psalty und Ines Valera. Die Tänzerin und der Grieche waren erst vor wenigen Augenblicken gekommen, während sein Boot den Grundbesitzer und Bankier schon vor einer reichlichen Viertelstunde am Landungssteg des Kasinos abgesetzt hatte. So erschien das Zusammentreffen durchaus zufällig, und keinem der übrigen Gäste, fast durchgängig Engländer mit ein, zwei französischen Tischen, konnte es in den Sinn kommen, daß andere als zufällige Gründe die Gäste des etwas abseits stehenden Tisches zusammengeführt hatten.

Langsam stieg der Mond hinter den dunklen Hügeln der asiatischen Seite in die Höhe und überstrahlte das märchenhafte Bild mit seinem seidigen Glanz.

Doch am Tisch Sarantis hatte man keine Augen für landschaftliche Schönheiten. Einige kleine Päckchen lagen zwischen den Tellern der Vorgerichte. Die Juwelen, die Psalty als Preis der Lichtbilder der Pläne verlangt hatte. Aber die schlaue Heimtücke der Frau Saranti war an der noch heimtückischeren Schläue des Griechen zuschanden geworden. Das Bild Sarantis mit dem Hintergrund des Gesamtplans der griechischen Stellungen bei Karahissar würde die tiefste Abneigung jedes englischen Kriegsgerichtes hervorgerufen haben. Nur zog es Saranti vor, diese Abneigung nicht auf die Probe zu stellen.

»Sobald ich hinsichtlich des Wertes der Steine Sicherheit habe, steht Ihnen das Bild, Platte und Abzüge zur Verfügung«, hatte Psalty lächelnd erklärt, als er vor einigen Tagen Saranti an der Tür der Wohnung der Tänzerin verabschiedete.

Seufzend hatte Frau Simone ihren schönen Plan vereitelt gesehen. Aber der Grieche war durch seine Vorsicht nur in ihrer Achtung gestiegen.

»Laß, laß«, hatte sie zu ihrem würdigen Gatten gesagt. »Der Mann ist klug. Wer hätte denken können, daß er uns durchschaut. Die Pläne werden sicher die richtigen sein.«

»Das unbedingt, denn ich kenne die Unterschriften, aber es wäre doch schön gewesen ...«

Jetzt lag ein Abzug des Bildes unschuldig auf der weißen Tischdecke, abwechselnd von Herrn und Frau Saranti zur Hand genommen.

Ein teures Bild!

Psalty hatte darauf bestanden, daß die Valera bei der Übernahme der Steine zugegen sei, hätte sie doch seit Jahren sich mit der Abschätzung von Diamanten eingehend und hingebungsvoll beschäftigt. Es würde schwer gewesen sein, ihr auch nur einen fehlerhaften, geschweige denn einen falschen Stein für vollwertig zu übergeben. Und wenn das Licht auf der Terrasse des Kasinos von Bejkos auch nicht besonders gut war, so war kein Zweifel, daß das Geschäft kleine Abweichungen vertrug.

Langsam und sorgfältig prüfte die Valera ein Schmuckstück nach dem andern, indem sie es anlegte und von allen Seiten betrachtete, um es dann nach dem Nennen einer Zahl, die den Wert, zu dem sie es abschätze, ergab, wieder einzupacken und zur Seite zwischen sich und Psalty zu legen.

Am Anfang hatte Frau Saranti gegen ihre Abschätzungen Einspruch erhoben und höhere Ziffern genannt.

Die Tänzerin war aber auf keine Diskussion eingegangen, sondern hatte das betreffende Schmuckstück einfach auf die Seite gelegt:

»Dann bedaure ich, mich geirrt zu haben«, hatte sie mit dem liebenswürdigsten Lächeln geantwortet und Psalty angewiesen, die betreffende, von ihr genannte Zahl wieder zu streichen. Da ihre Schätzungen aber immerhin nichts Erpresserisches hatten, sondern nur mit den Wertbegriffen Frau Simones nicht ganz im Einklang standen, hatte der Bankier die Einwürfe seiner Frau mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht.

Ganz in ihre Beschäftigung vertieft, war es den Beteiligten entgangen, daß ein schnelles Boot die silberne Wasserfläche zu Füßen des Berges teilte und aus der Richtung von Therapia näher kam. Das Boot Memduchs, des Freundes Haidar Rescheds. Halideh war am europäischen Ufer entlang gefahren, bis nach Therapia, denn sie wollte vermeiden, direkt nach Bejkos zu steuern, um nicht aufzufallen. Oberhalb Therapias lagen eine Menge, englischer Kriegsschiffe, und niemand würde ein von dorther kommendes Motorboot besonders beachten.

Sie hatte sich in der Kajüte umgezogen und ein seidenglänzendes türkisches Kleid Senijes, der Tochter Haidar Rescheds, angelegt, dessen braune Grundfarbe durch breite, farbige Streifen an den Ärmeln und den Enden des Überwurfes belebt wurde. Senije selbst, im gleichen Alter wie Halideh, war ganz in helles Grau gekleidet und trug nur eine große goldene, mit farbigen Steinen besetzte Brosche an der Brust. Die junge Nasiheh dagegen bildete ein farbenprächtiges Bild in einem roten, steifen, arabischen Mantel aus Seide, der dicht mit goldenen Fäden durchwirkt war und an den offenen Rändern, an den weiten fliegenden Ärmeln und am Saum große Stickereien in Blau und Schwarz zeigte. Unter diesem weiten, vorn offen herabfallenden Gewande trug sie ein weißseidenes Kleid, dessen Kopfüberwurf, der die Haare zusammenhielt, hinten aufgerafft in einem glänzenden Schleier ihr über den Rücken fiel. Die drei jungen Leute, in europäischem Abendanzug, dem die roten Tarabuschs, die sie trugen, einen farbigen Abschluß gaben, begleiteten die Mädchen. Zwei, die beiden Brüder Nasihehs, Bedri und Kemaleddin, waren etwa im gleichen Alter wie Halideh und Senije, während der dritte, Asmi, einige Jahre älter war und eine Schwester Senijes geheiratet hatte.

Während der Fahrt hatte Halideh ihren Plan gemacht. Die drei Mann der Besatzung waren Türken und hatten Auftrag, ihr in allem zu gehorchen. Sie ließ eine lange Leine bereitlegen, deren eines Ende mit einer Schlinge versehen wurde. Am anderen Ende ließ sie einige Meter dünnes Drahtseil einflechten, an das ein breites Stück Eisen befestigt wurde.

Dann hatte sie sich in die Kabine gesetzt und durch die in den Maschinenraum führende Tür angelegentlich und leise mit dem Führer des Bootes gesprochen.

Als sie zum Hinterdeck zurückkam, fragte Senije lachend, ob sie Auftrag gegeben habe, Fische zu fangen.

»Sicherlich. Sogar recht große«, antwortete Halideh, sich zwischen die Mädchen setzend. »Doch ihr wißt ja, daß wir auf einem Kriegszuge sind. Macht euch also auf Überraschungen gefaßt.«

»Welche? Was für Überraschungen? Wann werden sie kommen?« bestürmte man sie.

»Wenn ich das wüßte, würden es keine Überraschungen mehr sein, das ist doch klar«, wehrte sie lachend ab. »Faßt euch in Geduld. Vielleicht besteht die Überraschung darin, daß nichts geschieht, und wir friedlich und still wieder die Brücke erreichen.«

»Das wäre schade. Irgendein Abenteuer möchte ich schon erleben«, sagte Nasiheh, sich in ihren roten, seidenen Umhang hüllend.

Als das Boot sich Bejkos näherte, ging Halideh nach vorn und suchte die Fahrzeuge zu erkennen, die an dem kleinen Landungskai des Kasinos lagen. Außer verschiedenen grauen Barkassen irgendwelcher der fremden Kriegsschiffe, die zum Schutz der fremden Besatzungstruppen überall am Bosporus ankerten, konnte Halideh nur ein kleines, weißes Motorboot erkennen, das das Sarantis sein mußte.

»Dort, das weiße muß es sein. Lege dich daneben«, sagte sie zu dem Führer ihres Bootes, der schweigend zustimmte.

»Und dann erkundige dich erst, ob es das richtige ist«, fügte sie an.

»Ich kenne es. Ich kenne alle Boote hier«, antwortete der Mann, das Steuer umlegend.

Halideh ging an ihren Platz zurück, und langsam glitt ihr Fahrzeug neben das andere an den Kai.

Die kleine Gesellschaft stieg aus. Vielleicht zwanzig, dreißig Meter trennten die Landungsstelle von dem Parkeingang, wo eine elektrische Lampe glühte. Lachend drängten die jungen Leute vorwärts, während Halideh mit Senije und Asmi folgten. Über die breiten, im Dunkeln liegenden Wege zur Terrasse hinaufsteigend, betraten sie den hellerleuchteten Platz unter den Bäumen. Aufmerksamen Auges überflog Halideh die besetzten Tische, bis sie Saranti und seine Gäste am anderen Ende der Terrasse entdeckt hatte. Sie gab Asmi ein Zeichen, dort in der Nähe des Bankiers einen Tisch decken zu lassen.

Während die Kellner das Erforderliche ausführten, ging sie mit den beiden anderen Mädchen langsam an der Laubbrüstung der Terrasse, die im Schatten der Bogenlampen lag, entlang, gefolgt von den bewundernden Blicken der fremden Gäste, unter denen Halideh und ihre Begleiter die einzigen Türken schienen. Zu ihren Füßen leuchtete das Meer. Das Rauschen des Waldes, der, zum Ufer abfallend, die Hügelseite bedeckte, brachte leises Leben in die stille Landschaft.

Ein hellerleuchteter Dampfer zog nahe der europäischen Seite wie ein glänzendes Juwel der hinter den Windungen des hügeligen Bosporusufers verborgenen Stadt zu.

Als der Tisch fertig gedeckt war, wählte Halideh ihren Platz so, daß sie, an einer Ecke sitzend, die Gesellschaft Sarantis übersehen konnte. Ihr gegenüber saß Senije, und zwischen ihnen, an der schmalen Seite des Tisches, Asmi. Zwischen dem Tisch Sarantis und dem Halidehs stand ein Baum, hinter dessen Stamm sie im Zurücklehnen sich den Blicken Sarantis entziehen konnte. Psalty kehrte ihr den Rücken zu, und die Valera saß in gleicher Linie mit ihr, Frau Simone gegenüber.

Die jungen Leute um Halideh unterhielten sich lebhaft auf türkisch. Für sie war der Ausflug nichts Alltägliches, und ohne die Gründe zu verstehen, die ihren Vater und Oheim dazu bewogen hatten, ihnen diese Abendunterhaltung zu gestatten, fühlten sie unbestimmt, daß es um Halidehs willen geschehen sei. Ihre natürliche jugendliche Ungezwungenheit wurde durch die Rücksichtnahme auf den Gast gebunden und gleichzeitig durch das für sie Geheimnisvolle des Ganzen in erwartungsvoller Spannung gehalten.

Am Tische Sarantis war die Arbeit des Abschätzens der Schmucksachen, die Psalty für die Pläne erhalten sollte, beendet. In einige kleine Pakete verpackt lagen sie neben dem Platz des Griechen, der hin und wieder die Hand darauf legte, wie um sich ihres Vorhandenseins zu vergewissern. Saranti hatte die Pläne samt dem gefährlichen Bild in die Tasche gesteckt und schien befriedigt. Die Valera rauchte und warf nur hin und wieder ein Wort in die griechisch geführte Unterhaltung. Frau Simone saß schweigend auf ihrem Stuhl. Die Hingabe so vieler Juwelen, von denen sie nur noch die Nachahmungen besaß, stimmte sie mehr als traurig.

Halideh konnte von der am Tische Sarantis geführten Unterhaltung nur hin und wieder einige Worte hören, einen abgerissenen Satz verstehen. Sie war davon nicht weiter enttäuscht, denn sie hatte nicht darauf gerechnet, daß Psalty im Kasino von Bejkos Gespräche führen würde, deren Inhalt von Interesse für sie sein könne. Trotzdem behielt sie die vier Personen unauffällig im Auge, ohne doch sich aus den Gesprächen mit ihren Freunden am eigenen Tische zurückzuziehen.

Das Vorhandensein der kleinen Pakete, sie zählte drei Stück neben dem Platz Psaltys, war ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, was sie enthalten mochten, und grub nur die Tatsache, das Bild und die Form der Päckchen in ihr Gedächtnis. Zwischen dem eigenen Gespräche hörte sie, wie die Valera auflachte und sagte:

»Das wird sehr schön werden.«

Das Weitere entging ihr. Später sagte die Stimme der Frau Simone:

»Ein verläßlicher Mann. Ich habe ihn gern.«

Aus der offenen Vorhalle des Kasinos kam jetzt Musik. Schmelzende amerikanische Twosteps, süßliche englische Walzer wechselten ab. Anscheinend hatte man Scheu getragen, den Frieden und die Stille des einzigen Waldes und vielleicht auch die Vornehmheit dieses teuersten Ausflugsortes Konstantinopels mit einer Bande Jazzneger zu beschmutzen.

Zwischen einem Piano und einem Pianissimo der schmelzenden italienischen Geigen hörte Halideh plötzlich, wie die Tänzerin sagte:

»Tschilinghirian! Was ist das nun wieder für ein verrückter Name? Das ist doch eine Landschaft im Kaukasus oder ...«

Aufschreiend stürzten die Geigentöne dazwischen und schnitten das Weitere ab.

Dann sprach Psalty eifrig auf Saranti ein. Halideh sah, wie er ein Stück Papier und einen Füllfederhalter hervorzog, und beides dem Bankier zuschob, der lachend abwehrte. Auch Frau Simone beteiligte sich jetzt an der Unterhaltung. Nach einigem Hin und Her, das Halideh verstohlen beobachtete, nahm Frau Simone die Feder zur Hand und schrieb mit hochgehaltener Hand einige Zeilen, die sie lachend Psalty reichte. Halideh konnte nur große, ungelenke Schriftformen, weit auseinander geschrieben, erkennen. Doch Psalty schien zufrieden. Er küßte Frau Saranti die fleischige, in blitzendes Brillantfeuer gehüllte Hand und steckte Papier und Halter wieder zu sich.

Nach und nach waren die Gäste an den anderen Tischen aufgestanden und gingen in das Innere des Kasinos, wo Spieltische bereitstanden, und das eigentliche Geschäft des Unternehmers betrieben wurde.

Ein leichter Wind hatte sich aufgemacht und ließ die Blätter der Bäume stärker rauschen. Draußen auf der weißen Wasserfläche spielten jetzt leichte Wellen, mit denen die Strahlen des Mondes, in langen, breiten Linien schwankend, in den Schleier der Ferne sich verliefen.

Die Gesellschaft am Tische Sarantis machte sich zum Aufbrechen fertig, und Halideh gab Senije ein Zeichen, sich ebenfalls für die Rückkehr bereit zu halten. Fast gleichzeitig mit dem Nebentisch erhob sich die türkische Gesellschaft. Halideh ergriff den Arm der neben ihr stehenden Nasiheh und zog sie an die Brüstung der Terrasse. Trotzdem sie in ihrer Verkleidung und mit dem ihre Stirn bedeckenden zurückgeschlagenen Schleier sicher war, nicht erkannt werden zu können, wollte sie es doch vermeiden, die Aufmerksamkeit Psaltys und der Valera auf sich zu lenken. Zwar kannten beide sie nur als russische Blumenverkäuferin, und der Gedanke, sie hier in Bejkos als Türkin zu treffen, würde ihnen nie gekommen sein. Doch zog Halideh es vor, dem Zufall keine Gelegenheit zu geben, ihr ungünstig zu sein.

Lachend, in angeregter Unterhaltung, ging die Gruppe Sarantis dem Ausgang der Terrasse zu, und Halideh ließ sie im Dunkel der Wege verschwinden, die nur an den Biegungen einige elektrische Lampen schwach erhellten. Dann folgte sie ihr. Außer dem armenischen Namen »Tschilinghirian« hatte sie nichts erfahren. Das konnte viel sein oder auch wenig, vielleicht war es völlig bedeutungslos. Doch Halideh blieb ruhig und vermerkte nur, was sie sah und hörte. Irgendwie, irgendwann konnte es von Nutzen sein, und dies enge Verhältnis zwischen Saranti und dem Griechen, beide Feinde Anatoliens, beide durch ihre Interessen eng mit dem endgültigen Sieg der Griechen verbunden, und die wahrscheinlich beide, sicherlich aber Psalty, handelnd für den Erfolg der griechischen Waffen tätig waren, dies alles würde ohne Zweifel irgendein Ergebnis zeitigen. Durch irgendeinen Zufall würden sie sich eine Blöße geben, irgendein Ereignis würde die Fäden aufdecken, die die heute noch zusammenhanglosen, ihr unverständlichen Geschehnisse verbanden.

Als die kleine türkische Gesellschaft aus dem Parkeingang ans Ufer trat, waren Saranti und die Seinen eben dabei, ihr Boot zu besteigen. Die Landungsstelle selbst lag im Dunkeln, und die am Kai festgemachten Fahrzeuge schaukelten leicht im Wellengang, der aus dem Westen, vom europäischen Ufer her, kam. Langsam ging Halideh hinter ihren Begleitern auf ihr eigenes Boot zu, das neben dem Sarantis lag, beide Fahrzeuge mit dem Heck an der Kaimauer.

Während sie noch wartete, daß Senije und Nasiheh an Bord stiegen, hatte das Boot Sarantis losgeworfen und wurde von seiner Besatzung an dem viel größeren der türkischen Gesellschaft entlang geholt.

Als Halideh, gefolgt von den jungen Leuten, das Deck ihres Fahrzeuges betrat, setzte sich der Motor des abstoßenden Bootes Sarantis in Bewegung und knatterte laut in der Stille der Nacht. Die Barkassen der Kriegsschiffe zerrten an ihren Tauen und rieben sich leicht scheuernd mit ihren Fendern aneinander. Von den Mannschaften war niemand zu sehen. Entweder saßen sie am Ufer unter den Bäumen des Parksaumes, oder sie schliefen im Innern ihrer Fahrzeuge.

Sicheren Schrittes ging Halideh das schmale, kaum fußbreite Seitendeck, das neben den Kajütenfenstern entlanglief, nach vorn, während ihre Begleiter sich unter Lachen und Scherzen in die auf dem hinteren Deckraum stehenden Korbstühle niedersetzten. Bei dem Führeraufbau hinter der Maschine angelangt, beugte sich Halideh vor.

»Hast du die Leine festmachen können?« fragte sie.

»Ich habe sie noch um fünfzig Meter verlängert, und sie läuft über eine nach vorn liegende Öffnung, so daß ihr freies Ende nicht vorzeitig in die Schraube kommen kann. Sie werden wohl dreihundert, vierhundert Meter fahren können, vielleicht auch mehr, ehe etwas geschehen kann, es sei denn, ein Zufall läßt die Leine vorher brechen.«

»Ich danke dir. Halte dich gut hinter ihnen, aber nicht zu nah.«

»Sei ohne Sorge, Hanum Effendi. Ich habe deine Worte verstanden.«

Halideh richtete sich auf und spähte voraus in das Halbdunkel, in das eine vorüberziehende Wolke das vorher über dem Wasser liegende Mondlicht verwandelt hatte. Ihr eigenes Boot war schon in Bewegung und glitt schnell vom Ufer ab, in den breiten, dwars über Steuerbord kommenden Wellen leichte Schlingerbewegungen machend. Unweit voraus fuhr das Boot Sarantis, eine weiße Schaumwelle hinter sich herziehend. Halideh ging zurück und gesellte sich zu ihren Bekannten.

»Nun!« rief Nasiheh lachend, »jetzt fahren wir ohne jedes Abenteuer nach Hause. Sogar der Mond ist schlafen gegangen.«

Halidehs Augen waren noch lächelnd auf die Sprecherin gerichtet, als ein Schrei über das Wasser schrillte, der sich schnell zu wilden Rufen verstärkte.

»Ist das deine Antwort?« rief das junge Mädchen, erschreckt aufspringend. Auch die anderen verließen ihre Stühle und drängten aufgeregt nach vorn. Nur Halideh blieb sitzen. Das Schreien und Rufen um Hilfe verstärkte sich. Das türkische Boot ließ einen langgezogenen Pfiff ertönen und glitt schneller durch das Wasser.

Die jungen Leute waren still geworden und warfen fragende, furchtsame Blicke auf Halideh.

»Bleibt ruhig sitzen. Wir werden sehen, was der Zufall bringt«, sagte sie lächelnd, mit einer einladenden Handbewegung auf die verlassenen Deckstühle zeigend.

»Ein Boot geht unter. Das Boot, das neben uns lag!« rief Nasiheh und deutete in die Dunkelheit.

»Die Leute, die neben unserem Tisch saßen«, ergänzte Bedri.

»Willst du sie ertrinken lassen?« fragte flüsternd Senije, sich zu Halideh hinüberbeugend.

»Wir wollen dem Schicksal nicht vorgreifen. Übrigens glaube ich nicht, daß das Boot sinkt. Aber es sind Juden und Griechen, soweit ich gesehen habe, die fürchten den Tod, und ganz besonders den Tod im Wasser. Wie ihr wißt, schreien sie auch gern. Aber wir wollen sie trotzdem retten«, gab Halideh zur Antwort und legte die Hand auf den Arm der Tochter Haidar Rescheds.

Asmi beugte sich zu ihr nieder und sagte leise:

»Nicht um unsertwillen. Handele, als ob du allein seiest. Wir sind deine Diener.«

»Wir sind deine Diener«, wiederholte Nasiheh, die die Worte Asmis gehört hatte. »Kümmere dich nicht um uns. Befiehl!«

Ihre Brüder standen am Kajütaufbau und sahen angestrengt voraus.

Das Rufen war jetzt viel näher und lauter.

»Bleibt ganz ruhig«, erwiderte Halideh. »Wenn die Leute tatsächlich in Gefahr sind, was ich nicht glaube, so werden wir sie an Bord nehmen. Dann tut, was ich euch sagen werde. Gehorcht mir aufs Wort. Viel kann davon abhängen.«

Damit stand sie auf. Das voraufgefahrene Boot war jetzt deutlich erkennbar. Es schien hinten tiefer im Wasser zu liegen, als man erwarten sollte. Das Schreien und Rufen hatte aufgehört, wohl weil die Insassen alle Aufmerksamkeit auf das ihnen zu Hilfe kommende türkische Fahrzeug richteten. Jetzt war man einander ganz nahe. Schon berührte das türkische Boot mit dem Bug fast das Heck des Bootes Sarantis, dessen Insassen plötzlich laut aufschrien. Halideh sah, daß das Fahrzeug des Bankiers langsam absackte. Kaum eine Handbreit war das Heck noch über dem Wasser. Eine starre Gespanntheit lag über den Zügen Halidehs, hatte sie doch Befehl gegeben, wenn irgendmöglich das andere Boot zum Sinken zu bringen. Sie erwartete daher, daß ihr Führer es in voller Fahrt rammen werde. Schon spannten sich ihre Muskeln, um sich gegen den erwarteten Stoß zu sichern, als ihr Boot eine leichte Wendung machte und mit äußerster Kraft hart an Sarantis sinkendem Fahrzeug vorbeischoß, so nahe, daß man deutlich die verzerrten Gesichter der soeben noch so lustigen Tischgesellschaft im Licht, das aus der Kajüte des türkischen Bootes sie einen Augenblick umleuchtete, erkennen konnte.

Zusammengedrängt standen sie auf dem schmalen Vorderdeck ihres Bootes, Ihre weit geöffneten Augen starrten Halideh, die wie eine Erscheinung an ihnen vorüberglitt, mit verzweifeltem Schrecken an, und in den weißen Gesichtern bildeten die offenen Münder schwarze, runde Flecken. Dann war das Bild in der Dunkelheit verschwunden.

Ein lauter Aufschrei zerriß hinter dem türkischen Fahrzeug die Luft. Halideh stand unbeweglich; obgleich sie nicht begriff, was geschehen, war sie doch in seemännischen Dingen gänzlich unerfahren. Schon wollte sie vorwärts eilen, um mit dem Führer zu sprechen, als eine plötzliche scharfe Wendung ihres Bootes sie zu Fall brachte. Sie war sofort wieder auf den Füßen. Vom Boote Sarantis kam in diesem Augenblick ein dumpfer Knall, gefolgt von einem, Halideh unverständlichen Brausen, in dem das eben noch so laute Hilferufen abriß und verstummte.

Das türkische Boot beschrieb in voller Fahrt einen Kreis und war kaum eine Minute nach der Vorbeifahrt wieder an der Stelle, wo es das andere überholt hatte.

Jetzt wurde Halideh das Manöver ihres Führers verständlich. Das Fahrzeug Sarantis war gesunken, weil die Heckwelle des größeren, türkischen Fahrzeuges es von hinten erreicht und überschwemmt hatte, so daß es wie ein Stein absacken mußte. Einige weiße Flecken schwammen im Wasser. Die Türken streckten helfende Hände über die niedrige Bordwand und zogen einen der Insassen des untergegangenen Bootes nach dem anderen zu sich in Sicherheit.

Frau Simone sank ohnmächtig in einem der Deckstühle zusammen. Über ihre blitzenden, ringgeschmückten Hände rieselte das warme Wasser des Bosporus aus den Falten ihres kostbaren Pariser Kleides. Sie hatte mit der Welt abgeschlossen und blieb mit hängenden Armen und stöhnender Brust liegen, wie Bedri und einer der türkischen Bootsleute sie hingelegt hatten.

Ihr Mann saß bleich und vollständig triefend auf einem anderen der Stühle, während die Valera, eine gute Schwimmerin, die mit eigener Kraft an Bord gelangt war, sich zunächst das losgefallene, lange Haar ausrang. Psalty, dessen Schwimmkunst weniger entwickelt war, hatte sich wenigstens so weit über Wasser halten können, daß er nicht zuviel davon geschluckt hatte. Die beiden Bootsleute Sarantis waren schon dabei, sich trotz der nassen Finger, die ihnen von ihren türkischen Kameraden angebotenen Zigaretten anzuzünden. Da ihr ganzer Anzug nur aus Hemd und Hose bestand, machte ihnen das warme Bad weiter nicht viel aus.

Halideh wandte sich an Senije, die neben ihr stand und die Jammergestalten der Schiffbrüchigen mit dem mitleidigsten Ausdruck, den sie aufzubringen vermochte, betrachtete, und sagte zu ihr auf türkisch:

»Wir wollen die Frauen in die Kajüte bringen, wo sie sich in Decken hüllen können, bis ihre Sachen über der Maschine wieder trocken geworden sind. Wenn die Herren sich ihnen anschließen wollen, in einem der Schränke habe ich ein paar Seemannsanzüge gesehen, die sie ebenso benützen können. Vielleicht nimmt Asmi oder Bedri die Jacken sogleich, jetzt, in Empfang und bringt sie in den Kesselraum zum Trocknen.«

Halideh hatte auf das »sogleich« besonderen Nachdruck gelegt, der Senije nicht entgangen war. Sie wechselte einige Worte mit ihrem Schwager, der auf Psalty und den Bankier zutrat und sie in französischer Sprache bat, ihm ihre nassen Übersachen anzuvertrauen, während Senije die Tänzerin einlud, ihr in die Kajüte zu folgen. Gestützt von ihrem triefenden Mann und von einem der Bootsleute stieg Frau Simone schwerfällig die Stufen zur Kajüte hinab, während Asmi mit den Jacken der Herren nach vorn ging. Psalty folgte den anderen nach unten, und Bedri zeigte ihm und Saranti die trockenen Kleidungsstücke, die sich in einem der Wandschränke befanden. Senije und Nasiheh beschäftigten sich damit, den Damen zu helfen, nachdem durch eine Tischdecke die Kajüte in zwei Teile geteilt worden war.

Das Boot war wieder unter Fahrt. Die Wolke, die den Mond verhüllt hatte, war nach Osten gewandert, und von neuem lag silbern und friedlich die weite Fläche des Bosporus, die sich nach den Engen zu wie ein weiches, weißes, fließendes Band streckte, das sich zwischen den dunkel ragenden Ruinen der Schlösser von Rumeli und Anadoli im lichtbesäten Kranz der Ufervorstädte Konstantinopels verlor.

Halideh glitt an den Kajütenfenstern vorüber und stieg in den Maschinenraum, wo Asmi die Jacken der beiden Schiffbrüchigen über einem Kesselrohr zum Trocknen aufgehängt hatte. Er war eben dabei, den Kesselraum wieder zu verlassen, als Halideh eintrat.

»Geh nach hinten«, sagte sie schnell und leise zu ihm. »Sei den beiden Männern behilflich. Suche sie möglichst lange festzuhalten. Ich habe hier zu tun.«

»Es ist gut. Hierher können sie vorderhand nicht kommen. Dafür werde ich sorgen. Wie aber, wenn die Tänzerin sich einfindet?«

»Die Valera? Die wird in ihrer Decke keine Wanderung durch das Boot unternehmen«, antwortete Halideh. »Doch geh. Die Augenblicke sind kostbar.«

Asmi wußte zwar ebenso wenig wie die anderen, worum es sich handeln mochte, doch er schwieg und gehorchte, ohne eine Frage zu stellen. Daß sie in irgendein Unternehmen seines Schwiegervaters, in irgendeine politische Nachforschung verwickelt waren, schien ihm sicher.

Als er gegangen war, griff Halideh schnell nach der Jacke Psaltys, die sie wohl erkannte, und nahm ohne zu zögern den Inhalt der Taschen heraus. Die kleinen Pakete fanden sich nicht darin. Vielleicht hatte er sie in seinen Beinkleidern untergebracht. Doch die Taschen Psaltys enthielten nichts von Belang. Kein Taschenbuch, keinen Geheimschlüssel, keine Karten, keine Briefe. Nur einige seiner Besuchskarten in einem kleinen Lederumschlag, eine Anzahl loser Danknoten, seinen Füllfederhalter und einen Zigarettenbehälter, an dem ein zusammengefaltetes Stück Papier klebte.

Halideh breitete alles sorgfältig auf der Oberfläche des kleinen Überhitzers, neben dem sie stand, aus. Dabei löste sich das Papier von dem Zigarettenbehälter und mit einem Male kam ihr der Vorgang, den sie am Tische Sarantis beobachtet hatte, wieder ins Gedächtnis. Dies mußte das Blatt sein, das Frau Simone in so seltsamer Weise mit Buchstaben bedeckt hatte.

Halideh ging bis zur Kesselfeuerung, die sie öffnen ließ, und hielt das Blatt vorsichtig in den Zug. Es trocknete fast zusehends. Als sie es knisternd in der Hand fühlte, ging sie damit zurück und entfaltete es ohne Mühe unter einer der Lampen, die das Innere des Kesselraumes erhellten.

Die Schrift war zwar etwas auseinandergelaufen, doch Halideh konnte ohne Schwierigkeit die Buchstaben verfolgen. Die Mitteilung war griechisch abgefaßt:

»Mein lieber Varbetian,« las sie, »ich habe Dir die Papiere, die Du brauchst, übersandt. Lege sie recht bald vor, damit eine Entscheidung getroffen werden kann. Wende Dich unbedingt damit an den türkischen Rechtsanwalt Behaeddin Fewsi Sadeh, der mir ganz ergeben ist, und der unsere Sache mit Nachdruck verfolgen wird. Schreibe mir ohne Verzug.

Dein Vasiliades Eleftheros.«

Was sollte dies bedeuten? Varbetian war, wie der Name sagte, Armenier. Doch wo wohnte er? Halideh hatte nie von ihm gehört. Wer aber war Vasiliades Eleftheros? Auch dieser Name war ihr gänzlich unbekannt. Doch es mochte ein fingierter Name sein, da ja die Unterschrift von Frau Simone Saranti, wie Halideh mit eigenen Augen gesehen hatte, ausgeführt worden war. Dies sollte natürlich Saranti sein. Aber was bedeutete der Hinweis auf Behaeddin? Denn es war ihr Behaeddin, nicht irgendein anderer des gleichen Namens, da nur er als Fewsi Sadeh, als Sohn aus der Familie Fewsi bekannt war. Was hatte Behaeddin mit Varbetian und Saranti zu tun? Ein neues Rätsel. Doch ein belangloses Rätsel. In sechs, in spätestens acht Tagen würde sie Behaeddin befreit haben. Plötzlich schlug sie die Hände leicht zusammen. Dieser Brief war für das Kriegsgericht, das griechische Kriegsgericht in Eski Schehir, bestimmt. Es war »das Erforderliche« von dem Psalty im Klub gesprochen hatte. Er hatte es »schon hier«, in Konstantinopel »gefunden«. Das mußte es sein. Es sollte irgendeine Schuld Behaeddins dartun. Dazu war diesem Griechen alles recht. Und dazu gab sich Saranti her! Daß Psalty derartiges unternahm, fand Halideh ganz natürlich. Er brauchte Geld und war vollständig skrupellos. Aber Saranti war reich. Weshalb sollte er einen solchen Brief abfassen, auch wenn ihn in Wirklichkeit seine Frau geschrieben hatte?! Doch das alles konnte später überdacht werden. Sie steckte die verschiedenen Gegenstände in die Taschen der Jacke Psaltys zurück und griff in die Sarantis.

Ein dickes Taschenbuch, mit Banknoten gefüllt, war das erste, das ihr in die Hände fiel. Sie legte es als ganz durchnäßt zur Seite. Es zu trocknen, würde lange Zeit in Anspruch genommen haben. Dann fand sie einen großen Briefumschlag aus gelbem Papier. Durch das Wasser war der Verschluß aufgegangen, und der Inhalt fiel Halideh entgegen. Es waren einige Blätter festen Kartonpapiers, die nur an den Ecken aneinanderklebten. Die Pläne! Lichtbilder der Pläne! So klein, daß Halideh mit bloßem Auge nur die allgemeinen Umrisse erkennen konnte. Hier hielt sie den Sieg in der Hand! Einen Augenblick weitete sich ihr Herz vor freudiger Überraschung. Dann krampfte es sich wieder zusammen. Diese Pläne konnte sie sich nicht aneignen, ohne sofort Verdacht zu erwecken. Und dann würde man die Anlagen ändern, wenigstens abändern, so daß die Pläne nutzlos wurden! Doch Sadik war eben dabei, dieselben Pläne zu photographieren, wenn er Erfolg hatte. Und er mußte Erfolg haben. Hatte doch Haidar Resched sich für das Gelingen eingesetzt.

Aber sie konnte sich nicht versagen, die Papiere, die sie in der Hand hielt, näher anzusehen. Mit aller Behutsamkeit löste sie die Blätter voneinander. Näher an die elektrische Lampe tretend, betrachtete sie sie mit angestrengt suchenden Augen. Überrascht sah sie schärfer hin, hielt das Papier ganz nahe ans Licht. Es konnte kein Zweifel sein, die in der Photographie zu mikroskopischer Kleinheit gebrachte Schrift war türkisch! Alle Zeilen am Rande der Pläne begannen rechts scharf untereinander, um nach links hin verschiedene Längen zu zeigen. Hier und da konnte Halideh mit größter Anstrengung ihrer Augen sogar ein Wort lesen. Ohne Zweifel, es waren die Stellungen bei Afiun Karahissar. Schon die Lage der Orte ergab das. Was ich an der Wand sah, war aber ebenso sicher englisch, wie dies hier türkisch ist. Die Pläne müssen also umgezeichnet worden sein. Weshalb? Wozu?! Um die Herkunft der Lichtbilder unkenntlich zu machen. ›Um jeden Verdacht gegen die Herren Baring und Genossen auszuschließen,‹ fuhr es ihr durch den Kopf. Und Saranti sprach Türkisch. Das wird der Grund sein.

Vorsichtig legte sie die Papiere in den durchnäßten Umschlag zurück, den sie sorgfältig wieder zusammenfaltete.

»Dies genügt«, sagte sie vor sich hin, Umschlag und Brieftasche in die Jacke des Bankiers zurückschiebend.

›Ich habe genug erfahren, und Psalty kann plötzlich kommen und mich hier bei dieser nicht recht zu erklärenden, auf jeden Fall etwas verdächtigen Beschäftigung finden.‹ Die Jacken wieder auf dem Dampfrohre ausbreitend, verließ sie den Kesselraum, in dem außer ihr nur der Heizer anwesend war. Durch das Fenster der Kajüte blickend, sah sie Frau Simone und die Tänzerin in Decken gehüllt, mit aufgelöstem Haar nebeneinander sitzen und sich mit Senije und Nasiheh unterhalten. Auf der anderen Seite des Tischdeckenvorhanges saßen die Männer in viel zu großen, blauen Tuchanzügen, wie die Matrosen sie tragen, und tranken Rakki in Gesellschaft Asmis und der Brüder Nasihehs. Sie schienen lustig und guter Dinge, denn ihr Lachen kam in häufigen Zwischenräumen und hatte auch den »Haremlik« hinter dem Vorhang angesteckt, wie die Zurufe, die von einer Seite zur anderen flogen, bewiesen.

›Das kann gar nicht besser sein‹, dachte Halideh befriedigt. ›Ich werde mich jetzt als Seekranke auf ein paar Stühlen ausstrecken, und an dem fürchterlichsten Kopfschmerz leiden.‹

Leise ging sie auf das Hinterdeck, und legte sich auf die an der Heckreeling entlang laufende Bank.

Über Backbord voraus sah sie das grüne Feuer des Leanderturmes, und rechts türmte sich in dunklen Massen Pera, mit unzähligen, erleuchteten Fenstern besät, hoch gegen den Himmel. Über den wie Klippen ragenden Häusern stand, tief schon im Westen, der Mond, fahl, und im Dunstschleier der großen Stadt wie zerfließend.

Befriedigt blickte Halideh auf die immer näher kommende Kette der Lichter der Galatabrücke. In zehn Minuten, in einer Viertelstunde würde die Fahrt beendet sein.

Das Boot glitt unter die Brücke, ging über Steuerbord und legte an. Die anderen kamen langsam zum Vorschein, die Schiffbrüchigen wieder in ihre eigenen Sachen gekleidet, die sie durch die Verbindungstür zwischen Kajüte und Maschinenraum geholt hatten. Senije gab ihnen mit vollkommener Höflichkeit das Geleit. Zwar hatten die schönen Abendkleider der Damen durch das Bad im Bosporus nicht gewonnen, doch die Brillanten Frau Simones strahlten und blitzten wie vorher. Die Anzüge der Herren aber hatten am meisten gelitten. Zu eng und in sonderbaren Falten hingen sie ihnen um die Glieder.

Bedri war auf die Brücke geeilt und hatte einen Wagen herbeigeholt. Als er zurückkam, verließ die Gesellschaft unter ständigen Dankesbeteuerungen das türkische Boot. Kein Gedanke war ihnen gekommen, daß der ganze Vorfall irgend etwas anderes als ein unglücklicher Zufall gewesen sein konnte.

Halideh hatte beim Erscheinen der anderen sich aufgesetzt und mit matter Stimme über unerträgliche Kopfschmerzen, die Folge des Schreckens und der Aufregung über das Vorkommnis, geklagt.

Als der Wagen mit Saranti und seiner Gesellschaft oben auf der hellerleuchteten Brücke davongefahren war, stand Halideh auf. Die anderen drängten sich lachend um sie.

»Dieser Saranti hat eine Todesangst ausgestanden. Er konnte erst lange kein Wort hervorbringen. Er stammelte und stotterte vor Furcht«, erzählte Bedri, der Jüngste, spöttisch das Gesicht verziehend.

»Niemals wieder will er aufs Wasser gehen«, fügte Kemaleddin hinzu. »Bejkos hat er zum letzten Male besucht, und die Prinzeninseln sind für ihn versunken.«

»Und ich schlug ihm vor, sich ein Flugzeug anzuschaffen. Da wäre er beinahe in Ohnmacht gefallen«, rief Bedri belustigt.

»Und Psalty?« fragte Halideh.

»Der erholte sich schneller. Als ich seine Beinkleider zum Trocknen forttragen lassen wollte, griff er hastig danach und zog eine Menge kleiner Pakete aus einer der hinteren Taschen. Ich glaube, er hat sich die Überreste des Abendbrotes im Kasino einpacken lassen«, meinte Bedri ernsthaft.

»Vielleicht hat er Hunde zu Hause, denen er eine Überraschung machen will«, lachte Nasiheh.

»Dann war er aber ganz vernünftig und fing sogar an, über das Abenteuer zu spotten. Er rief Frau Saranti zu, ob sie schon ihre Juwelen gezählt habe«, sagte Asmi.

»Ja. Das galvanisierte die Dicke. Das hättet Ihr sehen sollen. Senije und ich hatten sie ganz in Decken eingewickelt, und sie saß da, wie eine Kranke im Schwitzbad. Als der Grieche sie aber an die Juwelen erinnerte, fing sie an, alles abzuwerfen, und zählte jeden Finger nach, griff an die Ohrringe, suchte nach der Brosche, der Perlenkette, und ich weiß nicht, was noch. Die Brosche lag in einer Ecke auf dem Boden. Wir konnten sie erst nicht finden. Die Dicke wollte schon so, wie sie war, auf den Knien in der Kajüte herumsuchen, als die Jüngere sie entdeckte, und Senije sie aufhob«, berichtete Nasiheh mit lebhaften Bewegungen die Vorgänge unterstreichend.

»Als sie alles wieder zusammenhatte, fing sie erst an zu weinen, wie ein Wasserfall. Nasiheh sagte ihr, sie sei doch schon naß genug! Das brachte sie wieder zu sich, und sie fing an zu lachen«, sagte Senije belustigt. »Es war wirklich sehr unterhaltsam.«

»Ja. Ein prachtvolles Abenteuer. Das nächste Mal muß Halideh mit uns nach den Inseln fahren. Wer weiß, was uns dann passiert!« rief Nasiheh, ihren Arm unter den Halidehs schiebend.

»Und was tat die schöne Tänzerin?«

»Schön?« wiederholte Nasiheh geringschätzig. »Schön kann ich sie nicht finden. Ihre Augen sind zu kalt.«

»Nach diesem Bade«, warf Bedri ein.

»Nein. Überhaupt. Und dann ist sie so groß. Viel zu groß, finde ich. Doch häßlich ist sie auch nicht. Ich möchte sie schon einmal tanzen sehen. Ihre Beine sind herrlich«, fuhr Nasiheh eifrig fort.

»Dann mußt du dich aber beeilen. Denn sie tanzt nur noch morgen, wenn das heutige Abenteuer sie nicht noch nachträglich krank macht«, gab ihr Senije zur Antwort.

»Wieso?« fragte Halideh erstaunt. Wußte sie doch, daß die Tänzerin noch einen langen Vertrag mit der › Pavilion Bar‹ hatte.

»Ja, sie geht nach Tiflis. Sie hat von dort ein glänzendes Angebot erhalten. Sie reist in den nächsten Tagen mit einem armenischen Impresario, der ihr das Geschäftliche besorgt«, erklärte Senije.

»Heißt er Tschilinghirian, dieser Impresario?« fragte Halideh, sich von Nasihehs Arm frei machend, und einige Schritte auf und ab gehend.

»Das weiß ich nicht. Sie nannte keinen Namen«, antwortete Senije, sich Halideh anschließend.

Das Boot hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und fuhr langsam und vorsichtig das Goldene Horn hinauf, zur Landungsstelle in Ejub, wo der Kraftwagen Asmis die Gesellschaft erwartete, um sie nach Hause zu bringen.

»Und wann will diese Valera nach Tiflis abreisen?« fragte Halideh, denn die Neuigkeit überraschte sie, beunruhigte sie auch. Sie konnte sie mit ihren Gedankengängen über Saranti und Psalty und die Pläne nicht in Verbindung bringen.

»Mit dem nächsten Dampfer, einem Italiener. Bedauerst du ihr Fortgehen?« fragte Senije, erstaunt über das Interesse der andern.

»Bedauern? Nein. Ja. In gewisser Hinsicht doch. Es wäre mir lieber gewesen, sie hier zu wissen. Doch zum Schluß, was geht es mich an, wo die Valera auftritt?« Eine gewisse Unsicherheit lag in den Worten Halidehs. Es war ihr plötzlich klar geworden, daß sie die Valera in ihren Gedanken ganz vernachlässigt hatte. Und doch mußte sie irgendwie zu den Ereignissen in Beziehungen stehen. Sie war ohne Zweifel die Geliebte Psaltys, stand aber auch in nahem Verhältnis zu Baring, wahrscheinlich mit Wissen und Billigung des Griechen. Was hatte sie aber mit Saranti zu tun? Und die Pläne waren in ihrer Wohnung abgezeichnet worden, die jetzt, nach ein Uhr, Sadik hoffentlich schon nach getaner Arbeit verlassen hatte. Es mußte festgestellt werden, wer dieser Tschilinghirian war, und was die Valera mit der Verlegung des Schauplatzes ihrer Tätigkeit bezweckte. Haidar Resched mußte diesen Fragen nachgehen. Auch Sadik mußte sich damit beschäftigen. Die ganze Angelegenheit erschien ihr plötzlich wieder verwickelter, als sie es geglaubt hatte.

Stumm und in Gedanken versunken war sie, mit Senije neben sich, auf dem Verdeck hin und her gegangen. Die anderen standen noch lachend und erzählend an der Reeling.

Senije hatte Halidehs Arm genommen und drückte ihn im Gehen an sich.

»Ich bin so neugierig, Halideh, verzeih mir. Aber war der Untergang des Bootes ein Zufall? Was mag ihn herbeigeführt haben?«

»Den Zufall oder den Untergang?« entgegnete Halideh lächelnd.

»Nun, beides. Weißt du, wie es sich zugetragen hat?«

»Nein. Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß eine sich schnell drehende Schiffsschraube, in die plötzlich ein Drahtseil mit einem Stück Eisen kommt, sonderbare Wirkungen ausüben kann«, sagte Halideh.

»Und dann entstehen Zufallsmöglichkeiten, nicht wahr?« antwortete Senije schnell.

»Allerdings. Doch man kann sie nicht voraussehen. Manchmal entsteht auch gar nichts.«

»Wie zum Beispiel, wenn die Leine ins Wasser fällt oder zerreißt!«

»Ganz recht, mein Kind, dann entsteht nichts. Die Kunst besteht eben darin, daß nichts zerreißt und nichts ins Wasser fällt.«

»Außer Frau Saranti«, lachte Senije.

»Außer Frau Saranti«, wiederholte Halideh, ebenfalls lachend.

»Mehmed Effendi hätte ich das gar nicht zugetraut«, sagte Senije, mit Lachen innehaltend.

»Mehmed Effendi? Wer ist Mehmed Effendi?« fragte Halideh überrascht.

»Nun, der Kapitän Mehmed, der dieses Boot führt, der immer so würdig auftritt.«

»Ach so. Nun, er hat seine Sache sehr gut gemacht. Sehr gut«, antwortete Halideh.

»Das kann man wohl sagen. Wie er an dem anderen Boot vorbeifegte, war ganz prachtvoll. Er saugte es geradezu ins Wasser.«

»Sieh mal an. Was für eine aufmerksame Beobachterin du bist. Alle Achtung. Es ist aber oft gut, seine Beobachtungen für sich zu behalten. Sie gehören einem dann, und man kann sie manchmal später mit Vorteil selbst anwenden«, sagte Halideh, Senije einen Augenblick fest ansehend.

»Zweifellos. Ganz ohne Zweifel. Doch wenn man so unerfahren ist, wie ich es bin, ist es gut, seine Beobachtungen auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Man kann auch falsch beobachten.«

»Sicher kann man das. Die große Mehrzahl aller Menschen gibt sich keiner anderen Tätigkeit hin. Die, die richtig beobachten, werden das schnell bemerken und ihren Vorteil darin finden, die falschen Beobachtungen anderer durch ihre richtigen zu verbessern. Es ist das nicht nur eine undankbare, sondern oft auch eine recht gefährliche Sache, habe ich beobachtet«, sagte Halideh langsam.

»Und richtig beobachtet«, lachte Senije. »Beobachten wir jetzt die Landung, und ob Asmis Wagen schon wartet.«

»Tue das. Ich muß mich schnell noch umziehen und dir dein Kleid zurückgeben, für das ich dir danke.«

Damit gab Halideh Senije einen Kuß und ließ sie allein, um in die Kajüte hinabzusteigen, wo sie ihre Männerkleidung wieder anlegte.

Als sie an Deck zurückkam, hatte das Boot an dem zerbrochenen Brettersteg festgemacht, der hier ein Anlandgehen gestattete. Die kleine Gesellschaft bestieg den bereitstehenden Kraftwagen Asmis und fuhr durch die dunklen, holprigen Straßen zu dem einfachen Hause, in das Haidar Resched sich zurückgezogen hatte. Doch er selbst war nicht anwesend. Asmi wohnte in Stambul, nahe der Bajasid-Moschee, und da dort in der Nähe, in dem Straßengewirr, das zum Meere abfällt, auch Sadik sein Zimmer hatte, ließ Halideh sich auf dem Bajasid-Platz absetzen.

Der Mond war untergegangen, und die vereinzelten Laternen gaben ihr unsicheres Licht nur an seltenen Straßenecken. Doch Halideh kannte die Gegend und ging schnell die steil nach unten führende Gasse hinab, schritt um einige Ecken, kreuzte einige kleinere, wüst liegende Brandstätten und kam endlich an ein zweistöckiges, langgestrecktes Gebäude, vor dessen Tür sie stehenblieb.

Nach längerem Klopfen öffnete eine alte Frau, die sie mißtrauisch im schwachen Schein einer kleinen Öllampe musterte. Halideh erklärte ihr leise und schnell den Zweck ihres Kommens, und die Frau führte sie durch das Haus hindurch und über den Hof. An einem Nebengebäude, um dessen oberes Stockwerk eine überdachte hölzerne Galerie lief, angelangt, zeigte die Frau auf die außen angebrachte Treppe.

»Es ist gleich die erste Tür, wo er wohnt«, sagte sie teilnahmlos und hielt ihre Lampe so, daß Halideh die erste Treppenstufe sehen konnte. Halideh drückte ihr etwas Geld in die Hand und ging nach oben. Die von ihrer Führerin erwähnte Tür öffnend, fand sie Sadik an einem langen Tisch sitzend, der mit einem Vergrößerungsglas photographische Negative betrachtete, die auf einem Blatt weißen Papiers vor ihm ausgebreitet lagen.

Beim Eintritt Halidehs blickte er auf. Ohne aufzustehen, deutete er auf einen neben ihm stehenden Stuhl:

»Komm. Setz' dich hierher«, sagte er kurz.

Halideh schloß die Tür und nahm Platz. Sadik schob ihr eine Schachtel Zigaretten näher und reichte ihr Streichhölzer.

»Also, es ist dir gelungen?« fragte sie, sich neugierig über die Negative beugend.

»Es ist alles in Ordnung. Die Bilder sind sehr gut geworden. Wie du siehst, habe ich sie schon entwickelt«, antwortete er und hielt ihr das Vergrößerungsglas hin.

Halideh nahm es zur Hand und betrachtete eingehend die Bilder.

»Diese sind von den englischen Plänen genommen«, sagte sie dann, das Glas wieder weglegend.

»Natürlich. Wovon sonst?« antwortete Sadik, erstaunt aufblickend.

»Es gibt auch noch türkische. Doch das ist eine lange Geschichte. Höre zu. Die Mitteilung, die dir Ibrahim gestern von der Russin brachte, und die du mir durch Haidar Resched sandtest, besagte, daß Saranti, Psalty, die Valera und die Frau Saranti sich am Abend in Bejkos treffen wollten. Haidar Resched besorgte mir ein Motorboot oder vielmehr ein kleines Dampfboot, das einem seiner Freunde gehört.«

»Jawohl. Memduch Bey. Weil man dem Kessel nicht traut, haben ›die Sieger‹ es nicht requiriert«, warf Sadik ein. »Es ist uns schon ein paarmal gut zustatten gekommen.«

»Haidars Tochter Senije und noch einige Verwandte begleiteten mich. Wir saßen an einem Tisch, der neben dem der Saranti stand. Von der Unterhaltung konnte ich aber nichts verstehen. Ich gab mir auch nicht viel Mühe, denn ich hatte einen anderen Plan. Mit dem Führer unseres Bootes hatte ich, ohne daß die anderen etwas davon verstanden, verabredet, das Boot Sarantis durch eine Schraubenhavarie zu beschädigen, und ich rechnete darauf, es dann ins Schlepptau zu nehmen und dabei irgendwie Gelegenheit zu bekommen, etwas Näheres über das Verhältnis dieser Leute untereinander zu erfahren. Sie sollten, um ihr Boot zu erleichtern, zu mir an Bord genommen werden. Irgendwie hat aber die Vorrichtung zur Beschädigung ihrer Schraube, eine Leine mit einem Stück Eisen, die sich um die Schraubenwelle wickeln sollte, zu gut funktioniert. Das Eisenstück muß dem alten Sarantikahn eine Planke eingeschlagen haben, das Boot sank, ging unter, und wir kamen gerade zurecht, die Bande aufzufischen.«

»Sehr schön. Könnte man doch all diese verdammten Schiffe so versenken«, sagte Sadik, mit den Fingern auf die Tischkante trommelnd.

»Ich hielt mich ganz zurück«, fuhr Halideh fort. »Die Sachen der Aufgefischten wurden auf den Dampfröhren getrocknet und sie selbst in der Kajüte verstaut. Ich beeilte mich natürlich, die Taschen der Männer zu durchsuchen. In ihrer Aufregung hatten sie alles darin gelassen. Ich fand zwei interessante Dokumente.«

»Wo sind sie?« fragte Sadik schnell.

»Wo sie waren. Wenn ich sie weggenommen hätte, würde das Aufsehen erregt haben.«

»Wieso? Sie hätten doch leicht im Wasser verlorengehen können«, entgegnete Sadik.

»Dann würde man andere Schritte, wahrscheinlich wenigstens, beschlossen haben. So wird man nichts ändern. Das eine Dokument waren Lichtbilder, diese Pläne.« Halideh zeigte auf die Negative, die vor Sadik lagen. »Doch obgleich ich es kaum erkennen konnte, so stellte ich doch fest, daß sie mit türkischer Schrift, nicht mit englischer, versehen waren. Es müssen also auch türkische Ausfertigungen bestehen.«

»Das ist richtig. Ich habe sie selbst gesehen. Es sind das Abzeichnungen. Ich zog aber vor, die englischen Originale zu photographieren. Es schien mir das sicherer«, sagte Sadik ruhig.

»Du hast recht. Die Bilder der türkischen Pläne befanden sich aber in der Tasche Sarantis. Bei Psalty fand ich ein sonderbares Schreiben, das ich mir nicht so recht erklären kann, wenn ich auch eine Vermutung habe. Es war bei Tisch im Kasino, wie ich selbst beobachtet habe, von Frau Simone, anscheinend auf Bitten oder Verlangen Psaltys geschrieben worden. Als Unterschrift trug es den Namen Eleftheros Vasiliades. Gerichtet war es an einen gewissen Varbetian. Wo er wohnt, ging nicht aus dem Inhalt hervor. Doch das wichtigste war, daß darin Behaeddin, unser Behaeddin Fewsi Sadeh, als die Person erwähnt wurde, die nicht näher bezeichnete Papiere in Empfang nehmen und in irgendeinem Rechtsstreit verwenden sollte. Denn Behaeddin wurde als Rechtsanwalt angesprochen. Wir wissen, daß er das nicht ist. Daher ist diese Angabe auch nur eine Finte. Kennst du diesen Varbetian? Hast du den Namen schon gehört?«

Sadik gab eine Zeitlang keine Antwort, sondern zündete sich eine Zigarette an und rauchte langsam. Endlich sagte er, ohne auf die Frage Halidehs einzugehen:

»Und welche Schlußfolgerungen hast du gezogen?«

»Hinsichtlich der Pläne denke ich, daß Saranti eine Anleihe für die Griechen in London oder sonstwo vermitteln soll. Die Pläne sollen dartun, daß die Lage der Griechen vorzüglich ist. Die türkische Schrift soll die wirkliche Herkunft der Pläne verdecken, um niemanden bloßzustellen. Das scheint mir klar und sehr wahrscheinlich das Richtige. Eine andere Möglichkeit sehe ich für den englischen Untertan Saranti und für den Griechen Psalty nicht. Den Brief an diesen mir unbekannten Varbetian erkläre ich mir damit, daß Psalty ihn für seine eigenen Zwecke dem Kriegsgericht in Eski Schehir zustellen will, das Behaeddin aburteilen soll. Es ist das der Beweis, die Unterlage, die Psalty den Engländern vorgestern abend im Klub zugesagt hat, und von der ich dir schon sprach.«

Halideh schwieg und sah Sadik erwartungsvoll an. Würde er, der mehr von den geheimen Machenschaften in Konstantinopel wußte als sie, ihren Schlußfolgerungen beistimmen?

Sadik legte seine Zigarette fort und schob die Negative, die vor ihm lagen, zusammen.

»Was du mir sagst, klingt alles sehr wahrscheinlich. Es ist aber zu wahrscheinlich, fast möchte ich sagen, zu einfach, um der Wirklichkeit zu entsprechen«, sagte er langsam.

Dann nahm er ein Band und machte aus den Negativen ein dünnes Paket, das er umschnürte und in einen Umschlag steckte. Methodisch legte er ihn gerade vor sich hin.

»Ein Teil von dem, was du denkst, ist sicherlich richtig. Der Brief an diesen Varbetian hat den Zweck, den du annimmst, sollte ich meinen. Doch die Sache mit den Plänen in der Tasche Sarantis hängt gewiß mit anderem zusammen. Du weißt nicht, und du kannst es auch nicht wissen, daß die Valera von den Franzosen bezahlt wird. Sie soll die englischen Offiziere beobachten und so weiter. Sie ist die Geliebte Barings, hat aber auch andere Freunde. So auch diesen Psalty, der der griechischen Geheimpolizei angehört und keine Gelegenheit vorbeigehen läßt, seine eigenen Taschen zu füllen. Saranti wieder ist ein alter, verschlagener Fuchs, der mit allen Wölfen heult. Er steht in engen Beziehungen zu dem Großwesir und vermittelt nicht wenige der Geldgeschäfte dieser verkauften Regierung. Er ist es, der den Sendboten, die Anatolien gegen uns aufwiegeln sollen, Geld in jeder Höhe im Innern beschafft. Natürlich verdient er daran Unsummen. Seine Schwäche ist die Valera. Sie hält ihn hin. Nimmt kein Geld und keine Geschenke von ihm, läßt sich von ihm aber in den verführerischsten Lagen sehen.

»Die Franzosen haben nun alles Interesse daran, die englischen Absichten zu stören. Also liegt ihnen gar nichts daran, daß die griechischen Stellungen ihre englische Uneinnehmbarkeit beibehalten. Höflicherweise haben die Engländer diese Stellungen, die sie selbst ausgearbeitet haben, mit den französischen von Verdun verglichen, was die Franzosen aber als überheblich empfinden. Es wird nun wohl so zusammenhängen, daß die Valera im Auftrag der Franzosen darauf hinarbeitet, uns die Pläne dieser Stellungen in die Hand zu spielen. Damit uns aber wieder die Sache nicht zu leicht gemacht wird, werden die Pläne umgezeichnet und nicht ganz genau sein. Daher die türkische Schrift. Psalty wird gegen eine kleine Entschädigung die Sache eingefädelt und durchgeführt haben. Welches Märchen man diesem Baring und seinen Spießgesellen von der Londoner Verbindungsstelle, dem Doktor Wood und diesem dummen Leutnant Forster erzählt hat, ist gleichgültig.

»Saranti nun, der natürlich genau in Anatolien Bescheid weiß, wird sich die Möglichkeit nicht entgehen lassen, durch Übermittlung der Pläne an uns sich bei dem Pascha einen Anspruch auf Dankbarkeit oder doch Entgegenkommen zu sichern. Sollten die Engländer und das Großwesirat durchkommen, ist er ja gesichert. Sollte aber Anatolien doch die Oberhand bekommen, und Saranti kennt die Lage zu gut, um diese Möglichkeit nicht in Erwägung zu ziehen, so kann er sich dann auch dort auf geleistete Dienste berufen. Ich glaube also doch, daß diese Pläne für uns bestimmt sind. Deshalb sind diese hier«, und er legte die Hand auf den vor ihm liegenden Umschlag, »aber noch viel wichtiger, weil unbedingt zuverlässig, und dann zur Kontrolle.«

»Daß die Valera für die Franzosen arbeitet, wußte ich in der Tat nicht. Ich habe auch nie etwas entdecken können, das darauf hinweist. Aber Saranti wird einen ungeheuren Preis für die Pläne verlangen. Und er weiß, daß wir den nicht bezahlen können.«

Sadik lachte trocken.

»Saranti ist viel zu gerissen, uns die Pläne nicht, vorläufig wenigstens, umsonst zu überlassen. Seine Geste erhält dadurch viel mehr Gewicht. Vielleicht aber zahlt die Valera mit einer Anweisung auf die eigene Person und verdient noch dabei.«

»Aber die Valera verläßt Konstantinopel. Sie geht nach Tiflis. So hat sie Nasiheh erzählt«, warf Halideh ein.

»Das ist mir neu. Eine sehr wichtige Neuigkeit. Weißt du mehr hierüber?« fragte Sadik, sich mit an ihm ungewöhnlicher Schnelligkeit Halideh zuwendend.

»Sie reist mit einem Tschilinghirian, der wohl als Impresario auftritt.«

»Ah. Nun, dann ist es klar. Dieser Tschilinghirian ist ein Geschöpf Sarantis. Die Valera ist verdammt klug.«

»Wieso?« fragte Halideh erstaunt.

»Daß sie gerade jetzt weggeht, außer dem Bereich des sehnsüchtigen Saranti bleibt. Der Grund wird aber wohl noch tiefer liegen. Sie will die Zustellung der Pläne an uns überwachen und uns klarmachen, daß wir sie nicht Saranti, sondern unseren lieben, guten, treuen Freunden, diesen aufrichtigen Wohltätern der Türken, den Franzosen, verdanken. Die Sache ist tadellos ausgedacht. Gut, daß wir unsere eigenen Pläne haben.«

Halideh blickte nachdenklich vor sich hin. Endlich sagte sie:

»Du hast recht. Meine Folgerungen waren zu hastig, zu voreilig. Mag die Valera uns die türkischen Pläne bringen. Wäre es aber nicht besser, sie auf ihrer Reise zu überwachen, falls sie wirklich reist?«

»Das wird auch geschehen. Ich werde veranlassen, daß man ihr nirgends Schwierigkeiten macht. Mag sie nun in Ineboli oder sonstwo an Land gehen. Du konntest aber gar nicht anders folgern. Die Hauptunterlagen fehlten dir.«

»Und wer ist dieser Varbetian? Auch ein Geschöpf Sarantis?« fragte Halideh nach einer Weile.

»Ja und nein. Er bewohnt ein Haus, das Saranti in Smyrna besitzt, ist aber selbst sehr reich. Er soll sich eine ganze Menge der armenischen Schätze angeeignet haben. Da er amerikanischer Untertan ist, haben ihm viele seiner Landsleute zur Zeit der Deportation ihre Wertsachen und Juwelenschätze anvertraut. Die Meisten sind umgekommen, und Varbetian, der sich früher Mateossian nannte, hat sie mühelos beerbt.«

»Halt, Sadik, halt! Dieser Mateossian wohnt in Smyrna, in der Gasse, die zu dem Quartier der Hufschmiede führt, an der Ecke der Kameltreiberstraße. Er besitzt einen schwarzen Diamanten und ist ein griechischer Spion?«

»Das ist richtig. Woher weißt du das?« fragte Sadik.

»Als du den Namen Mateossian nanntest, fiel mir eine Unterhaltung ein, die ich mit Suria Bey führte, der jetzt Oberst des vierunddreißigsten Regimentes ist, – damals war er Major und hielt die Griechen nördlich des Pursak mit einer Handvoll Leute auf. Er ermöglichte den Marsch im Süden, der die Griechen zum Rückzug auf Eski Schehir zwang. Er erzählte mir nun von diesem Mateossian, der mit Saranti in Verbindung sei und an der Spitze des Aktionskommitees in Smyrna stehe, das die Griechen in jeder Weise fördert.«

»Das ist derselbe Mann. Früher hieß er Mateossian. Jetzt nennt er sich Varbetian.«

»Nun weiß ich aus einigen Briefen, die wir bei dem Verräter Salim fanden, daß sich im Hause dieses Mateossian ein Päckchen mit kostbaren Steinen befindet, und daß dieses Päckchen an Baring zu senden sei. Wofür? Auf welche Weise? Aus welchem Grunde? wurde nicht gesagt.« – – –

»Er wird wohl seinen ererbten Raub beizeiten in Sicherheit bringen wollen. Auf jeden Fall ist das derselbe Mann. Ich weiß wohl, daß er gegen uns spioniert, und mit Baring mag er schon in Verbindung stehen. Er ist ein gefährlicher, entschlossener und sehr kluger Mensch, dem wir aber wegen seiner amerikanischen Papiere nichts anhaben können. Man hofft viel von diesen Amerikanern. Ich selbst glaube nicht an sie. Profitgierig und unwissend, roh und jedes Verständnisses für unsere Kultur bar, wie sie sind.«

»Da magst du schon richtig sehen. Ich kenne sie zu wenig. Doch sollte sich zwischen diesen Steinen, die Baring erhalten soll, und dem Brief, den Psalty durch Frau Saranti an ihn schreiben ließ, nicht ein Zusammenhang finden lassen? Den Brief hat Psalty vorgestern Baring und diesem andern Engländer, Faringdale, versprochen.«

Sadik griff nach einem neben ihm auf dem Schreibtisch liegenden Tespich, dessen Kugeln er nachdenklich hin und her gleiten ließ. Endlich sagte er:

»Natürlich weiß außer der griechischen Geheimpolizei und einigen von uns niemand etwas um die Tätigkeit dieses Varbetian, wie ich ihn nenne. Daß der Brief, den du erwähnst, Behaeddin vor dem Kriegsgericht belasten soll, erscheint mir sehr wahrscheinlich, denn die griechische Polizei, beziehungsweise Psalty, wird sich hüten, etwas über die Dienste, die Varbetian der griechischen Sache geleistet hat, zu erwähnen, wenn, wie sehr wahrscheinlich, das fragliche Schriftstück Behaeddin verderben soll. Andernfalls wäre es ja absurd, da es Behaeddin als mit und für einen griechischen Spion arbeitend hinstellt. Die einzige Möglichkeit wäre noch die, daß Psalty mit diesem Briefe Varbetian schaden will. Dafür spräche die falsche Unterschrift. Es würde Psalty leicht sein, den Brief im Hause Varbetians zu finden. Doch das scheinen mir Zersetzungserscheinungen im Innern des griechischen Nachrichtendienstes. Es wäre dies übrigens nicht die einzige. Diese Mischrasse, die wie Ungeziefer die Ruinen des alten Griechenlands bewohnt, hat mit den alten Griechen nur die gegenseitige Verdächtigung, den ständigen inneren Zwist, die Gehässigkeit und den Neid eines gegen den andern gemein. Für uns kann das nur von Vorteil sein. Und da wir Behaeddin sehr bald befreien werden – es ist schon Nachricht nach Brussa gesandt worden, wie Haidar Resched mir sagt« –, so mag der Brief nur seine interne Wirkung tun, wenn man ihn dann noch verwendet. Uns oder Behaeddin kann er nicht mehr schaden. Und die Befreiung Behaeddins ist jetzt das Wichtigste.

»Haidar hat den Bericht, den du so schnell und trotz des Todes Tahssins chiffriert hast, schon weitergeleitet. Nun ist Behaeddin aus Tokat, kennt also die Gegend um Silleh. Ich habe daher vorgeschlagen, daß er mit dem Abfangen und Unschädlichmachen der Sendboten des Großwesirs betraut werde. Er soll, sobald du ihn befreit hast, über Boli an die Küste gelangen und über Samsun nach Amasia gehen. Dort wird er alles Nötige in Erfahrung bringen können. Das ist wichtiger als Varbetian und die Absichten Psaltys gegen ihn.«

»Trotzdem beunruhigt mich dieser Brief«, sagte Halideh, als Sadik schwieg. »Ist doch auch Saranti daran beteiligt. Und da Varbetian in einem seiner Häuser wohnt, also wohl überhaupt mit ihm in engerer Verbindung steht, kann ich mir nicht recht vorstellen, daß er einen derartig gegen Varbetian gerichteten Plan unterstützen sollte. Varbetian steht ihm doch sicherlich näher als Psalty.«

»Noch näher aber werden ihm die Steine Varbetians stehen. Sicherlich sähe er es lieber, wenn Varbetian sie ihm und nicht Baring anvertraute. Sie ließen sich dann leichter weitervererben«, bemerkte Sadik in spöttischer Erklärung.

»Das allerdings können seine Beweggründe sein, wenn er über die Steine Varbetians Bescheid weiß«, antwortete Halideh, noch immer zögernd.

»Einen Teil derselben hat er schon gekauft. Als die Entente Konstantinopel besetzte, hatte Varbetian, der in Kirschehir interniert gewesen war, kein bares Geld. Er kam über Koma zurück. Dort machte er die Bekanntschaft Sarantis, der im Gefolge der Engländer in Konia, wo er Landgüter besitzt, auftauchte. Und dort hat er ihm einige seiner Steine verkauft, um bares Geld zu bekommen. Daher weiß Saranti von den Schätzen des Armeniers. Und ich weiß dies, weil ich damals in Konia mit dem Rücktransport der internierten Ententeuntertanen betraut war. Die Sache spielte sich in meinem Bureau ab. Bist du nun zufrieden?« Sadik hatte mit lächelndem Nachdruck gesprochen, sah er doch, daß Halideh der Angelegenheit des Briefes besonderes Interesse beimaß, und war ihm doch der Grund ihres Interesses in ihrer Freundschaft für Behaeddin nicht unbekannt.

»Dann stimmt es schon, daß wir uns nicht weiter um diesen Brief zu kümmern brauchen. Ich werde also heute abend mich auf den Weg nach Brussa machen. Die Negative werde ich mitnehmen. Sie sind doch fertig?« fragte Halideh.

»Sie sind fertig. Ich werde sie noch etwas besser verpacken. Wie willst du nach Brussa gehen?«

»Ich werde nach den Prinzeninseln fahren. Dort werde ich abends ein Boot nehmen, um mich nach dem Festlande übersetzen zu lassen. Außer Sichtweite der Inseln werde ich dann in der Nacht nach Jalowa segeln. Einen Fischer, der das besorgen wird, habe ich schon.«

»So wird es gehen. Von Jalowa kannst du dann in einem Tage oder zwei bis in die Gegend von Brussa gelangen. Nun leg' dich aber schlafen. Auch ich bin müde«, sagte Sadik aufstehend.

»Das wäre ganz angebracht. Ich möchte gern den Dampfer um zwei Uhr nach den Inseln erreichen. Um fünf Uhr würde es etwas zu spät sein.«

»Du wirst ihn erreichen. Haidar Resched hat mir versprochen, dir noch einige Briefe an Freunde in der Nähe von Brussa und in Gemlik vor Mittag zu besorgen. In Jalowa bist du bekannt?«

»Ich bin über Jalowa hierhergekommen, zusammen mit Tahssin, der von dort stammte. Er bleibt hier. Ich fürchte mich, den Eltern zu begegnen.«

Sadik gab keine Antwort. Er beschäftigte sich damit, eine Matratze auf den Boden auszubreiten, über die er eine Wolldecke legte und ein Leinentuch. Eine Steppdecke vervollständigte das Lager. Erst als er fertig war, wandte er sich Halideh wieder zu:

»Wir werden Tahssin rächen. Von den vier Sendboten des Großwesirs soll keiner wiederkommen«, sagte er bestimmt.

»Aber für die Eltern ist das kein Ersatz«, antwortete Halideh aufstehend.

»Du darfst auch nicht selbst zu den Eltern gehen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß man sie beobachten wird. Ich werde den ganzen Sachverhalt aufschreiben und dir als Brief mitgeben. Diesen Brief sendest du ihnen am besten so, daß er sie erst einen Tag nach deiner Weiterreise erreicht. Man wird dich dann schwerlich mit der Nachricht in Verbindung bringen.«

»Ich danke dir. So gern ich mit seiner Mutter gesprochen hätte. Es ist besser so, und wer weiß, ob nicht auch unser Schicksal sich bald erfüllt.«

»Erst wenn Anatolien befreit ist. Bis dahin müssen wir alles tun, um am Leben zu bleiben. Deshalb lege dich hin und schlafe. Ich werde mich auf den Diwan legen.«

Halideh streckte sich auf dem improvisierten Lager am Boden aus und war bald eingeschlafen. Sadik ordnete noch einige Papiere, schloß die Tür, die auf die Galerie führte, ab und löschte die Lampe. Sich auf den Diwan legend, einem einfachen Holzgestell mit einer Strohmatratze, warf er noch einen Blick durch die Scheiben. Über die niedriger liegenden Häuser hinweg sah er das dunkle, glatte Marmarameer sich bis an den Horizont erstrecken, der schwarz und drohend von einer Wolkenbank verdeckt wurde. Im Zenit des Himmels glänzten einige Sterne. Weit draußen auf See spielte der Scheinwerfer eines fremden Kriegsschiffes. Sonst war nichts sichtbar. Sadik ließ den Vorhang, den er aufgehoben hatte, zurückfallen und legte sich zum Schlafen zurecht.

Das Dunkel der Nacht liegt über Anatolien. Aber Anatolien ist das Land des Sonnenaufganges! zog es voller Zuversicht durch seine Träume.


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