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3. Im Konak Fuad Ali

Der Vorhang, hinter dem man das verwundete Kind gebettet hatte, fiel in seine Falten. Durch die nach dem Wasser offenen Fenster kam ein leichter Luftzug, in dem das Licht der kleinen Petroleumlampe leise zitterte. Sie stand auf dem Boden, und ihr Schein warf einen eng umschriebenen Kreis auf den dunklen Teppich.

Neben ihr, näher dem Diwan, auf dem Behaeddin und Tahssin saßen, befand sich ein einfacher, viereckiger Mangal aus Eisenblech, in dessen Asche die Holzkohle glimmte.

Halideh saß auf einem Kissen am Boden, einen niedrigen Tisch mit Rauchzeug zur Seite, und ihr gegenüber, auf der andern Seite des Kohlenbeckens, hockte Sadik auf der Erde, die Hände über die Glut gestreckt.

Das verwundete Kind lag im Fieber und murmelte hin und wieder abgerissene Worte leise vor sich hin, die undeutlich hinter dem Vorhang vor in das lange, dunkle Gemach drangen.

Der Konak Fuad Ali Paschas war ein großes, langgestrecktes Holzgebäude, dessen Front sich am Bosporus entlang zog. Eine breite Treppe führte von der Eingangstür zum Wasser. Auf der Landseite zog sich ein Garten schmal und verwildert bis zur Mauer, die das Grundstück gegen die Straße hin abschloß. Eine Ecke desselben bildete den Hof mit den halbzerfallenen Wirtschaftsgebäuden.

Das weitläufige Gebäude wurde nur von wenigen Menschen bewohnt. Fuad Ali Pascha war schon lange tot, und seine Erben hatten das Gebäude verfallen lassen. Da Halideh weitläufig mit ihnen verwandt war, hatte sie sich kurzerhand im Konak einquartiert, zwischen den Resten der alten, absterbenden Dienerschaft des Paschas, die niemand auf die Straße zu setzen wagte, auch wenn man sie ohne Gehalt ließ.

So wohnten noch etwa ein Dutzend Menschen in dem zerfallenen Hause, die ihr Leben durch irgendwelche Gelegenheitsarbeit fristeten, soweit dies nicht aus dem Gemüseertrag des Gartens möglich war.

Einer der alten Diener trat ins Zimmer und brachte Kaffee. Die Tassen waren aus feinstem Porzellan. Doch alle beschädigt. Das Kaffeebrett war aus gemaltem Blech, und die Wassergläser hatten verschiedene Formen. Lautlos, wie er gekommen war, zog er sich wieder zurück, nachdem die Anwesenden sich bedient hatten.

Das Wasser des Bosporus schlug in kleinen, klatschenden Wellen an die Grundmauer des Gebäudes, und hin und wieder bauschten sich die zerrissenen, dunkelroten Seidengardinen vor den Fenstern im Luftzug.

»Die Vergewaltigung Meliks hat uns zusammengebracht, schneller als ich gedacht hatte. Sie zwingt mich auch zu der Überzeugung, daß wir schneller handeln müssen als bisher. Nachdrücklicher«, sagte Behaeddin, seine Tasse neben sich auf die Kissen des Diwans stellend.

»Nachdrücklicher wohl, doch hüten wir uns vor jeder Überstürzung. Was habt ihr erfahren?« fragte Halideh.

Ihre gedrungene Gestalt sah auf dem niedrigen Sitz am Boden in den weiten türkischen Frauenkleidern fast unförmig aus. Doch ihr kluges Gesicht, ihre scharfen grauen Augen ließen das vergessen.

Nach der Schlacht, in der Suria durch zähes Festhalten seiner Stellung es dem Pascha ermöglicht hatte, die türkische Armee so zu gruppieren, daß sie die Flanke der langgestreckten, dünnen, sich an die Bahnlinie von Eski Schehir im Pursaktal klammernden, griechischen Truppen bedrohte, und so den ersten griechischen Rückzug zu erzwingen, die Bedrohung Angoras aufzuheben, und einen sichtbaren, durchgreifenden Erfolg der kemalistischen Streitkräfte zu verzeichnen, war Halideh nach Konstantinopel gesandt worden.

Eingedenk der Worte des Majors Suria, daß das Zentrum der feindlichen Triebkräfte sich in Smyrna befinde, wenn auch gestützt auf den Rückhalt der fremden Besatzungen in Konstantinopel, suchte sie seit Monaten die Fäden aufzuspüren, die von den Besatzungsbehörden zu den Griechen in Smyrna führten. Da sie als Kaukasierin geläufig Russisch sprach, hatte sie es verstanden, in der Menge der russischen Flüchtlinge, die die alte türkische Hauptstadt überschwemmt hatten, zu verschwinden und als Blumenverkäuferin unauffälligen Zutritt zu der beliebtesten Bar der Stadt zu finden, wo allabendlich die Offiziere der sogenannten verbündeten Armeen sich in großer Zahl einfanden.

Zusammen mit den drei andern Türken und einigen Hilfskräften, hatte sie ein geheimes Nachrichtenbureau der national kemalistischen Bewegung geschaffen, das über die Häfen des Schwarzen Meers in, wenn auch langsamer, so doch unmittelbarer Verbindung mit Angora stand.

»Nur der Fehlschlag einer schnellen Handlung wird Überstürzung genannt«, nahm Tahssin die Worte Halidehs auf. »Hüten wir uns vor jedem Fehlschlag, aber handeln wir.«

»Du magst recht haben. Wie ist aber die Sachlage? Ich weiß nur, daß dieser Grieche aus Paris oder Marseille, der aber aus Chios stammt, in Beziehungen zu der Valera steht, deren wirklicher Name Eudoria Ellerton ist, und die ebenfalls auf Chios geboren wurde. Sie ist die Geliebte des Majors Baring. Was bezwecken nun diese Chiosleute, die unter sich sicher irgendwelche Beziehungen haben, mit den drei Engländern, die alle dem britischen Nachrichtendienst angehören? Das ist die Frage, die zunächst gelöst werden muß.« –

»Selbstverständlich wollen sie Geld von ihnen erlangen. Aber wie?« fragte Sadik aufblickend.

»Das glaube ich nicht. Wenigstens wird das nicht der erste Zweck sein, denn diese Engländer haben selbst nichts«, entgegnete Tahssin.

»Weißt du das bestimmt?« fragte Halideh schnell.

»Ganz bestimmt. Die Leute haben nur ihren Gehalt, und bei ihren Ausgaben kommen sie mit dem nicht einmal aus.«

»Aber die Valera scheint doch Geld zu haben. Sie gibt viel aus«, warf Halideh ein. »Bestreitet diese Ausgaben nicht der Major Baring?« –

»Das mag sein. Baring spielt und mit Glück. Er wird wohl auch Schulden machen.«

»Welche Ziele können aber die Griechen mit diesen Engländern sonst verfolgen? Da die griechische Armee von englischen Offizieren beraten wird, können die Griechen keine besonderen Geheimnisse aufzuspüren trachten. Sie sind ja Verbündete und die Griechen tanzen nach der englischen Pfeife.«

»Wie der Sterbende nach der des Todes«, sagte Tahssin grimmig. –

»Ich nehme an,« bemerkte Behaeddin, ohne auf die Worte Tahssins einzugehen, »daß es sich vielmehr um eine Unternehmung handelt, zu deren Durchführung der Grieche die Hilfe der Engländer braucht. Möglich, daß er ihnen dafür Geld verspricht, wahrscheinlich sogar. Doch das kann uns gleichgültig sein. Da die Engländer im Nachrichtendienst sind, nämlich insoweit, als sie die Einzelheiten der Lage der griechischen Armee nach London weitergeben, – für die Nachrichten über unsere Stellungen und so weiter kommt eine andere Abteilung in Frage –, muß also das Geschäft oder die Unternehmungen dieses Psalty mit den Griechen zu tun haben. Vielleicht will er wegen des Bedarfs an Proviant oder Munition oder Kleidung Einzelheiten haben?«

»Das wäre nicht unmöglich. Ich glaube aber, daß Psalty solche Auskünfte viel leichter und zuverlässiger bei seinen eigenen Landsleuten erhalten kann«, sagte Halideh.

»Aber die Bestellungen und Lieferungen gehen doch von englischer Seite aus«, warf Tahssin ein.

»Aber auf Grund griechischer Anträge, denn offiziell bezahlt ja Griechenland diese Aufwendungen«, antwortete Behaeddin.

»Sollte nicht der Besuch Psaltys bei Issa Saranti hiermit im Zusammenhang stehen?« fragte Tahssin, sich in seinem Sitz neben Behaeddin zurechtsetzend.

»Weil Saranti Beziehungen in England hat! Das wäre nicht ausgeschlossen.«

»Halt. Also Psalty ist bei diesem Saranti gewesen. Das habt Ihr mir noch nicht gesagt. Ist Saranti nicht aus Smyrna?« fragte Halideh.

»Er hat dort einige Häuser, aber der Hauptteil seiner Besitzungen liegt bei Konia und in der Adanaebene«, entgegnete Behaeddin.

»Psalty hat eine Besprechung mit Baring! Von dort geht er zu Saranti. Saranti hat Häuser in Smyrna. Wißt Ihr, ob ein gewisser Varbetian eines dieser Häuser bewohnt?« fragte Halideh, von einem zum andern blickend.

»Allerdings«, antwortete Sadik. »Es ist ein Haus nahe der großen Moschee, das Saranti an Varbetian vermietet hat. Ich weiß das von einem unserer Agenten, Hamid, der kürzlich in Smyrna war und mir Bericht erstattete.«

»Dann glaube ich auch zu wissen, worum es sich handelt. In den Briefen, die ich Nihad abnahm, und die von Salim stammten, wurde von einem versiegelten Paket wertvoller Steine gesprochen, das zu Baring gebracht werden sollte. Weshalb und wofür wurde nicht gesagt. Nihad nun steht mit Varbetian in Verbindung, das ergibt sich klar aus dem Inhalt der Briefe. Varbetian wieder mit Saranti. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich nun um den Verkauf dieser Steine.«

»Nein, Halideh, darum sicherlich nicht. Diese Griechen, Juden und Armenier brauchen keine Engländer, um Diamanten oder was es nun sei, zu verkaufen«, entgegnete Behaeddin.

»Sie wollen etwas von diesem Baring. Das geht aus den fraglichen Briefen unzweifelhaft hervor.«

»Aber doch nicht, daß er die Steine für sie verkaufen soll! Das erscheint mir unmöglich«, wiederholte Behaeddin seine Behauptung.

»Weshalb aber geht Psalty zu diesem Saranti? Was kann er mit ihm zu tun haben? Ich bin überzeugt, daß es sich um die Steine Varbetians handelt.«

»Darin magst du recht haben. Du hast ja auch die Briefe, die Nihad bei sich hatte, gelesen. Wenn darin von Baring in Verbindung mit den Steinen die Rede war, so liegt es nahe, daß es sich so verhält. Doch der Grund, warum man Baring die Steine anbietet, ist und bleibt unklar.« –

»Bietet man sie ihm an?« fragte Sadik, der bisher nicht gesprochen hatte. »Das wissen wir noch gar nicht! Vielleicht ist der Sachverhalt ein ganz anderer.« –

»In dem betreffenden Briefe, der ohne Unterschrift war, wurde gesagt, daß Nihad sich in den Besitz der Steine setzen und sie an Baring abliefern sollte. Das war alles«, sagte Halideh. »Baring steht also in irgendeinem Zusammenhang mit den Steinen. Die Briefe waren von Salim geschrieben, und Salim wird wohl seine Abmachungen mit den Engländern gehabt haben.« –

»Was sollen aber diese Briefe damit zu tun haben? Nein, auf diese Weise kommen wir nicht weiter. Da Salim tot ist, und die Briefe, von denen du sprichst, ihre Bestimmung nicht erreicht haben, sondern in unsere Hände gefallen sind, wird die Sachlage auch anders sein. Fest steht nur, daß Psalty, die Valera und Baring in irgendein Unternehmen verstrickt sind, an dem auch Saranti beteiligt ist. Wenn Baring nicht den Posten bekleidete, den er einnimmt, würde ich der ganzen Sache keine Bedeutung beilegen«, führte Behaeddin mit leicht erhobener Stimme aus.

»Und trotzdem. Ich bin sicher, daß es sich um die Steine handelt«, blieb Halideh mit ganz weiblichem Starrsinn bei ihrer Behauptung.

Der Wind schien stärker geworden zu sein, denn die Wellen des Bosporus schlugen härter und unregelmäßiger an die Steine der Hausmauer unter den Fenstern.

»Wir müssen die Valera genau beobachten lassen. Dort wird sich am ehesten zeigen, was geplant ist. Ich bestreite gar nicht, daß du mit den Steinen recht haben magst, aber das allein kann uns nicht genügen. Da Salim in Verbindung mit Baring stand, wird sich auch in Verbindung mit ihm die Organisation der Smyrnioten aufdecken lassen müssen, die dort gegen uns arbeitet.« –

»Schon wissen wir, daß er, wenigstens indirekt, in Verbindung mit Saranti und daher wohl auch mit Varbetian steht. Nur die Rolle Psaltys und der Valera ist noch nicht klar«, sagte Tahssin.

Nach einem Augenblick des Stillschweigens fuhr er fort:

»Ich kenne aber den Torhüter des Hauses, in dem die Valera wohnt. Es ist das ein Kurde aus Charput. Wir müssen sehen, die Wohnung der Valera beobachten zu lassen. Vielleicht, daß wir dort den Dingen auf die Spur kommen. Heute abend gingen alle drei Engländer, die bei Psalty gewesen waren, zu ihr hinauf.« –

»Sie ist ein intelligenter Mensch, aber habgierig und skrupellos, wie alle Griechen«, sagte Halideh.

»Die Wohnung, die sie innehat, läuft die Seitenstraße entlang. Es sind vier Zimmer. Die beiden vorderen haben je zwei Fenster, die andern eins. Am Ende liegt die Küche. Das Haus gegenüber ist alt und gehört einem Türken aus Trapezunt, der die Zimmer einzeln vermietet. Ich werde dort einen unserer Leute einquartieren, oder zwei, die die Fenster der Valera beobachten sollen. Mit einem guten Fernglas muß sich ziemlich genau erkennen lassen, was darin vorgeht.« –

Mit diesen Worten zündete sich Behaeddin eine neue Zigarette an und blies den Rauch langsam von sich.

Vom Fenster her rief plötzlich eine Stimme auf französisch:

»Rührt euch nicht, oder ich schieße. Ihr seid meine Gefangenen. Nett, daß ich euch alle zusammen erwische.« –

Ohne sich auch nur umzuwenden, stieß Halideh die Lampe zur Seite, so daß sie zerbrach und verlöschte.

»Kommt schnell«, flüsterte sie auf türkisch. »Hinter den Vorhang. Die Tapetentür ist offen.«

»Verfluchte Brut. Wollt ihr wohl sitzenbleiben«, klang es vom Fenster. Ein schwerer Körper sprang ins Zimmer.

»Feuer,« kommandierte die Stimme, »haltet niedrig.«

Vier, fünf Schüsse knallten schnell hintereinander. Eine elektrische Stablampe leuchtete auf.

Aus dem Zimmer bellte ein Schuß, hart und kurz. Der Mann, der die Lampe hielt, fiel schwer vornüber, und das Licht erlosch im Splittern des Glases. Von den Fenstern her wurde jetzt wie in Salven geschossen. Wohl fünf Minuten lang. Im Lärm des Feuerns ertrank der laute Aufschrei Meliks, die, von mehreren Kugeln getroffen, sich aufbäumte.

Von neuem wurde Licht gemacht, und eine Anzahl englischer Matrosen, geführt von einem Offizier, sprangen in das Zimmer. Ihr Boot lag hart unter den Fenstern, und von seinem Verdeck aus hatten sie den Überfall ausgeführt.

Doch das Zimmer war leer. Den Vorhang zurückreißend, leuchtete der Führer die alkovenartige Nische ab. Auf einem niedrigen Bett lag die Leiche des Kindes, das Behaeddin verbunden hatte. Eine offen stehende Tapetentür zeigte den Weg, den die Türken genommen hatten.

Einen Schuß in die dunkle Öffnung abgebend, sprang der englische Offizier vor und leuchtete in den Gang, zu dem die Tür führte. Er war leer.

»Das Haus muß umstellt werden. Die Barkasse soll die Wasserseite bewachen.«

»Das Haus umstellen«, wiederholte der Untergebene den Befehl und sprang zurück, seine Leute zu verteilen.

»He, ihr beiden, bleibt bei dem Leutnant. Ihr andern folgt mir.« Damit sprang er mit der Mehrzahl der Leute wieder auf das Verdeck der Barkasse, die schnaubend loswarf und die Abteilung am Ende des Hauses, am Gartenkai, absetzte, von wo sie sich im Laufschritt auf die beiden inneren Ecken des Gebäudes verteilte.

»Ihr bewacht diesen Gang«, befahl der Offizier den Zurückgebliebenen. »Jetzt, im Dunkeln, diese Kaninchengänge abzusuchen, hat keinen Zweck. Entkommen kann uns das Gesindel nicht. Und in drei Stunden ist es Tag. Was macht Donald Reed?«

»Er rührt sich nicht«, antwortete einer der Wachmatrosen.

Der Offizier ging langsam durch das Zimmer und beleuchtete mit seiner Lampe den am Boden liegenden Körper des zuerst Eingedrungenen; der Mann war tot.

»Verdammt«, murmelte der Offizier. »Verfluchte Hunde! Nun, ich werde euch schon fassen.«

Er schob den Körper des Toten zur Seite und deckte ein Stück des Teppichs über ihn.

»Oberleutnant Reed ist tot«, sagte er, sich ausrichtend. »Wir müssen die Kerle packen.«

»Aber nicht in dieser Dunkelheit, Herr Leutnant, sonst folgen wir Leutnant Reed nur zu schnell.« –

»Behalte deine Weisheit für dich. Hier, nehmt die Laterne und stellt sie in der Türöffnung auf, so daß das Zimmer im Dunkeln bleibt. Dann kann sich niemand nähern, ohne daß ihr es zuerst bemerkt.«

»Sehr wohl, Herr Leutnant«, und der Matrose führte die Weisung aus, das Licht vorsichtig von der Seite in die Mitte der Türöffnung schiebend. Dahinter türmte er mit dem Fuße eine der Decken auf, auf denen der Körper der toten Melik lag, wodurch der Alkoven wieder ganz in Dunkelheit sank.

Am Ende des Ganges lag Behaeddin auf dem Boden, den Mehrlader schußfertig in der Hand. In der hohlen Linken hielt er einen kleinen runden Taschenspiegel, der es ihm gestattete, den andern Eingang zu beobachten, ohne sich selbst zu zeigen.

Nachdem er die Vorkehrungen der Engländer in allen Einzelheiten verfolgt hatte, ließ er die Hand mit dem Spiegel sinken und zog sie langsam und vorsichtig zurück. Hinter ihm standen seine Freunde und Halideh im Dunkeln der rechtwinkligen Biegung, die der Gang hier machte.

Die Schüsse der Engländer hatten Tahssin leicht am Fuß verwundet, mehr eine Hautabschürfung, als eine Wunde. Sonst war keiner von ihnen verletzt worden.

Im Innern des Hauses war es lebendig geworden. Alle Diener und Dienerinnen liefen aufgeregt durch die Gänge. Niemand aber schien sich in die Nähe des Zimmers wagen zu wollen, in dem die Besucher mit Halideh beraten hatten.

Behaeddin erhob sich und machte den andern ein Zeichen, Halideh andeutend, sie zu führen.

Das Mädchen drehte sich um und ging leisen Schrittes in der Dunkelheit voran. Ihre Begleiter folgten. Mit den Händen tastend, durchschritten sie so einige Säle und Zimmer, bis sie zu einer Treppe kamen, die von einem gegenüberliegenden Fenster scharf beleuchtet wurde. Halideh wandte sich um:

»Bleibt hier stehen. Ich werde sehen, Ahmed zu finden. Er soll uns raten, wie wir hier herauskommen. Viel Zeit haben wir nicht zu verlieren.«

Damit ging sie rasch die Treppe hinauf.

Durch das offene Fenster, das auf den Gartenhof ging, hörten die Eingeschlossenen, wie einige der alten Diener, die, vom Schrecken erfaßt, auf den Hof gestürzt waren, von den Posten gefaßt und unter Fluchen und Schimpfen abgeführt wurden. Im Hause selbst war es jetzt ganz still geworden. Die Wartenden horchten, ohne ein Wort zu wechseln, angestrengt in die Dunkelheit der unbekannten Räume. Vom Hofe klang hin und wieder der Schritt, die Stimme eines der englischen Matrosen, die anscheinend hinter dem Gestrüpp des langgezogenen Gartens lagen und das Haus unter Beobachtung hielten.

Nach einer langen Viertelstunde kamen leise Schritte die Treppe herab, und kurz darauf stand Halideh wieder vor ihren Freunden, begleitet von einem hageren, hochgewachsenen Mann, dessen Kopf ein gewundenes Tuch fast unförmig erscheinen ließ.

»Folgt mir. Ahmed wird uns führen. Er kennt das Haus seit seiner Kindheit, und er ist jetzt fast blind«, flüsterte sie.

»Ich kenne das Haus gut. Habt keine Sorge. In einer halben Stunde seid ihr auf freiem Felde, wo euch niemand suchen wird.« Damit setzte sich der Alte in Bewegung. Durch einige Zimmer hindurch sich tastend, gelangte die kleine Schar in einen neuen Gang. Plötzlich blieb Ahmed stehen und griff mit den Händen am Holzwerk der Täflung entlang. Ein leichtes Geräusch wurde hörbar.

»Hier ist die Tür«, sagte er leise. »Es geht jetzt zwanzig Stufen hinunter. Dann kommt ein Gang, der für einen Mann Raum bietet. Folgt ihm ohne Zögern. Er ist trocken und in gutem Zustand. Ich habe eine Lampe mitgebracht, die ihr anzünden könnt. Wenn ihr eine halbe Stunde gegangen seid, ist der Gang zu Ende. Dort findet ihr viel herabgestürzte Felsblöcke, über die ihr klettern müßt. Der Gang weitet sich zu einer Art Höhle, und es ist schwer, ihn von außen her zu finden. Früher verschloß ihn eine eiserne Tür. Sie ist aber vom Rost zerfressen und liegt am Boden. In der Höhle kommt ihr auf eine umgefallene Säule. An der müßt ihr entlang gehen, nach ihrem oberen Ende zu. Wenn ihr dort angelangt seid, so findet ihr eine Steinplatte auf dem Boden liegen. In dieser Steinplatte ist ein Pfeil eingegraben. In der Richtung, in die der Pfeil zeigt, geht weiter, bis ihr wieder eine ähnliche Platte findet mit einem gleichen Zeichen. Das wiederholt sich sechsmal. Die letzte Platte hat keinen Pfeil, sondern einen Ring, in dem sonderbare Buchstaben eingegraben sind. Seht sie auch genau an und merkt euch den Buchstaben, der in der Richtung liegt, aus der ihr gekommen seid, im Falle ihr in irgendeiner Sache des Ganges und des Hauses Fuad Ali Paschas nochmals bedürfen solltet. Doch von dieser letzten Platte seht ihr den Höhlenausgang. Er öffnet sich nach Norden und liegt unter Gebüsch und Gesträuch verborgen, denn der Eingang ist niedrig. Hinaustretend, seht ihr unter euch die Weggabelung. Geradeaus geht es nach Büjükdere, zur Linken führt der Weg zurück nach Bebek, und rechts geht es nach Stenia. Ihr könnt also wählen. Und nun geht mit Gott! In einer Stunde werde ich den Zugang dieses Ganges unter Wasser setzen, so daß niemand euch folgen kann, selbst wenn man diese Tür entdecken sollte. Doch ihr braucht keine Sorge zu haben. Das Wasser steigt nur bis zur fünften Stufe und vielleicht dreißig Meter in den Gang. Er kann wieder ausgeschöpft werden, wenn ich die Zuleitung abstelle.«

Halideh und ihre Begleiter waren den Erklärungen des Alten aufmerksam gefolgt. Er sprach in wohlgesetzten Worten und schien eine gute Erziehung genossen zu haben, trotz seines verfallenen Aussehens.

»Ich danke dir, Ahmed Effendi. Und sage den andern, daß niemand uns hier gesehen habe, auch mich nicht. Niemand von euch soll das geringste von uns je gehört haben.«

»Auch der Schatten deiner Füße hat nie dieses Haus betreten. Es ist, wie du gesagt hast. Gehe in Frieden!«

Mit schnellen Dankesworten schritt Behaeddin, der dem Alten die Lampe abgenommen hatte, die Stufen der Treppe hinab, gefolgt von Halideh, der sich die anderen anschlossen. Hinter sich hörten sie die Tür sich leise schließen, und vorsichtig tastend folgten sie den Windungen der Treppe, die sie eng und heiß umfing.

»Bleibt stehen,« rief Behaeddin nach einiger Zeit, »ich bin am Fuße der Treppe und werde die Lampe anzünden.«

Bei ihrem Schein verfolgten sie schneller den steil ansteigenden Gang, der, wie Ahmed gesagt hatte, in gutem Zustand und ganz trocken war. Nur war er so eng, daß ein Sichüberholen oder Aneinandervorbeigehen nur für ganz schmächtige Menschen möglich war.

Endlich erreichten sie die Höhle und fanden mit Hilfe der Platten den Weg bis zum Ausgang ohne Schwierigkeit.

Die letzte Platte beim Licht seiner Lampe untersuchend, stellte Behaeddin fest, daß der Kreis griechische Buchstaben trug, und daß der die Richtung der vorletzten Führerplatte anzeigende Buchstabe ein »O« war.

»Hier, merken wir uns das für spätere Gelegenheiten. Man kann nie genug Einzelheiten wissen«, sagte er, den andern den Buchstaben zeigend.

Es war noch ganz dunkel. Nur die Sterne schienen am Himmel, klar und friedlich. Ein frischer Wind kam vom Schwarzen Meer und ließ die Heraustretenden fröstelnd zusammenschauern.

Behaeddin hatte die Lampe ausgelöscht und hinter einen Stein gestellt. Die anderen saßen nahe dem Eingang und spähten in die Dunkelheit. Kein Laut war zu hören. Nur ein Käuzchen schrie, weitab in den Felsen des gegenüber liegenden Hügels.

»Hier können wir nicht bleiben. Wir müssen schnellstens in die Stadt, um nachweisen zu können, wo wir die Nacht verbracht haben, sollte man uns verhaften wollen«, sagte Behaeddin, sich zu den anderen setzend, und zündete sich eine Zigarette an.

»Weshalb soll man uns verhaften? Mir ist der Überfall dieser verrückten Engländer ganz unerklärlich«, fragte Tahssin aus dem Dunkeln.

»Man wird entdeckt haben, daß wir für Kemal arbeiten und wird uns unschädlich machen wollen. Vorwände brauchen diese brutalen Hunde nicht«, entgegnete Sadik.

»Nein, das ist kaum möglich. Wir haben alle ja sogar Ausweise von den ›gesiegt habenden Eroberern‹«, antwortete Halideh, »daß wir in Konstantinopel ansässig sind. Doch immerhin, Behaeddin hat recht. Hier können wir nicht bleiben. Das würde bei Tagesanbruch sicherlich irgend jemandem auffallen, und Konstantinopel wimmelt ja von mehr oder weniger gut bezahlten Spionen und Angebern der Westmächte. Unannehmlichkeiten würden uns leicht erwachsen, und wir haben keine Veranlassung, die Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Wir müssen vor Tagesanbruch verschwunden sein.«

»Das ist unbedingt jetzt das Wichtigste. Alles andere können wir später besprechen. Von hier können wir nach Büjükdere gehen, nach Bebek oder nach Stenia. Oder aber wir können nach Westen gehen und nach Ejub zu gelangen versuchen.«

»Büjükdere und Stenia scheiden aus. Dort würden wir den Engländern direkt in die Hände laufen. In Bebek treffen wir ebenfalls auf Patrouillen. Und Ejub erreichen wir nicht vor Tagesanbruch. Ich schlage vor, wir nehmen den Weg nach Bebek, von dem in der Mitte eine Straße direkt nach Nisan Tasch abzweigt. Nisan Tasch können wir in einer Stunde erreichen und dort meine Wohnung aufsuchen, wo wir weiter beraten können. Und weshalb sollten wir nicht die Nacht bei mir verbracht haben?«

»Sadik hat recht, daran habe ich nicht gedacht. Gehen wir in seine Wohnung«, pflichtete Behaeddin dem Vorschlag bei.

»Aber trennen wir uns hier, bis wir die Straße erreicht haben. Tahssin soll zuerst gehen, und am weitesten links, dann ich, dann Behaeddin und dann Sadik. Tahssin muß, auf der Straße angekommen, warten, bis wir alle bei ihm sind. Wenn wir alle zusammen hier über das Geröll klettern, kann zu leicht ein Geräusch entstehen, einen Hund wecken, Lärm in der Nachbarschaft machen. Und irgendwo muß es hier auch Häuser geben«, schlug Halideh vor.

»Gut. Ich gehe«, antwortete Tahssin und stand auf. Vorsichtig durch das trockene Gebüsch am Eingang der Höhle kriechend, verschwand er in der Dunkelheit. Kurz darauf folgte Halideh und die beiden andern.

Als sie sich auf der Straße wieder gesammelt hatten, gingen sie raschen Schrittes in westlicher Richtung davon. Die Straße schimmerte bleich im Licht der Sterne. Die Felshügel rechts lagen schwarz und schweigend. Hie und da starrte ein Baum in scharfen Linien gegen den Himmel, ein einsames Haus zeichnete sich undeutlich gegen seinen fast immer kahlen Hintergrund ab. Sonst schien alles tot, erstarrt.

Nach einer Stunde Weges erreichten sie die ersten Häuser von Nisan Tasch, und bald daraus die Gleise der Straßenbahn. Nach etwa zehn Minuten wendete sich Sadik zur Rechten und schlug eine schmale Seitenstraße ein, die durch wüstes, leeres Feld führte, das in einiger Entfernung von niedrigen Häusern begrenzt wurde. Als sie diese Gebäude erreicht hatten, blieb er stehen.

»Es wird besser sein, wenn ihr hier wartet, bis ich zurückkomme. Sollte unsere versuchte Verhaftung tatsächlich vorbereitet gewesen sein, so wird man wohl auch unsere Wohnungen umstellt haben. Auf jeden Fall kann eine Erkundigung nicht schaden. Wenn ich in einer Viertelstunde nicht zurück bin, so hat man mich gefangen genommen und ihr müßt sehen, zu flüchten.« –

»Vorsicht kann nicht schaden«, sagte Tahssin ruhig. »Wir werden hier auf dich warten.«

Sadik ging leise und doch eilig davon, während die andern sich auf die Erde setzten.

Doch schon nach einigen Minuten kam ihr Freund zurück. Sein Schritt war schnell, und neben ihm ging eine dunkle Gestalt, die ihn zu begleiten schien.

Die andern standen auf und suchten sich im Schatten des Hauses, vor dem sie sich befanden, möglichst unsichtbar zu machen.

Als Sadik näher kam, winkte er mit der Hand.

»Es ist, wie ich gesagt habe. Das Haus ist bewacht. Glücklicherweise hat Abid davon Wind bekommen und bis jetzt auf mein Kommen gewartet.«

»Abid! Wer ist Abid?« fragte Behaeddin. »Ist es dieser?« damit zeigte er auf den Begleiter Sadiks.

»Ja. Abid ist mein Tschausch, mein Schatten. Er bewacht mein Haus, und als man heute abend nach mir fragte, schöpfte er Verdacht. Doch das hat Zeit. Wir müssen schnell weiter. Abid hat schon meine Freunde in Stambul benachrichtigt. Zu denen müssen wir gehen. Kommt.«

»Ich werde euch führen. Ich kenne einen nahen Weg, auf dem wir schnell nach Ejub gelangen«, sagte die Stimme des Tschausch.

Schweigend setzte sich die kleine Gruppe wieder in Bewegung. Es war schwer, sich in der Dunkelheit und in den sich kreuzenden Gassen niedriger Häuser, über die leeren, steinbesäten Plätze und die wüst liegenden Felder zurechtzufinden. Doch der Tschausch schritt ohne zu zögern vorwärts, den Hügel hinauf und jenseits der Brauerei Bomonti wieder hinab.

Nach einiger Zeit ging es wieder bergauf über leere, trockene Flächen. Zu den Füßen der Flüchtlinge leuchteten die Lichter der Straßen am Goldenen Horn und der Schiffe im Hafen. Oben auf dem Hügel angelangt, sahen sie undeutlich und dunkel am sternbesäten Horizont die Kuppeln und Minarets der Moscheen Stambuls. Der Seraskiertum ragte drohend zum Himmel, und die schweigend zu seinen Füßen liegende Stadt zeigte nur hier und dort einige furchtsam brennende Laternen.

Der Tschausch wandte sich zur Linken und stieg wieder in ein Tal hinab. Bald erreichten sie die ersten Häuser von Kalidsche Oghlu, und durch das Gewirr schmutziger ausgestorbener Gassen kamen sie zum Wasser.

Auch hier schien der Tschausch gut Bescheid zu wissen. Ohne weiteres schritt er auf eine kleine, halbzerfallene Holzbude zu, deren Tür er öffnete. Man hörte einige leise gewechselte Worte, dann kam er, mit zwei Rudern in der Hand, zurück.

»Das Boot liegt hier. Kommt!« sagte er leise.

Nur die Straßenbreite trennte die Wanderer vom Ufer, wo einige Boote festgemacht lagen. Abid betrat eins davon, und steckte die Ruder in die Pflöcke. Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, machte er los und schob das Boot lautlos ins freie Wasser. Mit vorsichtigen Ruderschlägen glitt es dann leise über die Fläche des oberen Innenhafens, um zwischen einem Gewirr von Schiffen aller Art auf der Stambulseite anzulegen.

Abid versteckte die Ruder an Land zwischen einige Balken, und machte seinen Begleitern ein Zeichen, ihm zu folgen.

Nachdem sie die direkt am Wasser liegenden Gassen verlassen hatten, erreichten sie breitere, reinlichere Straßen, in denen einzelne Bäume standen. Hin und wieder brannte eine Laterne. Nach einer Viertelstunde machte der Tschausch vor einem hohen, schmalen Hause halt.

»Hier wohnt Haidar Resched Bey, der euch erwartet, wenn er meine Nachricht erhalten hat.«

Vorsichtig klopfte er an die im Dunkeln liegende Tür, die fast sogleich geöffnet wurde.

»Ich bin es, Abid Tschausch. Hat Haidar Resched meine Nachricht erhalten?« fragte er.

»Er hat sie erhalten. Ihr sollt näher treten«, kam es leise aus dem schwacherleuchteten Innern des Türeinganges.

Als sie die Schwelle überschritten hatten, wurde die Tür leise und vorsichtig wieder geschlossen.

»Folgt mir«, sagte die Stimme eines gebückt stehenden Mannes, der nach der am Boden stehenden kleinen Öllampe griff. Vorausschreitend führte er sie die Treppe hinauf und in ein niedriges, mit Teppichen verhängtes Gemach, das nach hinten zu liegen mußte. Rings um die Wände lief ein breiter Diwan. Ein niedriges, kupfernes Kohlenbecken stand in der einen Ecke auf dem Teppich. An der Wand, zwischen zwei Teppichen hing eine einfache Küchenlampe an einem Nagel. Neben dem Kohlenbecken stand eine Wasserpfeife, deren Mundstück ein Mann in mittleren Jahren in den Händen hielt, der mit untergeschlagenen Beinen in der Ecke des Diwans saß. Seine ausgetretenen Pantoffeln standen vor ihm auf dem Boden.

Beim Eintritt der Besucher sprang er auf und eilte Sadik entgegen, ihn herzlich auf beide Wangen küssend. »Gott sei gelobt, daß du ihnen entronnen bist. Ich warte schon seit sechs Stunden auf dein Eintreffen! Und das sind deine Freunde?«

Damit reichte Haidar Resched einem jeden der andern die Hand.

»Ich danke dir für deine Botschaft, Abid Tschausch«, sagte er zu diesem. »Du hast klug und mit Überlegung gehandelt. Ich bin hocherfreut, daß mein Freund einen so sorgenden Diener hat.« –

Ein Lächeln flog über das Gesicht des alten Soldaten.

»Ich danke dir, Bey Effendi, dein Lob erstickt mich«, Abid legte die Hand an Mund und Stirn.

»Nicht doch, alle danken wir dir«, sagte der Hausherr freundlich. »Doch setzt euch, ihr müßt müde sein.«

»Und ich, darf ich mich zurückziehen? Ich muß eilen, nach Hause zurückzukehren, damit man meine Abwesenheit nicht bemerkt. Ich werde jeden Tag einen Jungen senden, um die Abendzeit, der mir Nachricht bringen wird. Jeden Tag einen andern.«

»Ja, tue das,« antwortete Sadik, »und gehe, damit man nicht auf unsere Fährte kommt, oder dir die Ruder stiehlt.« –

Abid grüßte und verließ das Zimmer.

Die andern setzten sich. Kaffee wurde gebracht. Haidar Resched Bey hatte seinen Platz wieder eingenommen. Ein Diener legte ein Stück glühende Holzkohle auf den Kopf der ausgegangenen Wasserpfeife. Mit leichtem Gurgeln kam sie wieder in Brand.

»Hast du etwas erfahren, wer uns verhaften will und weshalb?« fragte Sadik nach einer Weile.

Er saß neben Haidar Resched zu dessen Linken auf der Schmalseite des Diwans. Rechts vom Hausherrn saßen Halideh und Tahssin, während Behaeddin auf der gegenüberliegenden Seite Platz genommen hatte.

Haidar nahm seine Pfeife aus dem Munde und rückte seinen Fes etwas aus der Stirn. Er war glattrasiert und trug ein bis zu den Füßen fallendes Hauskleid aus grauem Tuch, das bis an den Hals geschlossen war. Die weiten Ärmel fielen ihm bis über die Hände.

»Schon seit einigen Tagen haben die Engländer eine ganze Anzahl von uns verhaftet. Meistens lassen sie das durch die Polizei des Sultans ausführen. Und es scheint auch, als ob der Großwesir seine Hand in der Auswahl der zu Verhaftenden zeige. Wenigstens sind es fast durchweg Gegner von ihm, zum Teil persönliche Feinde, die so festgenommen werden. Es ist gut, daß Abid Tschausch euch warnen konnte.«

»Oh, wir waren gewarnt«, und Behaeddin erzählte in kurzen Worten, was sich im Konak Fuad Ali Paschas zugetragen hatte.

»Wie kamt ihr aber um diese Zeit dorthin?« fragte Haidar Resched, als der andere schwieg.

»Wir hatten Melik dorthin gebracht, ein Mädchen, das uns seit langem behilflich war, ein Kind, das eine französische Patrouille auf das schrecklichste mißhandelt und verwundet hatte. Übrigens ist sie unter den Kugeln der Engländer gestorben«, erklärte Behaeddin ruhig.

»Das hast du gesehen«, fragte Halideh und Sadik wie in einem Atem.

»Ja. Als sie das Licht in die Tür stellten, konnte ich in meinem Spiegel deutlich den Körper des Kindes erkennen. Ihr Kopf und Oberkörper hingen außerhalb der Lagerstätte. Man hatte ihr die Decke weggerissen, die das Licht nach hinten verdeckte. Unter dem rechten Arm war eine große Schußwunde, aus der Blut lief.« –

»Melik, arme Melik! Fürwahr, die Brutalität und Grausamkeit dieser Sieger durch Geld ist nicht auszudenken«, sagte Tahssin nach einer Minute des Schweigens. »Franzosen und Engländer, sie sind beide gleich an Gemeinheit und Hinterlist.«

»Beide aber haben den Willen, unter allen Umständen sich durchzusetzen. Beide sind sehr lebendig. Sie wollen herrschen, rücksichtslos, ohne Hemmung. Darin liegt die Rechtfertigung ihrer Taten. Seien wir ebenso von unbeugsamem Willen beseelt, ebenso rücksichtslos, ebenso egoistisch, und wir werden sie besiegen. Denn es ist der Geist, der Siege erkämpft, nur der Geist, nicht die materiellen Mittel. Geschütze, Gewehre und was dazugehört, der Geist kann und wird sie schaffen. Doch wenn hinter den Geschützen und Gewehren nicht der unbeugsame Wille zum Siegen steht, nützen sie nichts. – Denken wir an Deutschland. Es hatte alles, – aber der Geist fehlte, der Wille, der unbeugsame, einfache, zielsichere Wille zum Siegen, zu nichts als zum Siegen. Den hatten die andern. Daher haben sie gesiegt.

»Auch wir wollen siegen, und wir werden siegen. Nichts haben wir, nichts. Kein Geld und keine Fabriken, keine Munition und keine Geschütze. Gut. Die Feinde, die Griechen, die Engländer selbst werden sie uns liefern! Freunde, denken wir an den Pascha, der arm und verlassen, allein und verloren diesen ungeheueren Kampf aufnahm. In uns ist der Geist lebendig, der Geist, der lebendig macht, der Siege schafft. Denn der Sieg ist nichts Materielles, er ist eine geistige Überlegenheit. In der Begeisterung liegt der Sieg beschlossen, wie das Kind im Mutterleibe. Laßt uns daher nicht verzagen. Mögen sie uns verhaften und verschicken, erschießen und erhängen. Anatolien ist groß. Ana dolu! Mutter des Überflusses, Mutter des Segens! Deine Kinder sind wir, dein Segen bleibt uns! Wir werden siegen. Und selbst wenn wir untergehen, werden wir siegend untergehen.«

Haidar Resched hatte anfangs ganz leise gesprochen. Doch nach und nach war er mit seinen Worten wie gewachsen. Er hatte das Mundstück seiner Pfeife neben sich gelegt und die Hände in die weiten Ärmel über der Brust gekreuzt. Seine Blicke gingen von einem seiner Besucher zum andern. Er brach plötzlich ab. In verändertem Ton fuhr er fort:

»Ich sage euch dies, damit ihr angesichts der grausamen Ungerechtigkeiten, die euch umgeben, nicht den Mut verliert, nicht den Glauben, noch auch nur davon im geringsten berührt werdet. Seht, ihr wißt, ich bin arm. Doch trotz meiner Armut kann ich unserer Sache nützen, kann ich euch helfen. Ich bin schwach und als Soldat nicht zu verwenden. Aber ich will mit meinen Worten eure Herzen stählen. Euren Geist stärken. Ich bin der Diener des Sieges, unsres Sieges.« –

Eine Zeitlang sprach niemand ein Wort. Auch von draußen drang kein Laut in die Stille des Zimmers. Endlich sagte Behaeddin:

»Wir danken dir, Haidar Resched Bey Effendi, wir danken dir. Was wir undeutlich zwar, doch fest in uns tragen, dem hast du Worte verliehen und es greifbar und lebendig vor uns hingestellt. Auch wir wollen nichts als den Sieg. Nichts als den Sieg«, wiederholte er leiser.

»Deshalb müßt ihr hier ausharren. Ihr dürft nicht zurückgehen nach Anatolien und den Engländern das Feld überlassen.«

»Das wollen wir auch nicht. Doch wir müssen uns auch davor schützen, von ihnen gefangengenommen zu werden.« –

»Das laßt meine Sorge sein. Ich weiß, daß sie euch nicht kennen. Nur eure Namen sind ihnen bekannt. Von der Polizei aus hat man sie ihnen verraten, und daß ihr aus Anatolien kommt und zu uns gehört. Ich werde andere an eurer Stelle verhaften lassen, gebt mir eure Papiere. Ehe sich dann der Irrtum aufklärt, wird eure Arbeit hier getan sein.« –

»Ich habe aber den einen der Engländer erschossen«, sagte Behaeddin.

»Auch dafür wird Rat. Sei ruhig. Unter meinen Brüdern gibt es nicht wenige, die auch zu sterben verstehen, wenn es not tut. Doch auch aus englischen Gefängnissen kann man entfliehen, besonders, wenn man Freunde hat. Sei unbesorgt!

»Nur in eure Wohnungen dürft ihr nicht zurückkehren. Ich werde euch andere Papiere beschaffen. Das ist mir nicht so schwer. Wo wollt ihr nun wohnen?«

»Wo wir müssen«, sagte Tahssin.

»Nun, wo müßt ihr wohnen?« fragte Haidar Resched weiter.

»Halideh und ich müssen uns in dem Hause eines meiner Freunde einquartieren, das die Ecke der Kleinen Brunnenstraße und der Sternstraße bildet, unweit des Galata Serail.«

»Wie heißt dein Freund?« fragte Haidar Resched.

»Isset Oghlu Omer. Das Haus gehört ihm, und er vermietet es zimmerweise.«

»Ah, ich weiß jetzt. Das kann ich unschwer für euch veranlassen. Ihr könnt heute abend schon dort einziehen und werdet eure Papiere dort vorfinden. Und wo würde es für euch, Behaeddin Bey und Sadik, am geeignetsten sein, ein Unterkommen zu finden?«

»Für uns ist es gleichgültig, wenn wir nur nicht gar zu weit außerhalb des Stadtinnern wohnen.«

Haidar Resched dachte einen Augenblick nach.

»Ich weiß, wo ihr wohnen könnt. In der Straße hinter dem Galata Serail und in Stambul, nahe dem Bajasidplatz, habe ich Bekannte, die euch aufnehmen werden. Sie werden euch auch die nötigen Papiere besorgen. – Und nun werdet ihr schlafen wollen. Der Morgen steht schon vor der Tür, und hier seid ihr sicher.«

Damit klatschte er in die Hände. Ein Diener erschien.

»Bringe die Betten«, sagte Haidar Resched.

Zwei Leute erschienen und breiteten vier Matratzen auf den Boden, die sie mit weißen Bettüchern bedeckten. Ein rundes Kopfkissen und eine Steppdecke vervollständigten die Lager.

»So. Ich lasse euch die Lampe. Ruht euch aus, so lange es euch beliebt. Möge Allah euch gute Träume senden«, damit erhob sich der Hausherr und schritt zur Tür.

Als er verschwunden war, verloren die andern keine Zeit, sich niederzulegen. Die Lampe brannte niedriger und schwächer und erlosch endlich von selbst. Alles war still im Hause. Nur die regelmäßigen Atemzüge der Schläfer gingen leise durch den Raum.


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