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15. Die brennende Stadt

Die glühende Hitze der letzten Tage des August lag auf der grauen, steinigen Landschaft, die in harten Felshügeln sich ostwärts von Emed erstreckt. Die Blätter der sommertrockenen Büsche standen starr in dunklen Flecken zwischen den nackten Kalkblöcken. Die heiße Luft zitterte über den Hängen, und die fernen Bergkämme hoben sich blaugrau aus dem weißlichen Dunst des strahlenden Himmels.

Fahsli blickte schweigend in das lichtüberflutete, flache Tal, das sich vor den Fenstern des Gefängnisses ausdehnte. Plötzlich schien er zu erwachen.

»Halideh, komm. Sieh, dort reiten Bewaffnete. Sie kommen näher. Halideh! die Unseren!« Das letzte Wort schrie er fast, und zitternd vor Aufregung griff er in die Holzstäbe des Fenstergitters.

Halideh eilte zu ihm.

Auf dem Wege, der am Fuße des abfallenden Geländes am jenseitigen Talhang sich hinzog, wirbelte eine Staubwolke. Ihr voran jagte ein Zug Reiter. Doch deren Bewegung war schon kein Reiten mehr. Sie flogen über die Steine. Wie Bälle zusammengezogen rasten die Tiere in dem eigentümlichen Schnellgalopp der anatolischen Pferde dahin. Sie kamen näher. Kein Zweifel, es waren Reiter der anatolischen Armee. Ihre schwarzen Kalpak schienen in der Sonne zu leuchten. Doch fern waren sie, am Fuße des Hügels. Fahsli rief, und rüttelte verzweifelt an dem Gitter. Der Posten vor dem Hause hatte sich erhoben und blickte ebenfalls auf den Trupp der fernen Reiter.

Hinter Halideh standen die beiden Soldaten.

»Schnell!« rief sie sich umwendend. »Schnell. Hebt mich. Ich will auf das Dach. Schnell!«

Einen Augenblick blickten sie sie unverstehend an. Dann begriffen sie. Wie ein Kind hoben sie Halideh in die Höhe, die mit beiden Händen die Dachziegeln zur Seite riß, die prasselnd nach außen abglitten. Sich am Sparren festhaltend, schwang sie sich durch die Öffnung und stand frei. Ihre Jacke abstreifend, schwenkte sie sie wie eine Flagge und schrie mit der ganzen Kraft ihrer Lunge. Doch die Reiter im jagenden Galopp ihrer Tiere konnten sie nicht hören. Sie strebten Emed zu, dessen erste Häuser hinter einer Biegung lagen.

Da krachte ein Schuß. Der Posten hatte auf Halideh angelegt, und mehr um sie zu erschrecken, als sie zu treffen, geschossen.

»Was schießt du! Willst du sterben! Die Unsern kommen, die Unsern«, und sie winkte mit der Hand nach den Reitern im Tale. Mechanisch wandte der Mann seinen Blick. Auch die anderen Wachtposten waren herbeigeeilt und sahen verständnislos von Halideh auf den bröckelnden Ziegeln des Daches zu dem Posten, der gefeuert hatte.

Da erreichte der Knall des Gewehrschusses die Gruppe der Reiter. Einige zügelten ihre Pferde. Von neuem hob Halideh ihren Rock und schwenkte ihn, rufend. Jetzt hielten auch die anderen. Jetzt bogen sie ab, und ritten schneller und schneller den Hügel hinauf, dem Hause der Gefangenen zu. Näher und näher kamen sie. Schon konnte man ihre schweißbedeckten Pferde unterscheiden. Jetzt erreichte der erste die Tenne, der zweite folgte, und plötzlich war der Platz mit Reitern, mit Menschen und Tieren bedeckt, die wild durcheinander riefen.

Die Posten hatten das Weite gesucht. Nervige Fäuste donnerten gegen die Tür, rissen an den Gittern der Fenster. Halideh war in einem Hagel von Ziegeln bis an den Dachrand geglitten und hatte sich zur Erde fallen lassen.

»Was ist es? Wie kommt ihr hierher? Ich bin Halideh.«

Ein schlanker, tiefbraun gebräunter, junger Mann in Uniform trat auf sie zu.

»Mich sendet Behaeddin. Er wußte, daß ihr hier gefangen wärt. Ich bin Suchdi Kemal, Adjutant des Obersten Suria vom 34. Regiment. Er gab mich frei für diese Aufgabe. Wie geht es dir? Bist du gesund?« Er sprach schnell und doch bestimmt, wie einer, der einen Auftrag rasch erledigen will, weil andere, wichtigere Dinge ihn rufen.

»Wir sind alle gesund. Hier ist Fahsli Bey, hier Dschemal und Ahmed«, Halideh zeigte auf ihre Gefährten, die durch die herausgerissenen Fenstergitter ins Freie sprangen. »Doch wo kommt ihr her? Was ist geschehen?« rief sie noch immer erstaunt und verwirrt um sich blickend.

»Die Schlacht ist im Gange. Seit drei Tagen greifen wir an. Kara Hissar ist unser. Die Griechen weichen. Wir haben ihre Linien durchbrochen. Die Schlacht ist im Gange. Doch noch haben wir nicht gesiegt.«

»Und meine Pläne? Hat Sadik sie nochmals senden können?«

»Davon weiß ich nichts. Doch wir müssen weiter. Verlieren wir keine Zeit. Könnt ihr reiten?«

»Ob wir reiten können! Gebt uns Pferde. Wohin!«

»Nach Smyrna. Doch erst zur Bahn. Die Unseren in den Bergen erheben sich, den Griechen alle Rückzugswege abzuschneiden. Wir wollen die Bahnlinie angreifen.«

Wie betäubt blickte Halideh auf den vor ihr stehenden Offizier, zu den durcheinander sprechenden Soldaten, zu den herumstehenden Pferden. Soeben noch gefangen in den dunklen, stillen Räumen ihres Gefängnisses, in das außer den Schritten der Posten kein Laut von außen drang, jetzt mitten unter ihren Reitern. Und die Schlacht im Gange! Der Sieg nahe, der Sieg!

Sie strich sich über die Stirn und riß sich zusammen.

»Ich danke dir. Doch davon später. Reiten wir. Im Dorfe finden wir Pferde. Kommt.«

Eine halbe Stunde später lag das verlassene Emed hinter ihr. Mehmed war verschwunden. Doch nicht wenige der Bewohner hatten sich den Anatoliern angeschlossen. Verborgene Waffen waren zutage gebracht, Pferde gefunden worden. Der Weg ging nach Süden, über die Berge auf Gedis zu. In der Nacht erreichten sie die Höhen von Uschak. Ein, zwei Stunden Halt, dann ging es weiter.

Endlich lag die Bahnlinie vor ihnen. Ein Zug rollte schwerfällig talwärts. Ohne Besinnen gab Halideh Befehl, ihn anzugreifen. Ein Hagel von Geschossen prasselte auf ihn nieder. Wie in einem Schrei sprang die Maschine vorwärts und riß die überfüllten Wagen mit sich. Donnernd verschwand der Zug um eine Biegung. Ein naher Tunnel verschluckte plötzlich jedes Geräusch. Schnell warf Halideh ihre Leute aus und ließ die Tunnelwache angreifen. Doch die Stellung war leer, die Besatzung geflohen.

»Der Sieg, der Sieg ist im Gange!« rief es in Halideh. »Dank Behaeddin bin ich dabei.« Doch ruhig gab sie ihre Befehle. Schienen wurden aufgerissen. Felsblöcke über die Tunnelöffnung gerollt.

Aus dem Dunkel kam ein Mann. Er führte ein Pferd am Zügel. In der Hand trug er ein Gewehr.

»Du bist der Führer?« sagte er, zu Halideh tretend.

»Das bin ich. Was willst du? Wer bist du?«

»Mich schickt Ibrahim, Demirdschi Ibrahim. Er bittet um Hilfe!«

Halideh wußte, daß der »eiserne« Ibrahim die ganze Zeit der griechischen Besetzung den Eindringlingen die Stirn geboten und im Mäander- und im Kayster Tale von den unwegsamen Bergen aus mit einer Handvoll Leute die griechischen Abteilungen durch ständige Angriffe beunruhigt hatte.

»Wo ist er?«

»Die Griechen fluten auf Denisli zurück. Sie verwüsten alles auf ihrem Wege. Hier ist die Bahn. Hier fliehen sie ohne Aufenthalt. Doch dort in den Tälern brennen sie jedes Dorf nieder, morden alles Lebendige, Menschen und Tiere, Männer, Frauen und Kinder, ja bis auf die Bäume. Und Ibrahim ist allein. Komm und hilf ihm. Er hat mich nach Norden gesandt, um Hilfe zu finden.«

»Mit meinen Tieren kann ich nicht vor zwei Tagen in Denisli sein. Das ist unmöglich. Sie brechen zusammen.«

»Drei Stunden von hier sind frische Pferde, versteckt in den Bergen. Ich führe euch. Hier ist das Siegel Ibrahims, daß du mir vertrauen kannst«, und der Mann hielt Halideh einen Bogen Papier hin.

»Für dich bürgt dein Leben! Doch gib, später werde ich es lesen. Ich folge dir.«

Sie gab die nötigen Befehle. Am nächsten Abend war sie mit ihren Reitern auf frischen Tieren in Bulladan, 80 Kilometer südlich. Hier fand sie Nachricht von Ibrahim, daß er sie in den Bergen nördlich von Nasli erwarte. Sechs Stunden darauf ritten sie weiter. An die 200 Reiter folgten ihr jetzt.

Sengend und brennend wälzten sich die flüchtenden Scharen der griechischen Mordbanden durch das blühende Mäandertal westwärts. Was zerstört werden konnte, wurde zerstört, was ermordet werden konnte, wurde ermordet. Doch zum Rauben blieb ihnen keine Zeit. Hart drängte die türkische Truppe hinter dem fliehenden Heer. Irgendwo war ein großer Sieg errungen worden. Niemand wußte Näheres. Einige griechische Truppenteile hielten noch verzweifelt im Gebirge stand und suchten den unwiderstehlichen Ansturm der so verachteten Anatolier abzuwehren. Doch sie waren schon im Norden und Süden überflügelt. Unaufhaltsam, methodisch und in voller Ordnung drängten die Truppen des Paschas vorwärts.

In den staubverbrannten Augen der anatolischen Soldaten glühte das Fieber. So schnell sie auch eilten, so übermenschlich auch ihre Anstrengungen waren, jedes Dorf, das sie erreichten, war verbrannt, jeder Ort stand in Flammen. Die Leichen der Bewohner lagen auf den Straßen, Männer, Frauen und Kinder. Halbverkohlte Körper Verbrannter fanden sich überall in den noch rauchenden Ruinen. Tränen liefen über die braunen, zerfurchten Gesichter der Anatolier. Wut, Schrecken, Rachedurst erfüllte ihre Herzen.

Um so tiefer sie in die lachenden, fruchtbaren Ebenen des Hermes und des Mäander hinabstiegen, desto paradiesischer wurde die Landschaft. Wasser murmelte unter Bäumen. Grüne Flächen dehnten sich. Die breiten Blätter der Feigenbäume rauschten im Winde. Weit streckten sich die Rebengärten. Zypressen verdrängten die heimischen Pappeln. Doch überall unter dem verschwenderischen Reichtum einer gütigen Natur starrten die Trümmer der Häuser, dunsteten die Leiber der mordgierig erschlagenen, wehrlosen Bevölkerung, lag abgeschlachtet das Vieh.

Als Halideh den kleinen Ort im Norden von Nasli erreichte, wo Demirdschi Ibrahim sie erwarten wollte, fand sie ihn leer. Der tapfere Bandenführer war ihr vorausgeeilt, eins der bedrohten Dörfer vor der Vernichtung zu retten.

Die griechischen Truppen waren in den breiteren Tälern zu größeren Verbänden zusammengestoßen, und ihr Zerstörungswerk wurde jetzt ganz systematisch betrieben. Sie umringten jeden Ort, zwangen die Einwohner in die Häuser. Benzin wurde von Panzerwagen und Kraftwagen in die Straßen gesprengt und angezündet. Schnell standen die Orte in lodernden Flammen. Das ausgetrocknete Holz der Häuser fing sofort Feuer. Und die ringsum aufgestellten griechischen Truppen schossen jeden nieder, der, von den Flammen seines brennenden Hauses getrieben, sich ins Freie zu retten suchte. So bezeichneten rauchende Trümmerhaufen den Weg des fliehenden griechischen Heeres, dem jetzt alle Kunst der Engländer nicht mehr zu helfen vermochte.

Wo immer sie konnte, warf sich Halideh mit ihrer kleinen Truppe den Griechen entgegen. Die verbrauchte Munition ersetzte der Feind aus den Kästen, die die Aufschrift: »LONDON« trugen. Jeden Griechen, der in ihre Hand fiel, ließ sie erschießen. Die Leichen der in den Ortschaften Ermordeten waren Schuldbeweise, die keine Verteidigung mehr zuließen.

Mitten in einem Gefecht mit einer der fliehenden Banden, erreichte sie die Nachricht, daß eine größere Zahl der Feinde einen etwa zwei Stunden entfernten Ort angriffen und ihn schon umzingelt hätte.

Schnell raffte sie die Hälfte ihrer Leute zusammen und jagte davon, Hilfe zu bringen. Überrascht stoben die feigen Mordbrenner auseinander, als Halideh plötzlich in ihrem Rücken erschien. Doch zur Hälfte hatten sie schon ihr Werk getan. Tote Männer und Frauen lagen auf den Hauptstraßen des Ortes. Leichen von Kindern mit zerschmettertem Schädel krampften die Hände in den Staub. Doch hier hatte man noch systematischer gewütet. Gekreuzigte, nackte Frauen und Mädchen hingen leblos an den Türpfosten der Häuser, verrenkten ihre blutbefleckten Glieder oder zerrissen im Irrsinn ihrer Schmerzen die Luft mit lautem Schreien. Schon flammten da und dort einzelne Häuser. Bäume lagen gefällt in den Gärten, und das schon halbfertige Werk der Zerstörung wartete nur auf die Taufe mit Benzin, um dem schmutzigen Lorbeer des feigen Hellenentums ein weiteres Blatt anzufügen.

Durch den Ort hindurchjagend, besetzte Halideh den Ausgang. Doch die Überzahl hier war zu groß. Bluttrunken überschütteten sie die Griechen mit einem Hagel von Geschossen. Nur mit Mühe behauptete sich Halideh. Enger schloß sich wieder der Kreis der einen Augenblick überraschten, nach Zerstörung lechzenden Räuberbanden. Schon begann den Leuten Halidehs die Munition auszugehen. Da nahte Hilfe. Im Osten fielen Schüsse. Maschinengewehre tackten. Der Druck gegen die dünnen Linien, die Halideh hielt, wurde schwächer. Im Norden und Süden des Tales drängten fliehende griechische Haufen in immer dichteren Mengen nach Westen. Anatolische Soldaten eilten von Osten herbei und verstärkten die Feuerlinie Halidehs. Selbst zur Straße zurückkehrend, warf sie jeden Mann, der kam, auf ihren linken Flügel, dem nächsten Hügelvorsprung zu, um den fliehenden Feind nochmals zu fassen. Immer weiter erstreckte sich das Feuern. Doch das der Griechen wurde schwächer. Mit dem Glase gewahrte Halideh, wie der Feind sich auflöste und in regellosen Haufen sich zur Flucht wandte.

Aufatmend, wenn auch schweißbedeckt und schmutzig, ging sie die Straße zurück. Türkische Soldaten mühten sich um die Verletzten und Verwundeten. Die gekreuzigten Frauen waren aus ihrer schrecklichen Lage befreit und lagen wimmernd und ächzend am Boden.

An der Weggabelung, wo Halideh sich zuerst aufgestellt hatte, fand sie Suchdi Kemal auf der Erde liegend. Er hatte etwas weiter nach vorn, hinter einer Mauer, ein Maschinengewehr in Stellung gebracht und beobachtete mit dem Glase in der Hand das Schußfeld.

Halideh trat auf ihn zu.

»Wo hast du das her?« fragte sie mit der Hand auf das Geschütz zeigend, das jeden fliehenden Haufen der Griechen, der in Sicht kam, erbarmungslos unter Feuer nahm.

Suchdi Kemal blickte auf. Staubkrusten bedeckten sein Gesicht. Ein Streifschuß an der Stirn hatte ihn verletzt, und das geronnene Blut bildete einen schwarzbraunen Streifen bis zum Kinn.

»Das Maschinengewehr? Suria Bey hat es mir gesandt. Es ist sein Regiment, das uns zu Hilfe kam.«

»Suria?! Wo ist er? Kann ich ihn erreichen?« rief Halideh erfreut.

»Ich weiß nicht, wo er ist. Am Dorfeingang im Osten steht ein Posten; der besorgt die Verbindung«, antwortete der Liegende.

»Ich will sehen, ihn zu finden. Achte auf den linken Flügel, und daß er nicht zu weit vorgeht.« Damit wandte sich Halideh und eilte dem Dorfeingang zu.

»Dort unter jenen Bäumen findest du den Oberst«, beantwortete der Posten ihre Frage, und deutete auf eine, vielleicht zwei Kilometer entfernte Baumgruppe in halber Höhe des Hügels.

Halideh suchte und fand ihr Pferd und ritt auf die Stelle zu. Schon strömten geschlossene türkische Abteilungen in den Ort und setzten die Verfolgung unermüdlich fort.

Überrascht, erfreut sprang Suria auf, als Halideh sich bei ihm meldete.

»Du hier?« rief er und küßte sie zum Willkommen auf beide Wangen. »Du hier! Welche Freude!«

»Und diesmal hast du mir Maschinengewehre zur Unterstützung gebracht«, lachte sie. »Und es ist Tag, und wir haben gesiegt. Oh, Suria, wie wahr sprachst du damals! Smyrna und der Sieg! Smyrna halten wir in unserer Hand. Doch um welchen Preis!« und sie zeigte mit der Hand in die Runde, wo überall der Rauch brennender Ortschaften in die blaue Luft stieg.

»Ins Meer werden wir diese Mordbrenner und Räuberbanden werfen, was davon übrigbleibt«, antwortete der Oberst grimmig. »An mir soll es nicht liegen, wenn einer entkommt! Dieses Gesindel!«

»Doch was ist geschehen, Bey? Ich weiß nicht. Wo kommst du her?«

»Wir nahmen Afiun. Karahissar ...«

»Die uneinnehmbaren Stellungen! Die Stellungen, fester als Verdun?« rief Halideh. »So hat der Pascha die Pläne erhalten?«

»Pläne! Welche Pläne?« fragte Suria verwundert.

»Meine Pläne. Die Pläne, die Sadik photographierte, und die ich bringen wollte, als man mich verriet. Ich hoffte stets, Sadik würde Abzüge davon senden, wußte doch Behaeddin davon.«

»Nein, davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, daß wir Karahissar nehmen mußten. Und als wir es genommen hatten, plötzlich wie ein Sandsturm eine Karawane, da ging es vorwärts. Und bei Dumlu Punar schloffen wir den Hauptteil der griechischen Armeen ein und nahmen ihn gefangen. Der Rest ...! Der Rest ...! Der Rest läuft jetzt in blinder Flucht zum Meer. Und du, Halideh, was tust du hier?«

»Suchdi Kemal befreite mich. Er ist dort im Dorf. Ich eilte an die Bahnlinie, um die griechischen Transporte zu stören. Doch sie waren schon auf der Flucht. Demirdschi Ibrahim bat mich um Hilfe. So kam ich hierher. Einigen der unseren werde ich das Leben gerettet haben. Viel konnte ich nicht tun.«

»Viel hast du getan, sehr viel. Deinen unermüdlichen Angriffen haben wir es zu danken, daß wir ohne ernstlichen Widerstand so schnell vorwärts kamen. Doch wir wollen auch hier nicht Rast machen. Ich befehlige eine Brigade. Die Regimenter sind nicht ganz vollzählig. Der Feind – wenn man dieses feige Gesindel noch als Feind bezeichnen soll – ist es aber noch weniger. Ich will mich an seine Fersen heften und gleichzeitig mit den Griechen in Smyrna einziehen. Denn erst Smyrna ist der Sieg, ist der Friede. Schließe dich mir an. Ich gebe dir das erste Bataillon des 34. Regimentes. Sein Major ist gefallen. Es muß in einer halben Stunde hier eintreffen.«

»Ich danke dir, Bey. Ich danke dir.«

»In vier Tagen, wenn möglich in drei, will ich in Smyrna sein«, gab Suria zur Antwort. »Jeder Tag, jede Stunde früher rettet Hunderte, vielleicht Tausende der Unseren.«

»Und soll Tausenden dieser Griechen zum Verderben werden«, sagte Halideh. »Ich werde das Bataillon im Dorf erwarten.«

»Tue das. Dort marschiert schon das dritte. Das erste folgt.«

Halideh schwang sich auf ihr Pferd und ritt zurück in den halbverwüsteten Ort. –

In der Nacht des dritten Tages trafen die Truppen auf den Höhen des Pagusberges «in. Als die Sonne aufging, lag Smyrna zu ihren Füßen, lang hingestreckt an der tiefen, breiten Bucht. Ausgerichtet hintereinander ankerten dort die fremden Kriegsschiffe in langen Reihen. Die Engländer und die Franzosen, die Italiener und die Amerikaner. Zwischen und hinter ihnen strebten Fahrzeuge aller Art dem freien Ausgange des Golfes zu, auf denen die kläglichen Trümmer des von England so blendend ausgerüsteten griechischen Heeres das Weite suchten. Und mit ihnen floh, was nur immer von der griechischen Bevölkerung fliehen konnte. Die Nachrichten von dem Wüten der Griechen auf ihrem Rückzuge waren schon bis in die Stadt gedrungen. Panische Furcht hatte die Bevölkerung gefaßt, daß die anrückenden, anatolischen Truppen sie entgelten lassen würden, was sie auf ihrem Vormarsch hatten sehen müssen. So suchte alles, was irgend konnte, sich zu retten, und wenn es in offenen Ruderbooten geschehen mußte.

Im Vertrauen auf ihre mächtigen Flotten blieben die fremden Kolonien, die Engländer, Franzosen und Italiener, in der Stadt. An sie Hand zu legen, würden sich diese anatolischen Banden wohl hüten! Ein einziger Schuß der großen Geschütze der Kriegsschiffe würde genügen, ganze Stadtteile in Trümmer zu legen. Wenn diese Anatolier es auf einen Kampf ankommen lassen wollten, so würde kein Stein Smyrnas auf dem andern bleiben, und die Frucht ihres Sieges würde in ihrer Hand verdorren und zu Asche werden. Daher betrachteten die Angehörigen der Ententestaaten den Auszug der griechischen Bevölkerung mit Gefühlen, in die eine gewisse Schadenfreude sich mischte, sogar eine gewisse Genugtuung, ging doch mit den Griechen die Hauptkonkurrenz außer Landes.

Doch die Kriegsschiffe blieben stumm. Grau und verschlossen lagen sie auf den blauen Wassern des Golfes.

Die Regimenter Surias machten sich zum Einmarsch fertig. Still und schweigend lag die Stadt zu ihren Füßen. Die Bataillone ordneten sich und setzten sich in Bewegung. Suria ritt an der Spitze, das braune Gesicht unbeweglich unter dem schwarzen Kalpak. Er ritt ein weißes Pferd, das trotz der Anstrengungen der letzten Gewaltmärsche stolz, als sei es der Bedeutung des Tages bewußt, den feinen Kopf hob, des Tages, an dem die Türken, die verachteten anatolischen Banden wieder von Smyrna Besitz ergriffen, der ganzen Welt zum Trotz.

Die Regimenter erreichten die Stadt und betraten die Straßen, die durch das armenische und griechische Viertel zum Kai und zum Basar führten. Wenige Menschen nur waren zu sehen. Die griechischen Behörden waren geflohen, wie alle anderen.

Warm lag die Septembersonne auf der Stadt, und erfrischend kam der Wind vom Meere, das die meisten der Anatolier zum ersten Male sahen.

Gleichmäßigen Schrittes zogen die Regimenter dahin. Furchtsame Blicke folgten ihnen aus den Fenstern der Häuser, deren Vorhänge zugezogen waren.

Plötzlich fiel ein Schatten vor dem Pferde Surias über die Straße. Das Tier bäumte sich. Ein Krachen zerriß die Luft, und der Schimmel brach zusammen, von einer aus einem Fenster geschleuderten Bombe zerrissen. Im Fallen war der Oberst aus dem Sattel geglitten und stand neben dem in Todeszuckungen um sich schlagenden Pferde.

Keine Muskel in seinem Bronzegesicht zuckte. Er hob die Hand und die Regimenter hielten.

Halideh, die an der Spitze ihres Bataillons hinter dem Oberst und seinem Stabe ritt, hatte den Vorgang gesehen, rief einige Befehle und galoppierte herbei. Aus dem Sattel springend, bot sie dem Oberst ihr Tier an, das Suria ohne ein Wort zu sagen, bestieg. Das Zeichen zum Weitermarschieren gebend, ritt er an. Da explodierte eine zweite Bombe fast unter dem Pferde, das es in Stücke riß. Suria fiel zu Boden, doch sprang er sofort auf, auch diesmal unverletzt. Einige Schritte von ihm entfernt, lag Halideh auf der Erde. Blut floß ihr aus einer Brustwunde. Der rechte Arm lag hinter ihr wie gebrochen. Das Gesicht war aschfahl und die Augen geschlossen. Ihr einfacher Kalpak lag neben ihr.

Die auf Halidehs Befehl voreilenden Soldaten stutzten. Niemand wußte, aus welchem Fenster, ja aus welchem der toten, stillen Häuser die Bomben geworfen worden waren. Weiß und hell lag die verlassene, armenische Straße im heißen Licht der Morgensonne.

Von hinten dröhnte noch der Marschschritt der Bataillone und verebbte plötzlich im Rufen hastiger Kommandos.

Wie unberührt von dem allen trat Suria auf die regungslos liegende Gestalt Halidehs zu und beugte sich nieder. Einen Augenblick sah er sie an. Dann küßte er sie auf die Stirn. Seinen eigenen, goldgeschmückten Kalpak mit dem Oberstenabzeichen abnehmend, drückte er ihn der Bewegungslosen auf den Kopf. Dann griff er nach dem staubbeschmutzten, schwarzen Halidehs und setzte ihn auf.

Die ersten Glieder des ersten Bataillons, die den Bewegungen des Obersten mit den Blicken gefolgt waren, brachen plötzlich in ein donnerndes Beifallrufen aus, das sich wie eine Welle brausend nach hinten fortpflanzte, wo man nichts von dem Vorgang gesehen haben konnte.

Ein drittes Pferd, das des Adjutanten, stand bereit. Suria stieg zum dritten Male in den Sattel. Doch er hatte noch nicht die Zügel gesammelt, als eine dritte Bombe, hart neben ihm, zur Erde fiel. Schwerverwundet sank er vom Rücken des unverletzt gebliebenen Tieres Authentisch. D. Verf..

Diesmal hatte einer der Soldaten das Fenster gesehen, aus dem der Wurf geschehen war. Die schon bereitstehende Gruppe Halidehs sprang vorwärts, auf das Haus zu, das man ihr bezeichnete. Splitternd brach die Tür in Trümmer. Ein zweiter Zug besetzte die gegenüberliegende Straßenseite, das Gewehr im Anschlag. Doch niemand zeigte sich in den dunklen Öffnungen der Fenster.

Sanitätssoldaten eilten herbei und verbanden den Oberst und Halideh.

Der Oberstleutnant des Regimentes setzte sich an die Spitze und hob den Arm zweimal. Der Befehl lief nach hinten, und von neuem kam Bewegung in die Truppe. Dröhnend marschierte sie durch die tote Straße. Kein Mensch war zu sehen.

Auch das Haus, das die Soldaten nach dem Bombenwerfer durchsuchten, war leer. Die Mauern der dahinterliegenden Gärten waren nicht hoch. Nichts war leichter, als über sie ungesehen zu entkommen.

Von anderen Seiten und durch andere Straßen waren andere Regimenter in die Stadt eingerückt, begeistert von der türkischen Bevölkerung empfangen. Smyrna war in den Händen der Anatolier. Die Griechen ins Meer geworfen.

Doch über den weit hin sich erstreckenden griechischen und armenischen Stadtvierteln lag die Stille der Furcht. Eiligen Schrittes gingen die wenigen der Zurückgebliebenen, die sich aus den Häusern wagten, über die Straßen, ängstliche Blicke um sich werfend. Doch bald erschienen türkische Patrouillen. Gemessen und langsam gingen sie ihres Weges und besetzten die ihnen zugewiesenen Stellen.

Unten am Meeresufer, auf dem kilometerlangen Kai drängten sich die Menschen, um auf die in der Bucht liegenden Schiffe zu gelangen. Gleichgültigen Auges betrachteten die türkischen Posten das verzweifelte Getümmel einer wie sinnlos gewordenen, in fremden Zungen durcheinander schreienden Bevölkerung.

Im Westen der Bucht, hinter der Halbinsel von Kara Burnu ging die Sonne zur Rüste. Goldstaub umflimmerte die Zacken der Berge des Bos Dagh. Es wurde dunkel. Die Lichter der Kriegsschiffe flammten auf. Boote mit hastig und hoch sprechenden Menschen glitten über die schwarzen Wellen des Golfes. Langsam nur wurde es stiller am Kai von Smyrna. Schweigen herrschte in den meisten Straßen. Doch bald hier, bald da gellte ein Schrei auf. Ein Rufen erscholl. Flüchtige Schritte glitten eilig durch die Dunkelheit. Die Unterwelt Smyrnas erwachte und machte sich an die Arbeit.

Doch die Patrouillen türkischer Soldaten wachten. Rücksichtslos nahmen sie alles Verdächtige fest. Plötzlich zerriß ein dumpfes Krachen die Luft, dem tiefe, beängstigende Stille folgte. Langsam glühte ein roter Schein auf, fern im Innern der Stadt, dort, wo die armenischen Häuser am dichtesten standen. Flammen sprangen auf und griffen reißend um sich. An ein Löschen war bei der Verwirrung, die in der Stadt noch immer herrschte, nicht zu denken. Soldaten, übermüdet, erschöpft von Anstrengungen, griffen ein. In harter, rücksichtsloser Arbeit wurde um den Brandherd alles niedergerissen, das Feuer beschränkt. Doch kaum war der Brand an einer Stelle eingedämmt, als jenseits des abgetrennten Platzes eine neue Explosion erfolgte, neue Flammen aufsprangen, neue Brände entfacht wurden. An zehn, an zwanzig Stellen brannte es.

So verging die Nacht. Der anbrechende Tag zeigte die Stadt mit dichten, schwarzen Rauchwolken überlagert. Immer mehr Menschen drängten sich am Kai und in den dahinterliegenden Straßen zusammen. Immer mehr von ihnen drängte, bepackt mit Hausrat aller Art, mit schreienden, übermüdeten Kindern zum Ufer der Bucht. Schreckensnachrichten flogen von Mund zu Mund. Die Türken wollten ganz Smyrna niederbrennen. Von außen sollte die Stadt angezündet werden, und das fortfressende Feuer sollte die Bevölkerung an dem Kai zusammentreiben, bis der Brand die letzte Häuserreihe am Ufer erreicht haben werde. So würde man sie alle ins Meer zwingen. Als Rache für die Verwüstungen der griechischen Armeen im Innern sollte ganz Smyrna vernichtet werden und seine Einwohner im Meer ersäuft.

Geschäftige Gestalten eilten durch die übernächtige Menge und verbreiteten flüsternd Einzelheiten von Greueltaten, die sie gesehen, Gerüchte, die sie gehört hatten. Hunger und Durst machten sich fühlbar.

Die Schiffe im Hafen waren verschwunden, in der Nacht, im Morgengrauen davongefahren. Die Konsulate hatten ihre Schutzangehörigen »für eine Nacht« an Bord kommen lassen! Jetzt schwammen sie weit draußen auf dem weißblauen Meere. Nur die grauen Leiber der Kriegsschiffe lagen unbeweglich und stumm vor ihren Ankern.

Die türkischen Behörden machten verzweifelte Anstrengungen, der Brände Herr zu werden, die immer erneut, wie fressende Geschwüre am Leibe eines Kranken, in der Stadt ausbrachen. Ganze Straßenzüge wurden niedergelegt. Doch neue Explosionen erfolgten, Explosionen, die das geübte Ohr ohne weiteres auf versteckte Munitionslager zurückführen mußte. Man beschloß, die verdächtigen Stadtteile der Armenier, wo alle Brände zuerst sich entfacht hatten, zu durchsuchen, die Männer gefangenzunehmen und abzuführen.

Die Furcht und der Schrecken der zurückgebliebenen griechischen und fremden Bevölkerung stieg. Ziellos wogten die Massen durcheinander. Endlich setzten sich einige in Bewegung, der breiten Straße, die den Golf im Osten und Norden entlang läuft, folgend, nach dem der Stadt gegenüber liegenden Ufer, dem Vorort Karschy Jaka, zu. Andere schlossen sich an. Eine Völkerwanderung begann. Tausende, Zehntausende setzten sich in Bewegung. Frauen trugen ihre Kinder, Männer keuchten unter der Last zu schwerer Koffer. Die wenigen Gefährte waren überladen. Glücklich der, der zu ungeheurem Preise einen Platz auf irgendeinem Wagen gefunden hatte.

So begann der Auszug der Smyrnioten nach Karschy Jaka, nach Kordelio, wo in den Tagen des Glanzes der griechischen Waffen – mit der Aufschrift »LONDON« – der König der Hellenen kurze Zeit Aufenthalt genommen hatte.

Behaeddin war mit seinen Truppen im nördlichen, im Hermestale, vorgerückt und über die Berge von Magnesia in die fruchtbaren Gärten, östlich von Smyrna, hinabgestiegen. Er erhielt Befehl, die am Meeresufer hinführende Straße nach der Landseite zu sperren und das ungeordnete Abströmen der Menge in das Innere der Ebene zu verhindern. So ließ er die ganze, an die fünf Kilometer lange Straße von seinen Soldaten besetzen.

In dichter und dichter werdendem Zuge strömte die Menge aus der brennenden Stadt. Zu erschöpft zum Sprechen, wälzten sich die mit Schweiß und Staub bedeckten Menschen, hungrig und durstig, nach Norden an den Fuß kahler Felshügel, um weiter zu wandern, links das glitzernde, erbarmungslose Meer, rechts die nackten, harten, gleichgültigen Felshänge des Gebirges.

So zogen die ruhmredigen Sieger von gestern, von allen im Stich gelassen, an den Augen der anatolischen Soldaten vorüber. Und wie ihnen zum Hohne glänzten die gewaltigen Geschütze auf den flachen Leibern der still und grau im Golf liegenden fremden Kriegsschiffe, stumm und wie geduckt unter dem Willen eines Stärkeren.

Langsam bahnte der Kraftwagen Behaeddins sich seinen Weg durch die Flut der griechischen Flüchtlinge. Ein neuer Abend senkte sich über die Stadt, die sich weiß und glänzend, wie ein silberner Filigranschleier an den Fuß des ruinengekrönten Pagushügels schmiegt, weit hingestreckt, durchsichtig, wie ein Hauch auf dem Untergrunde grüner Gärten und grauen Gesteins.

Doch über den weißen Gebäuden unten am Meer, wo die Häuser der reichen Griechen und Armenier sich drängten, raste jetzt die Flamme und wütete der Brand. Eine neue Nacht des Schreckens, furchtbarer noch als die vorhergehende, bereitete sich vor.

Behaeddin blickte mit übermüdeten Augen auf die stumm um seinen Wagen wogende Menge. Furchtsame Blicke flogen zu ihm hinüber. Staubdicke Luft schwebte in dichtem Schleier über der Straße. Vom nahen Meere, dessen Wellen kaum einen Steinwurf entfernt zwischen den Ufersteinen spielten, kam der Abendwind, kühlend und frisch, das einzige Labsal dieser für den Übermut, die Habgier und die Feigheit anderer büßenden Menschen, dieser Menschen, die selbst dem Übermut, der Habgier und der Feigheit hohe Altäre gebaut hatten, dachte Behaeddin. Altäre, die jetzt dort drüben in Flammen aufgehen?

Langsam fuhr der Wagen. Plötzlich fiel der Blick Behaeddins auf das Gesicht eines Mannes, das ihm bekannt erschien. Einen Augenblick suchte er in seiner Erinnerung. Wo hatte er diese breiten Backenknochen, die eng beieinanderstehenden Augen schon gesehen? Dieses flache, gierige Gesicht? Psalty, der Grieche aus der Pavilion-Bar in Konstantinopel.

Er rief dem Fahrer einen Befehl zu, und der Wagen hielt. Auf seinen Wink eilte einer der die Straße bewachenden Soldaten auf ihn zu.

»Verhafte diesen Mann.« Und Behaeddin zeigte auf Psalty, der eingeengt in der Menge seinen Weg suchte. »Sende ihn mir sofort in den Konak. Man soll dort sein Eintreffen sofort Wechbi Bey melden. Hier, nimm diesen Befehl«, und Behaeddin schrieb einige Worte auf ein Blatt Papier, das er dem Manne gab.

Der Soldat drängte sich durch die Menge, auf Psalty zu. Der Wagen fuhr wieder an, und Behaeddin sah noch, wie der Mann die Hand auf Psaltys Schulter legte und ihn anhielt.

Langsam nur kam Behaeddin vorwärts, und es war schon ganz dunkel, als er endlich den langen Kai erreichte, wo sich noch immer Menschen drängten, die bepackt mit irgendwelchen hastig zusammengerafften Habseligkeiten der rettenden Straße am Meere hin zustrebten. Denn jetzt brannte das ganze griechische und armenische Viertel. Wohl an die drei, vier Kilometer breit stand die Stadt in Flammen. Das Feuer wälzte sich unaufhaltsam, gierig, brausend dem Meere zu, das weithin in düsterer Glut zu zittern schien.

Endlich erreichte der Wagen Behaeddins den Konak. Das Regierungsgebäude, durch die ganze Breite des Basar von dem brennenden Stadtteil im Osten getrennt, mitten im türkischen Viertel gelegen, war soweit unversehrt geblieben. Dichte Menschenmassen drängten sich in den Anlagen zwischen dem Konak und dem Meer.

Hier hatte die türkische Bevölkerung ihren Mittelpunkt, die, so lange durch die griechische Besetzung unterdrückt, jetzt befreit aufatmete.

Durch eine offene, gewölbte Durchfahrt gelangte der Wagen Behaeddins auf den Innenhof des Gebäudes, wo zahlreiche elektrische Lampen brannten. Soldaten und Offiziere drängten durcheinander. Behaeddin stattete seine verschiedenen Meldungen ab und suchte dann nach dem Büro Wechbi Beys, der das Nachrichtenwesen leitete und sein Freund war. Er fand ihn in einem großen Raume des weitläufigen Gebäudes inmitten einer Anzahl von Offizieren, die an großen Tischen arbeiteten.

»Ich habe einen Griechen verhaften lassen, einen gewissen Psalty«, sagte Behaeddin zu Wechbi nach kurzer Begrüßung. »Die Einlieferung sollte dir sofort gemeldet werden. Doch ich will den Mann selbst verhören, da er nicht weiß, daß ich ihn kenne.«

»Und wo willst du warten, Behaeddin?«

»Auf dem Gang vor der Türe. Ich werde den Posten verständigen. In einer Stunde, einer halben Stunde wird der Mann eintreffen, denke ich.«

»Sobald ich die Meldung habe, gebe ich dir Nachricht.«

Behaeddin ging zur Tür hinaus, wo er sich einen Stuhl geben ließ. Platz nehmend, zündete er sich eine Zigarette an und wartete in der Menge der hin und her eilenden Ordonnanzen, Offiziere und Soldaten auf Psalty, den Freund der Tänzerin, die Osman agha unter den Kesseln der »Gül Dschemal«, der »rosengleichen Schönheit«, verbrannt hatte.

Als Psalty die Hand des Soldaten auf seiner Schulter gefühlt hatte, war er erschrocken zusammengezuckt. Er fühlte, wie sein Gesicht unter der Schweiß- und Staubkruste, die es bedeckte, bleich geworden war.

»Was soll das? Was willst du?« hatte er auf Griechisch gefragt.

Doch der Anatolier verstand kein Griechisch.

»Geh!« hatte er kurz auf Türkisch geantwortet, »geh« und Psalty vorwärts getrieben. Andere Soldaten hatten ihn in Empfang genommen, und der Grieche mußte den weiten Weg zurück in die Stadt antreten.

Seit Tagen suchte er nach einem sicheren Versteck für die gestohlenen Steine. Aus Furcht, beraubt zu werden, hatte er nicht gewagt, mit den griechischen Soldaten zu flüchten. Als die Zivilbevölkerung die letzten Schiffe beim Einzug der Griechen stürmte, hatte Psalty seine Schätze in einem von ihm in Besitz genommenen, verlassenen Hause untergebracht. Doch ganz in seiner Nähe brachen die ersten Brände aus. Nur mit Mühe gelang es Psalty, durch die dunklen Gärten und Gassen zu entkommen. Dann hatte er in einem englischen Hause Aufnahme gefunden, aber bald war es mit anderen Hilfe- und Obdachsuchenden überfüllt, so daß Psalty die von ihm in einem Schrank versteckten Steine wieder an sich nahm. Wenn jemand sie zufällig gefunden hätte, wäre es ihm leicht gewesen, in dem ständigen Kommen und Gehen der vielen, verstörten Menschen zu verschwinden. Jetzt trug er sie, flach eingenäht, um den Leib.

Während er in der Dunkelheit, von zwei Soldaten bewacht, in die Stadt zurückgeführt wurde, zerbrach er sich vergeblich den Kopf, weshalb man ihn, gerade ihn, verhaftet habe. Er kannte Behaeddin nicht und hatte auch auf das Halten des Kraftwagens nicht geachtet, im Streben, so schnell wie möglich Karschky Jaka zu erreichen. Wie konnten die Türken wissen, daß er mit dem griechischen Nachrichtenwesen in Verbindung gestanden hatte? Und selbst dann, welchen Vorwurf konnte man ihm daraus machen? Er war Grieche. Er hatte eine Abteilung des Nachrichtenwesens, der Spionage, geleitet. Was war dabei? Es war das eine Aufgabe, eine Pflicht, wie eine andere. Es mußte irgendein Irrtum vorliegen, eine Verwechselung. Doch man ist nicht weniger tot, wenn man irrtümlich erschossen wird! Und wie leicht waren Irrtümer in dem herrschenden Wirrwarr möglich? Alles flutete durcheinander. Ein jeder hatte nur mit sich selbst zu tun, dachte nur an sich. Die einzige Ordnung war bei der türkischen Armee. Doch wie sollte er sich retten, einmal in deren Räderwerk geraten?

Er hatte seine Pflicht als Grieche getan, auf einem Posten, der Umsicht und Geschick, Tatkraft und Ausdauer in hohem Maße erforderte, wenn er auch vielleicht weniger unmittelbaren Gefahren ausgesetzt war als der eines Soldaten. Doch jetzt kamen die Gefahren! dachte Psalty. Jetzt war er in Gefahr, in großer Gefahr. Oder doch nicht? Es würde sich vielleicht, nein, sicherlich alles aufklären. Wäre er nur in Konstantinopel geblieben! Doch dann hätte er die Steine nicht in seine Hand bekommen können. Mit den Plänen Barings war er nach Smyrna gereist. Während einer Haussuchung bei Varbetian hatte er sie dann plötzlich unter dessen Papieren »entdeckt«. Der Armenier war trotz aller Proteste, trotz des Eingreifens des amerikanischen Konsuls, verhaftet und abgeführt worden. Man hatte Psalty die genaue Untersuchung des ganzen Hauses übertragen, und er hatte Zeit gehabt, das von Varbetian versiegelte Päckchen zu finden. Es enthielt die Steine, Steine von jeder Größe, von jeder Farbe. Diamanten herrschten vor. Doch auch Rubine, Smaragden und Perlen fanden sich.

Psalty hatte sich sogar die Mühe genommen, ein anderes, gleichartiges Päckchen anzufertigen und mit den Siegeln Varbetians zu versiegeln, das er mit einer Anzahl im Verhältnis zu den Steinen wertloser Ringe und sonstiger Schmuckstücke angefüllt hatte. Dieses Paket lag bei den Akten.

Doch die Untersuchung gegen Varbetian war schnell geführt worden. Die Pläne verdammten. Umsonst beteuerte er seine Unschuld. Er wurde zum Tode verurteilt und erschossen.

Psalty hatte kein Mitleid mit ihm gehabt. Wie viele andere, die mehr Anrecht auf die Steine hatten, waren gestorben, im Elend umgekommen, in der Wüste erschlagen worden, verhungert, verdurstet! Die Geschichte Tschilinghirians war Psalty in ihren großen Zügen bekannt. Und Tschilinghirian war nicht der einzige gewesen. Nein, mit dem Schicksal Varbetians hatte Psalty kein Mitleid gehabt, wenn ihn auch manchmal in der Nacht die dunklen Augen des Armeniers plötzlich aus irgendeiner Ecke anstarren, wenn er auch mitten im Gespräch mit anderen manchmal seine Stimme hinter seinem Rücken hörte.

Über zwei Stunden war Psalty auf dem Rückwege. Um sich seiner in der Dunkelheit zu vergewissern, hatte der eine der begleitenden Soldaten ihn mit einem Strick an sich gebunden, nachdem er ihm sein Messer abgenommen hatte. Endlich erreichten sie den Konak. Erschöpft lehnte Psalty sich an die Wand. Hier würde sich sein Schicksal entscheiden.

Nach einiger Zeit führte man ihn über Treppen und Gänge in ein kleines Zimmer, in dem Behaeddin ihn, hinter einem Schreibtisch sitzend, erwartete. Eine schirmlose, elektrische Birne hing von der Decke und tauchte den Raum in ein rohes Licht. Ein, zwei Stühle standen umher. Die offenen Fenster sahen auf den Hof des Konak, in dem der Wind in den Blättern einiger alter, hoher Bäume spielte.

Behaeddin gab dem Gefangenen ein Zeichen, sich zu setzen. Die Soldaten, die ihn gebracht hatten, waren an der Tür stehengeblieben.

»Geht hinaus. Einer von euch soll warten. Der andere mag essen gehen. So könnt ihr euch ablösen.«

Die Soldaten grüßten und verließen das Zimmer.

»Sie heißen Psalty. Was sind Ihre Vornamen«, sagte Behaeddin auf französisch, sich dem Griechen zuwendend und in einigen Papieren blätternd, die vor ihm auf dem Tische lagen.

»Antonides Georg«, antwortete Psalty mit heiserer Stimme.

»Was sind Sie?«

»Ich bin Kaufmann. Ich wohne in Kalamata«, erwiderte der Grieche aufs Geratewohl. »Doch, mein Herr, ich bin seit vielen Stunden unterwegs. Würde es möglich sein, mir ein Glas Wasser reichen zu lassen? Ich verdurste.«

Behaeddin drückte auf eine vor ihm stehende Klingel und befahl dem eintretenden Soldaten, ein Glas Wasser zu bringen, das Psalty durstig trank.

»Was haben Sie hier zu tun?« setzte Behaeddin das Verhör fort, während der Soldat das Zimmer wieder verließ.

Psalty stockte. Sollte er die Wahrheit sagen? Vielleicht ließ sich die Fabel von einem Kaufmann aufrechterhalten. Möglicherweise war das sicherer.

»Ich wollte Feigen kaufen. Dies ist die Jahreszeit, wie Sie wissen.«

»Und was hatten Sie vor zwei Monaten in Konstantinopel zu tun?« fragte Behaeddin ruhig weiter.

»Ich bin Kaufmann, wie ich sagte. Ich hatte dort Geschäfte.«

»Welcher Art?«

»Ich verhandelte mit den Besatzungsbehörden wegen Lieferung von Getreide«, log Psalty ruhig weiter.

Behaeddin warf ihm einen schnellen Blick zu.

»An diesen Lieferungen war wohl auch die Tänzerin Ines Valera beteiligt?« fragte er.

»Nicht eigentlich. Sie ist meine Freundin.«

»Ist? Die Valera ist tot.«

Die türkische Dampfergesellschaft hatte den Vorfall streng geheimgehalten und jedem der Besatzung verboten, bei Strafe sofortiger Entlassung, davon zu sprechen. Von den Mitreisenden wußte niemand etwas Bestimmtes. Das Todesgeschrei der Unglücklichen war aus dem Kesselraum nicht bis nach oben gedrungen. Und die Gerüchte, die im Umlauf waren, hatten Psalty nicht erreicht. Auch hatte keiner an Bord die Valera gekannt.

Psalty war vollständig überzeugt gewesen, daß Ines in Angora ohne jeden Unfall eingetroffen sei, und hatte den Sieg der Türken auf die durch Ines ihnen überbrachten Stellungspläne zurückgeführt. Ihr Schweigen schien ihm unter den Umständen sehr erklärlich und sogar klug.

Die Worte Behaeddins überraschten ihn daher auf das Äußerste.

»Ihr habt sie erschießen lassen! Weshalb? Sie hat euch doch die Pläne gebracht!«

»Woher wissen Sie das?« fragte Behaeddin, den Griechen ansehend.

Psalty schwieg erschrocken. Überrascht hatte er zuviel gesagt. Er biß sich auf die Lippen. Er begriff nicht recht, was denn der andere gesagt hatte. Ines sollte tot sein?! Sie hatte doch die Pläne mit nach Angora genommen! Warum hatten die Türken sie dann erschießen lassen?

»Woher wissen Sie das?« wiederholte Behaeddin ruhig seine Frage.

»Ines war meine Freundin. Sie hatte mir von ihrem Vorhaben gesprochen«, antwortete Psalty endlich wie betäubt. »Doch warum ist sie erschossen worden? Sie wollte der Türkei einen Dienst erweisen. Einen Dienst ...« Er schwieg plötzlich.

»Woher besaß sie die Pläne«, fragte Behaeddin weiter.

»Sie war mit den ... Mit den Franzosen war sie befreundet. Die Franzosen haben sie ihr in die Hand gespielt, um dem Pascha zu helfen. Ohne die Pläne hättet ihr Karahissar nie genommen, würdet ihr heute nicht hier sein. Warum also habt ihr Ines Valera erschossen?« sagte Psalty, sich mit der Hand über die Augen streichend, aus denen ihm plötzlich Tränen rannen.

»Und so genau kannten Sie die Plane? Es waren also die Pläne von Afiun Karahissar, die Ines Valera bei sich hatte?«

»Es waren die genauen Stellungspläne. Mein Herr, ich habe sie selbst abzeichnen und mit türkischen Anschriften versehen lassen. Ich habe die Originale in den Händen gehabt. Der Engländer Baring hat sie mir geliefert.«

»Sagten Sie nicht, die Franzosen hätten sie Ines Valera übergeben?«

»Das sagte ich. Doch ich will die Wahrheit sprechen, auch wenn sie nicht schön ist.« Er trocknete sich mit seinem schweißdurchtränkten Taschentuche das tränennasse Gesicht. Er begriff nicht, warum man Ines erschossen haben sollte. Doch er sah darin eine Gefahr für sich. Wenn er seine Teilnahme an der Erlangung der Pläne aufdeckte, so mußte das einen günstigen Eindruck machen. Durch die Überanstrengungen der letzten Tage, die Übermüdung infolge seines langen Marsches, die Aufregung, wie er die Steine in Sicherheit bringen sollte, war Psalty wie verwirrt. Angstvoll griff sein sonst so beweglicher Geist nach jedem Strohhalm. Die Zusammenhänge entglitten ihm.

»Der Engländer Baring war gut mit Ines befreundet, und ich beredete ihn, uns die Pläne zur Verfügung zu stellen. In der Wohnung der Valera habe ich sie abzeichnen lassen, um sie dem Pascha zuzustellen. Dieser Krieg mußte ein Ende finden, mein Herr. Und dies schien das einzige Mittel.« Er schwieg wie erschöpft.

Behaeddin sah ihn an, ohne eine Frage zu stellen. Nach einem Augenblick fuhr Psalty fort:

»Deshalb sandte ich Ines Valera nach Angora, um euch dort die Pläne auszuliefern. Die Pläne, die euch den Sieg gegeben haben. Warum habt ihr sie da erschossen? Was hat sie euch getan?«

»Die Pläne waren falsch«, sagte Behaeddin langsam.

Als habe er einen Schlag erhalten, sank Psalty auf seinem Stuhl zusammen. »Dann allerdings ...! Und auch ich ...« dachte er verwirrt.

»Die Pläne waren falsch!? Wie ist das möglich?« stammelte er. »... Ich habe die Originale selbst gesehen. Ich kenne die Unterschriften der englischen Offiziere, die sie entworfen und angefertigt hatten.«

Er richtete sich wieder auf. Ein Gedanke war ihm durch den Kopf geschossen.

»Nein, mein Herr. Die Pläne waren nicht falsch. Man hat Ines schuldlos erschossen. Ich kann beweisen, daß die Pläne nicht falsch waren. Man hat die gleichen Pläne hier gefunden, bei dem Armenier Varbetian, der die Spionage gegen die türkische Front leitete. Bei ihm hat man sie gefunden. Dieselben Pläne. Er wollte sie an euch verkaufen. Die Griechen selbst haben die Pläne geprüft und für richtig gefunden. Daraufhin hat man den Mann zum Tode verurteilt. Zum Tode, weil er euch die gleichen Pläne, die richtigen Pläne, dieselben, die euch Ines Valera brachte, verraten wollte. Und Ines habt ihr erschossen.« Psalty sprang auf. Die Erregung war für seinen ermüdeten Körper, für seine überreizten Nerven zuviel.

»Ihr verdankt ihr den Sieg, und sie habt ihr erschossen! Ermordet habt ihr sie. Schande über euch, Schande über den Pascha, der, um eine kleine Belohnung nicht zahlen zu brauchen, einen Mord beging, einen Mord an ...«

Behaeddin hob die Hand, Psalty hielt plötzlich inne. Ihm wurde wieder bewußt, wo er war, was er war. Ein Gefangener. Furcht übermannte ihn. Er fiel auf seinen Stuhl zurück.

»Verzeihung,« murmelte er, »Verzeihung! Ich ...«

»Wir haben Ines Valera nicht erschossen. Sie ist ...« Er zögerte. Diesem Unglücklichen gegenüber wollte ihm das Grausige des Todes der Tänzerin nicht über die Lippen. Mochte dieser Grieche noch so verworfen sein, sie war seine Freundin gewesen. Er hatte ihren Körper in seinen Armen gehalten, diesen Körper, der ...! und Behaeddin strich sich über die Augen, das auftauchende Bild wegzuwischen.

»... sie ist an Bord der ›Gül Dschemal‹ umgekommen«, sagte er dann langsam. »Ein Wahnsinniger, ein Fanatiker hielt sie für eine Armenierin und hat sie mit anderen Armeniern getötet. Er ist später von uns erschossen worden«, fügte er hinzu, wie einen Trost.

»Getötet? An Bord der ›Gül Dschemal‹?« wiederholte der Grieche wie betäubt. »Wer hat die Pläne euch überbracht? Tschilinghirian?«

Ein plötzliches Mißtrauen war in Psalty aufgestiegen. Sollte vielleicht Tschilinghirian Ines ermordet und sich in den alleinigen Besitz der Plätze gesetzt haben?

»Tschilinghirian ist zusammen mit Ines Valera umgekommen«, gab Behaeddin zur Antwort. »Die Pläne, die Sie ihr gegeben hatten, sind nie in unseren Besitz gelangt. Wir haben uns aber diese Pläne selbst verschafft, und diese Pläne waren falsch.«

Psalty fühlte sich wie betrunken. Dieselben Pläne? Was sollte das heißen? Kannte dieser Türke die anderen? Er begriff nur eins: die Pläne wären falsch gewesen.

»Aber Varbetian ist wegen dieser Pläne zum Tode verurteilt worden. Von den Griechen zum Tode verurteilt. Die Griechen mußten die Pläne doch kennen!« antwortete er wie erklärend.

»Woher wissen Sie das?« fragte Behaeddin, wieder in seinen Untersuchungston zurückfallend.

»Weil ich sie ihm ... Weil ich sie selbst bei ihm gefunden habe, und er auf meine Veranlassung hin verhaftet wurde.«

»Auf Ihre Veranlassung!«

»Ich hatte von den Machenschaften Varbetians gehört. Durch den Bankier Saranti war ich mit ihm zusammengebracht worden. Man hielt Haussuchung bei ihm. Ich selbst fand die Pläne ...« Psalty hielt verwirrt inne. Die Zusammenhänge wurden zu verwickelt. Kaum wußte er noch, was Lüge und Erfindung, was Wahrheit war. Er strich sich mit der Hand über die Stirn.

»Und damit er mit seinen Plänen Ihnen und der Valera bei uns nicht zuvorkäme, Ihnen, der Sie dasselbe zu tun beabsichtigten, wie er, deshalb zeigten Sie diesen Varbetian den Griechen an?« fragte Behaeddin betroffen, erschüttert von so viel Gemeinheit und Hinterlist.

Als er den Namen des Armeniers aussprach, sprang seine Erinnerung plötzlich zurück, und er hörte die Worte Fethy Beys in Silleh. Was hatte er doch gleich gesagt? Mateossian, der heute Varbetian heißt, – an der Ecke der Straße der Kameltreiber und der Gasse zum Viertel der Kesselschmiede, nein, der Hufschmiede, dort findest du die Steine! Hatte dieser Grieche außer den Plänen, die dem Varbetian den Tod brachten, auch die Steine gefunden? Hatte er den Armenier deshalb an die Griechen ausgeliefert? Hatte er ... Behaeddin sah plötzlich, wie erschreckt von seinen eigenen Gedanken, in die Höhe; hatte dieser Grieche die Pläne selbst in das Haus des Armeniers gebracht, die Pläne, die er behauptete, selbst abgezeichnet zu haben? Hatte er es getan, um die Steine zu stehlen?

Wie mit Gewalt mußte Behaeddin suchen, in seine Gedanken Ordnung zu bringen. Er hatte Psalty vor sich, den Griechen, von dem er wußte, daß er an die Spitze der griechischen Spionage in Konstantinopel gestanden hatte. Namen wollte er von ihm hören. Das andere war nebensächlich. Da war Saranti ...

»Also Sie kannten Saranti?« fragte er weiter. »Er empfahl Sie an Varbetian, der in der Straße der Kameltreiber wohnt und früher Mateossian hieß.«

Einen Augenblick sah ihn Psalty mit weitgeöffneten Augen an. Dann sprang er auf. Er zitterte am ganzen Körper.

»Lassen Sie mich nicht erschießen! Sie haben ja schon Ines Valera getötet. Ines ... Ich gebe Ihnen auch die Steine. Ich brauche sie jetzt nicht mehr. Ines hätte sich an ihnen gefreut. Ich bitte Sie, mein Herr, geben Sie sie ihr. Aber lassen Sie mich nicht erschießen. Nein ... nicht erschießen ... Ines wird sich freuen.«

Er nestelte mit zitternden Fingern an seinem Anzuge und zog plötzlich einen länglichen Beutel hervor, den er auf den Tisch legte.

»Hier sind sie, mein Herr. Ich gebe sie Ihnen. Lassen Sie mich nicht erschießen. Viele sind um sie getötet worden! Varbetian auch. Auch Ines. Doch Ines haben Sie erschossen. Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Nehmen Sie die Steine. Geben Sie sie Ines Valera. Niemand tanzt wie sie. Ihr Lachen ist Licht. Ich aber muß jetzt gehen. Es ist spät. Die Steine habe ich Ihnen gegeben. Ich brauche sie nicht mehr. Nein. Ich brauche sie nicht mehr.«

Psalty sah Behaeddin für die Spanne eines Herzschlages starr an. Aus dem Hofe des Gebäudes drang undeutlich das Geräusch vieler Schritte. Der Wind rauschte in den dunklen Blättern der Bäume, deren Äste bis an das geöffnete Fenster reichten. Aus der Ferne drang dumpf der Schall einer Explosion.

»Ich danke Ihnen, mein Herr. Ich werde jetzt gehen. Leben Sie wohl. Guten Abend.«

Psalty machte eine Verbeugung. Aus seinen Augen sprach der Wahnsinn. Behaeddin sprang auf. Was sollte er mit diesem Irrsinnigen. Er konnte ihm nichts mehr verraten.

Behaeddin ergriff mechanisch die Hand, die Psalty ihm reichte, von kaltem Entsetzen überrieselt.

»Nochmals auf Wiedersehen, mein Herr«, sagte Psalty und wandte sich zur Türe.

»Die Posten«, dachte Behaeddin und folgte ihm.

Psalty öffnete die Tür und ging hinaus.

»Er ist frei«, sagte Behaeddin. »Begleitet ihn bis auf die Straße und laßt ihn gehen.«

Mochte Gott selbst mit diesem Gezeichneten nach seinem Ratschluß verfahren.

Der Grieche ging mit schnellen Schritten zur Treppe, den Hut in der Hand. An der ersten Biegung blieb er stehen und wendete sich um. Die Blicke seiner irren Augen hefteten sich auf Behaeddin, der ihm von oben nachsah.

»Ich werde Ines suchen. Sicher braucht sie mich«, sagte er. Damit eilte er plötzlich weiter. Die Soldaten folgten ihm. Draußen vor dem Konak verschwand er in der Menge.

Behaeddin trat in das Zimmer zurück und nahm das Päckchen auf, das Psalty zurückgelassen hatte. Es wog nicht leicht. Vorsichtig trennte er es auf. Zwei Handvoll glitzernde Steine rollten über die Tischplatte. Diamanten und Rubinen, Smaragden und Perlen. Doch in ihrem funkelnden Blitzen glaubte Behaeddin überall die Blicke des Irrsinnigen zu sehen, den die Rache Varbetians, des Armeniers, erreicht hatte.

›Wie viele sind wohl schon um euch gestorben?‹ dachte Behaeddin. ›Wieviel Träume, glänzender als ihr, mögen wohl um euch schon gespielt haben? Schon haben sich die Toten an Varbetian gerächt. Und Ines Valera!‹ Behaeddin schauderte zusammen. Er strich die Steine zurück und schloß das Paket wieder.

›Draußen in der Nacht, in der brennenden Stadt, unter den Tausenden, die ein gerechtes Gericht getroffen hat, irrt dieser Irrsinnige. Ich will nichts mit diesen Steinen zu tun haben. Mag der Pascha damit tun, was ihm beliebt.‹

Mit diesen Gedanken nahm er das Paket auf und ging zu Wechbi.

»Hier. Nimm dies. Gib es dem General. Ich habe es in der Stadt herrenlos gefunden. Er soll es dem Pascha aushändigen.«

Damit legte er das Paket neben Wechbi nieder.

»Ich werde das veranlassen«, sagte der Vielbeschäftigte, von seiner Arbeit aufblickend. »Und dein Gefangener! Was hast du mit ihm getan?«

»Er ist ein Irrsinniger. Er ist von Gott geschlagen. Ich habe ihn gehen lassen. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.«

»Um so besser. Sieh, was man mir schon wieder aufgebürdet hat«, und Wechbi zeigte auf die Stöße Papier, die sich auf seinem Schreibtisch häuften.

»Dann will ich dich nicht länger aufhalten«, und Behaeddin schüttelte dem Freunde die Hand.

Seinen Wagen im Hofe besteigend, fuhr er zu seinen Truppen zurück, langsam und vorsichtig, denn noch immer strömten Tausende aus der brennenden Stadt.

Das Feuer hatte sich jetzt bis zur vorletzten Straße vor dem Meeresufer ausgebreitet. Der Kai war an den Mündungen der Querstraßen taghell beleuchtet. Es konnte nur noch eine Frage von Stunden sein, und auch die stolzen Reihen prächtiger Häuser, die den Golf hier säumten, mußten den Flammen zum Opfer fallen.

Damit war das Fremdenviertel Smyrnas vollkommen zerstört. Wo Griechen, wo Armenier gewohnt hatten, wütete jetzt der Brand. Mauern barsten. Dächer stürzten zusammen und zügellos brausten die Flammen gen Himmel. Die ganze Bucht war in Gold getaucht, in dem die fremden Dreadnoughts und Schlachtkreuzer wie stumme Geisterschiffe leuchteten.

Schwer wälzten sich die Rauchwolken zum Gipfel des Pagusberges. Schweigend und wie betäubt zog am Ufer des Meeres die Menge der Obdachlosen durch die Dunkelheit, in der ihnen kein Licht leuchtete, außer dem ihrer jenseits der Bucht brennenden Häuser.


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