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2. Um die Steine des Armeniers

Die Schaufenster der großen Perastraße in Konstantinopel waren hell erleuchtet. Doch selten nur blieb einer der Vorübergehenden vor ihnen stehen. In ihrem langsamen Schritt hatten sie genügend Zeit, die sich überall wiederholenden Waren mit gleichgültigem Blick zu mustern. Um die frühe Abendstunde war der Strom der Fußgänger mehr als sonst mit bunten Flecken farbiger Damenkleider durchsetzt. Doch am auffälligsten traten die blaugrauen und die staubgelben Uniformen der französischen und englischen Armeeangehörigen hervor, die unter den dunklen Zivilisten im Hut selbstherrlich einherschritten. Ängstlich ging ihnen ein jeder aus dem Wege, denn es war kein Vergnügen, von irgendeiner der zahlreichen Patrouillen, die die Perastraße abschritten, auf den Wink irgendeines der französischen Eroberer festgenommen und abgeführt zu werden, ganz abgesehen von der zur Freilassung dann erforderlichen Zahlung von fünf bis hundert Pfund, je nach der augenscheinlichen Vermögenslage des »Übeltäters«. Am auffallendsten aber war das Fehlen der sonst in der Mehrzahl vertretenen Türken im Fes. Hin und wieder nur begegnete man ihnen. Mit einem undefinierbaren, verschlossenen Ausdruck im Gesicht gingen sie wie teilnahmslos durch die Menge. Ihr Blick schien nichts von dem zu sehen, was sich auf der Straße abspielte.

Die Wagen der elektrischen Bahn polterten dröhnend durch die Enge der Straßen. Droschken fuhren haarscharf um die Ecken. Kraftwagen aller Art überboten sich an Schnelligkeit und Flaggen der verbündeten Länder, von der blutroten englischen bis zur blauweißen griechischen flatterten im Dunkeln der Häusermauern, hie und da grell von irgendeinem Licht beschienen.

Im oberen Teil der Perastraße öffnete sich ein Torweg, dessen innere Seite auf einen hell erleuchteten Gang führte, um Zugang zu einer weit offenen Tür zu geben, die in hundert Lichtern flammte. Rotglühende Schriftzeichen verkündeten, daß hier der Tanztempel › Pavilion Bar‹ seinen Gläubigen sich öffne.

Der erleuchtete Innenhof pumpte aus der großen Verkehrsader der Straße einen beträchtlichen Strom von Menschen in den Vergnügungssaal. Viel Uniformen, mehr noch Zivilisten, hin und wieder einzelne helle Frauenkleider.

An der Eingangsecke war ein Mann stehengeblieben. Sein dunkler Anzug ließ ihn im Schatten des Torpfeilers verschwinden. Ein breiter, weicher Filzhut verdeckte sein Gesicht, in dem nur der brennende Punkt einer Zigarette erkennbar war. Wie gleichgültig schien er auf jemand zu warten. Eine Straßenbahn bremste plötzlich knirschend ihm gegenüber und kam zum Halten. Ein Kraftwagen stoppte und eine Droschke wendete gemächlich. Lautes, schreiendes Fluchen zwischen den verschiedenen Fahrern und Kutschern übertönte den Lärm der Straße. Einige Patrouillen blieben stehen, die Möglichkeit einer »verdienstvollen« Verhaftung irgend jemandes witternd. Der Mann im Filzhut trat raschen Schrittes um die Ecke, ging eilig auf den Eingang der » Pavilion Bar« zu und verschwand im Innern, nachdem er einen schnellen Blick rückwärts nach der Straße zu geworfen hatte.

Zur Linken und Rechten vom Eingang führten einige hölzerne, mit einem abgenutzten Teppich belegte Stufen zu dem hinter den Logen laufenden Gang. Nachdem der Eintretende seine Karte gelöst hatte, wandte er sich links, sprang die Stufen empor und schritt schnell den Gang entlang, bis er die Loge Nummer 7 erreicht hatte. Den schmutzigen roten Vorhang zurückschlagend, trat er ins Innere und ließ sich auf den nächststehenden Stuhl fallen. Der runde Saal lag im Halbdunkel. Nur die Bühne war hell erleuchtet, auf der eine Tänzerin im Matrosenkostüm mehr akrobatische als künstlerische Bewegungen vollführte. Eine rasende Jazzmusik verblödete die staubstumpfe Luft.

Ein schmutziger Kellner trat in die Loge, und der Angekommene bestellte Champagner und vier Gläser.

Der Tanz war zu Ende. Die Tänzerin verbeugte sich unter dem Beifallklatschen der Menge. Das Licht flammte auf. Der Gast in Loge Nummer 7 erhob sich und trat einen Schritt vor. Ein Taschentuch hervorziehend, wischte er sich über das Gesicht und setzte sich wieder.

Der Kellner brachte den Wein, den er auf einen kleinen tragbaren Tisch stellte, und goß eins der Gläser voll. Eine der Blumenverkäuferinnen, die die Bar in allen Ecken und Gängen unsicher machten, trat ein. Wie die meisten der damals in den Konstantinopeler Vergnügungsstätten Tätigen schien auch sie eine Russin. Ihr Alter war undefinierbar. Irgendwo zwischen zwanzig und dreißig.

» Des fleurs, monsieur. Des roses!«

Sie sprach mit dem harten Akzent ihrer Landsleute. Ihre graudunklen Augen waren ausdruckslos.

Der Inhaber der Loge füllte eins der leeren Gläser und schob es ihr hin.

»Feuchte dich an. Du scheinst ebenso durstig wie deine Trockenblumen«, sagte er lachend.

»Danke«, antwortete die Verkäuferin und griff nach dem Glase.

»Oh, das hat keine Eile. Komm, setz dich hierher und rauche eine Zigarette.«

Die Russin warf ihm einen forschenden Blick zu und setzte sich gehorsam.

Im Licht des hellen Saales war das Gesicht des Mannes gut erkennbar. Seine schwarzen, hervortretenden Augen waren groß und standen eng beieinander, so daß die lange, gebogene Nase breiter erschien als sie war. Die fleischigen Lippen seines breiten Mundes verdeckte ein dichter, an den Enden kurz geschnittener Schnurrbart. Das harte Kinn lag leicht zurück und gab dem Gesicht, zusammen mit den ausladenden Backenknochen etwas Flaches, Gieriges und gleichzeitig Furchtsames. Geölte schwarze Haare bedeckten in dichten Strähnen die niedrige Stirn und verbargen fast die grobgeformten Ohren. Trotz sorgfältigem Rasieren hatten Kinn und Wangen einen blaudunklen Schimmer unter der gelblichen Haut.

Gekleidet war der Mann mit der übertriebenen, lächerlichen Eleganz, die alle Mischblütigen kennzeichnet. Sein seidenes Hemd sah weit aus den Ärmeln seines enganliegenden, langschössigen Jacketts hervor. Zwei große, tellerförmige, mit Brillanten besetzte Manschettenknöpfe funkelten und leuchteten bei jeder Bewegung. In der mausgrauen Krawatte schimmerte eine große Perle, von einem Kranz von Diamanten umgeben, und eine Anzahl auffallender Ringe, rote und grüne Steine in schwer goldenen Reifen zierten die behaarten Hände, mit denen er jetzt eine goldene Zigarettendose der Russin hinhielt.

»Wie heißt du?« sagte er dabei nachlässig.

Das Mädchen schwieg, nahm eine Zigarette und zündete sie an.

»Nun, hast du keinen Namen?«

»Was interessiert dich mein Name?«

Sie sagte es gleichgültig, als wiederhole sie Selbstverständliches, und blies eine dünne Rauchwolke in die schwere Luft des Saales, in dem die zweite Jazzkapelle besessen schrie und heulte wie ein überladener Magen im ersten Stadium der Seekrankheit.

»Nun, ich möchte doch wissen, mit wem ich mich unterhalte.« Der Ton der Antwort war höflicher, als der der vorhergehenden Worte.

Das Mädchen sah ihn einen Augenblick an.

»Also du willst dich mit mir unterhalten. Worüber?«

Einen Augenblick fand der Mann keine Antwort. Dann sagte er:

»Wovon du willst. Ich bin fremd hier.«

»Ach, du bist fremd hier!?«

Ihre Augen leuchteten einen Wimperschlag spöttisch auf. Doch nichts im Ton ihrer Worte verriet, daß das bei seinem Äußeren Lächerliche seiner Worte das Mädchen belustigte.

»Ja. Ich bin gestern angekommen. Aus Paris. Dort ...«

»Aus Paris? Ja, das sieht man dir an«, unterbrach sie ihn. »Dort ist es wohl schöner als hier?«

»Nun ja, eleganter, aber hier ist es interessanter.«

»Und was tust du hier?« fragte das Mädchen unbeirrt weiter. Für eine Blumenverkäuferin in einem öffentlichen Barvarieté war ihr Benehmen etwas seltsam unabhängig. Der Mann aber schien es ganz natürlich zu finden, daß die Führung des Gesprächs an sie überging.

»Dir Blumen abkaufen«, antwortete er mit einem breiten Grinsen.

»Dann kaufe.«

»Also trinken wir auf ein gutes Geschäft.« Der Mann hob sein Glas.

Das Mädchen tat ihm ungezwungen Bescheid.

»Du mußt die Blumen aber dort abliefern, wo ich das haben will.«

Ein mißtrauischer Blick streifte ihn.

»Ich bin nicht die Post ...«

»Nein, nur hier im Hause«, fiel ihr der Mann ins Wort. »Ich sehe, daß die Tänzerin der letzten Nummer nochmals auftritt. Willst du ihr die Blumen überbringen?«

»Nichts leichter als das.«

»Nun also. Ich werde ein Wort beilegen. Vielleicht kannst du mir ihre Antwort bringen?«

»Wenn sie eine gibt.« –

»Sie ... oh, ich hoffe doch.«

Das Licht dunkelte. Ein neuer, nicht weniger betäubender Lärm einer andern schweißtriefenden Lärmfabrik setzte ein, und eine dicke, vollbusige Schöne suchte ihn auf der Bühne mit unverständlichen Worten zu übertönen.

Der Mann füllte die Gläser und schob die Zigarettendose über den Tisch. An eine Unterhaltung war nicht mehr zu denken.

Während die Sirene auf der Bühne ihrer Beschäftigung als Nebelhorn nachging, und die Träger der amerikanischen Kultur ihren seltsamen Instrumenten noch seltsamere Verzweiflungsschreie entrissen, entnahm der Mann seiner Brieftasche eine Karte, auf die er mit großen unbeholfenen Buchstaben einige Worte niederschrieb.

Als der Saal wieder hell wurde, überlas er sie und legte sie vor sich auf den Tisch. Das Mädchen sah ihm gleichgültig zu. Der Korb mit den Blumen stand nahe bei auf einem Stuhl.

Der Mann trank sein Glas leer und setzte es auf die beschriebene Karte.

»Wie lange bleibst du noch hier?« fragte er unvermittelt.

Das Mädchen hatte sich eine neue Zigarette genommen, die sie langsam anzündete. Das Streichholz fortlegend, antwortete sie:

»Weshalb interessiert dich das? Gib mir deine Karte, dann gehe ich.«

»Ach, ich meine nicht, wie lange du hier in der Loge bleibst, sondern im Hause. Du mußt mich nicht falsch verstehen.« Er sprach heftig, entschuldigend.

Das Mädchen lachte hellauf.

»Ich habe dich nicht falsch verstanden. Ich gehe, sobald ich meine Blumen verkauft habe, und du willst sie mir ja abnehmen.«

»Nicht alle. Nur soviel, als du Ines Valera geben willst. Hier ist ein Pfund.«

»Du scheinst in der Tat aus Paris zu sein, und Ines Valera scheinst du gut zu kennen.«

Die Russin zerdrückte ihre Zigarette im Aschenbecher, der vor ihr stand, und erhob sich. Ihren Blumenkorb nehmend, wandte sie sich zum Gehen. –

»Nicht so hastig. Setze dich doch wieder. Sagte ich ein Pfund? Ich meine ein englisches.«

»Ach, du meinst ein englisches! Nun, auch das ist immer noch nicht zehn türkische wert. Soviel kosten die Blumen.«

»Nun, dann gib Ines Valera soviel, als ein englisches Pfund kaufen kann.« –

Einen Augenblick lagen die Augen des Mädchens in offenem Spott in denen des Mannes.

»Vielleicht bist du doch von hier, und vielleicht kennt dich Ines Valera sehr gut!«

Die Russin hatte ihre Lider wieder sinken lassen und sich von neuem gesetzt.

Wie überrascht schwieg der Mann eine Atempause lang. Dann lachte er. Doch es klang gezwungen, hart.

»Sicherlich kennst du Ines Valera besser als ich, da ich sie zum ersten Male sehe. Also, wenn du denkst, daß nur dein voller Korb sie verführen kann, mir die Ehre ihrer Bekanntschaft zu gewähren, dann, hier, nimm die zehn Türken. Bald werden sie doch nur ein englisches wert sein.« Damit legte er einen Schein auf den Tisch.

Die Russin streifte ihn mit einem Seitenblick und sagte:

»Da du aus Paris bist, mußt du das wohl wissen. Dort arbeitet man ja mit Macht hierauf hin. – Also, was soll ich Ines geben?«

»Gib ihr diese Karte und all deine Blumen. Sie soll mir sagen lassen, welchen Champagner sie vorzieht, herb oder süß.« –

»In der Tat! Nun, ich werde ihr das bestellen.« Damit nahm die Russin die Karte, die sie sorgfältig las.

»Antoine Georges Psalty« stand in grobem Druck auf der Vorderseite, und mit Bleistift daneben geschrieben: » serait heureux d'avoir la compagnie de Mademoiselle Valéra dans la loge No. 7.«

»Dein Französisch ist hervorragend! Doch wenn man Pariser ist ...!« Der Spott ihrer Worte entging dem andern.

»Das bin ich nicht. Ich bin aus Marseille«, antwortete der Mann.

»Das habe ich mir gedacht. Doch gut. Ich werde dir die Antwort bringen.«

Das Mädchen nahm den Geldschein, den sie genau betrachtete und dann einsteckte. Die Karte legte sie auf die Rosen ihres Korbes.

Sie stand auf und ging mit flüchtigem Nicken durch die Türöffnung, deren roter Vorhang hinter ihr zusammenfiel.

Der Logengang war fast leer. Ein Mann, der einen Fes trug, stand unweit der Loge Nr. 7 an die Wand gelehnt. Als er die Russin erblickte, ging er langsam auf sie zu. Einige Schritte vor ihr blieb er stehen und zog eine Pappschachtel mit Zigaretten hervor.

»Haben Sie vielleicht Streichhölzer?« sagte er flüchtig, als die Russin an ihm vorbeigehen wollte.

»Es ist Ines Valera«, sagte sie, indem sie eine Streichholzschachtel aus ihrem Korb nahm und ihm hinhielt.

»Ich danke Ihnen.« Der Mann gab die Schachtel zurück, nachdem er seine Zigarette angezündet hatte, und ging weiter. Auch die Russin setzte, ohne eine Antwort zu geben, ihren Weg fort.

Im Innern des Saales tobte die Jazz-Musik.

Der Mann im Fes ging langsamen Schrittes nach der Treppe des Ganges. An der obersten Stufe blieb er stehen. Die Menge am Eingang hatte sich gelichtet. Immerhin kamen die Besucher noch in fortlaufender Reihe. Der Mann im Fes wartete anscheinend unbeteiligt, gleichgültig. Doch zwischen den halbgeschlossenen Lidern beobachtete er aufmerksam jeden der Eintretenden. Endlich kamen drei Männer im Abendanzug. Engländer. Der eine wechselte einige Worte mit der Kassierin und nahm seine Einlaßkarten. Zusammen mit den andern kam er dann auf den Wartenden zu. Die drei gingen in gleichgültigem Gespräch an ihm vorüber und betraten die Loge Nr. 7.

Als der Vorhang hinter ihnen zugefallen war, stieg der Mann im Fes die Treppe hinab, ging quer durch den Eingang und die gegenüberliegenden Stufen hinauf. Einen Blick auf seine hervorgezogene Eintrittskarte werfend, suchte er über den Logen, bis er Nr. 21 gefunden hatte. Den Vorhang hebend, trat er ein.

An der Brüstung saßen zwei Männer, die ihm zunickten. Der Mann im Fes legte die Hand an die Stirn und setzte sich auf den ihm zunächststehenden Stuhl.

Auf der Bühne tanzte Ines Valera.

Als sie unter dem Beifallstosen der Menge abtrat, beugte sich der neu Angekommene vor und sagte:

»Ich kann nicht lange bleiben. Behaltet die Loge Nr. 7 im Auge.«

»Das tun wir schon die ganze Zeit, Behaeddin Bey«, antwortete der eine der Männer an der Logenbrüstung.

»Hast du etwas erfahren?«

»Ja und nein, die Valera wird nachher dort in die Loge kommen. Tahssin soll sehen, wo sie später hingeht. Von ein Uhr ab erwarte ich Nachricht am kleinen Tor der Jeni Dschami.«

Der Mann, der Behaeddin den Rücken zugekehrt hielt, beugte zustimmend den Kopf.

»Und ich?« fragte der andere.

»Du, Sadik, mußt diesem Griechen da drüben folgen und feststellen, ob er direkt nach Hause geht. Sollte er sich noch wo anders aufhalten, so warte. Ich werde Melik beauftragen, in deiner Nähe zu bleiben. Das Kind fällt nicht auf –« –

»Nein, das Kind fällt nicht auf.«

»Es soll mir zwischen eins und ein Uhr dreißig Bericht bringen, solltest du selbst nicht kommen können.«

»Es ist gut.« Der mit Sadik Angeredete drehte sein Gesicht wieder dem Saale zu.

Die Unterhaltung war im gleichgültigsten Ton auf türkisch geführt worden und bei dem herrschenden Lärm auch in den Nebenlogen unmöglich verständlich gewesen.

Von seinem rückwärtigen Platz aus konnte Behaeddin die Loge Nr. 7 nicht sehen. Er beugte sich einen Augenblick vor, um einen Blick hinüberzuwerfen. Die drei Engländer, deren Eintritt er beobachtet hatte, saßen in eifrigem Gespräch mit dem Griechen Psalty. Die Valera war noch nicht gekommen.

Behaeddin lehnte sich wieder zurück und zündete sich eine Zigarette an. Dann erhob er sich.

»Ich gehe in den Klub«, sagte er.

Die beiden andern wendeten sich um und nickten ihm zu.

»Viel Vergnügen!«

»Auf Wiedersehn. –«

Als er aus der Loge trat, fand er die russische Blumenverkäuferin auf der Treppe. Bei seinem Anblick schloß sie leicht die Augen und ging die gegenüberliegenden Stufen hinauf. Behaeddin folgte ihr.

Am Ende des Ganges angekommen, blieb sie stehen und wartete. Ihr Blumenkorb war leer.

»Hast du alles verkauft?« fragte Behaeddin auf französisch.

»Wie Sie sehen. Doch ich kann Ihnen schnell andere Blumen verschaffen. Wollen Sie einen Augenblick warten«, und sie verschwand hinter der Tür, die zu den Bühnenräumen führte.

Behaeddin setzte sich auf einen leeren Stuhl und schlug die Beine übereinander. Den Kopf in den Nacken legend, blies er den Rauch seiner Zigarette in leichten Wolken nach oben. Die schwarzen Seidenfäden seiner Fes-Trottel schwangen frei im Luftzuge.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und die Valera trat heraus. Sie trug ein enganliegendes Tuchkleid, das jede Linie ihrer schlanken Gestalt zeigte. Ihre harten, grauen Augen blieben einen Augenblick auf dem Sitzenden haften, der sich aufrichtete, um sie besser zu betrachten. Der volle Mund des Mädchens schürzte sich zu einem verächtlichen Lächeln, und es ging mit schnellen Schritten an Behaeddin vorbei, der ihr mit einer leichten Grimasse nachsah. –

Kaum war die Valera hinter dem Vorhang der Loge Nr. 7 verschwunden, als auch die Blumenverkäuferin wieder zum Vorschein kam und Behaeddin ihren gefüllten Korb hinhielt.

Bedächtig und langsam wählte er einige Rosen. Der Gang war ganz leer. Das Mädchen beugte sich zu ihm herab und flüsterte:

»Sie hat sagen lassen, daß sie den Champagner ›gemischt‹ trinken wolle. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Er ließ fragen ›herb oder süß‹.« Sie sprach in einem reinen, fließenden Türkisch.

»Vorsicht, Halideh«, antwortete Behaeddin aufstehend. »Ich weiß das auch nicht. Wir werden es aber vielleicht noch erfahren. Sage Melik, sie solle auf Sadik warten und ihm folgen.«

Er hatte einige Blumen genommen und gab ihr einen Geldschein. Dann wandte er sich ab und ging langsam den Gang hinunter zum Eingang, und verschwand im Gedränge der Straße.

Das Blumenmädchen sah ihm einen Augenblick nach, mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht, halb Bewunderung, halb Neid. Sie seufzte leicht, ordnete dann ihren Korb von neuem und ging wieder von einer Loge zur andern. Nur Nr. 7 betrat sie nicht.

Dort waren die Engländer von Psalty mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen worden. Er hatte ein neues Glas und mehr Wein kommen lassen.

Als die Bühnennummer, während der die Engländer eingetreten waren, ihr Ende erreicht hatte, zog Psalty seinen Stuhl näher an den Tisch.

»Ich danke Ihnen, Herr Baring, daß Sie mich hier treffen wollten. Es fällt das weniger auf, als wenn ich auf Ihr Bureau gekommen wäre.« –

»Nur müssen Sie Ihre Rolle als Führer und Dolmetscher durch die Stadt des Unheils recht betonen, mein Lieber«, antwortete der andere, sein hölzernes Gesicht zu einem Grinsen verziehend.

»Meine Freunde, Leutnant Forster und Doktor Wood, kennen Sie wohl noch nicht?« Damit machte Baring eine flüchtige Handbewegung auf seine Begleiter hin.

»Von Ansehen wohl,« beeilte sich der Grieche zu versichern, »wenn ich auch noch nicht den Vorzug hatte ...«

»Schon gut. Also dies ist unser Psalty, der bewährte, bekannte Psalty unserer Berichte«, bemerkte Baring, dem andern das Wort abschneidend.

Der jüngere der beiden andern Engländer, dessen glattrasiertes, blondes Gesicht nur eine hervorstehende Nase als besonderes Kennzeichen hatte, machte eine leichte Bewegung.

»Es freut mich sehr, Sie persönlich kennenzulernen«, sagte er mit einer unbeholfenen Verbeugung gegen den Vorgestellten.

Doktor Wood blies den Rauch seiner Zigarette über den Tisch.

»Sie entsprechen ganz meiner Erwartung, Herr Psalty. Ganz.« Der Doktor war ein schon älterer Herr, mit einem dichten, grauen Schnurrbart. Kleine, bewegliche, braune Augen blitzten unter buschigen Brauen. Das mehr schmale als breite Gesicht war tiefgebräunt.

Dem Griechen entging der Hohn, der in den Worten des andern lag. Geschmeichelt verbeugte er sich.

»Es freut mich sehr, daß Sie sich überhaupt mit mir beschäftigt haben. Ich tue, was ich kann, unserer gemeinsamen Aufgabe zum Siege zu verhelfen.«

»Gemeinsamen Aufgabe ist vorzüglich«, lachte der Leutnant.

»Doch hierfür ist meine offizielle Stellung ja genügend geregelt«, fuhr Psalty unbeirrt durch das Lachen des andern fort. »Wenn ich mir erlaubt habe, Sie zu bitten, mich hier zu treffen, so handelt es sich mehr um Persönliches. Ein kleines Geschäft.« –

»Das dachte ich mir wohl. Aber kleine Geschäfte interessieren uns nicht. Es muß schon etwas Gewichtiges sein, ein paar Zentner in englischen Pfunden«, sagte Baring. –

Psalty lachte laut auf. »Das ist ausgezeichnet. Ein paar Zentner in englischen Pfunden, in Pfund Sterling! Doch das ist auch ganz meine Ansicht. Aber Sie werden zufrieden sein. Umsonst hätte ich Sie nicht bemüht. Das dürfen Sie mir glauben. So wahr ich Psalty heiße, Antonides Georg Psalty«, und der Grieche spreizte die Hände, um sie dann flach vor sich auf den Tisch zu legen.

»Nun, da lassen Sie mal hören. Aber keine Märchen, bitte!« sagte der Doktor, und griff nach seinem Glase.

»Nein, wahrhaftig nicht, keine Märchen.«

»Also, was kann uns die Sache einbringen? Das ist das Wichtigste. Wenn es weniger als zehntausend Pfund Sterling sind, wollen wir von etwas anderm reden.«

»Sie können jeder hunderttausend Pfund Sterling verdienen«, sagte Psalty leise, und beschrieb einen Kreis auf dem Tisch.

»Und Sie?« fragte Baring trocken.

»Ich ebensoviel. Der Gewinn geht in vier Teile.«

»Also nehmen wir den Teil für das Ganze, schrauben wir ihn auf die Hälfte zurück, und teilen wir durch vier. Das gibt etwa zwölftausend Pfund Sterling für jeden. Nicht viel, aber bei diesen schlechten Zeiten wollen wir uns das doch mal anhören, nicht?«

Seine Begleiter nickten, der Leutnant eisig, der Doktor spöttisch.

»So wahr ich lebe, es handelt sich um fünfhunderttausend Pfund Sterling. Es ist das keine Übertreibung. Die Steine sind es wert, ich weiß das genau.«

»Also Steine sind es, gestohlene Steine, was? Trockenes Blut daran, Tränen! Kann ich mir denken. Aber fünfhunderttausend Pfund Sterling?! – Nein, das glaube ich denn doch nicht. Immerhin. Ihren Wert mögen sie schon haben. Doch was ist es damit?«

»Wenn ich, Psalty, Antonides Georg, fünfhunderttausend Pfund Sterling sage, so sind es fünfhunderttausend Pfund Sterling, darauf können Sie sich verlassen«, sagte der Grieche beleidigt.

»Wir verlassen uns auch darauf. Aber Vorsicht ist immer besser, und man soll seine Erwartungen nicht in den Himmel wachsen lassen. Doch wie steht es nun mit diesem Traum?« –

»Es ist kein Traum, es sind Steine, wunderbare Diamanten und Rubinen, ganz alt und sehr groß.«

»Also müssen sie erst geschliffen werden. Dabei geht die Hälfte des Gewichts ab. Es wird schon stimmen, was ich sagte. Doch nun erklären Sie sich einmal. Wir werden ja später sehen, um was es sich handelt«, antwortete Daring und beugte sich etwas vor.

»Die Sache ist sehr einfach. Die Steine sind in Smyrna. Wir können aber nicht an sie heran, da sie im Hause eines Engländers sind.«

»Da läßt sich doch sicherlich auch einbrechen, sollte ich denken.«

»Allerdings, aber dann würden wir die Steine nicht so gut verkaufen können«, entgegnete Psalty ohne Zögern.

Die andern lachten.

»Also, was soll geschehen?« fragte der Doktor.

»Wir müssen uns in unauffälliger Weise in den Besitz der Steine setzen und den jetzigen Eigentümer für einige Zeit unschädlich machen.«

»Einfacher Vorschlag. Doch die Ausführung.« – –

»Auch die Ausführung ist einfach, wenn ich auf Ihre Mithilfe zählen darf.«

»Das hängt ganz davon ab«, antwortete Baring, seinen Begleitern einen Blick zuwerfend.

»Die Steine stammen aus irgendeinem armenischen Schatz. Sie sind unter tausend Gefahren bis nach Smyrna gebracht worden. Dort hat sie ein Armenier in Gewahrsam. Dieser Armenier hat große Besitzungen bei Smyrna. Er ist nach der griechischen Landung zurückgekehrt und wohnt in dem Hause eines Engländers. Er selbst ist amerikanischer Staatsangehöriger.« –

»Aha. Deshalb brauchen Sie unsere Hilfe. Ich fange an, zu verstehen!« sagte der Doktor.

»Ja, deshalb. Als griechische Behörde können wir nichts gegen den Mann unternehmen, der sofort sich an die Amerikaner und der englische Hausbesitzer an die Engländer wenden würde.«

»Was ist das für ein Engländer? Wie heißt er?«

»Er ist ein Jude aus Smyrna, der unter englischem Schutze steht.«

»Ah, jetzt wird die Sache klarer. Also weiter.«

»Der Armenier, Varbetian mit Namen, steht im Verdacht, für die kemalistischen Türken Spionage zu treiben. Trotz enger Überwachung und sogar Durchsuchung seines Hauses hat man aber nichts Besonderes finden können. Im Gegenteil, er wies Briefe des griechischen Nachrichtendienstes an der Front vor, in denen man ihm für seine, durch einen gewissen Nihad Bey in Eski Schehir übermittelten Nachrichten dankt.«

Baring sah Psalty einen Augenblick an, blickte dann aber wieder in das Innere des Saales, wo man jetzt zu tanzen angefangen hatte.

»Wo sind aber nun die Steine?« fragte der Doktor.

»Wir haben sie im Geldschrank Varbetians gefunden. Er hatte sie selbst ausgepackt und uns gezeigt, was sehr klug von ihm war. Natürlich mußte die Durchsuchung im Beisein eines amerikanischen Vertreters erfolgen.«

»Die Steine sind also da?«

»Sicherlich. Sie sind sogar von uns wieder versiegelt worden, und er hat bescheinigen müssen, daß ihm nichts genommen worden ist.«

»Und was soll jetzt geschehen?«

»Daß Varbetian mit diesem Türken oder was er ist, Nihad Bey in Eski Schehir, und durch ihn mit dem Nachrichtendienst an der Front in Verbindung steht, ist nur ein Vorwand. Diese Leute arbeiten meistens mit beiden Parteien. Worauf es ankommt, ist, eine Handhabe zu finden, ihn zu verhaften und, wenn irgend möglich, zu verurteilen, sei es auch nur, ihn so zum Verlassen Smyrnas zu zwingen. Das läßt sich aber nur tun, wenn wir ihn überführen können, den Türken wichtige Nachrichten verraten zu haben.«

»Und wie soll das geschehen?« fragte Leutnant Förster, mit den Fingern auf der Tischplatte trommelnd.

»Wollen wir uns in den Besitz der Steine setzen? Das ist die Grundfrage. Alles andere ist dann mit Ihrer Hilfe ein Kinderspiel«, antwortete Psalty, und sah einen nach dem andern seiner Tischgenossen an.

»Verdammt, Geld brauchen wir alle. Und hier ist nichts zu gewinnen. Seit Jahren trägt man seine Haut zu Markte, und was später werden soll, weiß der Teufel. Also los. Wenn es irgend geht, werden wir die Steine uns nicht entgehen lassen.« Baring sprach bestimmt, wie ein Mensch, der keine Skrupel kennt.

Der Doktor, der nachdenklich vor sich hin geraucht hatte, sah auf und sagte:

»Aber da dieser Armenier doch ein Amerikaner ist, und da man die Steine offiziell bei ihm gesehen hat, so wird die Sache kaum ohne ein Eingreifen der Amerikaner möglich sein.«

»Das ist sie auch nicht. Deshalb eben muß das Beweismaterial gegen ihn so überzeugend sein, daß auch die Amerikaner nichts gegen seine Verurteilung einwenden können.«

»Und die Steine?« fragte Baring.

»Die Steine sind im Besitz des Armeniers. Was er damit in der Zwischenzeit getan hat, wer will das wissen? Er kann sie ja verkauft haben!«

»Und wenn er das nun wirklich getan hat?«

»Ja, das ist das Risiko, das wir laufen müssen. Möglicherweise finden wir das Nest leer. Doch auch dann wird es Mittel und Wege geben, festzustellen, wo die Steine sind.« –

Der Doktor warf Baring einen schnellen Blick zu. Letzterer nickte.

Der Grieche hatte den Blick bemerkt und lächelte freundlich. »Es ist selbstverständlich, daß einer von Ihnen Gelegenheit haben muß, bei der Durchsuchung des Hauses mit anwesend zu sein, um das Dasein oder Nichtdasein der Steine festzustellen.«

»Das dürfte wohl angebracht erscheinen. Doch wo hinaus läuft nun eigentlich Ihr Vorschlag? Was sollen wir tun, um Dreiviertel des Wertes der Steine zu verdienen? Einen so großen Teil würden Sie kaum abgeben, wenn Sie sich irgendeinen andern Rat wüßten.«

»Ganz richtig«, gab der andere sofort zu. »Ich muß ein ganz authentisches Beweisstück haben, um die Schuld dieses Varbetian sofort glaubhaft zu machen. Dieses Beweisstück müssen Sie mir liefern. Sie allein können es tun.«

»Und woran denken Sie?«

»Ich will den genauen Plan, mit allen Einzelheiten, der griechischen Stellung bei Afiun Karahissar haben!«

»Weiter nichts«, fragte Baring trocken.

»Nein. Das genügt!«

»Das sollte ich denken. Doch dafür können Sie doch einen der griechischen Offiziere gewinnen.«

Psalty zuckte mit den Achseln.

»Allerdings. Ich ziehe aber vor, mit Ihnen zu arbeiten.«

»Wirklich. Nun, ich kann Ihnen nicht so Unrecht geben«, antwortete Baring und zündete sich eine neue Zigarette an.

»Ich weiß, daß Sie diesen Plan hier haben. Er ist ja von Ihnen ausgearbeitet worden. Was ich brauche, ist eine Photographie davon. Von dieser Photographie würde ich dann einen neuen Plan machen lassen, mit türkischen Bemerkungen, damit es aussieht, als sei der Plan in mühseliger Kleinarbeit von türkischen Spionen aufgenommen worden. Die Photographien gebe ich Ihnen zurück.«

In diesem Augenblick trat die Valera ein.

»Hallo, Ines, wie geht es dir? Du siehst blendend aus«, rief Baring, der aufgestanden war und ihr die Hand hinhielt.

Auch die andern hatten sich erhoben und begrüßten die Tänzerin.

Die Valera war eine Inselgriechin aus Chios. Ihr Vater, ein Engländer, war längst verschollen. Er hatte ihrer Mutter aber die Mittel hinterlassen, der Tochter eine gute Erziehung zu geben, und Ines hatte sogar einige Jahre in einer englischen Schule zugebracht. Sie war schön, von der bleichen, großäugigen Schönheit ihrer Landsleute. Von ihrem Vater hatte sie dagegen den sehnigen, schlanken Körper geerbt, den ihr Beruf als Tänzerin geschmeidig entwickelt hatte.

Als man sich wieder gesetzt hatte, griff die Valera nach einem der Gläser, das voll war und trank es auf einen Zug leer.

»Ich bin sehr durstig«, sagte sie. »Habt ihr nichts mehr?«

»Aber sicherlich. Übrigens, hier steht ein Glas, das auf dich wartet«, und Daring schob ihr ein leeres Glas zu, das Psalty bei der letzten Bestellung hatte mitbringen lassen.

»Danke«, sagte das Mädchen. »Und wie weit seid ihr mit euren Verhandlungen? Wann kommen die Zechinen, denn ich verlange zehn Prozent von jedem als Vermittlerprovision!«

»Die sollst du haben. Aber soweit sind wir noch nicht«, lachte Baring, der Tänzerin, die neben ihm saß, den Arm um die Schulter legend.

»Nun, woran hapert es denn. Den dummen Plan hast du doch und ihn für einen so guten Zweck herleihen, kann doch nicht so schwer sein.«

»Ist es auch nicht. Das kann auch alles gemacht werden, doch wer bürgt dafür, daß der Plan nicht wirklich den Türken bekannt wird?«

»Ich«, sagte Psalty bestimmt, und warf sich in die Brust.

»Ach, Sie ... Sehr schön. Doch Sie können sterben, was dann?«

»Sterben! ...« Psalty sah den Engländer ganz entsetzt an. »Sterben«, wiederholte er. »Ich! ... Das ist ganz ausgeschlossen. Ich bin vollkommen gesund. Mir fehlt nichts. Nicht das Geringste. Warum soll ich sterben? Nein, das ist unmöglich.« Seine Stimme war immer leiser, bei dem herrschenden Lärm fast unverständlich geworden. Doch der Ausdruck seines Gesichtes, ein mit Entrüstung gepaartes Entsetzen genügte, den Sinn verständlich zu machen.

Die Engländer fingen wie auf Kommando an zu lachen.

Doch die Valera wurde böse.

»Wie könnt ihr lachen«, sagte sie heftig. »Lachen, wenn ihr jemandem vom Tode sprecht. Gefühllose Bestien! Er hat ganz recht, entrüstet zu sein. Wie dürft ihr vom Sterben sprechen.«

»Aber Ines, ich bitte dich. Man muß doch alles voraus bedenken. Wir sind doch alle sterblich.« –

»Ach was, wir leben und von so etwas spricht man nicht. Das ist brutal, unhöflich, beleidigend«, erwiderte sie, noch immer nicht besänftigt. –

»Schon gut. Wir werden also nicht mehr davon sprechen. Wie aber sollen wir uns dagegen schützen, daß der Plan, gegen den Willen des jungen und gesunden Psalty in die Hände der Türken gelangt? Es ist dies der einzige Punkt, der die Lage kompliziert.«

»Warum? Wie sollte das geschehen?« sagte Psalty ruhiger. »Bin ich nicht noch mehr ein Feind der Türken als ihr es sein mögt?« –

»Es handelt sich auch nicht so sehr um Sie, als darum, daß irgendein unglücklicher Zufall den Plan in falsche Hände geraten läßt.« –

»Es handelt sich doch nur um den von euch zu liefernden Plan«, sagte Psalty nach einigem Nachdenken. »Den will ich Ihnen aber schon nach zwei, drei Tagen wiedergeben. Wenn ihr wollt, kann einer von Ihnen die ganze Zeit während des Abzeichnens dabei sein, ihn sozusagen nicht aus den Händen, wenigstens nicht aus den Augen verlieren. Das muß doch genügen. Und bedenken Sie: hunderttausend Pfund Sterling für jeden ...« –

»Beziehungsweise eine Unze Blei!« bemerkte Baring. »Keine Illusionen!«

»Immerhin«, sagte Forster. »Unter solchen Umständen könnten wir schon ein Risiko laufen.« –

Die Valera sah spöttisch von einem zum andern.

»Ich will euch einen Vorschlag machen. Der Plan wird zu mir gebracht, und während der Zeit, daß Psalty ihn abzeichnet, ist ständig einer von euch bei mir. Das wird niemand auffallend finden. Jeder weiß, daß Baring mein Freund ist.« –

Der Doktor, der bisher geschwiegen hatte, sagte, Ines zutrinkend:

»Das ist – leider – richtig. Wir werden bei dir pokern. Also mein lieber Psalty, du willst eine Photographie des Stellungsplanes. Hast du einen entsprechenden Apparat? Kannst du die Photographie einspannen?«

»Jawohl. Das alles habe ich«, antwortete der Grieche eifrig.

Doktor Wood warf Baring einen Blick zu.

»Dann können wir die Sache wagen. In zwei Tagen kannst du den Plan haben. Ich werde ihn übermorgen abend zu Ines Valera bringen.«

»Nun, endlich ein vernünftiges Wort«, lachte die Tänzerin. »Ich werde dafür sorgen, daß ihr etwas zu trinken findet.« –

»Und ich werde alles bereit halten, um sogleich mit dem Abzeichnen zu beginnen«, ergänzte Psalty, erleichtert von einem zum andern blickend.

»Wieso! Abzeichnen. Ich denke, die Pläne sollen photographiert werden? – Das geht doch schneller«, warf Baring ein, Psalty erstaunt ansehend.

»Eins und das andere. Bei Varbetian müssen die Pläne mit türkisch geschriebenen Erklärungen gefunden werden. Deshalb muß ich sie abzeichnen. Es wird auch die Herkunft völlig verdecken. Und dann kann ich die Originale schneller zurückgeben.

»Und wie soll die Sache dann weitergehen?« fragte Baring, nach seinem Glase greifend.

»Ich werde mit der Zeichnung selbst nach Smyrna reisen. Eine erneute Durchsuchung des Hauses Varbetian vorzunehmen, wird nicht schwierig sein. Diesmal werden wir nach verborgenen Verstecken suchen. Hinter irgendeinem Brett wird der Plan dann gefunden werden. Daraufhin wird Varbetian verhaftet. Alles andere wird beschlagnahmt, und ich lasse das Päckchen mit den Steinen verschwinden. Sobald ich kann, fahre ich dann hierher zurück und mit einem von Ihnen nach Paris oder London, um die Steine zu verkaufen, während Varbetian im Gefängnis sitzt. Den Erlös teilen wir dann.«

»Und ich?« fragte Ines Valera.

»Du kommst mit nach Paris, mein Kind. Ich werde deine Interessen schon wahrnehmen«, antwortete Baring.

»Nun, hoffentlich sind die Steine nur noch da«, warf Doktor Wood ein.

»Wenn nicht, wird Varbetian froh sein, mir zu sagen, wo ich sie finden kann. Griechische Gefängnisse können recht unangenehm gestaltet werden«, erwiderte Psalty, sich eine neue Zigarette anzündend.

»Er wird sich aber bei den Amerikanern beklagen, fürchte ich«, bemerkte Förster zweifelnd.

»Da wir den Amerikanern durch den Plan nachweisen, daß er ein Verräter ist, können wir im Gegenteil uns jede Einmischung der Yankees verbitten. Dazu muß ich ja den Plan haben«, entgegnete der Grieche.

»Dann wäre also alles schönstens geordnet«, sagte die Valera. »Wir können daher wohl jetzt gehen. Kommt und trinkt noch einen Kaffee bei mir.«

»Ich nicht. Es wird besser sein, wenn man uns nicht zusammen fortgehen sieht«, antwortete Psalty. »Ich komme übermorgen abend gegen elf zu Ihnen.« –

»Das ist richtig. Bis dahin wird alles fertig sein«, bestätigte Baring.

Die Engländer und Ines Valera standen auf, und verabschiedeten sich kurz und höflich von dem Griechen. Als sie auf den Gang traten, kam ihnen Sadik aus der Loge Nummer 21 entgegen und ging langsam an ihnen vorbei. Am Ende des Ganges blieb er stehen, um auf das Erscheinen Psaltys zu warten.

Der Grieche blieb einige Zeit, an die Brüstung seiner Loge gelehnt, sitzen und blickte in das Gewirr der Tische und Stühle, die den freien Raum in der Mitte des Saales umgaben, wo getanzt wurde. Das eine der beiden sich abwechselnden Jazzorchester erfüllte die dicke Luft mit grellen Schreien, mit Stöhnen und plötzlichem Röcheln. Der eintönige Rhythmus allein gab Gelegenheit, die Tanzschritte in einem bestimmten Maß auszuführen. Die Paare drehten sich selbstvergessen und eng aneinandergeklammert, wie mechanische Puppen. An fast allen Tischen wurde Champagner getrunken. Schweißtriefende Kellner drängten sich durch die Reihen. –

»Also ›gemischt‹ will sie ihren Champagner!« dachte Psalty. »Aus französischem und englischem Gelde gemischt! Ich muß mich aber an den herben halten. Das süße Zeug dürfte mir nicht bekommen, höchstens mit einem Schuß Rakki!« Er lächelte spöttisch. »Wenn es mir gelingt, auch noch die türkische Seite zu verwerten, dann ...!«

Endlich erhob er sich und rief nach seiner Rechnung. Als er bezahlt hatte, trat er auf den Gang und blickte suchend um sich. Der Kellner stand noch hinter ihm.

»Wo ist denn die russische Blumenverkäuferin?« fragte er wie beiläufig. »Ich hätte gern noch einige Blumen mitgenommen ...«

»Ich bedaure sehr. Sie meinen Anastasia, die vorhin hier war. Die ist nach Hause gegangen! Ich werde aber eine andere rufen.« –

»Lassen Sie nur. Ich glaubte, jedes der Mädchen hätte nur einige der Logen zu bedienen. Es ist schon gut.«

Damit ging er auf die Stufen zu, die zum Ausgang führten und verließ die » Pavilion Bar«.

Sadik folgte ihm in einiger Entfernung.

In der Perastraße wendete Psalty sich links, schritt dann eine der rechts abzweigenden Straßen hinab, kreuzte einige Quergassen und blieb endlich vor einem der schmalen hohen Häuser stehen, die zwischen dem Tarimplatz und den zum Bosporus abfallenden Hügelseiten sich erheben.

Er klingelte. Nach einigem Warten wurde ihm geöffnet.

Als er eingetreten war, kam Sadik langsam aus dem Dunkel des Schattens der gegenüberliegenden Häuser hervor, und an der Tür, hinter der Psalty verschwunden war, stehenbleibend, zündete er sich eine Zigarette an, bei deren Licht er die Hausnummer neunundfünfzig erkennen konnte. Langsam ging er weiter. Eine französische Patrouille kam ihm entgegen und hielt ihn an. Er zeigte seinen Ausweis.

»Mach, daß du nach Hause kommst. Was hast du dich hier herumzutreiben«, fuhr ihn der Unteroffizier an.

»Ich bin auf dem Wege«, antwortete er ruhig und höflich.

»Daß ich dich nicht wieder treffe. Ausweis oder nicht. Ihr Türken habt um diese Zeit von der Straße verschwunden zu sein, heidi, vorwärts.« Damit schlug er ihn mit dem Stabe, den er in der Hand hielt, über die Schulter, so daß Sadik sich nur mit Mühe vor dem Hinfallen bewahren konnte.

Die Soldaten lachten.

Ohne ein Wort zu sagen, ging der Türke seines Weges.

Die Patrouille schritt weiter.

Am Ende der Straße angekommen, die auf einen kleinen Platz mündete, warf Sadik einen Blick um sich. Links stand ein zerfallenes Haus, mit offenen Fenstern. Er ging schnell darauf zu, und schwang sich über die Brüstung ins Innere. Eine Katze fauchte, sprang auf und verschwand. Sadik bückte sich und blickte, hinter dem Fenstervorsprung verborgen, die Straße entlang. Wenn er gut aufpaßte, konnte Psalty das Haus Nummer 59 nicht verlassen, ohne bemerkt zu werden.

In der Ferne rief plötzlich ein Kind um Hilfe. Dann erscholl lautes Lachen. Nackte Füße kamen eilends die Straße herab. Das Lachen wurde schwächer und verstummte. Die Schritte der nackten Füße wurden langsamer und leiser. Sadik beugte sich vor. Eine Gestalt bewegte sich im Schatten der gegenüberliegenden Häuser. Sadik beobachtete sie aufmerksam. Als sie bis an die Straßenecke gekommen war, rief er leise:

»Melik.«

»Geldim, – ich bin gekommen«, kam die Antwort. »Wo bist du ...«

Sadik zog sein Taschentuch und hielt es einen Augenblick in der Fensteröffnung in die Höhe.

Die Gestalt kam langsam aus dem Dunkeln auf das Versteck zu und blieb unter dem Fenster stehen. Es war ein Mädchen, noch ein Kind, in zerrissenen Kleidern, ein dunkles Tuch um den Kopf gewunden.

»Ich bin es, Melik. Behaeddin Bey sagte mir, ich soll dir folgen.«

»Es ist gut. Gehe zur kleinen Tür der Jeni Dschami, dort wirst du Behaeddin treffen. Sage ihm, ich wartete vor dem Hause Nummer 59 dieser Straße. Weißt du, wie sie heißt?«

»Ja, es ist die Kleine Berggasse. Ich werde sie ihm beschreiben. Ich bin aber sehr hungrig, Bey. Seit Mittag habe ich nichts gegessen.«

Sadik griff in die Tasche und reichte dem Kind einen Papierschein.

»Hier, kauf dir zu essen. Geh aber schnell, denn Behaeddin Bey wartet auf Nachricht.«

»Ich danke dir, Beyim, ich werde eilen. Hoffentlich werde ich nicht wieder von den Franzosen angehalten. Sie wollten mich festhalten. Ich schrie aber und riß mich los.«

Damit hatte das Mädchen das Geld ergriffen und wandte sich zum Gehen.

»Sei vorsichtig. Weiche ihnen aus«, flüsterte Sadik aus dem Dunkel seines Verstecks.

»Sehr vorsichtig werde ich sein. Es sind Hunde und die Söhne und Enkel von Hunden!« –

Das Mädchen verschwand.

Es war sehr still. Am Nachthimmel blitzten die Sterne. In der Ferne heulte eine Schiffssirene. Ein Stein fiel. Im Dunkel leuchteten die grünen Augen einer Katze einen Augenblick auf und verschwanden.

Eine Stunde verging und noch eine. Endlich öffnete sich die Tür des Hauses 59 und Sadik erkannte Psalty, der auf die Straße trat. Die Tür fiel wieder ins Schloß. Psalty ging den Weg zurück, den er gekommen war. Sadik sprang aus dem Fenster und folgte ihm. Am Taximplatz nahm Psalty einen Wagen. Als Sadik den Platz erreichte, setzte er sich gerade in Bewegung. Prüfend ließ der Türke die Augen über die wartenden Kutscher wandern. Sie schienen alle Griechen. Sich ihnen anzuvertrauen, wäre nicht ratsam gewesen.

Im Lichte einer Straßenlampe sah Sadik die Nummer des Wagens, den Psalty benutzt hatte, 373, die er sich merkte. Dann wandte er sich um und ging schnellen Schrittes in der Richtung von Nisan Tasch über den Platz. Der Wagen Psaltys fuhr dem Tunnel zu.

Aus dem Vergnügungslokal gegenüber dem Taximplatz strömten in Scharen Mannschaften der Besatzungstruppen, vornehmlich Engländer, durchgängig betrunken und rauflustig. Geschrei und Johlen erfüllte die Luft. Sadik verlangsamte seinen Schritt. Er zögerte, denn er wußte, wie brutal diese Soldaten sein konnten. Er trug seinen Fes, und ein unbeschreiblicher Haß erfüllte ihn aus dem Gefühl heraus, gerade deshalb hier in der Stadt des Kalifen, gerade aus diesem Grunde den Handgreiflichkeiten dieser Betrunkenen besonders ausgesetzt zu sein. Schon wollte er sich rechts in die breite Seitenstraße wenden, die zur Botschaft des vergangenen Deutschen Reiches führt, als er einen leeren Kraftwagen kommen sah.

Er winkte dem Fahrer und stieg, kaum daß der Wagen hielt, schnell ein.

»Zur Brücke«, sagte er, und der Wagen rollte weiter.

Der Anblick all dieser Feinde seines Landes, die sich seit Jahr und Tag in Konstantinopel breit machten und mit einer Rücksichtslosigkeit ohnegleichen wie in einem Negerdorf im Inneren Afrikas auftraten, schien ihm wie ein Befehl, an der Arbeit zu bleiben, nicht nach Hause zu gehen und tatenlos zu warten.

Er wollte sich vergewissern, daß Behaeddin die ihm durch Melik übersandte Botschaft auch wirklich erhalten habe, wollte sogleich mit ihm besprechen, was weiter zu geschehen habe und ihm mitteilen, daß er Psaltys Spur verloren habe.

Als der Wagen das Rathaus erreichte und in die steil abfallende Woyvodastraße einbog, wurde der nächtliche Verkehr geringer. Bald bog er um die Ecke der zur Brücke führenden Seitenstraße und hielt. Sadik stieg aus, bezahlte und ging mit schnellen Schritten der im Gewirr der kleinen Gassen hinter dem Eingang der Tunnelbahn liegenden Jeni Dschami zu.

Als er das kleine Tor erreichte, das zur Nacht verschlossen war und tagsüber Zugang zu dem schattigen Platz gibt, der die Moschee umgibt, traf er auf Behaeddin, der, auf einem Stein am Boden sitzend, eine Zigarette rauchte. Durch das Torgitter fiel etwas Licht von einer im Innern des Platzes brennenden Laterne.

Schweigend setzte sich Sadik neben dem andern nieder.

»Ist Melik schon gekommen?«

»Nein. Hat sie dich verloren?«

»Ich gab ihr den Auftrag, dich zu suchen, doch die französischen Patrouillen machen alle Straßen unsicher, so daß sie wohl einen Umweg machen mußte. Man hat sie schon angehalten.«

Behaeddin Bey gab keine Antwort.

»Ich habe leider den Griechen aus den Augen verloren. Er bestieg einen Wagen am Taximplatz, und ich konnte ihm nicht gut folgen, denn es war kein türkischer Wagen zu sehen. Einem griechischen Kutscher wollte ich mich nicht anvertrauen.«

»Du hast recht getan.«

»Ich konnte aber feststellen, daß Psalty über eine Stunde in dem Haus Nummer 59 der Kleinen Bergstraße verbrachte. Vom Pavillon ging er direkt dorthin.«

»In der Kleinen Bergstraße? Warte einmal! Was ist das für ein Haus, Nummer 59?« fragte Behaeddin.

»Es liegt links, ziemlich am Ende der Straße. Die Tür ist in der Mitte. Eine Stufe springt etwas vor. Zwischen ihm und dem Nebenhaus ist ein Zwischenraum. Ein Baum ragt über die Mauer.«

»Ah, ich weiß. Ich weiß auch, wer dort wohnt. Ein gewisser Saranti, Issa, ein englischer Jude.«

»Sollte das derselbe sein, von dem Halideh sprach?« fragte Sadik.

»Ja, es ist derselbe. Noch aber weiß ich nicht, wo ich ihn hintun soll. Sie erwähnte ihn nur beiläufig als Besitzer eines Hauses in Smyrna.«

»Richtig. Jetzt entsinne ich mich. Issa Saranti, ein reicher Mann.«

»Ein reicher Mann. Das kann man wohl sagen. Er besitzt viel Land bei Konia, und Baumwollpflanzungen bei Adana.«

»Und verkehrt mit dem Griechen! Das ist sonderbar.«

»Nicht so ganz, denn er ist englischer Staatsangehöriger. Also vertraut er auf die Engländer.«

Beide schwiegen eine Zeitlang. In der Ferne rollte ein Wagen. Der Wind bewegte leise die Blätter der Bäume im Hofe der Moschee. Sonst war alles still.

»Vielleicht wird er sich irren«, sagte Sadik plötzlich.

»Sicher wird er sich irren«, bemerkte Behaeddin fest. –

»Ja, du hast recht, wir müssen von diesem Irrtum überzeugt sein. Überzeugt, daß es ein Irrtum ist.« –

»Nein, überzeugt, daß wir solchen Glauben als Irrtum beweisen, nachweisen, nachdrücklich nachweisen werden. Wir Türken.« –

Sadik schwieg. Wie schwer war es doch, hier im besetzten, gekauften Konstantinopel, das unter den Geschützen unzähliger Kriegsschiffe lag, dessen Bevölkerung jede Vergewaltigung türkischer Gefühle mit Frohlocken und Hohn begrüßte, angesichts des aller Hilfsmittel, aller Technik, ja des zum Leben Notwendigen baren Anatoliens an den Sieg des Vaterlandes zu glauben, des Vaterlandes, das als solches selbst der Mehrzahl der Türken nur ein neuer Begriff war, ein seltsames, unbekanntes Schlagwort, ihnen, die nur Islam als Gegensatz zu Rum, Gläubige gegen Ungläubige kannten. –

In der Gasse, die zur Tür der Moschee führte, regte sich ein Schatten. Leise Schritte kamen langsam näher. Ein unterdrücktes Stöhnen.

Sadik beugte sich vor. Eine Gestalt, tief zu Boden gebeugt, hob sich gegen den Eingang nach der Hauptstraße hin ab. Sie bewegte sich vorsichtig und schwerfällig.

»Bist du es, Melik?« rief er flüsternd.

»Ja, Herr, ich komme.«

Sadik stand auf und ging dem Kind einige Schritte entgegen. Melik kroch mehr als sie ging, zusammengebückt, beide Arme fest vor die Brust verkrampft.

Sadik hielt ihr die Hand hin.

»Was hast du? Bist du krank?«

»Nein, Herr. Ich komme.« Mit einer sichtlichen Kraftanstrengung richtete das Mädchen sich auf und ging bis zum Tor, wo es niedersank.

Sadik setzte sich ihr gegenüber. Behaeddin blickte erstaunt auf das Kind.

»Warum hast du dir nichts zu essen gekauft? Bist du noch hungrig?« fragte Sadik unwillig.

Das Mädchen, das nur mit einem Hemd bekleidet war und um den Leib die Fetzen eines Rockes trug, schlug wortlos das zerrissene Stück Zeug, das ihren Oberkörper bedeckte, zurück. Im Licht, das durch das Torgitter aus dem Innern des Moscheenhofes fiel, zeigte ihre linke Brust einen tiefen, langen Riß, aus dem Blut sickerte.

»Bist du gefallen?« fragte Behaeddin erschrocken und beugte sich vor.

Das schmutzige Gesicht des Kindes war fahl mit großen, glänzenden Augen. Ohne eine Antwort zu geben, hob sie ihr Hemd hoch und zeigte ihre mageren Beine, die ebenfalls mit frischem Blut bedeckt, lange schwarze Streifen aufwiesen.

»Sie haben mich wieder aufgegriffen. Fünf, sechs waren es. Franzosen. Dann haben sie mich mißhandelt. Ich wehrte mich, bis mich zwei von ihnen hielten, und die andern mich mit Füßen traten. Zum Schluß warfen sie mich fort, über eine Mauer. Ich fiel auf Scherben, dort blieb ich liegen, bis sie weitergegangen waren. Deshalb habe ich mich verspätet. Ich bitte um Entschuldigung, Herr. Es war nicht meine Schuld.«

Das Kind flüsterte die Worte, abgerissen. Mit dem Rücken lag es an die Wand des Torweges gelehnt, die nackten Beine hatte es von sich gestreckt. Aus der Rißwunde auf der Brust floß das Blut in kleinen Wellen.

Ohne ein Wort zu sagen, schlug Sadik die Hände vor das Gesicht, und fing an zu weinen, heftig, verzweifelt.

Das Kind warf ihm einen Blick zu.

»Es ist nichts, Beyim. Ich habe gegessen. Es tut nur sehr weh. Deshalb konnte ich nicht schneller gehen. Ich wäre früher gekommen.«

»Es ist gut, mein Kind. Sei still. Wir haben auf dich gewartet. Der Weg ist ja weit.«

Behaeddin hatte sich bei diesen Worten vorgebeugt, und streichelte dem Kind die Wangen. »Wir werden dich verbinden. Sei ohne Sorge.«

Damit erhob er sich und begann sich seiner Jacke und Weste zu entledigen. Das Hemd ausziehend, zerriß er es methodisch in lange Streifen, die er dem Mädchen um die Brust wickelte.

Während er sich damit beschäftigte, näherten sich feste Schritte, und Tahssin trat auf die Gruppe zu.

»Was habt ihr?« rief er leise, erstaunt den weinenden Sadik, das am Boden liegende Mädchen und Behaeddin bei seiner Arbeit betrachtend.

»Ah, du bist es, Tahssin. Gut, daß du gekommen bist. Sieh dir dies genau an. Komm näher, bücke dich. Hier, das ist Melik, unsere Melik. Siehst du?«

Tahssin hatte sich herabgebeugt, so daß sein Kopf fast in gleicher Höhe mit dem Behaeddins war. Als er das Kind erkannte, fiel er auf die Knie und nahm den Kopf des Mädchens in seine Hände.

»Allah, was ist geschehen?« rief er leise.

»Hier, sieh sie dir an.« Behaeddin schlug mit schneller Bewegung die Fetzen, die den Körper verhüllten, auseinander. Das geronnene Blut bildete große Flecken auf der braunen Haut. Das Mädchen lag ganz still, die dunklen Augen wie erstaunt auf Behaeddin geheftet. Der Leib des Kindes war mit dunklen Flecken und Abschürfungen übersät. Die Beine zeigten große, geschwollene Stellen.

»Hier haben wir die Zivilisation des Volkes, die uns seit Jahrhunderten als die höchste, als die einzige hingestellt wird. Vergeßt diesen Anblick nie. Beugt euer Antlitz zur Erde und betet an das Höchste, was es gibt: der Überfall eines kleinen Mädchens, eines Kindes von einer Anzahl französischer Kulturträger! Ja – Allah!«

Behaeddin hatte mit unterdrückter, heiserer Stimme gesprochen, wie fieberhaft über den zerschlagenen und zertretenen Körper Meliks streichend.

»Dies ist die Brut der Sieger. Sollte Gott groß sein!« –

Die letzten Worte rief er laut, und schlug die Hände vor das Gesicht. –

Das Kind lag ganz still, die mageren Glieder auf den harten Steinen ausgestreckt. Die Laterne im Moscheenhofe schwankte leise im Winde, und die Schatten, die ihr Licht warf, beugten sich wie in lautlosem Entsetzen.

Sadik hatte mit Weinen aufgehört und sah mit traurigen Blicken auf Behaeddin, der, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, stumm und in sich zusammengesunken dasaß. Tahssin legte die Kleiderfetzen wieder über den Körper Meliks.

»Hast du Schmerzen?« fragte er sie.

Ohne den Blick von Behaeddin abzuwenden, antwortete das Kind:

»Ich bin ganz Schmerzen. Wird es noch lange dauern?«

»Nein, es wird, es darf nicht mehr lange dauern«, rief Behaeddin, ihre Worte aufgreifend. »Freunde, wir wollen nicht rasten, keinen Atemzug wollen wir tun, der nicht dem Ziel der Befreiung aus dieser schmachvollen Lage dient.« –

»Doch das Mädchen muß gepflegt werden. Wo? Von wem? Wir leben hier ja selbst wie Straßenhunde!« sagte Sadik.

»Gut. Gut. Ich weiß. Du wirst das Kind zu einem Wagen tragen und mit ihr zu Halideh fahren. Sie wohnt im Konak Fuad Ali Paschas in Emirdschan. Sie wird sie pflegen. Der Weg ist weit. Doch dort ist sie sicher. Und das Kind wird dort auch gut gepflegt werden können.«

Behaeddin hatte bei diesen Worten seine Weste und Jacke wieder angelegt, die er fest zuknöpfte. Ohne ein Wort zu sagen, war Sadik aufgestanden. Die anderen nahmen das Kind vorsichtig aus und legten es ihm in die Arme.

»Es wird besser sein, ein Boot zu nehmen. Der Konak steht hart am Wasser.«

»Um diese Zeit?« fragte Sadik zweifelnd.

»Komm. Wir begleiten dich bis zur Brücke. Tahssin hat recht. Ich finde schon einen Kaikdschi.«

Langsam gingen die Männer, das verwundete Mädchen von Sadik getragen, die Querstraße hinab bis zur Brücke. Schweigend gaben sie ihren Piaster Brückengeld an den Einnehmer, der sie und ihre Last forschend musterte. Sich zur Linken wendend, gingen sie auf die Landungsstelle der Dampfer und durch einen schmalen, finsteren Gang unter der Brücke hindurch dorthin, wo die Motorboote lagen. Im Schatten eines der Brückenpfeiler setzte sich Sadik nieder, das leise stöhnende Mädchen im Arm haltend. Behaeddin trat an Bord eines der Motorboote und öffnete die Kabinentür.

Im Innern schliefen zwei Männer, die er weckte, indem er ein Streichholz anzündete und ihnen ins Gesicht leuchtete.

»He, Mehmed,« rief er, als die Männer sich aufsetzten und schlaftrunken sich die Augen rieben, »he, siehst du nicht, daß ich es bin, Behaeddin!«

Der Angeredete sprang auf.

»Bey Effendi, ich sehe. Was darf ich für dich tun?«

»Du sollst sofort nach Emirdschan fahren, zum Konak Fuad Ali Paschas. Einer seiner Diener hat sein krankes Kind zum Arzt gebracht und hat sich verspätet. Er muß aber morgen früh wieder auf seinem Posten sein. Auch bedarf das Kind der Ruhe. Willst du fahren?«

»Wie kannst du fragen, Bey? Für dich fahre ich immer.« –

»Es ist gut. Ist dein Boot fahrbereit?« –

»In zehn Minuten bin ich unterwegs.« –

»Wir werden an der Brücke warten. Zünde im Innern kein Licht an.« Damit ging Behaeddin zu seinen Freunden zurück.

»Mehmed wird bald zur Fahrt bereit sein«, sagt« er, zu ihnen tretend. »Und du, Tahssin, was hast du erfahren? Sadik hat festgestellt, daß dieser Grieche zu Issa Sarantis Haus gegangen ist. Kennst du Issa Saranti?«

»Nur dem Namen nach. Ein reicher Mann. Ich folgte der Tänzerin, die zusammen mit den drei Engländern fortging. Der eine, Baring, ist ihr Geliebter. Er hat den militärischen Nachrichtendienst nach London unter sich. Der andere ist ein Doktor Wood, der Türkisch gelernt hat und die Nachrichten aus türkischer Quelle durchsieht. Der dritte, ein junger Mensch, ist der Sohn eines Lords, aber arm. Er ist Baring zugeteilt und heißt Forster.«

»Woher weißt du das alles?«

»Ich habe mir ein Namenverzeichnis aller dieser Leute angelegt. Viele davon kenne ich auch von Ansehen, so diesen Baring. Die Namen der andern erfuhr ich im Hause der Tänzerin von dem Torwächter, der ein Türke aus Charput ist, ein Kurde, sollte ich denken.«

»Nun, und was soll uns das nützen?«

»Fahren wir zusammen mit Sadik nach Emirdschan und sprechen wir mit Halideh«, antwortete Tahssin.

Behaeddin sah ihn einen Augenblick erstaunt an.

»Du hast recht. Das wird das beste sein!« sagte er dann. »Fahren wir also zusammen.« –


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