Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12. Der Überfall

Der Brief, den der von Hassan überwältigte Musli bei sich trug, enthielt die Nachricht, daß es gelungen sei, eine Anzahl nationaler Offiziere hinter den griechischen Linien gefangenzunehmen. Sie würden in Emed in Gewahrsam gehalten. Man solle den Aufstand beschleunigen und, sobald er ausgebrochen sei, würden die Gefangenen als Verräter am Sultan verurteilt und erschossen werden. Diese Nachricht sollten die Abgeordneten dann verbreiten und für die Zwecke des Aufstandes benutzen.

Hiervon hatte Behaeddin dem Scheich nichts gesagt. Er war aber überzeugt, daß es sich um Halideh und ihre Begleiter handeln mußte. Was konnte er unternehmen, um sie zu retten? Sie zu befreien, war ihm unmöglich. Wenn es ihm aber gelang, die Abgesandten des Großwesirs in seine Gewalt zu bekommen, blieb die Hoffnung, sie als Geiseln für Halideh und die anderen zu behandeln. Dieser Gedanke war Behaeddin sofort beim Lesen des Briefes gekommen. Wie er aber die Gefangennahme der vier Leute in Silleh ausführen sollte, wußte er noch nicht. Er hatte gehofft, sie unterwegs aufgreifen zu können, und seine Vorbereitungen waren für diesen Zweck getroffen worden. Jetzt befanden sie sich aber alle schon in Silleh, inmitten einer Bevölkerung, die sich schon einmal gegen die Regierung der Nationalversammlung erhoben hatte. Zwar war dieser Aufstand damals durch einige Gebirgsbatterien erstickt worden. Doch wenn die Leute von Silleh sich diesem Überredungsmittel damals auch gefügt hatten, so war nicht anzunehmen, daß sie nicht mit Freuden die Gelegenheit zur Rache und zu einer neuen Erhebung ergreifen würden, besonders wenn die umwohnenden kurdischen Nomaden sich auf ihre Seite stellten.

Gelang es aber, die Abgesandten der Sultanatsregierung aufzuheben, so verlor die Bewegung ihren Mittelpunkt. Die Stadt mit Truppen zu umzingeln und anzugreifen würde nur einen länger andauernden Kampf herbeigeführt haben, der im ganzen Lande die Pläne des Großwesirs gefördert haben würde und zu kleinen Aufständen an anderen Orten Veranlassung gegeben hätte. Solche Vorkommnisse würden dann überall aufgebauscht worden sein, hätten lähmend auf die Operation gegen die Griechen gewirkt und deren Widerstand nur gestärkt.

In diese Gedanken versunken, war Behaeddin langsam nach Amasia zurückgeritten. Der erste Schritt aber auf dem für richtig erkannten Wege war schon geschehen. In der vierten Nacht würde Hassan Scheich die südlichen und westlichen Wege von Silleh sperren. Im Osten öffnete sich fächerförmig ein Tal, in dessen schmaler Spitze die Stadt selbst auf einem Hügel lag, der auf der Nordostseite zu einem Bache abfiel und im Norden von steinigen Bergen überragt wurde. Von hier mußte überraschend der Angriff ausgeführt werden, während gleichzeitig das Tal im Osten besetzt und jeder Zuzug von außerhalb verhindert wurde.

In seinem Hause angelangt, schrieb Behaeddin die nötigen Befehle aus.

Er mußte suchen, in der Dunkelheit in Silleh einzudringen und die Sendboten des Großwesirs gefangenzunehmen. Doch wie? Auf einen offenen Kampf konnte Behaeddin sich nicht gut einlassen. Die geringe Zahl von Soldaten, die ihm zur Verfügung stand, hätte den Ausgang sehr zweifelhaft gemacht. Auch hätte ein solcher Kampf dann sicherlich den Anstoß zu einer allgemeinen Erhebung gegeben, der sich im Falle eines für ihn unglücklichen Ausganges sofort auch eine ganze Anzahl heute noch schwankender Nomadenstämme angeschlossen haben würde.

Wohl hatte Behaeddin durch Hassan Scheich erfahren, wo sich die vier Bevollmächtigten der Sultanatsregierung befanden, und da er Silleh gut kannte, wußte er, daß es nicht schwer halten konnte, das Haus Asim Samys zu umzingeln. Vor allen Dingen aber mußte Sorge getragen werden, daß die vier sich zur Zeit des Angriffs auch im Hause aufhielten. Wie dies zu bewerkstelligen war, beschäftigte Behaeddins Gedanken die ganze Nacht.

Endlich glaubte er einen Weg gefunden zu haben. Anstatt, wie zuerst beabsichtigt, erst am Morgen des vierten Tages mit der letzten Gruppe seiner Soldaten abzureiten, verließ er Amasia schon am Tage vorher. Er folgte der Straße nach Turchal, bog aber etwa auf der Hälfte des Weges rechts ab, quer in die Berge hinein, um einen kleinen Kurdenort, Kys oghlu, zu erreichen, in dessen Nähe sich ein Militärposten befand. In einem verlorenen Tale des Abdal Dagh, den er überschreiten mußte, vertauschte er seine Uniform gegen den Anzug eines einfachen Kurden und gab seinen Leuten Anweisung, ihn als Gefangenen zu behandeln, den sie vor das Gericht in Siwas transportieren sollten. Er ließ sich die Füße unter dem Leibe des Pferdes zusammenbinden und den rechten Arm im Rücken fesseln. Seine Kleidung wurde mit Schmutz und Staub überworfen, damit sie aussehe, als sei sie seit Tagen nicht gewechselt worden.

In diesem Aufzuge erreichten die Soldaten mit ihm gegen Abend Kys oghlu, wo sie auf seinen Befehl Halt machten. Mit einer Kette ließ er sich an den Türpfosten eines der niedrigen Holzhäuser schließen. Unweit davonzündeten die Soldaten ein Feuer an und bereiteten ihre Abendmahlzeit, während die Pferde in den Ställen in der Nähe untergebracht wurden.

Wie Behaeddin vorausgesehen hatte, kamen die Bewohner des Dorfes sogleich mit den Soldaten ins Gespräch, die aber sofort und hart verboten, sich dem »Gefangenen« zu nähern, der ein großer Räuber und wilder Geselle sei. Auch hatte Behaeddin ihnen gesagt, möglichst viele Geschichten anderer Bergräuber zu erzählen und ihn als deren Helden darzustellen.

Behaeddin sprach den Dialekt der Kurden von Yosgad. Er hatte sich deshalb an den Pfosten eines Hauseinganges fesseln lasten, weil er damit rechnete, daß die Neugierde und das Mitleid der kurdischen Frauen mit einem der Ihren sie bewegen würden, in der Dunkelheit, und während die Soldaten mit den Männern am Feuer saßen, sich ihm zu nähern und mit ihm zu sprechen.

Solange es noch hell war, gingen die Frauen und Mädchen, Wasser tragend, Milch holend, den Soldaten Brot bringend, an ihm vorüber und warfen ihm nur verstohlene Blicke zu. Es schien Behaeddin aber, als ob das Haus, dessen Eingangspfosten ihn hielt, von einer das Übliche weit übersteigenden Zahl weiblicher Wesen bewohnt sei.

Kinder saßen in achtungsvoller Entfernung vor ihm auf dem Boden und beobachteten ihn unverwandt aus ihren großen, runden, schwarzen Augen, bis ein Zuruf, ein Scheltwort der Soldaten sie vertrieb, aber nur um vorsichtig wieder näherzukommen und sich den Helden so vieler gefahrvoller Abenteuer nochmals anzusehen.

Als das Feuer schon hell in der Dunkelheit brannte, rief Behaeddin auf Kurdisch leise eins der Mädchen an, die er schon verschiedentlich bemerkt hatte.

»Willst du dich nicht meiner erbarmen?« sagte er, »und mir zu einer Zigarette verhelfen? Seit heute morgen habe ich keinen Zug getan«, dabei hatte er die mit Ketten beschwerte Hand flehentlich ausgestreckt.

Das Mädchen war erst erschreckt zurückgetreten. Als sie aber verstanden hatte, was er sagte, lächelte sie ernsthaft und schüttelte den Kopf als Zeichen des Einverständnisses.

Behaeddin sah sie in der Dunkelheit verschwinden.

Vielleicht zehn Minuten später hörte er, wie die Haustür, an deren Pfosten gelehnt er lag, sich leise öffnete.

»Hier hast du Zigaretten«, sagte eine behutsame Stimme, und Behaeddin sah eine braune Hand sich ihm entgegenstrecken, auf der eine offene Tabaksdose lag.

»Ach, Engel des Paradieses, wie soll ich mit nur einer Hand, und auch die verletzt, Zigaretten drehen?« sagte er leise. »Ich bitte dich, hilf mir und drehe mir selbst so viel, wie deine Träume dir Glück bringen sollen.«

Ein leises Kichern gab ihm Antwort und die Hand wurde zurückgezogen.

»Und anzünden soll ich sie dir wohl auch?« kam nach einiger Zeit die Antwort, begleitet von dem unterdrückten Lachen mehrerer Stimmen.

»Wenn du nur geruhen willst, sie mit dem Feuer deiner Augen anzusehen, wird sie sicherlich brennen«, entgegnete Behaeddin, wie vor sich hin sprechend.

Erneutes Lachen folgte seinen Worten.

Nach einiger Zeit kam eine brennende Zigarette zwischen Pfosten und Tür zum Vorschein, die Behaeddin ergriff und zum Munde führte.

»Mögen alle guten Geister dein Leben begleiten und die Herden deines Mannes vor Unheil bewahren!«

»Ich habe keinen. Würde ich sonst dir Zigaretten geben?« klang es belustigt aus der Dunkelheit.

»Ach du, als ob Du dich darum kümmern würdest!« hörte Behaeddin eine andere Stimme sagen.

»Alle Kurden sind meine Freunde. Und wenn du noch keinen Mann hast, so ist es sicherlich, weil du den Helden noch nicht gefunden hast, der deiner würdig wäre«, gab Behaeddin zur Antwort. »Aber wen du mit deinen Blicken ansiehst, der muß doch zum Helden werden. Deshalb sprich. Weshalb bist du noch allein? Fehlt es ihm an Geld?«

»An Geld fehlt es uns allen«, sagte eine andere Stimme, die älter und härter klang. »Du aber mußt reich sein, mit den Schätzen, die du vergraben hast!«

»Ich bin aber nicht frei, wie du siehst. Wenn es auch nur auf kurze Zeit ist. Das Gefängnis in Siwas wird mich nicht lange halten«, entgegnete Behaeddin. Mit etwas lauterer Stimme weitersprechend, sagte er: »Zehn Goldpfunde sind im Ärmel meiner Jacke eingenäht. Die will ich dem geben, der eine Nachricht für mich nach Silleh trägt. In dieser Nacht noch!«

Beredtes Schweigen antwortete ihm.

Endlich sagte die harte, ältere Stimme:

»In welchem Ärmel? Kann ich sie fühlen?«

»Wie kannst du zweifeln, daß er die Wahrheit spricht?« hörte Behaeddin eine andere, jüngere einwerfen, die er als die Stimme des Mädchens erkannte, die ihm die Zigaretten gegeben hatte.

»Wenn du mir noch eine Zigarette reichen willst, Mond meiner Träume,« entgegnete er, »so kannst du dich leicht überzeugen, daß ich die Wahrheit spreche. Ich werde deine Hand führen.«

»Laß mich fühlen«, rief die andere Stimme wieder, und eine Hand berührte seine Schulter.

»Wenn du versprichst, mir zuzuhören und zu tun, was ich dir sage, könnt ihr zusammen meinen Ärmel auftrennen und euch in das Geld teilen.«

»Hier ist deine Zigarette, du reicher Räuber!« flüsterte es neben ihm, und im Schein des Feuers, an dem die Soldaten sich mit den Männern des Dorfes unterhielten, sah Behaeddin das Gesicht des Mädchens sich ihm zuneigen. Dabei flüsterte sie hastig und kaum hörbar:

»Gib das Geld mir. Ich schwöre dir, daß Hikmet deine Nachricht morgen oder noch diese Nacht nach Silleh bringen wird.«

»Wer ist die andere? Sie wird dich den Soldaten verraten, und sie werden dir das Geld abnehmen, das ich solange schon verborgen trage«, damit nahm Behaeddin die dargebotene Zigarette und führte sie zum Munde.

Die Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag, schüttelte ihn. Die Tür knarrte, und die Stimme der Älteren zischte:

»Was habt Ihr zu tuscheln?! Gib mir das Geld. Ich will deine Nachricht nach Silleh bringen. Verlaß dich darauf.«

»Nichts wird sie tun. Sie hat niemanden, der ihr gehorchen würde. Glaube ihr nicht«, rief die jüngere Stimme heftig.

Dieser Ansicht neigte Behaeddin auch selbst zu.

»Es ist alles, was ich bei mir habe«, sagte er endlich leise. »Sei barmherzig. Ich bin in eurer Hand, und ein Bote ist nötig. Nehmt eine jede zwei Goldpfund und den Rest will ich dem Boten geben.«

Die Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag, wurde zurückgezogen. Behaeddin hörte, wie die beiden Stimmen bald laut, bald leiser miteinander stritten. Plötzlich wurden sie still, und die Jüngere flüsterte ihm ins Ohr:

»Sie besteht darauf, drei Pfund zu erhalten. Weil dies ihr Haus sei. Willst du Hikmet die sechs Pfund geben? Ich bin mit einem zufrieden.«

Ohne zu antworten, tastete Behaeddin nach der Hand des Mädchens, die neben ihm auf der Türschwelle lag.

»Fühle«, sagte er und führte sie langsam über den Ärmel, auf deren Innenseiten er in jedem zehn Pfund hatte einnähen lassen. »Schneide den einen Ärmel auf, an der Naht. Ich werde den Arm ausstrecken, und nimm die drei Pfund für die andere. Den Rest laß verschwinden. Dann sende mir Hikmet, dem ich noch sechs geben werde. Aber sei vorsichtig, daß die andere es nicht bemerkt.«

»Ich danke dir. Ich danke dir. Jetzt kann er mich heiraten. Fünfzehn Goldpfund verlangt mein Vater, und Hikmet besitzt nur zehn. Er wird deine Nachricht sicher nach Silleh bringen.«

Das Mädchen hatte seine harte Hand hastig zurückgezogen, und Behaeddin hörte die beiden wieder im Dunkeln miteinander flüstern. Die Stimme der Älteren war ruhig geworden. Endlich sagte die Jüngere wieder leise:

»Lege deinen Arm hierher. Ich werde die Naht auftrennen.«

Behaeddin senkte den linken Arm; geschickte Finger öffneten den Stoff und entnahmen leise ein Goldstück nach dem anderen ihrem Versteck.

»In einer halben Stunde wird Hikmet kommen. Ich werde sofort nach ihm senden«, sagte die Stimme des Mädchens, die vor Erwartung und Überraschung leicht zitterte. »Ich danke dir, Bey. Ich danke dir! Ich bin jetzt reich. Und Gott wird dich beschützen und dir helfen, das Gefängnis in Siwas bald zu verlassen.«

»Das wird er sicherlich tun«, antwortete Behaeddin, im Dunkeln vor sich hinlächelnd. »Aber jetzt sende mir Hikmet. Wenn möglich, möchte er noch in dieser Nacht nach Silleh gehen.«

»Er wird kommen. Sofort wird er kommen. Und er wird fliegen, deinen Auftrag auszuführen.«

Am Feuer hatten die Soldaten sich niedergelegt. Die Männer des Dorfes waren nach ihren Häusern gegangen. Am Himmel leuchteten die Sterne. Ein Pferd stampfte in seinem Stall. Ein Kind schrie.

Behaeddin wartete geduldig. Er hatte auch die zweite Zigarette zu Ende geraucht. Plötzlich sagte die bekannte Stimme der jungen Kurdin neben ihm:

»Hikmet wird sogleich kommen, und du wirst ihm noch sechs Pfund geben. Ist das wahr?«

»Wenn er für mich sogleich nach Silleh gehen will, sicherlich«, antwortete Behaeddin, ohne seine Stellung zu verändern.

Man flüsterte hinter der Tür. Dann sagte die Stimme eines jungen Mannes leise:

»Was willst du, daß ich tun soll? Ich bin Hikmet.«

»Höre gut zu. Du kennst das Haus Asim Samys in Silleh?«

»Ich kenne es.«

»Gut. Dort wohnt ein Fremder, Fethy Bey. Gehe zu ihm und schildere ihm meine Lage. Was die Soldaten erzählt haben mögen, ist nicht wahr. Die Regierung hat mich verhaften lassen, weil man behauptet, in meinem Hause in Tschorum seien Waffen verborgen. Ich heiße Ekrem. Sage Fethy Bey, diese Waffen seien in Sicherheit und auf dem Wege. Vergiß das nicht. In Tschorum hat man mich gefangengenommen. Mir ist das Gebirge weiter im Osten gut bekannt. An einer günstigen Stelle werde ich morgen meinen Wächtern entfliehen. Man hat mir mein Pferd gelassen, und das ist sehr schnell, viel schneller als die Tiere der Soldaten. Ehe sie noch schießen können, werde ich zwischen den Felsen einer Schlucht, die ich kenne, verschwunden sein. Ich werde dann, so schnell ich kann, nach Silleh reiten. Sage Fethy Bey, er und die anderen – vergiß nicht: und die anderen – sollen mich in der Nacht erwarten. Die Tür des Hofes soll offen stehen. Kein Fremder auf dem Hofe! Ich bringe wichtige Nachrichten aus Tschorum und von unseren Freunden in Bafra. Hast du das alles verstanden?«

Der Kurde wiederholte den Auftrag leise.

»Schön«, sagte Behaeddin, als er schwieg. »Sage Fethy Bey, daß Ekrem aus Tschorum morgen nacht kommen wird. Und daß er und seine Freunde mich unbedingt erwarten müssen. Das Hoftor soll offen stehen und der Hof leer sein. Und nun gib mir ein Messer, daß ich dir die versprochenen sechs Pfund zahlen kann.«

Hikmet reichte Behaeddin das Verlangte, der mit der Linken den Ärmel seines rechten Armes aufschnitt und dem Futter die versprochenen sechs Goldstücke entnahm.

Zusammen mit dem Messer legte er sie in die Hand des Kurden, der sorgfältig jedes Goldstück mit den Zähnen prüfte.

»Es ist gut«, flüsterte er dann. »Ich werde sofort nach Silleh reiten. In fünf Stunden bin ich dort.«

»Ich danke dir. Sei sicher und vergiß nicht, daß mich Fethy und alle anderen zusammen erwarten sollen. Ich werde etwa zwei, drei Stunden nach Sonnenuntergang eintreffen. Möglicherweise wird man mich verfolgen. Daher soll man Vorsorge treffen, mich zu verbergen.

»Sei ohne Sorge, Bey. Ich werde nichts vergessen. Jetzt gehe ich.«

Die Tür wurde leise geschlossen, und kurz darauf hörte Behaeddin, wie ein Reiter das Dorf in östlicher Richtung verließ. Die Hufschläge klangen hart und klar durch die stille Nacht. Behaeddin lächelte zufrieden. Er lag allein auf der harten Erde, den Rücken gegen den Türpfosten gelehnt. So weit war sein Plan gelungen. Und das Waffenlager bei Ekrem in Tschorum war in dem Briefe Muslis erwähnt und als besonders wichtig betont worden. Sich zur Seite drehend, war er bald eingeschlafen.

Am nächsten Morgen wurde er von seinen Soldaten wieder auf dem Pferde gefesselt und ritt unter ihrer Bedeckung den steinigen Weg nach Osten davon. Nach einigen Kilometern bog er in ein nach Süden führendes Tal, wo er seine Uniform wieder anlegte. Am Nachmittag erreichte er die Hügel nördlich von Silleh und traf dort die anderen beiden aus Amasia vorausgeschickten Gruppen seiner Leute.

Silleh selbst liegt auf einem Hügel am Westrande eines sich nach Osten öffnenden Tales. Von den es auf drei Seiten umschließenden Bergen treten die nördlichen am nächsten an die Stadt heran. Hier hatte Behaeddin mit seiner Abteilung ein Versteck gefunden, das er nach hereingebrochener Dunkelheit verließ. Am Ufer des Baches, der auf der Ostseite der Stadt fließt, entlang reitend, gelangte er mit fünf seiner Soldaten in die schmalen, steil abfallenden Straßen. Vier andere sollten mit zwei Maschinengewehren den Nordausgang der Stadt besetzen, während sechs, denen ebenfalls zwei Maschinengewehre beigegeben waren, Befehl hatten, sich an der Weggabelung im Osten der Stadt aufzustellen. Die beiden aus Turchal und Tokat heranbefohlenen Gruppen lagen kaum einige Kilometer in ihrem Rücken und würden auf das erste Zeichen zur Unterstützung, jede auf ihrer Straße, herbeieilen.

Bei Gelingen des Überfalles sollte durch eine Leuchtrakete ein Zeichen gegeben werden, auf das hin diese Gruppen Auftrag hatten, in die Stadt zu eilen und den Hauptplatz zu besetzen.

Alles war ruhig in den heißen, engen Gassen der Stadt. Hier und da brannte ein Licht hinter den verhängten Fenstern. Hunde strichen lautlos um die Abfallhaufen. Behaeddin ritt schnell die Straße hinauf, die zum Hause Asim Samy Beys führte. Zwei Soldaten hatten Befehl, die Tür des Gartens, von der der Kurdenscheich gesprochen hatte, zu öffnen und besetzt zu halten.

Mit den drei anderen ritt Behaeddin weiter.

Auf einen Wink von ihm sprangen die Soldaten von den Pferden, die sie am Rade eines Karrens festbanden, der auf der Straße stand. Leise folgten sie ihm zu Fuß. Als Behaeddin an das Tor des Hofes gelangte, der zu dem Hause Asim Samys gehörte, stieß er mit der Hand gegen den Torflügel. Er gab sofort nach. Somit hatte Hikmet Wort gehalten.

Der Hof war leer. Die Straße lag dunkel und verlassen hinter ihm. Im Hofe selbst regte sich nichts. Schnell drängte Behaeddin sein Pferd durch die Toröffnung und sprang ab. Er eilte die Stufen des Hauseinganges empor, über die am Hause entlang laufende gedeckte Galerie hinweg und trat ins Innere. Die Soldaten waren ihm gefolgt und stellten sich befehlsgemäß rechts und links des Hauseinganges auf.

Ein Mann kam Behaeddin entgegen, der eine Laterne in der erhobenen Hand hielt.

»Wer bist du?« fragte er erstaunt.

»Ich bin Ekrem aus Tschorum. Wo ist Fethy Bey? Er wartet auf mich.«

»Ah. Ich weiß. Sie erwarten dich. Ich hatte das im Augenblick vergessen. Wir erwarten hier so viel Leute zu allen Tages- und Nachtzeiten! Doch komm. Fethy ist hier«, antwortete der Mann.

Behaeddin folgte ihm zu einer Tür. Als sie geöffnet wurde, trat er schnell auf die Schwelle, gleichzeitig einen leisen Pfiff ausstoßend, der seine Soldaten an seine Seite rief. Der Mann, der ihn geführt hatte, wendete sich erstaunt um. Behaeddin versetzte ihm einen Faustschlag hinter das Ohr, der ihn sofort bewußtlos zusammenbrechen ließ.

Im Zimmer, das von einer von der Decke hängenden Lampe erhellt wurde, saßen fünf Männer. Behaeddin kannte keinen von ihnen. Den Mehrlader in der Hand, sagte er leise und bestimmt:

»Wer sich rührt, wird erschossen!«

Er wußte, daß die drei Gewehrläufe seiner Leute hinter ihm ins Zimmer starrten.

Der eine der Männer riß blitzschnell eine Waffe heraus, doch der neben ihm sitzende schlug ihm den Arm hoch, so daß der Schuß in die Decke ging.

Behaeddin trat in die Mitte des Zimmers.

»Im Namen der Großen Nationalversammlung verhafte ich euch«, rief er.

Im Hofe eilten Schritte.

Behaeddin legte die Mündung seines Mehrladers dem ihm zunächst Sitzenden an das Ohr. Den, der den Schuß abgefeuert hatte, ansehend, sagte er:

»Bey Effendi, der du so schnell schießt, gehe sofort zum Fenster und gib Befehl, daß niemand das Haus betrete, sonst drücke ich hier ab, und meine Soldaten warten nur auf mein Zeichen, das gleiche zu tun. Mir ist es gleichgültig, ob ich euch tot einliefere oder lebendig.«

Schwerfällig erhob sich der Angeredete und öffnete das Fenster, aus dem er einen Befehl ries.

»Sage deinen Leuten, sie sollen mein Pferd im Hofe fangen und anbinden. Ich hatte keine Zeit, es zu tun«, befahl Behaeddin weiter.

Der Mann am Fenster kam dem Befehl nach und drehte sich um. Als er an seinen Platz zurückgekommen war und sich wieder gesetzt hatte, rief Behaeddin:

»Nun haltet die Hände hoch, meine Herren.«

Die fünf Anwesenden taten stumm, wie er ihnen geheißen hatte. Der bewußtlose Diener am Boden stöhnte und röchelte krampfhaft.

Behaeddin winkte einem seiner Soldaten, näher zu kommen.

»Binde einem nach dem anderen die Hände auf den Rücken«, sagte er, die Waffe noch immer in der Hand haltend.

Als alle gefesselt waren, ging er zum Fenster, das nach der Lage des Zimmers in den Garten sich öffnen mußte, und pfiff leise. Die beiden an der Gartentür aufgestellten Soldaten kamen schnell näher. Dem einen gab Behaeddin den Befehl, sofort die Pferde der anderen mit seinem eigenen auf den Hof zu bringen. Der zweite sollte durch das Abfeuern der verabredeten Leuchtrakete die vier anderen Abteilungen herbeirufen, um den Platz und die Straßen um das Haus Asim Samys zu besetzen.

Nach kaum einer Viertelstunde waren die beiden zunächststehenden Gruppen zur Stelle, die Maschinengewehre aufgestellt, und sehr bald mußten auch die Mannschaften, die aus Turchal und Tokat gekommen waren, eintreffen.

Behaeddin ließ das Haus Asim Samys durchsuchen, in dem außer der Familie des Hausherrn nur noch Musli in einem Zimmer schlafend gefunden wurde. Darauf wurden die Gefangenen bis auf einen abgeführt, und er begann das Verhör. Auf Grund ihrer Aussagen und der vorgefundenen Papiere wurden dann noch einige Verhaftungen in der Stadt vorgenommen. Als der Tag anbrach, wußte Behaeddin, daß es ihm gelungen war, die von so langer Hand vorbereitete Erhebung in Silleh zu ersticken. Alle Führer und die Stadt selbst waren in seiner Hand. Als er das Ergebnis unmittelbar nach Angora gemeldet hatte, erhielt er Befehl, die Gefangenen in das Gefängnis des Kriegsgerichtes zu Amasia einzuliefern.

Er hielt das Telegramm des Ministers, der ihn zu seinem Erfolg beglückwünschte, in der Hand und überlegte, wie er die Gefangennahme der Sendboten des Großwesirs zugunsten von Halideh und ihren Gefährten ausnützen könnte. Konstantinopel zu benachrichtigen, würde an und für sich nicht schwer gewesen sein. Doch die einfache Nachricht, daß die Sendboten des Großwesirs in den Händen der Großen Nationalversammlung seien, würde nicht genügt haben, die Gefangenen in Emed zu befreien oder auch nur ihre Verurteilung hintanzuhalten oder ihnen Erleichterung zu bringen. Außerdem aber kam es darauf an, die Pläne der griechischen Stellungen zu retten und sie so schnell wie möglich in das Große Hauptquartier zu bringen. Sicherlich würde Halideh alles getan haben, sie nicht in die Hände der Feinde fallen zu lassen. Aber ob ihr das gelungen war, blieb fraglich. In dieser Hinsicht mußte Behaeddin ihrer Tatkraft und Umsicht vertrauen. Das wichtigste war, so schnell wie möglich Schritte zu unternehmen, die einen günstigen Einfluß auf die Lage der Gefangenen in Emed haben würden.

Der Einflußreichste unter den vier Sendboten war sicherlich Fethy. Er schien der Klügste und Entschlossenste und er hatte auch den einzigen Schuß abgefeuert, der bei der Gefangennahme gefallen war. Behaeddin beschloß, ihn rufen zu lassen und ihm von dem Befehl der Regierung in Angora Kenntnis zu geben.

Die Gefangenen waren zu je zwei in einigen Zimmern des weitläufigen Gebäudes Asim Samys unter der Bewachung je eines Soldaten untergebracht, wo sie sich frei bewegen konnten.

Als Fethy in das Zimmer geführt wurde, in dem Behaeddin ihn erwartete, blieb er an der Tür stehen und musterte seinen Gegner mit mißtrauischem Blick.

Behaeddin lud ihn mit einer höflichen Handbewegung ein, sich zu setzen, und gab dem Soldaten, der den Gefangenen vorgeführt hatte, einen Wink, abzutreten.

Als Fethy Platz genommen hatte, nahm Behaeddin das soeben erhaltene Telegramm wieder auf.

»Sie werden heute morgen nach Amasia in das Gefängnis des Kriegsgerichtes übergeführt werden, Bey«, sagte er, das Papier leicht in die Höhe hebend. »Ich habe soeben die betreffenden Weisungen erhalten. Haben Sie Wünsche, die ich erfüllen kann?«

Fethy Bey sah einen Augenblick vor sich hin.

»Darf ich um eine Tasse Kaffee und um Zigaretten bitten?« antwortete er leise.

»Sicherlich«, und Behaeddin klatschte in die Hände und ließ das Gewünschte bringen.

»Doch ist dies alles?« fragte er, als sein Gegenüber die erste Zigarette angezündet hatte.

»Zunächst bitte ich,. Sie zu der Geschicklichkeit beglückwünschen zu dürfen, mit der Sie Ihre Aufgabe, uns gefangenzunehmen, durchgeführt haben. Die Nachricht, die uns der von Ihnen gesandte Kurde brachte, war glaubhaft.«

»Welche Nachricht? Ich habe Ihnen keinen Kurden gesandt.«

»Der Bote, der uns gestern morgen mitteilte, daß Ekrem Bey aus Tschorum in das Gefängnis nach Tschorum transportiert würde und unterwegs zu fliehen und hierher zu gelangen beabsichtigte, kam nicht von Ihnen?«

»Ekrem ist in Tschorum verhaftet worden. Das ist alles, was ich weiß«, entgegnete Behaeddin, der den andern nicht wissen lassen wollte, daß er den von Musli überbrachten Brief gelesen hatte. Die erste Andeutung auf die Gefangenen in Emed sollte von Fethy Bey kommen.

Der andere schwieg einen Augenblick und sah durch das Fenster in den Hof, in dem hell und scharf die Morgensonne lag. Nichts in seinem Gesicht verriet, ob er den Worten Behaeddins Glauben schenke oder nicht.

»Würde es Ihnen möglich sein, unsere Familien von unserer Gefangennahme zu benachrichtigen?«

»Möglich schon. Aber ich halte es für vorteilhafter, Ihre Gefangennahme vor der Hand noch nicht bekanntzugeben.«

»Vorteilhafter!« wiederholte der andere. »Ich bin kaum in der Lage, zur Beurteilung dessen, was für Sie vorteilhaft sein mag, beizutragen. Jedoch, vielleicht gibt es Tatsachen, die Ihnen nicht bekannt sind, und die Ihre Meinung hierüber beeinflussen könnten.«

»Die Möglichkeit«, entgegnete Behaeddin, »ist sicherlich gegeben.« Er legte das Telegramm wieder vor sich hin und glättete es mit den Fingern. »Ich kann aber nur auf Grund des mir Bekannten urteilen.«

»Und würden Sie Mitteilungen entgegennehmen, die ich Ihnen mache?« fragte der andere und griff nach einer neuen Zigarette in der Schale, die der Soldat vor ihm niedergesetzt hatte.

»Ich hatte Sie vorführen lassen, Bey,« antwortete Behaeddin, ohne Fethy Bey anzusehen, »um Ihnen Gelegenheit zu geben, mir etwaige Wünsche mitzuteilen, ehe ich Sie nach Amasia sende, nicht um Mitteilungen entgegenzunehmen. Das ist Sache des Kriegsgerichtes.«

Fethy schwieg eine Zeitlang. Ein Pferd wieherte im Hofe. Aus dem Garten kam das Blöken eines Schafes. Endlich sagte der Gefangene:

»Von der sofortigen Mitteilung der Gefangennahme an unsere Familien hängt das Leben einer Anzahl Ihrer Freunde ab.«

»Wie sollte das sein! Einer derartigen Mitteilung kann ich nur Rechnung tragen, wenn ich alle Einzelheiten kenne und sie prüfen kann.«

»Wir haben fünf Ihrer Offiziere hinter den Linien der Griechen, also in dem Bereiche unserer Gerichtsbarkeit, gefangengenommen. Sie sind als Aufrührer zum Tode verurteilt. Die Mitteilung unserer Gefangennahme würde die Vollstreckung des Urteils hinausschieben.«

»Und das Urteil gegen Sie und die Ihren beeinflussen! Zweifellos. Doch mir ist von einer solchen Gefangennahme nichts bekannt«, antwortete Behaeddin, aufblickend.

»Über die Organisation des Nachrichtendienstes der Großen Nationalversammlung bin ich nicht im Bilde«, entgegnete Fethy mit leichtem Spott. »Die Bestätigung meiner Mitteilung jedoch finden Sie in den Papieren, die Sie beschlagnahmt haben. Der betreffende Brief liegt unter ›P 4‹ obenauf.«

Behaeddin streckte die Hand aus und suchte unter den vor ihm liegenden Akten, bis er den Umschlag mit dem erwähnten Zeichen gefunden hatte. Der erste Brief, der ihm in die Hände fiel, war der, den Hassan Scheich Musli abgenommen, und den er in Kara Kaja unter den Bäumen am Fluß gelesen hatte.

Er zog ihn an sich und ging ihn aufmerksam durch, als lese er ihn zum ersten Male.

»Dieser Brief trägt keine Unterschrift, Bey. Welchen Wert soll ich ihm beimessen?« sagte er nach einer Weile.

Die Lage Fethys war ihm ganz klar. Solange als Halideh und ihre Begleiter noch am Leben waren, konnte auch Fethy und seine Mitgefangenen hoffen, mit dem Leben davonzukommen. Waren aber die anderen erschossen, so würde das Kriegsgericht in Amasia keine Rücksicht kennen. Daher lag es Fethy Bey ebenso sehr daran, die Gefangenen in Emed vor dem Äußersten zu bewahren, wie Behaeddin selbst, wenn auch aus anderen Gründen.

Fethy Bey sah zum Fenster hinaus. Sein Gesicht war ruhig, nur etwas bleich. Doch das konnte von der vergangenen, schlaflosen Nacht herrühren. Endlich sagte er, das »Du« des vertraulicheren Gesprächs gebrauchend:

»Ich spreche mit dir. Du bist nicht das Kriegsgericht. Du hast uns gefangengenommen. Mit deinem Bericht und mit unserer Einlieferung in Amasia ist deine Aufgabe beendet.«

»Wie kann ich das wissen? Man wird mich wahrscheinlich befragen.«

Fethy sah Behaeddin einen Augenblick scharf an, prüfend, als wolle er jede Regung seines Herzens erkennen.

»Wie dieser Krieg, wie diese Unordnung ausgehen wird, weiß niemand. Nein! antworte nicht!« schnitt er mit einer beschwichtigenden Handbewegung ab, als Behaeddin etwas entgegnen wollte. »Ich weiß, was du sagen willst. Ich kenne den Pascha. Wir waren Freunde. Ich wünsche ihm alles Gute ...! Doch lassen wir das. Du hast in Smyrna Freunde. Wenn nicht, wird es dir, trotz der Griechen, nicht schwer sein, dort welche zu finden. In einem einfachen Hause dort befinden sich Schätze, die ein Armenier geerbt hat. Unschwer würde es dir gelingen, sie an dich zu bringen.« Er schwieg einen Augenblick, Behaeddin, der ohne eine Bewegung zu machen, ihm gegenüber saß, anblickend.

In verändertem Tone, leise, fuhr er fort:

»Ich bin Türke wie du. Wir mögen uns beide irren in dem, was wir tun. Doch ich kämpfe um mein Leben. Willst du mich anhören?«

»Das tue ich schon. Sprich«, entgegnete Behaeddin einfach.

»Ich will dir das Haus nennen und den Namen des Armeniers, der diese Steine, die er geraubt und gestohlen hat, besitzt. Mehr kann ich nicht tun. Mittel und Wege zu finden, sie in deinen Besitz zu bringen, muß ich dir überlassen.« Er hielt von neuem inne und sah Behaeddin an.

»Ich bin arm, wie du weißt«, fuhr er nach kurzer Zeit fort. »Ich wiederhole. Ich bin arm. Ich kämpfe um mein Leben. Um mein eigenes und das meiner Genossen. Wenn die Gefangenen, von denen jener Brief spricht, erschossen werden, dann ...« Er machte eine bezeichnende Handbewegung und schwieg.

»Und deshalb soll ich deine Gefangennahme deiner Familie bekanntgeben, damit sie jene Urteilsvollstreckung verhindert? Ist es das, was du meinst?« fragte Behaeddin langsam.

»Das ist es. Und da du mir nicht glaubst und jenen Brief ohne Unterschrift nicht anerkennst, so ...« Er hielt inne und lehnte sich etwas zurück. »Um dich zu bewegen, diese Nachricht zu geben, will ich dir die Unterschrift jenes Briefes zeigen. Nur versprich mir, sie niemandem mitzuteilen. Mag das Kriegsgericht sie von sich aus entdecken. Versprich, nichts davon zu erwähnen, und ich nenne dir das Haus, in dem du die Steine des Armeniers finden kannst.«

»Ich will dieses Haus nicht wissen, noch den Namen des Armeniers kennen«, antwortete Behaeddin ruhig. »Ich will dir aber versprechen, den Namen des Briefschreibers, wenn du mir seine Unterschrift zeigen kannst, niemandem gegenüber zu erwähnen. Und wenn ich die Unterschrift für echt finde, will ich deiner Bitte stattgeben.«

Fethy Bey stand auf und trat an den Tisch, vor dem Behaeddin saß. Sich vorbeugend, sagte er:

»Im Hause Issa Sarantis, von dem ich es weiß, wohnt Mateossian, der heute sich Varbetian nennt. An der Ecke der Straße der Kameltreiber, wo die Gasse zu den Hufschmieden abzweigt. Dort findest du die Steine. Und die Unterschrift dieses Briefes steht in der linken unteren Ecke. Nimm etwas Zigarettenasche, feuchte sie an und fahre darüber hin. Dann wird die Unterschrift sichtbar.«

Behaeddin tat, wie der andere ihm hieß. Die Asche bildete einen grauen Fleck, in dem klar und deutlich ein Namenszug erschien ..., der Namenszug des Großwesirs selbst!

Erstaunt, bestürzt sah Behaeddin auf. Jetzt verstand er das Drängen Fethy Beys, diesen Namen niemandem zu verraten. Mit diesem Namenszug unter diesem Schriftstück war die Sultanatsregierung gerichtet, – und die Familie Fethy Beys, alles, was er besaß, war in der Hand jener Regierung. Was auch immer geschehen mochte, wenn der Großwesir erfuhr, daß Fethy diese Enthüllung gemacht hatte, war er so oder so verloren. Daher auch die Mitteilung über die Steine des Armeniers.

Langsam zerstäubte in der trockenen Luft die Asche, die Behaeddin auf das Papier gestreut hatte. Die Unterschrift, die er gut kannte, wurde verwischt, undeutlich. Mit den Fingern darüberstreichend, löste sich der letzte Staubrest, und das Papier lag wieder glatt und blank vor ihm.

»Es ist gut«, sagte Behaeddin, zu Fethy aufblickend. »Ich werde sofort deine Familie benachrichtigen lassen. In drei Stunden wird das Telegramm in Konstantinopel sein. Welche Anschrift soll ihm gegeben werden?«

»Ich danke dir. Diese!« Damit schrieb Fethy einige Worte auf ein Blatt Papier. »Und willst du auch die Regierung in Angora von den Gefangenen in Emed in Kenntnis setzen?«

»Auch das werde ich tun«, antwortete Behaeddin, die Anschrift, die ihm der andere gereicht hatte, überlesend.

Fethy Bey ging zu seinem Sitz zurück und zündete sich eine Zigarette an.

»Ich vertraue dir. Mein Leben ist in deiner Hand. Und glaube mir, auch ich tue nur, was ich für recht und meine Pflicht halte.«

Er führte seine Zigarette zum Munde und blies den Rauch nachdenklich vor sich hin. Aufblickend fuhr er fort:

»Die Steine aber besitzt dieser Varbetian noch. Er fürchtet, daß man sie ihm beschlagnahme, denn vor den griechischen Gerichten sind Klagen wegen derselben gegen ihn anhängig. Ein gewisser Nihad in Eski Schehir sollte sie deshalb einem englischen Major Baring in Konstantinopel überbringen. Doch der Brief, der die betreffenden Weisungen enthielt, ist auf unerklärliche Weise verlorengegangen. Daher ist Varbetian mißtrauisch auch gegen Nihad und Baring geworden.«

»Und weitere Wünsche hast du nicht? Weder für dich noch für die anderen?« entgegnete Behaeddin, ohne auf die letzten Worte Fethy Beys einzugehen.

»Laß uns in geschlossenen Wagen nach Amasia transportieren. Ich möchte unsere Gesichter nicht der Sonne zeigen.«

»Das soll geschehen. Doch haltet euch bereit. Ich werde euch noch heute vormittag nach Amasia senden.«

Behaeddin gab ein Zeichen, und ein Soldat trat ein.

»Dieser Mann wird dich in dein Zimmer zurückbringen, Bey Effendi. Ich werde den anderen Gefangenen mitteilen lassen, daß ihr alle in etwa zwei Stunden aufbrechen müßt. Für das Gepäck werde ich euch einen besonderen Wagen stellen, und der Familie Asmi Sami Beys sagen lassen, das Erforderliche zusammenzupacken«, sagte Behaeddin, Fethy Bey verabschiedend.

»Ich danke dir. Möge Gott meinem Danke Wert verleihen!« damit verließ der Gefangene das Zimmer, gefolgt von dem Soldaten.

Während Behaeddin das Telegramm an die Anschrift, die ihm Fethy gegeben hatte, aufsetzte, wurde das Geräusch von herannahenden Pferden hörbar, die vor dem Hoftor zum Halten kamen. Ein Posten trat ins Zimmer und meldete Hassan Scheich.

»Ich erwarte ihn,« sagte Behaeddin, »doch seine Reiter sollen auf dem Hofe bleiben.«

Er sah dem Besuch nicht ohne eine gewisse Besorgnis entgegen. Möglicherweise würde der Kurde versuchen, ihn zusammen mit den Gefangenen gefangenzunehmen, um dann seine eigenen Bedingungen zu stellen. Die Seite, die ihm am weitesten entgegenkam, würde er dann unterstützen.

Gefolgt von drei seiner Kurden ritt der Scheich auf den Hof. Seine Begleiter setzten sich vor der Haustür auf den Boden der Galerie vor dem Zimmer Behaeddins nieder, das der Scheich allein betrat.

Behaeddin war aufgestanden und ging ihm einen Schritt entgegen. Hassan begrüßte ihn unter Beachtung aller Formen der Höflichkeit.

»Ich bin nicht würdig, der Staub deiner Füße zu sein«, schloß er, sich nochmals verbeugend.

Doch Behaeddin ergriff seine Hand und hielt sie fest in seinen beiden:

»Wie wäre mir ohne dich und deinen Rat Erfolg möglich gewesen, Hassan Scheich. Ich danke dir. Sprich und sage mir, womit ich dir ein schwaches Zeichen meiner Ergebenheit darbringen darf?«

Mit diesen Worten hatte er den Scheich bis zum Diwan geleitet und setzte sich neben ihm nieder. Der Kurde führte nochmals grüßend die Hand an die Stirn. Er war nur unvollkommen in den verschlungenen Vorschriften und verwickelten Sätzen des türkischen Höflichkeitszeremoniells bewandert. Bei den rauhen Kurden der Berge, im Nomadenleben der Schafhirten und Ziegenzüchter wurden der Worte weniger gewechselt. Doch der Scheich war auch in den Städten gewesen und hatte dort seinem Einfluß und seinem Reichtum entsprechend Zutritt zu den gebildeteren türkischen Kreisen gefunden. Sein Benehmen beruhigte Behaeddin über seine Absichten. Nicht ohne Grund würde Hassan sich die Mühe genommen haben, ihm in so sorgsam überdachter Weise seine Ergebenheit zu bezeugen.

»Ich habe ausgeführt, was du mir aufgetragen hattest«, begann der Scheich. »Meine Leute haben die Berge besetzt gehalten. Doch während der ganzen Nacht ist nicht ein Mensch aus der Stadt gekommen. Einen Augenblick waren wir von Schrecken erfaßt, denn wir sahen einen hellen grünen Schein plötzlich über der Stadt stehen. Dann aber entsann ich mich, daß dies wohl ein Zeichen war, das du den Deinen gabst. Da alles ganz ruhig blieb, kein Schuß fiel, kein Schrei bis zu uns drang, kein Feuerschein irgendeines Brandes sichtbar wurde, ergriff mich doch Besorgnis, und ich fürchtete für dich. Als ich aber mit meinen Leuten in die Stadt einritt, traf ich auf deine Soldaten, die mir die Straße mit Maschinengewehren sperrten. Doch zum Schluß ließen sie mich mit zehn Mann weiterreiten, und ich kam zu dir und sehe deinen Erfolg. Mein Vertrauen in dich hat mich nicht getäuscht. Ich bin froh, den Vorschlägen der Boten des Sultans kein Gehör geschenkt zu haben.«

Kaffee und Zigaretten waren gebracht worden, und Behaeddin befahl, auch den Leuten des Scheichs auf der Galerie die gleichen Erfrischungen zu reichen.

»Und nun, Scheich, will ich dir einen Vorschlag machen. Willst du ihn anhören?«

»Jedes Wort, das du sprichst, ist mir von Wert und bleibt in meinem Herzen«, antwortete der Kurde.

»In zwei, drei Stunden werde ich die Gefangenen nach Amasia senden. Sie werden in vier Wagen reisen. Zehn meiner Soldaten unter der Führung meines Leutnants Resched Bey werden sie begleiten. Ich bitte dich nun, stelle deinerseits zehn Mann unter seinen Befehl, um die Bedeckung zu verstärken. Ich werde dem Gouverneur von Amasia mitteilen, wie du mir geholfen hast, und daß er deine Leute bewirte und belohne. Willst du meine Bitte erfüllen?«

Wenn der Scheich auf diesen Vorschlag einging, hatte er sich endgültig und allen sichtbar auf die Seite der Großen Nationalversammlung in Angora gestellt, was seinen Eindruck sowohl auf die Bewohner der Stadt Silleh selbst, wie auf die Kurden der umliegenden Berge nicht verfehlen konnte.

Der Scheich verstand dies sehr wohl. Doch sein Entschluß war gefaßt. Der augenscheinliche Erfolg Behaeddins hatte seine letzten Zweifel, sein letztes Zögern überwunden.

»Du brauchst nur zu befehlen. Meine Leute stehen zu deiner Verfügung. Und ich werde dem Gouverneur von Amasia auch meinerseits schreiben, daß er auf mich zählen kann, wenn die Abmachungen, die wir getroffen haben, gehalten werden.«

»Tue das, Scheich. Und damit diese Abmachungen leichter durchgeführt werden können, bitte ich dich, als mein Gast im Hause Asim Samy Beys so lange zu bleiben, bis deine Wahl als Abgeordneter gesichert ist. Deine Leute werden zu Hause zu tun haben, doch fünfzig von ihnen sind vielleicht abkömmlich und können mir behilflich sein, die Ordnung in der Stadt aufrechtzuhalten, bis alles wieder geregelt ist.«

Die fünfzig Mann eigener Leute nahmen dem Vorschlag Behaeddins auch den Schatten des Verdachtes, als solle der Scheich eine erzwungene Gastfreundschaft annehmen.

»Ich werde deinen Rat in einigen Dingen hier brauchen, da ich mit den Verhältnissen nicht so eingehend vertraut sein kann, wie du es bist«, fügte Behaeddin an. »Willst du mir die Ehre erweisen und meine Einladung annehmen?«

»Einige Tage kann ich hierbleiben. Doch auch in Silis warten Dinge meiner Entscheidung«, entgegnete der Scheich vorsichtig.

»Es soll sich auch nur um einige Tage handeln. Doch deine Wahl zum Abgeordneten muß eingeleitet werden. Vorerst aber werde ich deinen Leuten für die Mühe dieser Nacht jedem ein Pfund auszahlen lassen.«

Ein befriedigtes Lächeln flog über die Züge des Kurden.

»Ich sehe, du bist sehr klug. Meine Leute werden auf diese Weise erkennen, daß ich richtig und in ihrem Interesse gehandelt habe, als ich dir zur Hilfe kam. Ich danke dir.«

Einige Stunden später wurden vier Reisewagen in den Hof Asim Samy Beys gefahren, die die Gefangenen bestiegen. Ihr Gepäck wurde aufgeladen. Weinend und schreiend drängte sich die Familie des Hausherrn um ihn, war es doch für sie fast sicher, daß sie ihn lebend nicht mehr wiedersehen würde.

Behaeddin ließ sie eine Zeitlang gewähren. Dann trat er selbst auf die Frau des gefangenen Asim Samy Bey zu und bat sie, abzulassen. Er werde es ihr ermöglichen, in ein, zwei Tagen ihrem Manne nach Amasia zu folgen.

»Das wolltest du tun? Meine Kinder, meine Enkel werden dich segnen. Er ist vielleicht schuldig? Ich weiß es nicht. Doch er ist das Licht meiner Augen und der Schatten meines Lebens. Bey, auf den Knien will ich dir danken. Deine Füße will ich küssen, nur hilf mir, ihn zu retten!«

»Ich bin nicht sein Richter, Hanum Effendi. Über seine Schuld oder Unschuld werden andere entscheiden. Doch jetzt laß ihn reisen. Siehe, die Sonne steigt immer höher, und der Weg ist weit. Übermorgen, vielleicht schon morgen darfst du ihm nach Amasia folgen«, entgegnete Behaeddin.

Ohne ein weiteres Wort verhüllte die Frau ihr Gesicht und ging schnell in das Haus zurück.

Auf ein Zeichen Behaeddins saßen die Soldaten auf. Die Pferde zogen an, und die Wagen rollten durch das Tor auf die Straße, wo einzelne der Einwohner Sillehs schweigend standen. Die anderen waren in ihren Häusern und blickten furchtsam und ängstlich dem Wagenzuge nach, der die gestern noch Mächtigen und Umworbenen einem Gerichte zuführte, das nur eine Strafe kannte: den Tod.


 << zurück weiter >>