Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Alexander Ritter

(Zwei Aufsätze aus der »Gesellschaft«, 1893 und 1896.)

I.

Was Alexander Ritter anderen Leuten gewesen ist, weiß ich nicht. Ich kann deshalb auch nichts darüber aussagen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich gar nicht über ihn das schreiben, was man eine Kritik zu nennen pflegt oder einen Essay. Dergleichen setzt immer einiges Vertrautsein voraus. Ich müßte meine Leser kennen, ob ich ihnen überhaupt etwas sagen will. Meine Leser müßten mich kennen, ob sie überhaupt von mir was hören wollen. Endlich zweifle ich sehr – mag das nun aus Bescheidenheit geschehen oder aus Hochmut –, daß meine Meinung über Ritter meinen Lesern auch nur im allermindesten interessant wäre. Ich muß das alles im vorhinein bemerken. Sonst entstehen die ärgsten Mißverständnisse. Ich stehe den Werken Ritters überhaupt nicht kritisch gegenüber. So wenig ich die Stunde eines tiefen, stillen, seligen Erlebnisses hinterher beurteilen kann; oder das leuchtende und gütige Auge einer hohen blassen Frau, das ich vielleicht einmal in meinem Leben gesehen habe und vielleicht nie wiedersehen werde; oder den wonnigen Zauber einer schweigenden Sternenmitternacht, die jeglichem Wesen sein heimliches Licht und seine verborgne Musik zu entlocken weiß. Ein tiefes, stilles, seliges Erlebnis ist mir Ritter gewesen vom ersten Moment an, und das will nun laut werden. Meine Dankbarkeit dafür will laut werden und meine Liebe.

Denn wenige Menschen habe ich so geliebt, wie ihn, den Großen, Guten.

Immer seh ich ihn vor mir, so, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Am 6. März dieses Jahres [1896] führte Strauß in München seine letzte Symphonie auf. Wie der Beifall gar nicht enden wollte, erschien er zwei-, dreimal auf dem Podium und dankte. Die Leute machten große Augen, da sie den schönen alten Herrn sahen; sie hatten wohl einen heißen Jüngling erwartet. Ich ahnte nicht, daß ich dieses geliebte Antlitz nie mehr sehen würde. Einen Monat darauf, am 12. April, ist er in München gestorben, dreiundsechzig Jahre alt. Kurz zuvor war sein letztes Liederheft herausgekommen, dessen letztes Stück die merkwürdige »Todesmusik« ist:

»In des Todes Feierstunde,
Wenn ich einst von hinnen scheide,
Und den Kampf, den letzten, leide« ...

Das erste gedruckte Werk Ritters ist ein Streichquartett. Von diesem Quartett bis zu jener Todesmusik trägt sein Lebenswerk den Stempel der großen Einheit und der heiligen Not. Das Quartett ist aus dem Jahre 1873, die Todesmusik trägt die Opuszahl 21. Jemand hat gesagt, zur Unsterblichkeit dürfe man nicht viel Gepäck mitbringen.

Das ist das Auszeichnende an seinem Werke, das entzieht es für mich jeder ästhetisierenden Kritik: daß es notwendig ist. Es ist nichts Gewolltes an ihm und nichts Geschaffenes. Es ist einfach da. Er verstand jene hohe und seltene Kunst des Warten-Könnens. Darum weht aus seiner Musik der reine Atem echter und ehrlicher Offenbarung. Kein Schweiß befleckt, kein Staub verunstaltet sie. Sie ist reif und süß geworden in feierlicher Stille wie edelster Wein.

Diese Kunst hat Stil. Man hat ihm manchmal vorgeworfen, er schreibe wagnerisch. Der Tadel ist ja auch Anton Bruckner nicht erspart geblieben, so wenig wie Liszt. Man geht dabei von der irrigen Ansicht aus, der Stil unserer modernen Musik sei von Wagner gemacht worden. Bereits Göllerich hat nachgewiesen, daß gerade jene Werke von Liszt, die angeblich Wagner nachempfunden seien, vor den betreffenden Werken des letzteren geschrieben sind. Es war überhaupt unserm an Hypertrophie des historischen Sinns erkrankten Jahrhundert vorbehalten, den Begriff der Beeinflussung in dieser unerhört oberflächlichen und äußerlichen Weise zu nehmen. Man schlage die Lebensgeschichte eines beliebigen Dichters auf, man lese irgend eine Literaturgeschichte, man durchblättere die kritischen Feuilletons unserer Journale, – überall stößt man ärgerlich auf diesen groben Unfug in künstlerischer Psychologie. Die gescheiten Leute haben entdeckt, daß Thoma den Altdorfer, Keller den Goethe »nachahme«. Man zitiert uns bis zum Ekel jenes Goethische Wort von der »Filiation«, die durch die Künste gehe, und von den »Avantagen«, die das Individuum daraus zu ziehen vermöge, sowie es sich darum handelt, einem ursprünglichen und eigenwilligen Temperament ein Bein zu stellen; dann auf einmal hat man's vergessen; »unselbständige Nachahmung« wird nunmehr gescholten, was als »Filiation», als »Aufrechterhalten der künstlerischen Tradition« sonst kaum hoch genug gepriesen werden konnte.

Es heißt, die ganze Geschichte der modernen Musik nicht kennen oder nicht verstehen, wenn man Wagner als den Schöpfer des modernen Stiles hinstellt. Ein Stil wird überhaupt nicht geschaffen, sondern er wächst. Der moderne Stil in der Musik ist durch ein Doppeltes verursacht: Wir haben mehr zu sagen als die Früheren, und wir haben uns mehr und reichere Mittel erobert, es zu sagen. Ob deswegen unsere Musik selbst eine schönere, größere, reichere ist, als die der Früheren, – das möge entscheiden, wer daran Interesse hat. Soviel ist sicher, daß sie die uns gemäßere, die uns einzig gemäße ist. Hierzu kommt noch, daß unsere Musik, wie unsere Kunst überhaupt, seit einem Jahrhundert etwa an immer wenigere sich wendet; dem scheint allerdings entgegenzustehen, daß die Musik gegenwärtig die populärste Kunst zu sein scheint. In Wirklichkeit hat das Verständnis für diese Kunst rapid abgenommen; die üppig grünenden Weiden eines traumhaft dumpfen Dilettantismus werden ja von zahlreichen Herden begangen, doch die ragenden Gipfel werden von wenigen und immer wenigeren erklommen. Die Musik dieser wenigen – wie wird sie beschaffen sein? Wird sie nicht die beredteste Verkündigerin alles dessen sein, was uns am Herzen liegt, schwer und schwermütig? Wir sind ein Ende und zugleich ein Anfang; vieles ist in uns, das sterben will, vieles, das geboren zu werden verlangt. Sehnsucht erfüllt uns, die Sehnsucht nach dem Gestern und die Sehnsucht nach dem Morgen und Übermorgen. Auf der großen Anabasis ziehen wir, zu neuen Meeren und zu neuen Vaterländern, zur neuen Kultur. Da mag es wohl geschehen, daß durch alle Lieder, die wir uns auf unserem langen und beschwerlichen Wege singen, ein gemeinsamer Ton schamhaft verhehlten Heimwehs und wonniger Sehnsucht nach Fernstem und Künftigstem erklingt. Der Generation, die im heutigen Deutschland zwischen zwanzig und dreißig ist, liegt Tag und Nacht dieses »Thalatta, Thalatta« in den Ohren und brennt ihr mit schmerzlichem Verlangen auf der Seele. Diesen Ruf an irgend einem ungeheuren Mittag im Angesichte glatten blauen Meeres hinausschreien zu dürfen – das ist ihre Sehnsucht, das fühlt sie als Sinn ihres Daseins.

Ich halte Alexander Ritter, um gleich ein großes Wort gelassen auszusprechen, für den bedeutendsten Liederkomponisten des letzten Drittels unseres Jahrhunderts. Die achtundfünfzig Lieder, die von ihm gedruckt sind, scheinen mir das Wertvollste, weil das Persönlichste, Erlebteste, was unsere Zeit auf dem Gebiete des Liedes hervorgebracht hat. Es sei mir erlaubt, etwas näher auf die einzelnen Lieder einzugehen.

»Schlichte Weisen.« Fünf Gedichte von Felix Dahn. Hier ist alles hold und lieb. Die Melodien sind von entzückender Einfachheit und Schönheit. Hier redet verschwiegene Zärtlichkeit, ganz leise, ganz selig. Morgenduft und Morgentau ruht darauf. Wie die Herzlichkeiten dieser köstlichen Kunst an alle schlummernden Harfen in unserer Seele rühren! Wie sie alle herben und süßen Schwärmereien der Jugend in uns wachrufen! Auch der Dramatiker rührt sich schon: Die Stelle, wo es heißt, die Augen der Geliebten mahnten ihn

»an eine alte Weise,
die seine Mutter, die gute Frau,
sang in der Dämm'rung leise«

ist mit einer so tiefen und stillen Stimmung komponiert, daß man das ganze Bild zum Greifen lebendig vor sich sieht.

In eine ganz andere Welt treten wir mit dem nächsten Werke.

»Liebesnächte.« Ein Zyklus ein- und zweistimmiger Gesänge. Dem innig geliebten Meister Richard Wagner in Treue und Ehrfurcht gewidmet. Es ist der Meister des »Tristan«, dem dieses Werk dediziert ist; wir atmen den berückenden duftschweren Hauch des zweiten Aktes von »Tristan und Isolde«. Die Form ist höchst merkwürdig: Ein kurzes, langsames aber bewegtes Vorspiel leitet zum ersten Duett über: »Sind endlich wir allein!« Zuerst die ungeheuren Wonnen des Wiedersehens und Wiederumarmens, dann die mähliche, tiefe, weltvergessene Ruhe, genau wie im »Tristan«; aber aus welcher Intensität des Erlebnisses muß dieser Zwiegesang geboren sein, daß Ritter es wagen konnte, diese Situation zu komponieren! Wie sicher muß er gewesen sein, daß er etwas Anderes schaffe, als eine Nachempfindung! Es folgt der Hymnus an die Nacht Lenaus: »Weil' auf mir, du dunkles Auge«, eine gewaltig ergreifende, getragene Melodie, die zwei Stimmen eilen sich bald voraus, dann finden sie sich wieder in gemeinsamer Sehnsucht. Das dritte Lied, nur vom Bariton gesungen, mit dem Refrain »vergessen, – vergessen«, läßt wieder das feierliche Glück abendlicher Ruhe in der Geliebten laut werden. Da kommt im vierten Lied die Geliebte zu Wort: »Wie sehr ich Dein? soll ich Dir sagen?« Dieses Lenausche Lied hier einzuschalten ist psychologisch und vom Standpunkte des zyklischen Organismus aus ein wundervoll feiner Zug. Wieder von Lenau sind die Worte des folgenden Zwiegesangs: »Ließe doch ein hold Geschick mich in Deinen Zaubernähen still verglühen und vergehen!« Hier schwebt alles in wunschlosem leuchtendem Glück. Doch aufs neue beginnt die Geliebte: »Als wir uns noch nicht verstanden, konnten andre uns verstehn.« Geheimnisvoll innig lösen sich diese Worte von den Lippen, bis auch der Liebende einstimmt in die wunderliche, halb schelmische, halb feierliche Liebeslitanei: »Frau Minne – bewahr' uns! Frau Minne – behüt' uns!« Und wieder sinkt die Stimmung in glückselige Ruhe zurück: »Die Luft geht durch die Felder, die Ähren wogen sacht, es rauschen leis die Wälder, so sternklar ist die Nacht« (von Eichendorff). Dieses wunderbar ruhige und wie von kühlem, nächtigem Atem beseelte Duett leitet über zu dem triumphierenden Hohenliede der Geliebten, das den Mittelpunkt des Zyklus bildet; es ist A. R. gezeichnet und, soweit ich den Gedankenkreis Ritters kenne und aus Analogien (vgl. Schlußchor zu: »Wem die Krone«) schließe, von ihm selber; der musikalische Ausdruck ist hier so grandios gesteigert, die Linien der Melodie sind so groß und stolz, daß dieses Lied sich neben den Zwiegesang: »O sink' hernieder, Nacht der Liebe« aus »Tristan« stellen kann. Es folgt das Hohelied des Liebenden: »Zünde nur die Opferflammen immer höher, heller an« (von Rückert). Das Charakteristische der Liebe des Mannes ist hier mit ungeheurer Intensität ausgedrückt: die Geliebte wird unter die Sterne versetzt, das Ich wird zum Du und das Du zum Ich (wer Feuerbach kennt, weiß, wie ich es meine), in eigner Glut formt der Liebende die Geliebte nach seinem Bild und Gleichnis. Dieses reine und hohe Gefühl wird noch leidenschaftlicher gesteigert im zehnten Gesang, der wieder von beiden gesungen wird: »Nicht mit Armen Dich umschlingen kann mir g'nügen« (von Rückert). Es folgt ein längeres Zwischenspiel, – die Wogen der Leidenschaft glätten sich; ein breiter, innig anschwellender Gesang von leuchtender Schönheit; das Ganze eine geniale Skizze einer Symphonie. Im Schlußzwiegesang erhält der von Ritter am öftesten komponierte Dichter, Lenau, das Wort: »Wohl bin ich nur ein Ton.« In herrlicher seliger Ruhe klingt das Ganze aus.

Wir haben dieses Werk ausführlicher behandelt, weil es uns ein Kunstwerk ersten Ranges zu sein scheint. Welche plastische Kraft gehörte dazu, welche Energie des innerlichen Lebens war nötig, aus den verschiedenen Gedichten diesen wundervoll aufgebauten Zyklus zu bilden! Wir können uns den Umstand, daß er nicht oft und oft im Konzertsaal aufgeführt wird, nur dadurch erklären, daß die Anforderungen, die er an die Sänger und den Klavierspieler stellt, in Bezug auf die Größe und Gewalt des Ausdrucks geradezu enorm sind. Früher oder später jedoch wird er seine Sänger und sein Publikum finden.

Die »Sechs Gesänge«, op. 5 sind ebenso viele Perlen unseres Liederschatzes. »Ich möcht' ein Lied Dir weihn« – ein Jubelgesang, aus dem Gefühle überwallender Liebe heraus gedichtet und komponiert. »Nie zurück« und das folgende »Zweierlei Vögel« von Lenau zeigen eine ganz außerordentliche Kunst, den scheinbar sprödesten und unmusikalischsten Dichtungen, die ganz reflektiert sind, das tiefe und verschwiegene Gefühl, aus dem sie der scheue Dichter geschaffen hatte, herauszulocken und in unvergänglichen Tönen neu zu schaffen. Doch die Krone dieses Heftes bleibt für mich das »Gebet« von Hebbel: »Die du, über die Sterne weg«: Das ist mit solch ungeheurer Leidenschaft und Größe erlebt, daß ich ihm in unserer ganzen Musikliteratur wenige Lieder in Bezug auf die Gewalt der Empfindung und die Sicherheit und Kühnheit der Melodie an die Seite zu setzen wüßte.

Die »Drei Lieder«, op. 6 und »Drei Lieder«, op. 7 singen wiederum von Liebeslust und Leid. Opus 7 enthält das auch im Konzertsaal schon zu einiger Berühmtheit gelangte wundervoll melodische Lied: »In Lust und Schmerzen«. »Belsazar«, op. 8 ist meines Wissens die einzige Ballade, die Ritter komponiert hat. Die Sicherheit, mit der hier ein energischer und eindringlicher Alfreskostil getroffen ist, die Kraft des epischen Tones sind bewunderungswürdig und lassen nur bedauern, daß wir nicht mehr Balladen von Ritter haben. Die »Drei kleinen Lieder«, op. 9 sind zum Weinen schön. Wundersam ergreifend ist gleich das erste »In einem Buche blätternd fand ich eine Rose«. Wer diese schlichten Worte so einfach, so innig zu beseelen weiß, ist ein Künstler allerersten Ranges. »Fragen« und »Gute Nacht« sind wieder von der holdseligen Zartheit der »Schlichten Weisen«, übertreffen sie jedoch noch an melodischer Schönheit; man hat den Eindruck, als ob hier eine reife und gütige Seele all ihre Köstlichkeiten und süßen Geheimnisse lächelnd ausstreue. »Drei Lieder«, op. 10 sind wieder jubelnd geschwellte Liebeshymnen. Das erste »Ich bin in kühler Morgenluft den Strom hinabgegangen« nähme auch unter den Schubertliedern einen Ehrenplatz ein.

Es folgen die »Drei Gedichte«, op. 12. Besonders merkwürdig ist das zweite: die »Erklärung« aus Heines Nordseebildern; wer je die kolossale Stelle gehört hat »und mit starker Hand aus Norwegs Wäldern reiß' ich die höchste Tanne und tauche sie ein in des Ätna glühenden Schlund, und mit solcher feuergetränkten Riesenfeder schreib' ich an die dunkle Himmelsdecke: Agnes, ich liebe Dich« – dem bleibt dieses übermütig trotzige Meisterstück melodischer Sprache unvergeßlich. »Im Alter« ist schon von Schubert in Musik gesetzt worden; wer die beiden Lieder vergleicht, wird staunen über die ganz unglaubliche Originalität bei Ritter.

»Fünf Gedichte von Peter Cornelius«, op. 16 sind die schönste Huldigung Ritters an den toten Freund, dem er auch als Musiker so verwandt ist.

»Zwei Gedichte von Nikolaus Lenau«, op. 17, ist der genialen russischen Pianistin Sonja von Schéhafzoff gewidmet. Eine schwermütige Herzlichkeit beseelt die Lieder. Das zweite, »Mahnung«, war seinerzeit das erste, was ich von Ritter'schen Liedern hörte, darum vielleicht ist es mir so lieb. Ich glaube, wer diese breit ausgedehnte, leuchtend schöne Melodie je gehört hat, dem bleibt sie sein Lebenlang im Herzen.

»Benediktus«, op. 18 und »Primula veris«, op. 19, ach, wie soll ich sie schildern. Fünfzig neue Adjektive wären nötig, die Schönheit dieser Musik zu beschreiben.

Zwischen diesen Werken und den folgenden liegt der Tod von Ritters Gemahlin. Ich hatte noch das Glück, diese seltene Frau zu kennen. Ihr Verlust traf Ritter mitten ins Herz. Als ich ihn nach längerer Zeit wiedersah, war er wie verwandelt. Jeder Blick, jedes Wort, jede Geberde zeugten von einem unheilbaren, tiefen Schmerz. Zehn Lieder hat er sich in jener Zeit noch zum Troste gesungen (op. 20 und 21). Eine ergreifende, gefaßte Klage durchdringt sie: »Ich geb' dem Schicksal Dich zurück, von dem ich Dich empfangen habe.« »Lethe, brich die Fesseln des Ufers.« Das düsterste aller Lenauschen Lieder »Blick in den Strom« ist nun Interpret des Schmerzes um die Verlorene geworden. Er hört seine alten Lieder, doch

»so schön, wie Du sie gesungen,
singt sie mir keine mehr«;

dann singt er sein herrliches »Trostlied«; die Singstimme hat eine langsame, choralartige Weise; im Baß klingt das »Ein feste Burg« mit, wundersam in die Melodie verwoben; dazu eine leise, schwebende Begleitung. Und nun singt sich dieses alte, tapfere Herz seine triumphierende »Todesmusik«.

... »Also in der Töne Fluten
Laß mein Leben sich verbluten!« ...

Wie ich nun diesen meinen Versuch überlese, Ritter als Liederdichter zu feiern, macht es mich sehr traurig, daß ich meine Worte so ungenügend und allgemein finde. Ich konnte nur stammeln, wo er gesungen hat. Und alles, was ich über ihn gesagt habe, dünkt mich blaß und welk, wenn ich die saftfrohe, prangende Frische seiner Kunst vor Augen habe. Doch verzeiht – Freunde! Und ersetzt aus seiner Glut und seiner Fülle, was an Feuer und Reichtum mir versagt war! –

Wie kommt es nun, daß solche Schätze noch nicht gehoben sind? Daß man so selten, allzuselten eins seiner Lieder zu hören bekommt? Die Lieder bieten den Sängern bedeutende Schwierigkeiten durch die großen Anforderungen, die sie an die Stimme, durch die noch größeren, die sie an die nachschöpferische Gewalt der Auffassung stellen. Für jeden, der sich zum ersten Mal mit ihnen beschäftigt, liegt zudem die große Gefahr nahe, daß er sie auch aufs zweite und dritte Mal noch nicht versteht, und dann enttäuscht beiseite legt. Takt und Tonart wechseln in ein und demselben Liede drei-, viermal; die vielen Vorzeichen erschweren es vielleicht manchem, die Führung der Melodie klar zu erkennen; die Begleitung ist sehr oft nur von außerordentlich gebildeten Pianisten zu bewältigen; diese Lieder lassen sich, einzelne Ausnahmen abgerechnet, vom Blatt weder singen noch spielen; sie wollen studiert sein. Nicht zu vergessen ist endlich, daß die musikalische Kritik bei uns noch nicht gebildet genug ist, das Wertvolle und Bleibende zu erkennen und zu signalisieren. Ich nehme hier ausdrücklich Heinrich Porges und Oskar Merz aus, die für die Entwicklung der Münchner musikalischen Verhältnisse unausgesetzt tätig sind und auch auf Ritters Bedeutung oft aufs nachdrücklichste hingewiesen haben. Von den anderen Kritikern wird die enthusiastische und ekstatische Stimmung mancher dieser Lieder nicht goutiert und nicht verstanden. Seltsam genug! Auf dem Gebiete der poetischen Lyrik läßt man ja die Arten gelten, vom Volkslied bis zu den gewaltigsten freien Rhythmen. In der musikalischen Lyrik dagegen hält man uns immer das »Lied«, womöglich das strophische Lied, als Norm vor und vergißt dabei vollständig, daß auch Schubert von den Kritikern seiner Zeit aufs lebhafteste getadelt wurde, nicht die gewohnten Geleise eines Zelter zu wandeln. Man weiß, wie selbst Goethe Zeltern höher stellte, als Schubert und Beethoven. Heute ist Zelter als Komponist vergessen, doch Schubert lebt. Und so prophezeie ich auch für die Lieder Ritters noch eine Zeit der Popularität.

II

An einem der letzten schönen Maitage des vorigen Jahres (1892) sahen wir ihn zum ersten Male.

Unmittelbar hinter einer der ältesten und belebtesten Straßen Münchens liegt ein stilles Viertel, mit ein paar alten schwarzen Kirchen, großen Pfründnerhäusern, mit breiten, sonnigen, landstädtchenmäßigen Straßen, darinnen alte stille Häuser mit blankgeputzten Spiegelscheiben und hellen Fensterläden. Dort liegt auch eine alte stimmungsvolle Weinstube, in altdeutscher Bauart, mit goldbraun angerauchten Holzgewölben und mit gemalten Fensterscheiben, die ein feierliches Halbdunkel in dem getäfelten Räume verbreiten. Dort saß er eines schönen Nachmittags, in andächtigem Schweigen langsam einen Römer nach dem andern leerend. Die bunten Lichter der Fenster und die Kerzen vom Lüsterweibchen tanzten einen märchenhaften Reigen um seinen Tisch, über seinen prachtvollen alten Kopf, über den weißen Bart, über sein glänzendes, jugendlich rotes Gesicht. So saß der alte Zecher wohl eine Stunde lang, schweigend, feierlich, in kleinen Kennerschlücken trinkend, dann stand er auf, setzte seinen schwarzen Schlapphut aufs schneeweiße Haupt und ging raschen Schrittes hinaus. Wir kannten ihn nicht, aber er hat einen Kopf, den man nie wieder vergißt, wenn man ihn einmal gesehen hat. Am Heimwege blieben wir vor einer Musikalienhandlung stehen, wo die Photographien aller Mitwirkenden bei der 29. Tonkünstlerversammlung ausgestellt waren. Da lasen wir unter seinem Bilde zum erstenmal den Namen »Alexander Ritter«. Beim vierten Konzert im Odeon wurde eine seiner Kompositionen aufgeführt, »Olafs Hochzeitsreigen, symphonischer Walzer für großes Orchester«. Wir gestehen offen, daß wir noch nie mit froherer Erwartung zu einem Konzert gingen.

»Olafs Hochzeitsreigen« ist einer der merkwürdigsten Tänze, die je geschrieben sind. Ein ganz knappes Thema, bloß vier Töne, aber was hat der Komponist daraus gemacht! Das wiegt sich und schmiegt sich, das lacht und jubelt, das sehnt und drängt in atemloser Hast, und zögert wieder in unnennbarer, quälender Angst, das wirbelt und flirrt wie ein berauschendes Bacchanale, das schluchzt in zuckenden Stößen, wie wenn es weinen wollte und nicht weinen könnte, und reißt und zerrt drohend und wird ein einziger ungeheurer Schrei – und niemand weiß, ob so grausig der gräßlichste Schmerz schreit oder die entsetzlichste Wonne. Kein Takt ist wie der andere, und es ist eine Melodie; das Thema kehrt immer wieder, und es ist doch jedesmal neu und anders; es ist geistvollste Kunst bis ins feinste Geäder, und klingt wie eine Improvisation; es ist ganz genial orchestriert, und man hört es kaum, so sehr ist die Klangwirkung im Organismus des Stücks aufgegangen; jede Einzelheit ist vollendet, und man hört immer nur das vollendete Ganze.

Vor kurzem wurden in der Akademie wieder zwei Orchesterstücke von Ritter aufgeführt. Wir hatten eine ganz unbeschreibliche Freude, ihn wieder dirigieren zu sehen. Er hat seine ganz besondere Art. Wie er langsam auf das Podium steigt, wie er vor dem Publikum eine stolze, altfränkische Verbeugung macht, wie er sich vor dem Orchester verneigt, als wollte er sagen: »Bitte, nehmt euch recht zusammen, damit es recht schön wird!« – Das alles ist so eigentümlich und sprechend, daß man es nie vergißt. Und dann sein Dirigieren! Es war höchst interessant, seine Art mit der Hermann Levis zu vergleichen. Es gibt für einen musikalischen Menschen wohl kaum einen feineren Genuß, als Levi dirigieren zu sehen: Wie er alles durchgeistigt, wie er tausend einzige Schönheiten aus einer Partitur herausholt, ohne eine einzige hineinzulegen, die nicht schon vom Komponisten hineingelegt ist, wie er mit dem Orchester spielt, so daß es nur das ist, was er in jedem Moment haben will, und das alles ganz fein, ganz diskret, ohne Fechtübungen in der Luft, ohne jede Virtuosenpose, – das muß man gesehen haben, um es in seinem ganzen zarten Dufte zu erfassen. Ritter dirigiert wieder ganz anders: Einmal mit einer Sicherheit, die wirklich überraschend ist, wenn man bedenkt, wie selten der Mann Gelegenheit hat, ein Orchester zu leiten. Aber es kommt noch etwas ganz Eigentümliches hinzu, eine Art von Andacht. Über seinem ganzen Wesen ist eine innige Feierlichkeit ausgegossen, jene Feierlichkeit, mit der der Schaffende seinem Werke gegenübersteht, eine Art von holdseliger Ehrfurcht und Scheu, eine tiefe stille Seligkeit und Wonne; – ich glaube, auch wer ihn nicht kennt, müßte an seinem Dirigieren merken, daß er der Komponist sei. Es ist, wie wenn er das Werk in diesem Moment gerade schüfe, es sind nicht die Geigen, die so verklärt singen, seine Seele singt und jubelt, es sind nicht die äußerlichen Pausen, die dieses Bangen hervorzittern lassen, er selbst erlebt in diesem Momente alle Schrecknisse seiner Musik, er selbst bangt und zittert vor den schwindelnden Schauern des Erhabenen, die er künden soll ...

»Karfreitag« hieß das erste Stück. Es war totenstill in dem weiten Saale. Man hatte noch selten solche Töne gehört: das war von einer ungeheuren Trauer, das wühlte in den grausamsten, schmerzendsten Akkorden, das quälte bis aufs Blut, das war wie ein einziger schneidender Ton, in dem alle Qual und alle Herbigkeit und Bitternis zusammengepreßt war, und das fiebernde Zittern aller Kreaturen vor dem Tode, und der stumme Schrei aus dem brechenden Auge des Sterbenden, und das marternde Verrieseln des warmen Blutes in müden, brennenden Tropfen, und die Verzweiflung, die sich krümmt und röchelt, und die schluchzende Sehnsucht, die um den endlichen Tod bettelt ...

»Fronleichnam.« Ah, wie man aufatmete! Wieder hoffte! Sich der Sonne freute! Denn das war wieder Sonne und Farbe und Singen! Es gibt ein paar Seiten von Dr. Conrad, die zu dem einfachsten, hellsten und festlichsten gehören, was die neue Literatur an Stimmungsbildern hervorgebracht hat: ich meine die Schilderung seines Einzuges in einem fränkischen Städtchen am Abende des Fronleichnamsfestes in den »Wahlfahrten«. An diese Seiten erinnerte mich die Musik Ritters: In dieser Stimmung wandelt ein froher, wohlgeratener Mensch durch die träumenden Gassen; noch liegt das duftende Gras auf den Wegen gestreut und vermischt seine Wohlgerüche mit dem leisen Schlummeratem des müden Tages; noch zittern Glockentöne und hohe Lieder in den bewegten Lüften; noch raschelt helles Birkenlaub an den weißen Ästen; noch hallt das bunte Klingen des verrauschenden Volksfestes aus traulichen Winkeln; leiser plätschern die Wasser in den Brunnen, leiser ziehen die murmelnden Wellen des Flusses ihren silbernen Weg; lautlosen Flugs schwebt süßer Traumesduft über der ruhigen Stadt ...

Als Künstler gehört Ritter zu jener seltsamen und einsamen aristokratischen Gruppe, die gerade in unserem Jahrhundert ihre feinsten und tiefsten Repräsentanten hat; diese Kunst ist es, für die man in Frankreich den Namen »art intime« geprägt hat: Corot, Millet und alle die späteren Meister des »paysage intime« gehören dazu, wie Flaubert und die Goncourts, wie Stifter und Gottfried Keller, wie Jacobsen und Ibsen, wie alle wirklich originellen Genies: Denn die eigenste und köstlichste Blüte eines Kunstwerks ist für die Menge immer ein Adyton, ein verzauberter Garten, den sie nie und nimmer betreten wird; die kolossale Poesie, die Zola in ein paar Sätzen, Wagner in drei Takten zusammenpreßt, die wird – gottlob – trotz aller äußerlichen Erfolge dieser Meister immer nur Wenigen und Auserlesenen zugänglich sein. Zu dieser strengen und abgeschlossenen Gilde gehört auch Ritter; am nächsten steht er vielleicht dem Komponisten des »Barbiers von Bagdad«. Wie Cornelius, ist er ohne Wagner schlechthin nicht zu denken, und doch, wie Cornelius, steht er Wagner durchaus selbständig gegenüber. Er bringt es fertig, fünfzig Takte zu schreiben, von denen ein Durchschnittspublikum auch nicht einen einzigen kapiert; dann fällt ihm wieder ein, wie in der Komposition zu dem Lenauschen Gedicht »Mahnung«, einen reinen Satz von solch absoluter Melodie und Verklärtheit zu dichten, daß er sich dem Ohre für immer eingräbt; oder, wie in seinem »Benedictus«, erzielt er den Eindruck jubelnder Seligkeit durch ein ganz einfaches und scheinbar leichtes Mittel – es ist wie mit dem Ei des Kolumbus: Das Lied ist im 6/8 Takt geschrieben, und die ersten fünf Achtel zuammengenommen; dieser sechste kurze Ton, der wie vor Freude aufhüpft, wirkt ungemein reizvoll und eigentümlich. Oder er schreibt eine Art von Fuge (»Fronleichnam«), keine epigonenhafte rhythmisch plumpe Stimmenreißerei, sondern einen ganz langsamen, gedehnten, weichen Gesang: zuerst singen ihn die ersten Violinen, so daß er gleitet und leuchtet, wie eine Perlenschnur durch die feinen Finger einer Frauengestalt von Burn Jones, dann nehmen ihn die zweiten Violinen auf, dann die Violen, die Cellos, Note für Note, Takt für Takt: ist das eine Fuge? Möglich, aber eine ganz besondere. Oder ist es ein Canon? Auch möglich, aber einer, wie er nur einmal existiert. Oder ist es keines von beiden, ist es »bloß« Musik, ganz unvergleichlich seelenvolle, stille Musik?

In dieser Art schrieb Ritter eine lange Reihe wundervoller Lieder, bald für die menschliche Stimme, bald für die Violine mit Orgelbegleitung (»Eine Christmette«, »Zu einer ersten Kommunion«), bald für ein großes Orchester. Aber, wie wenn ihm das nicht genügte – zweimal griff er mit glücklicher Hand in die wunderbare alte Märchenwelt und schuf sich als Dichter zwei prächtige, bunte Texte und komponierte eine prächtige, leuchtende Musik dazu. Nun redet er zu allem Volke, wie der Meister der Meistersinger. Er redet, wie Hans Sachs, tiefsinnig und schalkhaft, und wenn das Volk auch nicht alles versteht, die Schönheit und der frohe Humor des Erfaßten läßt es wohl die Tiefe und die goldige Sonnenscheinweisheit des noch nicht Verstandenen glücklich ahnen.

 

»Es war im Jahre 1872, glaub' ich, in einem Konzert in Mannheim, das Wagner dirigierte. Nach dem Diner saßen wir zwei beisammen, unsere Frauen hatten wir fortgeschickt, und da fing Wagner ganz abrupt mit jener grandiosen Offenheit an, sich zu äußern, die bei jedem anderen Arroganz gewesen wäre: Wenn Sie fürs musikalische Drama pathetische Stoffe nehmen, fallen Sie alle miteinander in meine Art hinein. Sie können nicht selbständig sein, Sie mögen tun, was Sie wollen! Nein, nehmen Sie komische Stoffe, oder kleinere, aber tiefe poetische Symbole in anmutiger, anspruchsloser Form. Und vor allem eins: Lassen Sie die Franzosen Franzosen sein, und die Italiener Italiener! Bleiben Sie mit Ihrem ganzen Herzen echt und deutsch!« Diese Anekdote war die Antwort, die mir Ritter einmal gab, als ich ihn fragte, wie er zu seinen beiden Opern angeregt worden sei: »Der faule Hans« und: »Wem die Krone?«

Über keine künstlerische Strömung hat man bisher oberflächlicher geschrieben, als über die Romantik. Man hat sich bei uns in Deutschland von Anfang an die Perspektive dafür verdorben, indem man ihre katholisierenden Tendenzen viel zu einseitig betonte, man hat sich nie gefragt, ob das nicht im Grunde etwas herzlich Nebensächliches und Sekundäres war. Man hat mit plumpen Fingern Romantik und Jungdeutschland geschieden, zwei Strömungen, die fast nicht zu unterscheiden sind. Da traf Stendhal wieder einmal ins Schwarze, als er in seiner Broschüre »Racine et Shakespeare« kühn und richtig die These aufstellte: »Á le bien prendre, tous les grands écrivains ont été romantiques de leur temps«. Wo etwas Großes im Werke ist, geht es nie ohne eine Art von Romantik ab: Man vergesse nicht, daß das bedeutendste politische Faktum in diesem Jahrhundert, das Jahr 1871, ohne erzromantische Instinkte nicht erfolgt wäre, daß das bedeutendste künstlerische Faktum, Richard Wagner, die intensivste Romantik war; und wieviel Romantik steckt, als Bestes und Tiefstes, in der bedeutendsten philosophischen Erscheinung dieses Jahrhunderts, in Friedrich Nietzsche! »Romantisch« und »modern« sind schließlich nur Worte für ein und denselben kulturellen Vorgang. –

Auch Ritter ist Romantiker. Seine Probleme sind romantische Probleme: Da ist der »Taugenichts«, der »noch nichts gesehn, der Mühe wert, drum aufzustehn«, ein legitimer Enkel des Eichendorffschen Helden, aber hundertmal tiefer als dieser: er hat den tiefen Argwohn, daß alles, was so großen Lärm mache, in Wirklichkeit ganz verteufelt wenig tauge, er kann den Spektakel der Historie »um alles nicht im Ernste nehmen«. Darum liegt er den ganzen Tag »im Schatten breiter Linden, – umspielt von Sommerwinden, – und dichtet eine schönre Welt, – drin alles besser ist bestellt«. Und so ist er ein Wartender, dieser Ideologe und Weltverbesserer, und wird nicht ernst genommen, und nimmt selber die Andern nicht ernst, bis das »Wunderbare« eintritt: Eines schönen Tages, wie die »Praktischen« sich keinen Rat mehr wissen, weiß der faule Hans eine Tat: Er schlägt die Riesen nieder und freit die Königin. Was ist geschehen? 1870/71, sonst nichts ... Da ist der »Pechvogel« Heinrich, der mit seinen Brüdern ausgeschickt worden ist, und wer von den dreien den mitgegebenen Schatz am weisesten verwendet, soll König werden und die schöne Base Hilde freien. Die Brüder sind »praktisch« und sorgen für Prunk und Wehr, Heinz kehrt mit leeren Taschen heim – er hat alles verschenkt und nebenbei ein paar freche Beamte totgeschlagen. Nun steht er vor dem Thron:

»Ach wüßt ich nur kunstreich die Worte zu führen,
ich wollte Gluten im Herzen euch schüren,
entfachen ein zornig flammendes Wollen,
das führe durchs Land in donnerndem Grollen,
zu künden in leuchtendem Morgenrot
aufs neue der Menschenlieb' heilig Gebot.«

Was ist geschehen? Im Märchen – Alles: Heinzens ist die Krone. In der Wirklichkeit – Nichts: Noch ist Heinz nicht nach Deutschland zurückgekehrt. Wie? ein Märchen mit politischen Hintergedanken? Das nicht, aber ein Symbol: »Die Königin erscheint: eine Gräfin in lang wallendem weißem Haar, die übrige Erscheinung genau der Germania gleich, wie wir sie auf Bildwerken und Monumenten kennen.« (Szenische Anmerkung zu »Wem die Krone?«.) Noch ist Heinz nicht zurückgekehrt: noch zankt man um Militärvorlagen und Handelsverträge, während die Kultur schön langsam zum Teufel fährt. »Der faule Hans« ist nicht nur Symbol geblieben; »Wem die Krone?« aber muß erst von Deutschland eingelöst werden ...

Wir gehen auf den poetischen Wert der beiden Dichtungen nicht näher ein, – wir müßten sonst die Textbücher abschreiben. Wir erklären sie nur als die besten, klarsten und dichterischesten unter allen nachwagnerischen Texten; wir gehen noch weiter und behaupten direkt, daß der poetische Wert derselben allein, ohne die Musik, schon hinreichen würde, sie als ganz reizende und originelle Dichtungen zu charakterisieren: Stellen, wie der wundervolle Monolog Hansens vor dem Einschlummern, oder die große Erzählung Heinrichs sind den analogen Partien bei Wagner vollkommen ebenbürtig.

 

Von wenigen gekannt, aber von diesen wenigen verehrt und geliebt, ist Alexander Ritter gestorben. Ich hoffe, daß ich die Zeit erleben werde, wo viele ihn kennen und lieben. Seine Werke werden bleiben. Denn er war ein Musiker zu einer Zeit, die fast nur Musikanten hervorbrachte. Er hatte seinen eigenen Ton und sang seine eigene seltsame, kühne Weise, zu einer Zeit, die sonst fast nur schwächliches Gezirp hörte. Er hatte die Kraft, in stolzer Zurückhaltung zu verharren und sein Lebenswerk zu vollenden, zu einer Zeit, die auf dem Gebiete der künstlerischen Produktion das widerlichste Markten und den unlautersten Wettbewerb gewohnt war. Ein Künstler war er, im strengsten und heiligsten Sinne. Nie hat er den Helden in seiner Seele weggeworfen. Er hat nur gesungen, wann er mußte, w a s er mußte, wie er mußte. Aufrechten Leibes, stolzen Hauptes, leuchtenden Auges ist er durchs Leben gegangen und ruhig und groß ist er gestorben.


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