Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Nietzsche und Rohde

(1903)

Auf einem Bilde, das die Mitglieder des Leipziger Philologischen Vereins darstellt (Winter 1866/67), fallen bei genauerer Betrachtung von den zehn um einen Tisch gruppierten jungen Leuten dem Beschauer zwei auf, die einen viel bedeutenderen Eindruck machen als ihre Kommilitonen: an der linken Ecke der sofort kenntliche zweiundzwanzigjährige Nietzsche, heiter und nachlässig wie Einer, der die feierliche Prozedur als einen Scherz ansieht; ganz rechts an der Ecke ein Jüngling von einem sonderbar ernsten und stolzen Ausdruck in Gesicht und Haltung; der feine Kopf merkwürdig schmal; hinter dem sich emporwölbenden Scheitel wird ein mächtiger, stark aufgerundeter Hinterschädel sichtbar, eine Kopfbildung, wie begabte Menschen, besonders Musiker, sie oft zeigen; das Kinn trotzig; die Backenknochen treten energisch, doch nicht unedel hervor; das Augenpaar blickt fast schwermütig in eine unbestimmte Weite. Der also Dargestellte ist Erwin Rohde, Nietzsches bester Freund.

Ein Bild Rohdes schmückt auch die schöne Biographie des Mannes, mit der Professor Crusius die nicht große Zahl wertvoller Gelehrtenbiographien um ein Werk von gründlicher Kenntnis, anziehender Darstellung und erquickender Herzenswärme bereichert hat. Die Züge des Dreißigjährigen sind noch bedeutender geworden; stärker wölbt sich die Stirn, trotziger sind die von einem schmalen schwarzen Barte beschatteten Lippen aufgeworfen; eine unausdrückbare Idealität liegt über der Erscheinung; aus den düsteren Augen spricht schmerzliche Entsagung, aber zugleich eine unbedingte, harte Wahrhaftigkeit, die sich dem Beschauer ins Herz bohrt. Ein seltsamer Zauber und Zwang geht von diesen forschenden Augen aus; sie erzwingen Ehrerbietung, sie heischen Liebe.

Erwin Rohde ist geliebt worden. Nicht von den reinen und glücklichen Tagen seiner jungen Ehe sei hier die Rede: wer das Buch von Crusius liest, wird manchmal ergriffen innehalten. Aber bevor Rohde sich einen Hausstand gründete, hatte er Jahrzehnte lang in Freundschaft mit Nietzsche gelebt. Keiner von denen, die Nietzsche ihren Freund nennen durften, ist ihm so ganz nah gekommen. Keiner war seinem Wesen so verwandt. An Keinem hing Nietzsche mit treuerer Liebe. Nun liegt der Briefwechsel zwischen Rohde und Nietzsche in einem stattlichen Bande vor. Professor Fritz Schöll hat die Briefe des Freundes, Frau Elisabeth Förster-Nietzsche die des Bruders herausgegeben. Sich kennen und lieben gelernt zu haben, empfanden diese Zwei als ein tiefes Glück. Dieses Glück mitzuerleben, gewährt der Briefwechsel den Freunden der Freunde.

»Rohde ist jetzt auch ordentliches Mitglied, ein sehr gescheiter, aber trotziger und eigensinniger Kopf«, schreibt Nietzsche im September 1866 an den Freiherrn von Gersdorff. Es handelte sich um den auf Ritschls Anregung gestifteten Philologischen Verein. Bald waren Nietzsche und Rohde die Flügelmänner der jungen Gesellschaft. In Nietzsches sechstem Semester, Ostern bis Herbst 1867 zu Leipzig, wurde die Freundschaft eng und herzlich; Beide sahen sich mit einem Male allein, »auf einem Isolierschemel«, wie Rohde sagt; sie waren über ihre mitstrebenden Altersgenossen hinausgewachsen und aufeinander angewiesen. Freund Rohde war es, zu dem Nietzsche mit dem fertigen Manuskript seiner Preisaufgabe de fontibus Diogenis Laertii in dunkler Regennacht stürmte; feierlich bewegt, tranken sie eine Freudenflasche zusammen und redeten sich von Hoffnungen und Entwürfen die Köpfe heiß. »Ich habe es bis jetzt nur dies eine Mal erlebt«, notierte Nietzsche ein Jahr später, »daß eine sich bildende Freundschaft einen ethisch-philosophischen Hintergrund hatte. Einig waren wir nur in der Ironie und im Spott gegen philologische Manieren und Eitelkeiten. Für gewöhnlich lagen wir uns in den Haaren, ja, es gab eine ungewöhnliche Menge von Dingen, über die wir nicht zusammenklangen. Sobald aber das Gespräch sich in die Tiefe wandte, verstummte die Dissonanz der Meinungen und es ertönte ein ruhiger und voller Einklang.« Wie ein Echo schallt es zurück aus dem ersten Brief, den wir von Rohde an Nietzsche besitzen: »Ich denke, old boy, daß auch Du mit Vergnügen an so manche Augenblicke innigster Harmonie in den Grundstimmungen des Denkens und Seins zurückdenkst. Die herzliche Teilnahme, die Du mir querköpfigen und abstoßenden Kerl erwiesen hast, empfinde ich um so wärmer und tiefer, weil ich nur zu genau weiß, wie wenig meine Art zu näherer Teilnahme auffordert. Vor Allem denke ich mit Freude zurück an die Abende, wo Du mir im Finstern auf dem Klavier vorspieltest: ich fühlte den Abstand zwischen einer produktiven Natur und mir ohnmächtig wollenden Halbhexen, aber die Seele schloß sich doch auf unter den Tönen und ging einen somewhat elastischeren Schritt.« Dieser Brief ist ein Selbstporträt, in einem anderen Sinn allerdings, als sein Schreiber es gemeint hatte. Man errät eine vornehme, schamhafte, hochstrebende Seele, mit einer unseligen Veranlagung, sich zu quälen und Bitternis aus den Blüten des Lebens zu saugen; einen düsteren und leidenschaftlichen Geist, leicht verwundbar und schwermutvoll, der das Geheimnis seiner Zartheit ängstlich hinter der Maske eines bärbeißigen Humors verhehlt; einen Freund, der bei aller unbedingten Verehrung Spuren leiser Eifersucht nicht ganz verbergen kann: der reicher und allseitig begnadete Genosse ist ihm ein wundervolles Glück und ein schmerzlich schürfender Stachel zugleich. So weiche Klänge dieser spröden Natur zu entlocken: das erforderte einen Herzenskünder wie Nietzsche; er sah durch Falten und Schleier die hüllenlose, in einsamer Sehnsucht sich verzehrende Seele. Wie mühsam verhaltener Jubel braust es durch Rohdes Jugendbriefe. Gelegentlich, wie in dem herrlichen Weihnachtsschreiben vom Jahre 1868, springen alle Riegel dieses verschlossenen Herzens auf und wie aus tiefen, lauteren Brunnen quillt die Empfindung: »Dir allein verdanke ich die besten Stunden meines Lebens; ich wollte, Du könntest in meinem Herzen lesen, wie innig dankbar ich Dir bin für Alles, was Du ihm geschenkt; der Du mir das selige Land reinster Freundschaft erschlossen hast, in das ich, mit liebebedürftigem Herzen, früher wie ein armes Kind in reiche Gärten geblickt hatte. Der ich von jeher einsam war, ich fühle mich jetzt vereint mit der Besten Einem; und Du kannst schwerlich verstehen, wie Das mein inneres Leben verändert hat; bei meinem tiefen Bewußtsein meiner Härten und Schwächen erquickt mich Liebe und Milde wie etwas Unverdientes unsäglich.«

Noch sind es zwei jugendliche und harmlose Menschenkinder, die einander die schwärmerischen Brautbriefe ihrer Freundschaft schreiben; noch haben sich nicht die drohenden Schatten des Lebens auf ihre sonnige Existenz gelegt; ihr gern betonter Pessimismus hat etwas jünglinghaft Theoretisches: die müde und schmerzliche Weisheit Schopenhauers ist ihnen in Hirn und Herz gedrungen und gläubig beten sie dem Meister nach, der ihrem Geiste das auszeichnende Stigma der Philosophie aufgeprägt hat. Sie beraten einander in ihren philologischen Studien, schwärmen von Objektivation des Willens, von der platonischen Idee als Objekt der Kunst, von Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben. Daneben aber freuen sie sich kindlich auf eine Pariser Reise, die sie zu machen gedenken, und Nietzsche schreibt in scherzhafter Renommisterei von der göttlichen Kraft des Cancan und vom gelben Gift Absynth. Der selbe vierundzwanzigjährige Nietzsche ist entzückt über seine Qualifikation zum Landwehrleutnant, die ihm »von äußerstem Wert« zu sein scheint, angesichts der täglichen, immer drohenderen Kriegsgefahr. Die gleichzeitig ausgesprochene Hoffnung »auf spätere artilleristische Tätigkeit« klingt dem Leser ominös, der sich der Werke der achtziger Jahre erinnert. Siebenmal wird Suschen Klemm, die zierliche Naive des Leipziger Stadttheaters zu jener Zeit, im Briefwechsel der Freunde erwähnt; sie haben ihr den philologischen, spätgriechisch-galanten Kosenamen Glaukidion gegeben; Nietzsche berichtet triumphierend, daß er sie nach Hause begleiten durfte; er sucht im ganzen Theater, ob sie anwesend ist; er weiß, wie viel Gage, wie viel Zulage sie von Laube bekommt; seine Stube ist »so glücklich, besagtes Wesen mit ihrer hübschen Schwester eine Stunde zu beherbergen. Und es war eitel γελωσ und γλυχυτησ«.

Zum Zeichen dessen, was mit dem ausdrücklichen Hinweis auf diese unschuldige Herzensneigung zu einem anmutigen Theaterbackfisch beabsichtigt ist, seien drei Jahreszahlen hier verzeichnet. Das Jahr, in dem diese Briefe geschrieben wurden: 1868; das Jahr, in dem Menschliches, Allzumenschliches erschien: 1878; endlich das Jahr des Fall Wagner, der Dionysos-Dithyramben, der Götzendämmerung, des Antichrist, des Ecce Homo, der Umwertung aller Werte: 1888. Welcher Weg, welche Entwicklung in zwei Jahrzehnten!

1868: Der normale hoffnungsvolle Jüngling; heiter, sorglos, lebenslustig; sehr strebsam, aus gutem Hause: Pastorssohn, mit einem Dutzend gutmütig bemutternder Tanten. Scheinbar nichts Außergewöhnliches ist an ihm; gewiß ist er begabt, sogar sehr und vielseitig; aber der um ein Jahr jüngere Rohde macht entschieden einen reiferen, ernsteren Eindruck. Gründungsphilister eines Vereins gescheiter Philologen, Ritschls Günstling; dieser Nietzsche wird vermutlich eine glänzende, wenn auch durchaus typische akademische Karriere durchlaufen: er wird brav und sittsam als Privatdozent anfangen, wird zum Extraordinarius, zum Ordentlichen Professor vorrücken; vielleicht bringt ers sogar zum Wirklichen Geheimen Rat und sicher bleibt ihm der Rote Adlerorden vierter Verdünnung nicht aus. Er wird ein Weib nehmen und seine Töchter an weitblickende Privatdozenten verheiraten; er wird zwei oder drei grundlegende Werke und eine Unzahl Zeitschriftenartikel schreiben, – Alles sehr gediegen, sehr wissenschaftlich, mit Zitaten, Anmerkungen, Hinweisen, Varianten, mit kritischem Apparat ...

1878: Er ist tatsächlich Professor geworden, abnorm früh, unter ungewöhnlich ehrenvollen Umständen. Aber er hat sich durch heillose Verquickung von Philologie und Wagnerei kompromittiert; für ernsthafte Philologen existiert er nicht mehr, denn er ist nicht wissenschaftlich; man hat, wie es sich gehört, seinen Katheder boykottiert, angehende Jünger der Philologie vor ihm gewarnt. Seit einiger Zeit liest er nicht mehr, sondern treibt sich, angeblich aus Gesundheitsrücksichten, irgendwo in Italien herum, in bedenklich internationaler Gesellschaft. Sein neustes Werk, lauter Aphorismen, zeigt, daß er sich total ausgeschrieben hat ...

1888: Dieser Nietzsche, auf den gewisse Leute vor fünfzehn Jahren so übertriebene Hoffnungen gesetzt hatten, ist so gut wie verschollen. Er führt ein Nomadenleben: Oberengadin, Thüringen, Venedig, Riviera. Er soll immer noch schreiben, aber kein Mensch liest ihn, niemand kauft, niemand bespricht seine überspannten Bücher, die jedes Jahr den Verleger wechseln. Eins davon soll sehr unmoralisch sein, hat aber dennoch keinen Erfolg gehabt; schon der Titel läßt allerlei Abscheuliches vermuten. Ein anderes handelt von persischer Mythologie, wie man hört. Um sich interessant zu machen, hat er ein Pamphlet gegen Wagner verfaßt ... Halt, gerade kommt eine ganz unglaubliche Zeitungsnachricht über ihn: »Die von dem Dozenten Dr. Georg Brandes im größten Hörsaal gehaltenen öffentlichen Vorlesungen om den tüske filosof Friedrich Nietzsche haben enormen Zulauf; jedesmal über dreihundert Personen.« Wie? Das Ausland nimmt Notiz von dem Manne? Sollte der Mann daher am Ende ernst zu nehmen sein?

 

Drei Dinge waren Nietzsche und Rohde gemeinsam: Liebe zum Altertum hatte sie zusammengeführt, Begeisterung für Schopenhauer brachte sie einander näher, Hingabe an die Wagnerische Kunst besiegelte den Bund. Rohde ist der Philologie treu geblieben und hat Glänzendes in ihr geleistet; er hat nie Wagner den Rücken gekehrt, obgleich auch er den weihrauchschwülen Quovadismus des Parsifal ablehnte; am lockersten wurde sein Verhältnis zur Philosophie, wenn er auch in seinen beiden Meisterwerken philosophischen Problemen durchaus nicht aus dem Wege ging. Nietzsche löst sich von Philologie, Schopenhauer und Wagner entschlossen los: sie waren ihm nur Wegweiser zu sich selbst gewesen. Alles in seinem Leben drängte scheinbar darauf hin, daß er Richard Wagner eine Art von Paulus würde: eine junge Sekte braucht den Vermittler, der sie in Beziehung zu den vorhandenen Kulturmächten setzt. Wagner hatte, wie kein Künstler vor ihm, einen skrupellosen Ehrgeiz, mit allem, was irgendwo einmal in der Geschichte groß war, in Beziehung zu stehen; Indertum, Griechentum, Christentum, die alte Tragödie, der Heilige Franz von Assisi, Dante, Shakespeare, Calderon, Goethe, Schiller, die Romantik, Schopenhauer, Beethoven, germanischer Mythus, ritterliche Epik, bretonische Fabulierlust: das alles sollte in das Werk Wagners hineininterpretiert werden, und zwar so, daß es erst in und durch Wagner seine Vertiefung und Vollendung gefunden habe. Nietzsche schien so recht geschaffen, der griechische Kirchenvater des neuen Glaubens zu werden; die Umstände konnten nicht günstiger zusammentreffen; seine Berufung nach Basel wies ihm deutlich die Richtung. »Luzern ist mir nun nicht mehr unerreichbar«, heißt es in dem Brief, in dem er Rohde seinen Ruf mitteilt. So sah er der neuen Professur froh, wenn auch nicht ohne Sorge entgegen. Rohde fühlte dunkel, daß ihnen Beiden ein Lebenssommer voll Mühe und Schwüle bevorstehe; in ergreifenden Worten nahm er Abschied vom Jugendgenossen und vom Frühling ihrer Freundschaft: »An diesem trivium unserer Lebenspfade laß michs Dir noch einmal sagen, daß Niemand im Leben mir wohler und lieber getan hat als Du und daß ich das empfinde mit allen Fibern meines Wesens.«

Basel ist die entscheidende Wendung in Nietzsches Lebenslauf. Er wird unvermittelt und unvorbereitet in einen Beruf hineingeworfen, den er unter normalen Umständen in langem geduldigem Warten und Vorbereiten erreicht hätte; der Unterricht am Pädagogium vermehrte bedenklich Arbeitslast und Verantwortung. Die freien Stunden waren einer erstaunlichen Produktion gewidmet: fast alles, was der erste, neunte und zehnte Band der Gesamtausgabe enthalten, ist in Basel entstanden. Ein ausgedehnter Briefwechsel, aufregende Musik und die Besuche in Tribschen bei Richard Wagner sind nicht zu vergessen. Mit der Berufung nach Basel scheint Nietzsches Lebensschiffchen in das idyllische Seitengewässer einer friedlichen Gelehrtenexistenz zu steuern; in Wirklichkeit treibt es sacht, aber unaufhaltsam hinaus in den Strom. Denn in Basel wuchs Nietzsche nur zu bald über das ganze Universitätswesen hinaus. Zunächst verlor er den engen persönlichen Konnex mit Rohde; lange Briefe waren ein kümmerliches Surrogat. Neuen Anschluß fand er nicht leicht. Der später einigermaßen vertrautere Verkehr mit Jakob Burckhardt und besonders Overbeck beschränkte sich anfangs auf freundliches Grüßen. So drängte alles darauf hin, ihn der Macht in die Arme zu treiben, die den Menschen jäh und gründlich wandelt: der Einsamkeit. Sie verleiht von nun an seinem Leben und seinen Werken Farbe und Glanz. Die Einsamkeit ist das letzte Kriterium für alles Hervorbringen; sie ist das Auszeichnende und Unterscheidende; man fühlt es sofort, wenn ein Werk »aus der Fremde« kommt, aus Höhe und Stille; seltsam und adelig steht es da. Beethovens letzte Quartette, Schopenhauers Hauptwerk, Ibsens letzte Dramen haben alle einen Hauch und Duft der strengen Einsamkeit an sich, in der sie entstanden sind. Nietzsche, von Natur aus wie Stendhal geneigt à se singulariser, wurde durch ein sonderbares Zusammenwirken verschiedener Umstände aus Beruf und Amt, aus Tradition und sozialem Leben hinausgedrängt, unmerklich beinahe, aber unaufhaltbar. Man kann Schritt für Schritt verfolgen, wie er die Wohnstätten der behäbig in Alltag und Gemeinschaft Lebenden verläßt, wie er immer höher seinen Berg hinansteigt und immer einsamer wird. Wohl preist sein Sonnenhymnus, da Zarathustra auf dem Gipfel steht und süßen Honig opfert, in entzückter Weiherede seiner Einsamkeiten siebente und letzte. Aber zu anderen Zeiten entlockte ihm das Gefühl, nicht einen einzigen Menschen zu haben, der ihn liebend verstand, bitterliche Klagen.

Kaum war Nietzsche ein Jahr in Basel, als er Rohde schon ganz revolutionäre Briefe schrieb: ein radikales Wahrheitswesen sei an einer Universität nicht möglich; etwas wirklich Umwälzendes werde nie von hier aus seinen Ausgang nehmen können; er werde diese Luft nicht mehr lange aushalten. Um aus dieser Not herauszukommen, erwog er in vollem Ernst einen Gedanken, der zu allen Zeiten feinere Geister als selige Utopie gereizt hat: den des weltlichen Klosters, in der Art der Platonischen Akademie oder der Thelemitenabtei des weisen Meisters Rabelais. Er bereitete einen Aufruf vor »an alle noch nicht erstickten und in der Jetztzeit verschlungenen Naturen«. Auf Rohdes und Romundts Mitwirkung rechnete er zuversichtlich, im Stillen wohl auch auf die Deussens, Burckhardts, Overbecks. Er fing an, seine Bedürfnisse auf ein Mindestes einzuschränken, um einen kleinen Rest von Vermögen für alle Fälle zu bewahren; er wollte in die Lotterie setzen, für seine Bücher die denkbar höchsten Honorare verlangen. Rohde mahnte besonnen ab; er fand sich nicht produktiv genug zu solcher Welteinsamkeit. »Mit Leuten wie Schopenhauer, Beethoven, Wagner ist es eine ganz andere Sache; auch mit Dir lieber Freund.« Die Stelle ist interessant: hier also kommt Rohde schon nicht mehr mit; er hat nicht mehr die nötige Elastizität. Und welch sonderbare Gleichstellung von Nietzsche, der noch keine seiner größeren Schriften veröffentlicht hatte, mit Schopenhauer, Beethoven, Wagner! Welchen Eindruck von Größe muß Nietzsche auf Rohde stets gemacht haben, daß dieser eine solche Nebeneinanderstellung wagte, ohne Furcht, sich und den Freund lächerlich zu machen!

Nietzsche fühlt sich unbehaglich in Amt und Fach. Nun tritt ein Ereignis ein, das in seiner Wichtigkeit für Nietzsches Entwicklung noch nicht hinreichend erkannt worden ist: der Basler Professor der Philosophie Teichmüller nimmt einen Ruf nach Dorpat an, Nietzsche hat eine solche Sehnsucht, seinen Rohde wieder bei sich zu haben, daß er ordentlich erfinderisch wird: er trägt sich mit dem Wunsch, sich um die vakante Professur zu bewerben, damit seine eigene für Rohde frei werde. In Lugano, wo er seine Erholung sucht, wiegt er sich in goldenen Träumen gemeinsamen Wirkens an der Basler Hochschule; sich selbst aber – und das ist das Entscheidende – kann er sich nur mehr als Philosophen vorstellen: so fest hat er sich schon in diese neue Hoffnung hineingelebt. »Von der Philologie lebe ich in einer übermütigen Entfremdung, die sich schlimmer gar nicht denken läßt. Bald sehe ich ein Stück neue Metaphysik, bald eine neue Ästhetik wachsen.« Es war der letzte Versuch, das ideale Kloster zu gründen. Der etwas spätere Plan, Rohde wenigstens an die Nachbaruniversität Zürich zu bringen, zerschlug sieh, weil Rohde mit Kiel unterhandelte. Man darf die Wichtigkeit dieser vergeblichen Bemühungen nicht übersehen: jetzt ist Nietzsche der Philologie ganz entfremdet, sie ist ihm, wie er selbst im nächsten Briefe bekennt, »ein Ekel«. Sie hat nur noch Wert für ihn, wenn sie sich in den Dienst des Lebens, der hohen Kultur, der großen Kunst stellt; diese Rolle weist ihr Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik an. Als das Werk erschienen war und von Wilamowitz Möllendorf vom Standpunkte der Wissenschaft aus ungestüm angegriffen wurde, stellte Rohde sich resolut auf die Seite des Freundes. Ob auch der Sache, ist zweifelhaft. Zwar haßte Rohde die »fatale Göttinger Weisheit von der Heiterkeit des echten Griechentumes« ebenso grimmig wie Nietzsche; auch er sah die Zeit tiefster mystischer Erregung zwischen Homer und Äschylos; »purifizierten Altenweiberprotestantismus« nennt er die zünftige Darstellung griechischer Weltanschauung. Aber Nietzsches erstes Buch enthielt Kühnheiten und Vorahnungen seiner späteren Entwicklung, die einem sorgfältigen Leser nicht entgehen konnten.

Im Juli 1876 erhielt Nietzsche die Anzeige von Rohdes Verlobung. Sogleich schrieb er einen herzlichen Glückwunschbrief, der jedoch eine merkwürdige Stelle enthält: »Ja, ich werde ruhiger an Dich denken können: wenn ich Dir auch in diesem Schritt nicht folgen sollte. Denn Du hattest die ganz vertrauende Seele so nötig und hast sie und damit Dich selbst auf einer höheren Stufe gefunden. Mir geht es anders. Mir scheint das alles nicht so nötig, – seltene Tage ausgenommen. Vielleicht habe ich da eine böse Lücke in mir. Mein Verlangen und meine Not ist anders; ich weiß kaum, es zu sagen und zu erklären.« Er ahnte wohl selbst nicht, welch klaffenden Abstand er mit diesem Bekenntnis zwischen sich und dem Freunde konstatierte; auch Rohde scheint die Stelle: »Du hattest die ganz vertrauende Seele nötig« nicht verstanden zu haben; noch einmal flammt, zum letzten Male und am höchsten, seine Liebe auf: »Mein Freund, ja, wahrlich mein Freund und Bruder! Eins denke immer: daß in meinem zukünftigen Hause Dir Herz und Herd allezeit zur Verfügung stehen; nicht wie ein Geschenk, sondern wie Dein eigener und rechtmäßiger Besitz! Ich bleibe Dein in unveränderter Liebe.«

Dieser Brief steht auf Seite 534 des Bandes; dann folgen nur noch fünfzig Seiten. Wann schreibt man einem Mädchen die glühendsten Briefe? Wenn man sich unbewußt mit dem Wunsche trägt, ihr den Abschied zu geben.

Zwei Dinge gibt es, die den Menschen entjungen; sie schneiden seine Entwicklung ab: Amt und Ehe. Sie sind des Durchschnittsmenschen Los und Glück, auch des sehr begabten. Dem Philosophen aber ist jedes Amt eine Kette und die Ehe ein Verhängnis; er versagt sich beides aus Instinkt. Schon dem vierundzwanzigjährigen Nietzsche stand dieser Satz fest. »Ich habe hier Gelegenheit, mir die Ingredienzien eines glücklichen Familienlebens in der Nähe anzusehen: hier ist kein Vergleich mit der Höhe, mit der Singularität der Freundschaft. Das Gefühl im Hausrock, das Alltäglichste und Trivialste überschimmert von diesem behaglich sich dehnenden Gefühl: Das ist Familienglück, das viel zu häufig ist, um viel wert sein zu können.« So ungefähr sagt das einmal jeder Jüngling; man erinnere sich der köstlich frischen Eingangsszene von Stifters Hagestolz. Nietzsche hat seine Jugendanschauung über die Ehe festgehalten; sie ist ihm immer strenger und entschiedener geworden. Wundervoll besang er im Zarathustra das Glück der Ehe und die Seligkeit der Elternschaft, aber er vergaß keinen Augenblick, daß es nicht für ihn und er nicht für es geschaffen sei. Fürs »dumpfe deutsche Stubenglück« vollends hatte er nur höhnende Verachtung, und als er dem fromm und mürb gewordenen Wagner die Summe seiner Existenz zog, schrieb er an auffälliger Stelle den bösen Satz: »Die Gefahr der Künstler, der Genies liegt im Weibe; die anbetenden Weiber sind ihr Verderb.« Nicht in der unglücklichen Ehe sah er die Gefahr: ohne Xanthippe kein Sokrates. Das »Behagen zu Zweien« war ihm das zu Fürchtende, das eigentlich Unphilosophische. In dem Glückwunschbrief deutete ers Rohde in einem zarten Symbol an: Ein Wandrer geht durch blaue Nacht und lauscht in weicher Wehmut der süßen Weise eines Vogels. Aber der Vogel spricht:

»Nein, Wandrer, nein! Dich grüß ich nicht
Mit dem Getön!
Ich singe, weil die Nacht so schön:
Doch Du sollst immer weiter gehn
Und nimmermehr mein Lied verstehn!...
Leb wohl, Du armer Wandersmann!« – –

Rohde hatte vielleicht als erster die aphoristische Technik Nietzsches erkannt. »Du deduzierst zu wenig«, schrieb er ihm über die zweite Unzeitgemäße Betrachtung; »Du überlässest dem Leser mehr, als billig und gut ist, die Brücken zwischen Deinen Gedanken und Sätzen zu finden. Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob einzelne Stücke und Abschnitte zuerst für sich fertig gearbeitet worden wären und dann, ohne in dem Fluß des Metalles völlig wieder aufgelöst worden zu sein, dem Ganzen eingefügt worden wären.«. Als Nietzsche in dem Aphorismenbande Menschliches, Allzumenschliches gänzlich auf die Eselsbrücken verzichtete, in denen philosophierende Flachköpfe das System einer Philosophie erblicken, war Rohde weniger von der neuen Form als von dem neuen Inhalt überrascht: »So muß es sein, wenn man direkt aus dem caldarium in ein eiskaltes frigidarium gejagt wird.« Schmerzlich befremdet, fand er zu viel Rée in dem Werke. So sehr er den rücksichtslosen Wahrheitstrieb, die kühle und strenge Zerlösung religiöser, metaphysischer und künstlerischer Illusionen bewunderte: er gab nur die relative Wahrheit der Sätze zu und fand den Gehalt des Buches mehr im Einzelnen als im Ganzen. Seltsam klingt der Schluß: »Nichts, dessen sei gewiß, soll mich Dir je im Innern entfremden.« So schreibt man nur, wenn die Entfremdung tatsächlich schon begonnen hat. Rohde mußte blitzartig erkennen, daß sein und Nietzsches Weg schon weit auseinandergingen. Daß er nicht, wie Wagner, das Buch als Ganzes verwarf, zeugte von Freiheit des Geistes. Daß er ihm nur zum Teil zu folgen vermochte, lag daran, daß Nietzsches Entwicklung ein ganz anderes Tempo annahm, nachdem er seinen Beruf aufgegeben hatte und nur noch sich selbst lebte. Rohde war durch Amt und Ehe davor bewahrt, ein rein kontemplatives Leben zu führen.

Von nun an wird auch der Ton Nietzsches in seinen Briefen anders; ganz langsam und allmählich, aber deutlich erkennbar. Es ist, als ob er aus der Höhe spräche; eine eigentümliche Überlegenheit und Nachsicht klingt leise durch. Die Antwort auf Rohdes Brief zeigt schon diese neue Weise; wer genau hinhorcht, hört durch alle Herzlichkeit doch einen Ton selbstbewußter Ironie. Nietzsche erklärt dem Freunde kurz und bündig, das Buch sei fertig und zu einem guten Teil schon reingeschrieben gewesen, ehe er überhaupt Rées Bekanntschaft gemacht habe. »Dadurch erscheine ich Dir vielleicht noch fremdartiger, unbegreiflicher? Fühltest Du nur, was ich jetzt fühle, seitdem ich mein Lebensideal endlich aufgestellt habe, die frische, reine Höhenluft, die milde Wärme um mich, – Du würdest Dich sehr, sehr Deines Freundes freuen können. Und es kommt auch der Tag.« Wirklich fand Rohde mit der Zeit sich besser in die Wandlung hinein; immer mehr erfaßte er die Souveränität des Buches: »Du wohnst in Deinem eigenen Geist, wir anderen aber hören solche Stimmen sonst nie, nicht gesprochen, nicht gedruckt: und so geht es mir, wie von jeher, wenn ich mit Dir zusammen war, auch jetzt: ich werde für eine Zeitlang in einen höheren Rang erhoben, als ob ich geistig geadelt würde.«

Leider fehlen uns mehrere Briefe der späteren Korrespondenz. Man könnte an der Hand dieser verlorenen Dokumente den Finger auf eine Stelle nach der anderen legen, durch die sich das Fremdwerden offenbart. Denn fremder werden sich immer mehr die früher so innig Vertrauten, deren Gehirne und Herzen wie Geschwister gewesen waren. Aus dieser drückenden Empfindung heraus bittet Nietzsche, Rohde wolle ihm doch etwas recht Persönliches schicken, damit er nicht immer nur den vergangenen Freund im Herzen habe, sondern auch »den gegenwärtigen und – was mehr ist – den werdenden und wollenden: ja, den Werdenden! den Wollenden!« Nietzsche hat das sicher nicht böse gemeint; aber der Hieb saß. Sofort entschuldigte sich Rohde: es sei eben gerade der Fluch des Professorentums, sich als einen Seienden zu geben; er wisse sich kaum zu helfen vor Seminar- und Vorlesungsbürde; er verglich sich mit einem Dorfteich, der langsam mit Schimmel überwächst. Für Rohde war das Werden vorbei. Er mußte froh sein, wenn er sich in seiner Wissenschaft auf dem Laufenden halten konnte. Der Universitätsgelehrte, der zugleich Forscher und Lehrer sein soll, hat viel zu tun, wenn er nicht eins von den beiden vernachlässigen will. Rohde hatte in Amt und Ehe eine reiche und tiefe Persönlichkeit mitgebracht, aber er entwickelte sich nicht mehr in dem Sinne, wie Nietzsche es ersehnte. Ihm mußte Nietzsches fortwährendes Werden, Wachsen, Überwinden unheimlich erscheinen. Die Briefe, die er ihm schrieb, zeigen die bewußte Absicht, einen Leidenden zu schonen. In den Briefen an Overbeck, Ribbeck und andere, die man in dem Buch von Crusius nachlesen mag, klingt alles um ein paar Nuancen schärfer, auch kühler. Ihm war Nietzsche ein lieber alter Freund neben lieben neugewonnenen Freunden. Er war Nietzsche der älteste, geliebteste Freund, der Freund. Gerade von seinen Jugendfreunden wollte Nietzsche verstanden werden; er fühlte dunkel, daß sie ihn nicht mehr verstehen konnten, vielleicht auch nicht mehr begreifen wollten; mit der zarten Empfindlichkeit des Leidenden hörte er aus all dieser schonenden und herzlichen Rücksicht die tiefe, nicht wieder gut zu machende Entfremdung: »Mein alter, lieber Freund, ich weiß nicht, wie es zuging: aber als ich Deinen letzten Brief las und namentlich, als ich das liebliche Kinderbild sah, da war mirs, als ob Du mir die Hand drücktest und mich dabei schwermütig ansähest: schwermütig, als ob Du sagen wolltest: ›Wie ist es nur möglich, daß wir so wenig noch gemein haben und wie in verschiedenen Welten leben! Und einstmals ...‹ Und so, Freund, geht es mir mit allen Menschen, die mir lieb sind: Alles ist vorbei, Vergangenheit, Schonung; man sieht sich noch, man redet, um nicht zu schweigen. Die Wahrheit aber spricht der Blick aus: und der sagt mir (ich höre es gut genug!): ›Freund Nietzsche, Du bist nun ganz allein!‹ Ach, Freund, was für ein tolles, verschwiegenes Leben lebe ich! So allein, allein! So ohne ›Kinder‹!«

Es war nur die traurige Bestätigung des längst Geahnten, als im Frühjahr 1886 die Freunde einander in Leipzig wiedersahen, zum ersten Mal seit zehn Jahren, zum letzten Mal fürs Leben. Rohde war in Leipzig in so viele Widerwärtigkeiten verwickelt worden, daß er wenige Wochen nach seinem Eintreffen einen Ruf nach Heidelberg annahm. So sah Nietzsche nicht den Jugendfreund, wie er ihn in immergrüner und verklärender Erinnerung gehegt hatte, sondern einen verdrießlichen und scheltenden Professor. Kein Gespräch wollte glücken. Kein gemeinsamer Grundton klang mehr. Jetzt wußten sie, wie fremd sie einander geworden waren. Zum äußeren Bruch kam es, als Rohde im Mai 1887 in einem Brief ein spöttisch hochmütiges Wort über Taine sich entschlüpfen ließ. Nietzsches Antwort war wie ein Peitschenhieb: »Wenn ich nur diese eine Äußerung von Dir wüßte, ich würde Dich auf Grund des damit ausgedrückten Mangels an Instinkt und Takt verachten. Glücklicher Weise bist Du mir anderweitig ein bewiesener Mensch.« Zwei Tage darauf kreuzten sich zwei Briefe. In dem einen bat Rohde wegen des Tones seines letzten Schreibens um Entschuldigung. Im andern Nietzsche den Freund wegen seiner harten Antwort. Aber es war doch das Ende. Ein halbes Jahr darauf sandte Nietzsche an Rohde die Genealogie der Moral. Der Brief schloß: »Wer wäre mir bisher auch nur mit einem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegengekommen! Hat irgendwer auch nur einen Schimmer von dem eigentlichen Grunde meines langen Siechtums erraten, über das ich vielleicht doch noch Herr geworden bin? Ich habe jetzt dreiundvierzig Jahre hinter mir und bin genau noch so allein, wie ich es als Kind gewesen bin.« Rohde brachte es fertig, auf diese wie mit Blut geschriebenen Zeilen kühl und förmlich dankend auf einer Karte zu antworten. Er war wieder, wie vor einundzwanzig Jahren, »ein sehr gescheiter, aber trotziger und eigensinniger Kopf«. So endete diese Freundschaft mit einer unwiderruflichen Entfremdung. Aber wenn auch Rohde die persönlichen Beziehungen abgebrochen hatte, so hörte er doch nicht auf, an Nietzsches weiterem Schaffen reges Interesse zu nehmen. Er erlebte den wachsenden Ruhm des Freundes. Wenn über den einst so Geliebten unehrerbietig geurteilt wurde, brach er in mächtigem Ingrimm los. Darin hat er Nietzsche auch nach dem Bruch Treue bewahrt.

Am siebenten Januar 1889 bekam er ein aus Turin datiertes Blatt Papier, mit einer kurzen Anrede; die wohlbekannte Schrift, aber unterzeichnet: Dionysos. Da Nietzsches Geist sich umnachtete, trat noch einmal das geliebte Bild Rohdes vor die Seele des unglücklichen Mannes und er mußte das Billet als letzten rührenden Gruß dem Freunde senden. Als später Nietzsches Schwester daran ging, den philologischen Nachlaß herauszugeben, war ihr Rohde, trotz vielen und drückenden Berufspflichten, der treuste Helfer. Er ordnete die langen, von Erinnerung schwer getränkten Briefe, die er in zwei Jahrzehnten von Nietzsche empfangen hatte; wehmütig sah er seine eigenen wieder und ließ sie mit verhaltenen Tränen durch die Hände gleiten. Einen einzigen wollte er verbrennen: den, der ihm einst in böser Stunde durch ein unbedachtes Wort den Freund geraubt hatte. Als ein paar Jahre darauf Erwin Rohde sich zum Sterben legte und die Kunde ins Nietzsche-Archiv kam, teilte die Schwester sie dem Kranken mit: »Er sah mich lange mit großen, traurigen Augen an: ›Rohde tot? Ach!‹ sagte er leise; dann wandte er schweigend das Haupt; und eine große Träne rollte langsam über seine schmale Wange herab.«

Das Verhältnis Nietzsches zu Rohde ist eins der schönsten und bedeutsamsten Kapitel der neueren Geistesgeschichte. Der Konflikt vertieft sich aus dem Persönlichen ins Typische. Er wird zum Antagonismus zwischen dem hochbegabten und gemütvollen Fachmenschen und dem Philosophen. Dem Einen ist die Philosophie ein Jugenderlebnis voll feinen Duftes, dem Anderen Inhalt des ganzen Lebens, das Leben selbst. Man kann beobachten, wie Rohdes philosophisches Interesse abbröckelt; er ist der geniale Akademiker, der sich mit Arbeit betäubt und dem sein Beruf zum Horizont wird. Es ist ein Glücksfall, daß zwei so bedeutende Vertreter dieses Gegensatzes vor uns stehen. Daß Beide ihr Gegensätzliches verkannten, zu versöhnen suchten, wo es nichts zu versöhnen gab: das ist das Tragische und Ergreifende.


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