Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Der Heilige

Ein imaginäres Gespräch

(1906)

»Es gibt keine römische Diplomatie mehr«, rief der Korrespondent der großen deutschen Zeitung aus, als der Ausrufer das Abendblatt auf den kleinen Marmortisch der bescheidenen Trattorie gegenüber Fontana Trevi gelegt hatte, um den, seit drei Wochen etwa, allabendlich derselbe vertraute Kreis sich versammelte. »Hatte ich es nicht prophezeit? Hier haben Sie's: Fogazzaro ist auf dem Index.«

Von allen Seiten griffen hastige Hände nach dem Blatte, als müsse jeder die fettgedruckte Überschrift des Telegramms mit eigenen Augen sehen, ehe er das Unglaubliche glaubte. Der ersten Aufregung folgte ein Stillschweigen, niedergeschlagen und drohend zugleich. Der Journalist erholte sich als der erste und griff nach dem Hute, die Neuigkeit sofort seinem Blatte zu telegraphieren: »Sie begleiten mich doch, Monsieur de Bonnefon? Wir haben denselben Weg, vermutlich. In einer Viertelstunde sind wir zurück.«

»Sie werden mich wohl entschuldigen müssen«, erwiderte kühl und höflich der Franzose. »Für den Siècle kommt diese Bagatelle ebensowenig in Betracht, wie für die französische Presse überhaupt. Ich begreife nicht, warum Sie in Deutschland sich für das langweilige Buch des Herrn Fogazzaro so erhitzen. Ich verstehe höchstens, weshalb mein sehr verehrter Kollege Brunetière diesen religiösen Kriminalroman in der Revue des Deux Mondes veröffentlichte: er braucht nur Kirchenluft zu wittern, um ein Buch für bedeutend zu halten. Seitdem er sich durch übermäßigen Genuß der Werke unseres großen Jahrhunderts Geschmack und Stil verdorben hat, genügt ihm die Abwesenheit künstlerischer Vorzüge, um sich für ein Buch mit dem ganzen Fanatismus einzusetzen, den er bei seinen Gegnern verdammt. Nein, ich werde nicht telegraphieren, geehrter Kollege, und ich rate Ihnen, es auch Ihrerseits bleiben zu lassen. Denn diese Omelette des Herrn Fogazzaro ist zu zäh, zu mager und zu kalt, als daß man soviel Lärm davon machen sollte.«

»Zäh? Meinetwegen. Mager? Vielleicht. Aber kalt? kalt? Wie können Sie sagen Fogazzaros Buch sei kalt?« Das bleiche Gesicht Professor Minuccis rötete sich. »Sie ziehen wohl die parfümierte Prosa dieses Gecken D'Annunzio der reinen edlen castigatezza Fogazzaros vor? Ein Buch muß vor Leidenschaft rauchen, sein Stil flackern, zucken, blitzen, blenden, seine Beschreibungen beleidigend bunt sein wie die bei den Engländerinnen beliebten Volksszenen in den Auslagen der Piazza di Spagna, um vor Ihnen Gnade zu finden? Ich sage Ihnen, Fogazzaros Buch glüht von innerer Flamme, es glüht wie der Vesuv, und man muß verrückt sein wie die Herren von der Indexkongregation, um zu glauben, dieser Krater sei einfach durch ein Dekret vom grünen Tisch zu verstopfen. Was verrückt! Mehr, es ist dumm, verbrecherisch dumm ...«

Bei diesen Worten schob der Wirt, Sior Angelo, energisch die Glastür zu, die das hintere Lokal von den beiden vorderen und dem Schanktische trennte, so daß kein Laut nach vorne dringen konnte. Der Listige hatte die schönsten Weinhänge im Albanergebirge und wollte es mit seiner geistlichen Kundschaft nicht verderben. Minucci merkte, daß er zu weit gegangen war, und hielt inne.

»Dumm!« begann Bonnefon gelassen, »dumm! Sie werden sich hüten, die Indexkongregation für dumm zu halten. Sie weiß was sie will, und sie will was sie soll. Sie hat immer den Mut zur unpopulären Maßregel. Ich bin überzeugter Katholik, das wissen Sie alle. Ich schwärme nicht für die Kongregation, auch das wissen Sie. Aber ich bestreite, daß sie dumm ist, wie ich bestreite, daß ihre Motive tadelnswert seien. Ich finde ihre Hand nicht immer sehr glücklich, ich hielte es selbst für erwägenswert, sie als eine veraltete Institution abzuschaffen, aber ich billige ihr Vorgehen in diesem Falle durchaus. Denn es betrifft ein Buch, das geeignet ist, die Massen zu verwirren, und dessen künstlerische Eigenschaften – verzeihen Sie, Minucci, Sie gaben mir die Waffe in die Hand, – mehr negativer Art sind. Castigatezza – zugestanden. Aber was ich vermisse, ist das Leben, die Kraft, das Interesse.

Fogazzaros Geschichte ist nicht im geringsten spannend, daher nennt man sie aus Verlegenheit vornehm. Ihre Liebesintrigue besteht darin, daß die verwitwete Jeanne Dessalle ihrem ehemaligen Geliebten nachläuft – eine tugendhafte Manon, die den Spuren eines hochmoralischen Chevalier des Grieux hoffnungslos folgt, um ihm im Augenblick, da er stirbt, das Kreuz reichen zu können. Welches Melo! Jawohl Melo! Ist nicht alles Melodram, vom ersten Kapitel bis zum letzten? Kennen Sie etwas, das mehr an den Haaren herbeigezogen wäre, als die rührsame Ouvertüre, die in Brügge spielt? Sie haben die hysterische Geschichte von Rodenbach Bruges la morte schwerlich gelesen? Sie taten recht daran; ihr Saisonerfolg war so matt, daß sie in schlechtes Deutsch übersetzt werden mußte. Nun wohl, Rodenbachs Buch ist ein Juwel von Eleganz und künstlerischer Kultur gegenüber dem ersten Kapitel Fogazzaros. Zu welchen Geschraubtheiten muß er nicht seine Zuflucht nehmen, um an den vorhergehenden Roman Piccolo mondo moderno anzuknüpfen: Pietro Maironi ist verschwunden, verschollen, fast wie der Graf von Monte Christo. Und in Brügge, ausgerechnet in Brügge, erfährt die Frau, die er geliebt hat und die ihn noch liebt, durch einen Brief, daß er als Mönch in Subiaco lebe. Konnte man ihr das nicht ebensogut nach ihrer Villa in Venedig schreiben? Ihr wären mindestens einhundert Kilometer Expreßzug, dem Schreibenden zehn Centesimi Porto, uns vierzig gezierte Seiten erspart geblieben, in denen der Autor sich erfolgreich müht zu beweisen, daß Feindschaft gesetzt ist zwischen ihm und dem Esprit. Aber gehen Sie weiter: sehen Sie einmal das zweite Kapitel an, eine unendliche Kontroverse zwischen einem halbdutzend liberaler Katholiken, wie sie bei uns in Frankreich heißen, vermutlich weil sie zum Katholizismus nicht genügend moralischen und zum Liberalismus nicht genügend intellektuellen Mut haben. Man glaubt einem Kränzchen von Schwärmern anzuwohnen, von unterrichteten, liebenswürdigen, edlen Schwärmern, gewiß, aber – von Schwärmern. Kein positives Wort; kein greifbarer Vorschlag; kein realisierbarer Gedanke. Nur die Suggestion, daß es eines Heiligen bedürfe, damit die reformkatholische Bewegung in Fluß komme. Sie nennen das Vorbereitung, künstlerische Zögerung? Ich nenne es Melo, wenn Sie wollen Große Oper: der Tenor tritt erst im dritten Akt auf, um den Effekt zu steigern. Ist es nicht große Oper, wenn der frühere Weltmann Pietro Maironi als einfacher Gärtner inkognito unter falschem Namen in Subiaco lebt, à la Bourgmestre de Zaardam? Ist es nicht Meyerbeer, oder wenn Sie wollen, Richard Wagner, wenn Jeanne den einstigen Geliebten in der magischen Dämmerung der Unterkirche von San Benedetto wieder erblickt, nur um ihn endgültig zu verlieren? Und die Zurückgezogenheit des Heiligen, sein Aufenthalt in dem romantischen Apenninenneste, seine Popularität, sein jäher Fall in der Gunst der Menge, weil er das erwartete Wunder nicht wirkt, das alles ist für meinen Geschmack zu sehr Johann von Leyden, zu sehr Demetrius, das alles schreit förmlich nach Victor Hugo. Kommt der große Effekt des Romans: wie Benedetto, alias Maironi, durch dunkle und selten betretene Gänge des Vatikans sich tastend, plötzlich vor dem Papste steht: Sie wissen, ich hasse diesen Spekulanten von Zola, aber die berühmte Audienz, die sein Pierre bei Leo XIII. hat, scheint mir intelligenter, möglicher, wahrscheinlicher, künstlerisch richtiger geführt, als die Konzertarie von der Reform der Kirche, die unser Pietro Maironi dem verblüfften Pius X. vorschmettert. Schade, daß Fogazzaro sich diesen immerhin starken Grammophon-Effekt durch die nächtliche Szene verdirbt, in der Maironi sich dem Minister gegenüber genau so unverschämt und, was ich künstlerisch verurteile, genau so unwahrscheinlich in der Rolle des Amateur-Märtyrers und Heiligkeitsdilettanten benimmt, wie vor dem Papste. Schade überhaupt, daß der Schluß so im Sande verläuft: man hört nur von den Unannehmlichkeiten, die dem Heiligen durch die römische Polizei bereitet werden – ich bitte Sie, meine Herren! durch unsere langweilige, langmütige, faule römische Polizei! – von der Krankheit, die er sich durch seinen unvernünftigen Vegetarismus, seine Kasteiungen, seine religiöse Exaltiertheit, seine mangelnde Vorsicht im Verkehr mit Kranken, seine Propheten-Nervosität, seine Märtyrer-Ekstase zugezogen hat. Er stirbt, von Haus zu Haus vertrieben, in einem abgelegenen Zimmer der armseligen Gärtnerwohnung, streckt mit sterbender Hand der Geliebten das Kruzifix zum Kusse hin, und lächelt verklärt – welches Melodram! welch schöne Pose! wahrhaftig würdig der Porte Saint-Martin: – Coquelin als Pietro, und Sarah Bernhardt als Jeanne ...«

Bonnefon hatte mit wachsender Lebhaftigkeit gesprochen. Sein häßliches aber geistvolles Gesicht sprühte von Bosheit, seine listigen Augen waren in burlesker Verzückung gegen das niedrige Gewölbe des Gemaches verdreht, und er verrenkte die Arme wie der larmoyanteste Engel auf Berninis Brücke. Er schwieg wie erschöpft, und blickte verstohlen um sich. Abbé Marinier und der Journalist lachten, Minucci, Selva und Dane schwiegen mißbilligend, verstimmt, ja gekränkt.

»Sie haben unrecht, denn Sie spotten«, sagte mit sanfter und trauriger Stimme Giovanni Selva. So leise er sprach, alle wandten sich dem Philosophen zu, denn sie hatten Ehrfurcht vor seinen weißen Haaren, vor dem vielen Kummer, den er im Laufe eines makellosen Lebens erlitten hatte, vor seinen mit unerschütterlicher Überzeugung vertretenen Ideen. »Sie haben unrecht. Ich gebe Ihnen die in Brügge spielende Einleitung preis wie auch die Szene mit dem Minister. Denn beide Szenen sprechen für Fogazzaro, für seine Lauterkeit, seinen Ernst. Gesegnet sei diese Ungeschicklichkeit eines religiösen Anregers! Was beweist es denn, daß jene Szenen mißlungen sind? Nichts anderes, als daß rein weltliche Szenen ihm nicht mehr gelingen! So abgestorben ist er aller Eleganz und allem Esprit, so ganz geht er auf in der Heiligkeit seines Problems, so radikal ist sein Verzicht auf mondäne Effekte. Sie haben mit Recht gesagt, daß diese langen Debatten für das durchschnittliche Lesepublikum nicht geschrieben sind. Aber auch dieses Durchschnittspublikum wird gerührt werden durch die ergreifende, so einfache, so wenig spannende, und doch so mächtige Handlung des Buches. In drei grandiosen Bildern entrollt sich die Passion des Heiligen vor uns: Subiaco, die Wiege des ehrwürdigsten Ordens der Christenheit, wo der büßende Pietro in demütiger Verborgenheit als Gärtner arbeitet und dient und gehorcht, bis er wieder die himmlische Stimme in seinem Herzen hört: Magister adest et vocat te. Das Apenninendorf, wo er den Unwissenden, den Armen und Kranken dient, und sie pflegt, mit ihnen und für sie betet, und sich seine Demut bewahrt, und die kindliche Furcht vor dem leicht zu gewinnenden falschen Heiligenschein. Und dann Rom, wo er endlich, endlich vor dem Heiligen Vater steht, in einsamer Nacht, zur einsamsten Stunde, und seiner Seele brennender Eifer gewaltige Worte findet, Rom, wo antike Welt und Renaissance und zwanzigstes Jahrhundert sich im Wege sind und sich stoßen, Heiliges und Irdisches, Göttliches und sehr sehr Menschliches, Priestertum und Politik, Gebete, Liebe, Ränke, Minen und Gegenminen, wildeste soziale Gegensätze, der Heilige selbst mitten darin, von einem Milieu ins andere gestoßen, von dem Krankenbette in den Vortragssaal, in das Privatzimmer des Papstes, die Amtsstube der Polizei, den Salon des Ministers, das eigene arme Kranken- und Leidens- und Sterbezimmer: nennen Sie mir doch einen europäischen Schriftsteller, der imstande wäre, ein gleich erhabenes und weihevolles Triptychon zu schaffen? Was Sie Melodram nennen, ist die erschütternde Simplizität der Geschehnisse, gegen die Sie sich selbst nicht wehren können, es sei denn durch Spott. Aber dann ist auch Francesca da Rimini Melodram, und Ödipus auf Kolonos, und Romeo und Julie, und alles was das Herz rührt und mit sanfter Schwermut füllt bis zum Rande und bis zum Zerspringen, das alles ist nur Melodram!«

»Wir kommen vom Thema ab«, sagte Abbé Marinier, dem dies Pathos unangenehm war. »Zugegeben, daß der künstlerische Wert des Buches so hoch sei, wie Sie behaupten, Herr Selva (er verbeugte sich gegen ihn), oder so zweifelhaft wie Sie annehmen, Monsieur de Bonnefon (er verneigte sich auch gegen jenen), darin hat die Indexkongregation recht, daß sie vor dem verworrenen und verwirrenden Buche warnt. Denn gerade wenn es bedeutend ist, ist es gefährlich. Es war ohnehin eine Langmut ohnegleichen, daß sie das Verbot erst aussprach, als der Abdruck in der Revue des Deux Mondes beendigt war.«

Hier konnte der deutsche Journalist nicht mehr an sich halten und platzte heraus: »Langmut? Auf welchem Jupitermond leben Sie, Herr Abbé? Ihre historischen Studien verderben Ihnen Gesicht und Gehör. Langmut ist wirklich ein guter Ausdruck. Warum versagte diese Langmut plötzlich, als es sich darum handelte, in einer katholischen deutschen Monatsschrift den in Rom spielenden Schlußteil zu Ende zu drucken? Wer ist der Spiritus Rektor der Indexkongregation? Ein Deutscher, Kardinal Steinhuber, Societatis Jesu, achtzig Jahre alt. Wer ist der Mann, der am meisten gegen Fogazzaro geschrieben hat? Alexander Baumgartner, ebenfalls Jesuit, der am liebsten die ganze Literatur, soweit sie von Nicht-Jesuiten herrührt, auf dem Index hätte. Wo hat Baumgartner den artigen Scheiterhaufen gegen Fogazzaro Scheit um Scheit aufgeschichtet? In der jesuitischen Monatsschrift Stimmen aus Maria Laach. Welches ist das stattliche Konkurrenzunternehmen der Stimmen aus Maria Laach? Das Hochland, eben jene Zeitschrift, die durch das Verbot getroffen wurde und getroffen werden sollte. Aber natürlich, Brunetiere läßt nicht mit sich spaßen, die Revue des Deux Mondes ist eine Macht, mit der man rechnet und die man nicht vor den Kopf stößt, das Hochland dagegen ist quantité négligeable und die Deutschen dafür bekannt, daß sie den Stiefel küssen, der sie getreten hat.«

»Wirklich?« entgegnete spöttisch Bonnefon, »so kleinlich sollte die Kongregation sein? Konkurrenzneid? Journalistenkabale? Nein, sie mußte das Verbot erlassen, sollte sie überhaupt noch respektiert werden. Es war eine Kraftprobe, eine Herausforderung. Man hat solange und so oft geschrieen: »Diszipliniert ihn doch, wenn ihr euch getraut«, bis die Kongregation handeln mußte. Die liberalen Zeitungen waren plötzlich voll Interesse an der Säuberung der römischen Zustände, obgleich ihnen die Säuberung der liberalen Zustände dankbarere Aufgaben bot. Fogazzaro mag sich bei seinen zudringlichen Freunden bedanken.«

»Fogazzaro! Was liegt an Fogazzaro!« fuhr Professor Minucci auf. »Für uns alle ist dies Verbot ein Schlag! Hier ist ein europäisches Buch, und die Kongregation nimmt es einfach weg. Sie nimmt es den Katholiken Amerikas, Englands und Skandinaviens ebenso weg wie denen Italiens. Warum? Weil theologische Probleme darin behandelt werden? In jeder Wissenschaft geht der Weg zur Erkenntnis durch Widerspruch, durch Neuheit. Nur nicht in der unseren, in der Theologie? Hier darf kein Widerspruch laut werden, kein neuer Gedanke die Geister aufrühren? Weg mit neuen Gedanken! Weg mit neuen Tatsachen! Sie sind uns unbequem, ergo sind sie verdammungswürdig. Auf den Scheiterhaufen mit ihnen! Ut facinorosae perversitatis vestigia flammis combusta depereant! Aber dann ist unsere ganze Theologie keine Wissenschaft, sondern eine Art apologetisches Schachspiel: die Regeln stehen fest, die Ziele stehen fest, es handelt sich höchstens um Feinheiten, ob ich mit Evansgambit eröffne oder mit Königsgambit.«

»Bitte, was hat die Theologie mit dem Roman Fogazzaros zu tun?« Marinier hatte in seinem kältesten und schneidendsten Tone gefragt: das war ja Rebellion, offene Empörung, Kündigung des Gehorsams.

»Was sie damit zu tun hat? Sehr viel sogar. In vielen unserer Besten wächst und wächst eine dumpfe Bangigkeit, daß die katholische Religion Gefahr laufe, eine Art von Paganismus zu werden. Denn die gebildeten Kreise wenden sich in erschreckendem Maße von ihr ab. Sie wird ein Glaube der kleinen Leute, der alten Weiber, der Bauern. Da tritt Fogazzaro auf. In einem Buche, das die ganze zivilisierte Welt in Atem hält, beginnt er zu sprechen, furchtlos und gewaltig. Er spricht von den vier bösen Geistern, die sich in die Kirche eingenistet haben. Vom Geiste der Lüge, der Erwachsene zur Kinderkost, Erkennende zur Anbetung des Buchstabens zwingt, der alles, was er anrührt, unfruchtbar und tot macht. Vom Geiste der Herrschsucht, der alle Freiheit unterdrückt, der auf allen Gebieten sich bis in die letzte Ecke breit macht, und alle feiner Denkenden und Empfindenden aus der Kirche hinaustreibt, in die Opposition. Vom Geiste der Habsucht, der in die Kleriker gefahren ist, und der Armut Christi ins Gesicht schlägt. Vom Geiste der Erstarrung, der Christum, wenn er heut käme, eifernd ans Kreuz schlüge, der einen Fanatismus der Vergangenheit in der Kirche erzeugt hat, der uns dem Gelächter der Ungläubigen preisgibt, der nichts ist als die Adernverkalkung der Kirche, an der sie langsam aber tödlich sicher zugrunde gehen wird. Und dann kommt die Stelle, bei der allen guten Italienern die Seele brennt: »Ich beschwöre Eure Heiligkeit, den Vatikan zu verlassen. Treten Sie hinaus, Heiliger Vater! Aber das erstemal, das erstemal wenigstens gehen Sie hinaus wegen eines Werkes Ihres heiligen Amtes! Lazarus leidet, Lazarus stirbt jeden Tag: gehen Sie, Lazarus zu sehen! Christus ruft um Hilfe in all den armen menschlichen Geschöpfen die da leiden. Wenn im Quirinal menschlicher Schmerz in Christi Namen ruft, so denkt man dort vielleicht »Nein«, aber man geht. Vom Vatikan aus antwortet man Christo »Ja«, aber man geht nicht.« Dies ist die Stelle, wegen der das Buch auf den Index gekommen ist. Sie allein! Die Theologie ist nichts als ein bequemer Vorwand, um die Gläubigen einzuschüchtern. Es ist immer dieselbe Macht, die ein Interesse daran hat, daß kein Friede wird zwischen Quirinal und Vatikan, zwischen moderner Entwicklung und kirchlicher Lehre, immer dieselbe Macht, die den Papst, der endlich aus diesem unnatürlichen, zwecklosen, schädlichen Protestkarzer herausmöchte, wieder hineinzwingt, und damit uns Katholiken in diese heillose Sackgasse hineinzwingt. Welche Hoffnungen hatten wir Italiener! Friede, endlich Friede zwischen dem Vaterlande und dem Heiligen Vater: wir dürften uns am politischen Leben beteiligen, könnten uns unsres Vaterlandes endlich reinen Herzens, ohne Hintergedanken freuen! Mit brausendem Jubel würde der Papst begrüßt, der endlich im einigen Italien als dessen geliebtester und verehrtester Bürger zu leben sich entschlösse, mit dem Vaterlande, mit uns, nicht abseits von uns, feindselig auf das einige Italien blickend, in einer jammervollen Untätigkeit, einer leeren Protestation, einer Selbsteinkapselung. Wer ist es denn, der alles systematisch hintertreibt? Der jeden kleinsten Versuch zur Vermittelung vergiftet? Der diese armen Narren verhetzt, bis sie schreien Evviva il Papa Rè«

»Sie werden mich entschuldigen«, sagte Marinier ernst und stand auf, »ich kann bei einer Diskussion nicht länger gegenwärtig sein, die sich in dieser Richtung und in diesem Tone bewegt. Ich sage Ihnen nur ein Wort zum Abschiede: sehen Sie zu, daß nicht Sie in der Sackgasse sind, Sie allein! Niemals ist, trotz aller äußeren Anfeindung, die heilige Kirche glanzvoller, erhabener dagestanden, als in diesem Augenblicke. Sollen sich Millionen Katholiken nach den wenigen Intellektuellen richten, denen die ehrwürdige Institution nicht genügend komfortabel ist? Was wollen Sie eigentlich? Eine Niederdruckdampfheizung in Sankt Peter? Einen Kommentar des Abbé Loisy unter der Kuppelinschrift Tu es Petrus – daß die Stelle interpoliert sei? Die Unfehlbarkeit des Herrn Fogazzaro an Stelle derjenigen des Papstes? Einen populärwissenschaftlichen Vortrag über Darwinismus und Schöpfungshypothese, anstatt eines Rosenkranzes? Sie wollen aus dem Schiff Petri heraus, und auf dem Wasser spazieren? Sehen Sie zu, daß Sie nicht ertrinken! Wo ist Ihr Programm? Worin sind Sie einig? In welchem positiven Punkte? Sie kommen mir vor wie Offiziere, die über die Tragweite des Fahneneides diskutieren. Mit einem Romane gedachten Sie die Kirche zu reformieren? Rufen Sie doch einmal Sior Angelo, erzählen Sie ihm diese Ihre Absicht, und Sie werden sehen, wie er als höflicher Mann Mühe haben wird, das Lachen zu verbeißen. Ich meinerseits kann nicht lachen. Mir steht das Weinen näher, solch bedeutende Geister auf verhängnisvollem Abwege zu sehen. Leben Sie wohl!«

Er war wirklich im Begriffe zu gehen. Alle waren aufgestanden und redeten auf ihn ein. Mit Tränen in den Augen bat ihn Minucci um Vergebung. »Ich bin ein unglücklicher alter Hitzkopf. Das Wort, der Augenblick, die Entrüstung, das galoppiert mit mir davon. Ich flehe Sie an, bleiben Sie! Gehen Sie nicht in dieser Stimmung von uns!«

Halb widerwillig ließ sich Marinier die Felpa aus der Hand nehmen. Reverend Dane hob seine schmale blasse Hand und bat um Ruhe. »Ist nicht die Kontroverse«, begann er, »die wir soeben vernommen haben, das denkbar stärkste Zeichen für die Bedeutung des Buches? Fogazzaro fragt: Sind Heilige noch möglich? Und er antwortet: Ja. Er fragt abermals: Sind Heilige nötig? Und er antwortet abermals: Ja. Und er stellt den neuen Typus vor uns hin, den Heiligen unserer Zeit, der zugleich sozial und intellektuell ist. Sozial wie der Arme von Assisi, intellektuell wie Paulus. Welcher Intuition bedurfte es, diesen neuen Typus zu schauen! welcher gestaltenden Kraft, ihn zu formen! welcher Sicherheit, ihn nicht zu verzeichnen! Nichts ist an Pietro Maironi zu unrecht stilisiert, nichts ins Falsch-Großartige verfälscht, there is no mock-heroism neither in this man nor in this book: ein unheldischer Held, ein armer sündiger leidender Mensch wie wir ihn glauben können, Versuchungen, Zweifeln und bitterlicher Herzensangst unterworfen. Ich finde dieselbe Innigkeit der gestaltenden Kraft in der Zeichnung der übrigen Charaktere: welch apostolische Seele ist diese Maria! welch wunderbares Geschöpf Noëmi! Don Clemente aber und der Abt, sind es nicht zwei Büsten von Donatellesker Feinheit und Schärfe? Sie blicken ungläubig, Herr – –?« Er suchte nach dem Namen, der ihm entfallen war ...

Der deutsche Journalist, den er meinte, errötete leicht und sagte sehr höflich: »Reverend, Sie sind ein halber Gedankenleser. Ersparen Sie mir die Notwendigkeit, Ihnen weh zu tun, Ihnen allen. Wir sind so gute Freunde, wie man sie nur in diesem Rom finden kann. Sie lieben mich, der ich Jude bin, in Ihrer geistlichen Tafelrunde zu sehen. Und ich komme gerne, sehr gerne. Sie ziehen mich an, auch wo ich Sie nicht verstehe. Sie sind so anders, so gegensätzlich zu mir. Ist es das Blut meiner Väter, das mich für religiöse Dispute immer wieder, mir zum Trotze, empfänglich macht? Sie waren nämlich alle Rabbiner – erst ich bin zum Zeitungsschreiber entartet. Gibt es auf Erden ein köstlicher Ding als Gegensätze? Gott empfand das Bedürfnis seiner Antithese, und schuf die Welt. Ich liebe den Gegensatz, den Streit der Geister, und nichts klingt meinen alten Ohren holder, als das leise Klirren blanker Waffen. Sie hören: der Wein Sior Angelos verlockt mich zu Gedankensprüngen und Träumen – verzeihen Sie! Aber ich bin verpflichtet, Ihnen zu erklären, daß ich nicht ungläubig den künstlerischen Vorzügen des Buchs von Fogazzaro gegenüberstehe. Il a les qualités de ses défauts. Ich wunderte mich nur im Stillen, daß Sie mit ästhetischen Argumenten Ihre Begeisterung zu stützen suchen, der Sie doch genau wissen, daß Ihr Herz Ihnen das Buch teuer macht, und nicht Ihr Geschmack! Denn als Kunstwerk allein, das fühlen Sie so gut wie ich, ist der theologisch-politische Traktat, Il Santo genannt, nicht haltbar.«

»Weil es mehr ist als ein Kunstwerk, nämlich eine Tat, ein Ereignis, eine Explosion.«

(»Warum nicht gar ein Attentat!« murrte Minucci.)

»Hierüber bin ich nicht kompetent. Ich stehe dieser ganzen Welt zu fern. Für mich ist dies Buch nicht was es für Sie ist. Als Journalisten geht es mich nur an, ob ich darüber zu telegraphieren habe oder nicht. Als Mensch betrachte ich seinen Fall als rein pathologisch: religiöse Neurose, die auf einen Nervenschock zurückgeht. Ich kann Ihnen schwer ausdrücken, wie objektiv, will sagen fremd und kühl ich den Santo ablehne. Ich verstehe Linda Murri. Pietro Maironi verstehe ich nicht. Ich kann die Motive Linda Murris nachfühlen. Diejenigen Maironis kann ich bestenfalls nachkonstruieren. Die innere Erfahrung fehlt mir. Bis zu einem gewissen Grad kann ich mich in die Gefühlswelt dieses Romans durch Analogie hineinversetzen. An einem gewissen Punkte versagt meine Anschmiegungsfähigkeit völlig. Worüber Sie sich streiten, als seiens Ewigkeitsfragen, scheint meinem hierfür ungeschulten Auge und Gehirn eine Debatte um Nuancen, eine Diskussion um Worte, ein Zank um das Jota. Ich hege für diese Probleme etwa dasselbe Interesse, das Oberst Younghusband für das Zeremoniell der Lamas in Lhassa empfunden haben mag. Es gibt sogar für Italien Fragen, die mir erheblich wichtiger scheinen als die römische Frage, die seit sechsunddreißig Jahren aufgehört hat eine Frage zu sein: die Auswanderungsfrage, die Kolonialfrage, die Agrarfrage, vor allem die Fragen der Korruption der höheren und des teppismo der untersten Schichten der Nation. Foggazzaro scheint mir nicht nur die Notwendigkeit, sondern sogar den Wert eines Arrangements des neuen Italien mit dem Papsttum zu überschätzen. Wenn der offizielle Katholizismus gegen die terza Italia schmollt, lassen Sie ihn doch schmollen! Ein resoluter Bruch mit der Vergangenheit, ein vollständiges Ignorieren scheint mir besser, als Ruinensentimentalität irgend welcher Art. Sie sprachen von dem doppelten Typus, den der Heilige vereine. Ich stelle Ihren beiden Typen die beiden Typen des modernen Italieners gegenüber: Mazzini und Garibaldi. Den Intellektuellen und den Volksmann. Das sind meine Heiligen, die ich hätte, wenn ich Italiener wäre, und ohne den Luxus von Heiligen nicht auskäme! Was aber den Index betrifft, freuen Sie sich: der Santo kommt in keine schlechte Gesellschaft! Man kann sich eine recht wertvolle Bibliothek zusammenstellen, wenn man den Index librorum prohibitorum als Katalog benutzt. Ein Sperling kann sich einem Alligator ruhig auf die Nase setzen. Was beweist das Verdikt der Kongregation? Daß Fogazzaro kein Sperling ist, sonst hätte der Alligator nicht geschnappt. Wenn Sie wirklich glaubten, daß Ihre Ideen dadurch geschädigt würden, so müßte es schlecht um diese Ihre Ideen stehen. Eine solche Energie, wie Sie sie dem Buche zuschreiben, sollte wirkungslos verpuffen? Seien Sie beruhigt: nichts verpufft, nichts geht verloren, am wenigsten der Geist. Fogazzaros Buch ist ein Glied der ungeheuren Kette elektrischer Energie. Trösten Sie sich mit der Entdeckung Ihres Landsmanns Marconi: auch in der Sphäre des Geistes gibt es eine geheimnisvolle und gewaltige Fernwirkung ohne materielles Substrat.«

Er schwieg, und versank wieder in das träumerische Schweigen, das er abends und beim Weine liebte. Die Andern hatten ihm nicht ungeduldig zugehört. Sein höflicher Ton, in dem Skepsis und eine gebändigte Energie sonderbar zusammenklangen, beruhigte sie wie exotische Musik: er störte sie nicht, verpflichtete sie nicht einmal zur Widerlegung. Denn, wie er selbst gesagt hatte, er kam aus einer andern Welt, die sie nie betreten hatten und nie betreten würden. Mit ihm stritten sie nicht. So unnachgiebig sie gegen einander waren, so liebenswürdig waren sie gegen ihn, von dem sie eine Welt trennte. An der Stille merkte Sior Angelo, daß der Höhepunkt des allabendlichen Gefechtes überschritten war und das Gespräch in friedlicheres Gewässer einlenkte. Nicht ohne Ironie schob er den Flügel der Glastür zurück, und stellte einen frischen Krug weißen Frascati vor die Versöhnten hin. Mit jener Heiterkeit, die gerade nach sehr ernsthaften Meinungsverschiedenheiten zwischen wackeren Männern sich einstellt, kamen sie seinen Intentionen entgegen, und schalten scherzend, daß die Artischoken heute so lang ausblieben. Während Sior Angelo mit drolliger Miene zerknirschte Entschuldigungen vorbrachte, drängte eine Menge junger Leute fröhlich lärmend herein. Sie kamen aus der Oper und verlangten im Rhythmus des letzten Finales Wein. Mit ihnen zugleich, denn sie hatten die vordere Tür absichtlich offen gelassen, schwebte der kühle Atem der römischen Nacht in das Gemach, und das ruhige, gleichmäßig starke und mächtige Rauschen der Fontana.


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