Josef Hofmiller
Versuche
Josef Hofmiller

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Ralph Waldo Emerson

(1903)

Am fünfundzwangzigsten Mai [1903] sind hundert Jahre vergangen, seit Emerson auf die Welt kam. Die Amerikaner lassen den Tag nicht vorübergehen, ohne sich ins Gedächtnis zu rufen, was sie Emerson verdanken. Die Emerson Society begeht, mit der schlichten Würde und Sachlichkeit, die den amerikanischen Intellektuellen eigentümlich ist, das Fest ihres Philosophen. Die Institute, die seine ersten Vorlesungen hören durften, geben, indem sie ihn feiern, einen Überblick über das letzte Jahrhundert ihrer Entwickelung: die Harvard-Universität in Cambridge, die Phi-Beta-Kappa-Gesellschaft, die Colleges in Dartmouth, Waterville. England wird nicht stumm bleiben. Die geistige Zusammengehörigkeit der zwei großen Völker, der die Freundschaft zwischen Emerson und Carlyle den schönsten Ausdruck gab, wird einen Tag lang noch stärker als sonst den freiesten Geistern beider Reiche fühlbar. Solche Gedenktage wiegen in der wirklichen Geschichte der Völker schwerer als Monarchenbegegnungen und Schlachtenfeiern. Da besinnen sich die Besten, an welchem Punkte der Reise man steht, welches die letzte Tagesleistung war und was die Aufgabe des nächsten Morgens sein wird. Es ist wie ein abendliches Ausruhen, ein herzliches Wiedersehen und Grüßen, eine wunderliche Mischung von Friedenssehnsucht und Kampflust, wenn man ein schönes und mühevolles Tagewerk hinter sich und ein schöneres und mühevolleres vor sich weiß.

Die nordamerikanische Literatur scheint dem flüchtig Hinsehenden nur ein Anhang zur englischen zu sein; lange ist sie auch in den Literaturgeschichten so dargestellt worden. Longfellow ist der klassische Dichter, Irving der klassische Prosaiker dieser europäisierten Schicht. Aber in beiden bricht schon das Neue, Amerikanische durch. Longfellows Evangeline nimmt eine ganz moderne Landschaftsauffassung vorweg; ein paar von Irvings Skizzen unterscheiden sich an einigen Stellen nur durch den latinisierenden Stil und die sinnliche Pracht des Klanges von manchen Essays Emersons. Vor allem aber kündet sich bei Irving und Longfellow schon der Grundzug des nordamerikanischen Geisteslebens an: die Dinge der Welt als Eins zu fassen, mit scharfen Sinnen und hellem Kopf keck vor die Probleme hinzutreten, nicht eine künstliche Zweiteilung zu respektieren, die die eine Hälfte der Welt für moralisch und poetisch, die andere aber, für unmoralisch und unpoetisch erklärt. Das Historische zieht diese jugendlichen Pioniere einer beginnenden Kultur höchstens als Kuriosität an: sie machen ihre obligate Reise nach Europa, lassen europäische Kultur auf sich wirken, um in ihr Vaterland heimzukehren und wieder so amerikanisch wie möglich zu leben und zu denken. Drei Männer repräsentieren diese Seite amerikanischer Geistesentwickelung am stärksten: Thoreau, der Naturbeobachter und Tagebuchschreiber; Whitman, der alle Fesseln der Form ungestüm sprengende Odensänger; Emerson, der Philosoph. Von ihnen ist Emerson der Bedeutendste; in ihm ist Thoreau und Whitman, feinstes Naturgefühl und dithyrambisches Dahinrauschen der Begeisterung. Es gibt zu denken, daß auch Emerson, wie sein europäischer Geistesverwandter Nietzsche, ein Theologenabkömmling war; seine Vorfahren waren durch acht Generationen puritanische Geistliche gewesen. Solche Söhne einer Academic Race, in denen die Kräfte und Anlagen von Geschlechtern gestaut und gespart worden sind, haben oft Explosionsstoff in sich; sie hatten gleich bei ihrer Geburt vor anderen Individuen einen nie wieder einzuholenden Vorsprung voraus. Man denke an den vollkommenen Gegensatztypus, das katholische Priestertum, das sich nicht legitim fortpflanzen kann: die feinste persönliche Kultur, die zarteste Sittlichkeit, die reifste Milde, zu der sich schließlich das Individuum hinaufgebildet hat, gehen hier unwiederbringlich verloren, weil sie nicht vererbt werden dürfen; der Stand als solcher muß immer wieder von vorn, ab agricola, anfangen. Einzelne Biographen Emersons, besonders Holmes, haben versucht, in den Predigern und college graduates seiner Ahnenreihe seine entscheidenden Züge nachzuweisen. Man kann dies Bestreben für ebenso interessant wie müßig erklären: nicht die Summanden gehen uns an, sondern die Summe; nicht die Faktoren, sondern das Produkt, das geniale Individuum, das mit einem Male aus der Reihe seiner Brüder tritt und über Familie und Rasse sich emporschwingt. Allerdings hätten die Gegner recht, zu erwidern: dennoch haben wir, die wir, wie beim Rennpferd und beim Jagdhund, auch beim Genie einen sauberen pedigree aufstellen möchten, allen Grund dazu; denn das Entscheidende war eben jene stille, geheimnisvolle Arbeit von Generationen, der gegenüber das geniale Individuum im besten Fall ein Experiment darstellt, das in wenigen Fällen glückt, in manchen mißrät und auf das man nie gar zu viel geben soll. Emerson selbst sagt einmal, mit Anspielung auf dieses Problem: What care we who sang this or that? It is we at last who sing.

Als Emerson zehn Jahre alt war, wurde gerade in England das Gesetz aufgehoben, das die Leugner der Trinität mit dem Tode bedrohte; es ist nützlich, an solche Daten zu erinnern, wenn man Protestanten über römische Intoleranz klagen hört. Für Emerson ist es von Anfang an wichtig, daß er Unitarier war; nur hieraus erklärt sich der gleichmäßige Verlauf seiner äußeren wie seiner inneren Erlebnisse. Wir brauchen ihn uns nur als europäischen Theologen vorzustellen: ohne ganz andere Kämpfe und Krämpfe wäre es nicht abgegangen; vielleicht wäre sein Leben, wahrscheinlich wären seine Werke noch bedeutender geworden, wenn er im fortwährenden Gegensatze zu seinen Angehörigen und Landsleuten sich hätte entfalten, durchsetzen und behaupten müssen. So wurde er ein Autor ohne merkliche Entwickelung; er scheint sich nur an Gesinnungsgenossen zu wenden; mit Sanftmut sagt er Alles, lächelnd begegnet er abweichenden Meinungen, als seien sie bloße Mißverständnisse, gelassen spricht er seine Kühnheiten aus, als ob sie Gemeinplätze wären; er beweist nichts, er hastet nicht, er verteidigt sich nicht. I do not know what arguments are in reference to any expression of a thought, sagt er einmal.

Sein Lebenslauf ist in wenigen Jahreszahlen erzählt. 1832 hielt er seine letzte Predigt, weil er den Abendmahlsritus nicht mitmachen wollte; er legte sein Amt für immer nieder. Im nächsten Jahr reiste er nach Europa; Goethe und Scott, die er gern gesehen hätte, waren tot; er lernte Coleridge, Wordsworth, Landor, De Quincy kennen; er besuchte Carlyle, als der Heroensucher niedergeschlagen in Craigenputtock saß, und erschien ihm wie eine himmlische Vision des Trostes. 1847 und 1872 reiste er ein zweites und drittes Mal nach Europa. 1872 sah ihn Herman Grimm in Florenz: »Eine hohe, schmale Gestalt, mit dem unschuldigen Lächeln um den Mund, das Kindern und Männern höchsten Ranges eigen ist. Die höchste Kultur erhebt den Menschen über das Nationale und macht ihn ganz einfach. Liebenswürdigkeit scheint ein zu einseitiges Wort, um all Das zu bezeichnen, was in Emerson davon umfaßt wird.« Am siebenundzwanzigsten April 1882 starb er in Concord, Massachusetts, wo er fast sein ganzes Leben verbracht hatte. Während der letzten Jahre hatte sein Gedächtnis recht nachgelassen; im übrigen lebte er heiter und gütig im Kreise der Seinen, freundlich für jeden Besucher, wenn auch schweigsam, und durch seine bloße Existenz ein gewisses Gefühl des Glückes über die intellektuellen Kreise seines Landes verbreitend. Auch die Hauptdaten seiner Bücher sind rasch erwähnt: 1836 erschien Nature, 1841 und 44 Essays I und II, 1850 Representative Men, 1856 English Traits,1860 Conduct of Life, 1870 Society and Solitude, 1874 Letters and Social Aims. Nature brauchte dreizehn Jahre, bis die 500 Exemplare der ersten Auflage verkauft waren. Conduct of Life war nach zwei Tagen vergriffen. Heute sind Emersons Werke in einer Menge englischer und amerikanischer Ausgaben verbreitet. Die besten deutschen Übertragungen (von Karl Federn und Thora Weigand) sind in Hendels Sammlung erschienen und für ein paar Groschen zu haben.

Natur ist der Hymnus überschrieben, in dem Goethe 1782 die Summe seiner Religion zog.Hofmiller hielt nach der damaligen Auffassung »Natur« für ein Fragment Goethes, fing aber später selbst an zu zweifeln und zu ahnen, was durch die Forschung Prof. Wernles bestätigt wurde: daß nicht Goethe der Verfasser war. (Siehe Hofmillers Briefe an Max Rychner vom 8. und 31. Mai 1925. »Das Innere Reich«, März 1936.) D. Herausg. Nature ist das Wort, mit dem Emerson 1836 die Reihe seiner Schriften anfängt und das wie ein mächtiger Grundbaß fortan seinen Lehren Feierlichkeit und Eindringlichkeit verleiht. »Unser Zeitalter ist rückwärtsschauend. Es baut die Gräber der Vorväter. Es schreibt Biographien, Historien, Kritik. Die vorangegangenen Geschlechter sahen Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht; wir sehen durch ihre Augen. Warum sollten nicht auch wir uns einer ursprünglichen Beziehung zum All erfreuen? Die Sonne scheint auch heute. Neue Länder sind da, neue Menschen, neue Gedanken.« Neue Gedanken sind es auch, die Emerson seinen erstaunten Lesern vorträgt. Neu wenigstens für Amerika. »Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig gibt«, heißt es in Goethes Fragment; bei Emerson: Neither does the wisest man extort her secret, and lose bis curiosity by finding out all her perfection. Sicher ist Emersons Essay von Goethe stark beeinflußt. Als Ganzes ist die Schrift nicht einheitlich. Der Autor hat seine eigene Weise zwar gefunden, aber er getraut sich noch nicht, sie ganz rücksichtslos zu singen. Für den Schluß, der immer mehr zum mystischen Hymnus wird, wagt er die ausschließliche Verantwortung noch nicht zu übernehmen. Er fingiert, ein befreundeter Dichter habe ihm Das mitgeteilt. In der Tat war Emerson eben so sehr Dichter wie Denker, trotz seinem bescheidenen Wort: I do not belong to the poets, but only to a low department of literature, the reporters.

Nature war anonym erschienen, doch der Verfasser wurde sofort erraten. Der gleichsam trunkene Stil schreckte die Meisten ab; aber feinere Geister sahen hinter dieser Trunkenheit eine ganz neue Art von Weltfrommheit, eine sonderbar sanfte Heiterkeit, die mit unschuldigen Augen um sich blickte, weltliebend, weltsegnend, ohne Anklage, ohne Düsterkeit, ohne Verleumdung des Weltlaufes und der Natur. Carlyle las die dünne Schrift mit Begeisterung und lieh sie allen seinen Freunden, die er für reif genug dazu hielt. Noch mehr wurde die Aufmerksamkeit seiner Landsleute auf Emerson gelenkt durch seine Harvard-Vorlesung The American Scholar, »Diese großartige Rede ist unsere Unabhängigkeitserklärung auf geistigem Gebiet«, sagte einer der Hörer von ihr. Wir wollen ganz wir selbst sein – das ist ungefähr der Gedankengang –: lange genug haben wir von fremden Landen Wissen geborgt. Um uns rauscht es von millionenfachem Leben. Wir können nicht länger uns mit den Brocken fremder Tische speisen lassen. Der Mensch ist nicht Farmer oder Professor oder Ingenieur; er ist Alles. Der Mensch ist Priester und Lernender, Staatsmann, Produzent, Soldat. Oder vielmehr: er sollte Das Alles zusammen sein. Leider sehen wir nur Teilmenschen, Menschentums-Spezialitäten, zerstückelte Glieder dieses Idealmenschen. Der Mensch ist zu einem Ding geworden, zu vielen. Dingen. Wenn wir aber diese unglückselige Teilung annehmen und trachten, ihr die beste Seite abzugewinnen, so ist der Lernende der Mensch als Denkender, als Denkwesen. Aber auch er ist in Gefahr, zur Denkmaschine, zum Papageien der Gedanken Anderer zu werden.

Noch stärker drückt Emerson seine Meinung in der Divinity School Address aus. Schwerlich ist jemals in diesem Tone zu angehenden Theologen von einem Extheologen geredet worden. Die Vorlesung beginnt ganz gelassen: »In diesem strahlenden Sommer war es eine Wollust, den Atem des Lebens einzusaugen. Das Gras wächst, die Knospe springt, die Wiesen sind mit Feuer und Gold in Blumenfarben besprengt. Die Luft ist erfüllt vom Gesange der Vögel und süß vom Dufte der Pinien, des Balsams von Gilead und des frischen Heus. Die Nacht bringt dem Herzen kein Düster mit ihrem willkommenen Schatten. Durch das flüssige Dunkel gießen die Sterne ihre beinahe geistigen Strahlen. Der Mensch unter ihnen erscheint wie ein junges Kind und sein gewaltiger Erdball wie ein Spielzeug. Noch nie hat sich das Mysterium der Natur vor unseren Augen so glücklich entfaltet.« Unmerklich leitet Emerson zu seinem Thema über. Nur als Vision des ethischen Gefühls hat die Religion Wert. Nicht nur in Palästina, auch in Ägypten, Persien, Indien, China hat der Mensch diese wahre Religion erkannt. Aber der Mensch kann die Religion nicht aus zweiter Hand, sondern nur aus Intuition annehmen; nicht auf das Wort eines Anderen hin, sei er, wer er mag. »Das historische Christentum ist in den Irrtum verfallen, der alle Versuche, eine Religion auszubreiten, verdirbt. Es ist keine Lehre vom Geist mehr, sondern nichts als eine Übertreibung des Persönlichen, des Positiven, des Rituellen. Es haftete immer und haftet noch heute mit schädlicher Übertreibung an der Person Jesu. Unser historisches Christentum ist nichts als eine orientalische Monarchie, aufgebaut aus Indolenz und Furcht. Wenn wir die schimpflichen Behauptungen, die unser Unterricht im Katechismus uns aufzwingt, akzeptieren, so werden Selbstverleugnung und Ehrlichkeit nur glänzende Sünden, sobald sie nicht den christlichen Namen tragen; nicht nur Namen und Stellen, nicht nur das Land und alle Berufsarten, sondern selbst die Sittlichkeit und Wahrheit sind abgeschlossen und christlich monopolisiert. Man ist dahin gekommen, von der Offenbarung zu sprechen als von Etwas, das vor langer, langer Zeit geschehen sei, als ob Gott tot wäre... Ich glaube, kein Mensch, der nicht ganz gedankenlos ist, kann in eine unserer Kirchen gehen, ohne zu fühlen, daß aller Einfluß, den der öffentliche Gottesdienst einst auf die Seelen hatte, dahin ist oder dahin schwindet. Und nun, meine Brüder, werdet Ihr fragen: Was können wir in diesen kleinmütigen Tagen tun? Wir haben die Kirche dem Geist entgegengesetzt. Nun denn: im Geiste liegt die Erlösung. Wo ein Mann auftritt, bringt er eine Revolution mit sich. Das Alte ist für Sklaven. So ermahne ich Euch vor allem Anderen, allein zu gehen, alle guten Vorbilder zu verschmähen, die selbst, die den Menschen noch so geheiligt erscheinen, und Gott ohne Mittler, ohne Schleier zu verehren.«

Man begreift, daß diese Ansprache einen kleinen Sturm in theologischen Zeit- und Streitschriften heraufbeschwor. Emerson hatte sich durch seine kühne Rede zum Häretiker befördert. Für uns Europäer liegt die Unfaßbarkeit mehr darin, daß angehende Prediger einen ehemaligen Prediger, der ostentativ sein Amt niedergelegt hatte, einladen konnten, sie über ihren Beruf zu belehren, als darin, daß der Sproß von acht Theologengeschlechtern diese Ansprache hielt. Jenes setzt eine Freiheit des Geistes voraus, die dem zahmen Europäer unverständlich ist. Dieses ist weniger verwunderlich. Nourri dans le sérail, j'en connais les détours, konnte Emerson mit bezug auf seine theologischen Studien sagen. Man darf sich nicht wundern, daß gerade ehemalige Theologen oft radikale Kritiker werden: sie haben die Theologie erlebt und an ihr gelitten.

Für Emerson hatte die theologische Vorlesung erfreuliche Folgen: alle kleinen Fanatiker schmähten ihn, sein Name wurde in Concord, Boston, Newyork genannt, von der Rede über tausend Exemplare abgesetzt, die Jugend blickte fortan hoffend auf ihn. Durch die etwas radikale Theologie seines Vortrags hatte er sich selbst den größten Dienst erwiesen: er war als Theologe unmöglich; so blieb ihm das Schicksal Sören Kierkegaards erspart, als Dissident innerhalb des kirchlichen Systems sich langsam zu verbluten. Die Theologie bedeutete für ihn nur noch eine überwundene Entwicklungsstufe, wie für Nietzsche die klassische Philologie und die Kunst Wagners. Er hatte alles abgestreift, was ihn hinderte, er selbst zu werden. Mit neuer Zuversicht spricht er jetzt und in neuen Tönen: »Aus dem ewigen Schweigen sind wir geboren; nun wollen wir leben – für uns leben –, nicht das Leichentuch der Vergangenheit nachschleppend, sondern als Verkünder und Schöpfer unseres Zeitalters. Und weder Griechenland noch Rom, weder die drei Einheiten des Aristoteles noch die Heiligen Drei Könige von Köln, weder die Sorbonne noch die Edinburgh Review haben uns was dreinzureden. Nun wir einmal da sind, wollen wir unsere eigene Auffassung haben und unseren eigenen Maßstab. Mag sich unterwerfen, wer will: für mich müssen die Dinge mein Maß annehmen, nicht ich das ihre.« Es war die Vorlesung über literarische Ethik, in der Emerson so energisch, als Einer, der beschlossen hatte, jung zu bleiben, zur Jugend des Landes sprach. Die Wendung in seiner Tätigkeit trat durch die Veröffentlichung des ersten Bandes seiner Essays ein. Bis dahin war er ein gern gehörter Lecturer für einen kleinen Kreis und ein leidlich bekannter Lokalschriftsteller gewesen. Von den Essays an sprach er zu allen, die überhaupt Englisch verstanden. Sein Stil war ruhiger und sorgfältiger, seine Ideen freier geworden. Diese zwölf Essays, denen nach drei Jahren noch neun andere folgten, stehen im Zentrum seines Lebenswerkes. Die erste Serie behandelte Geschichte, Selbständigkeit, Ausgleichung, geistige Gesetze, Liebe, Freundschaft, Klugheit, Heldentum, Überseele, Kreise, Intellekt, Kunst. Die zweite brachte den Dichter, Erfahrung, Persönlichkeit (Charakter), Manieren, Geschenke, Natur (nicht mit dem Erstlingswerk zu verwechseln), Politik, Nominalist und Realist, Neu-England-Reformer. Die Titel zeigen, daß es sich nur um einzelne Aufsätze, nicht um ein disponiertes und komponiertes Buch handelt. Irgend ein möglichst abstraktes Thema reizte Emerson zur Anknüpfung; dann ließ er seinen Gedanken freien Lauf, unbekümmert, ob sie so recht zur Sache gehörten. Die fehlende Disposition ist der Grundmangel. Man könnte mit einiger Übertreibung sagen, Emerson habe überhaupt nicht Essays, sondern nur einen einzigen Essay geschrieben; Titel und Einteilungen der Kapitel seien willkürlich. Er hatte eigentlich nicht viele, auch nicht einmal sehr neue Ideen; eine gewisse Monotonie macht sich selbst in seinen besten Aufsätzen fühlbar; man kann nicht anhaltend in ihnen lesen, ohne zu ermüden. Er verschmäht, einem logischen Gedankengang gleichmäßig zu folgen. Die Verbindung zwischen seinen Sätzen ist oft nur äußerlich; unvermittelt beginnt er von etwas ganz anderem. Es ist lehrreich, die Struktur seiner Bücher mit derjenigen der Werke Nietzsches zu vergleichen: man sieht sofort, wer eigentlich von den Zweien der Aphoristiker ist. Ich habe den Versuch gemacht, Freunden die Essays Emersons durcheinander vorzulesen, bald ein paar Sätze aus History, bald aus Over-Soul, bald sogar aus Conduct of Life und Society and Solitude, Werken, von denen das erste um zwanzig, das zweite um dreißig Jahre später geschrieben ist als die Essays: der Versuch gelang fast immer; oft ergaben sich ganz überraschende Kombinationen. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß ein geschickter und philosophisch gebildeter Mann mit Leichtigkeit aus den zwölf Bänden der großen Ausgabe zwölf bessere machen könnte: das Zusammengehörige zusammen, das oft Gesagte nur in einer, und zwar der schärfsten, eindringlichsten Form. Dies gilt sogar von den Representative Men.

Doch die lose und unbekümmerte Gedankenverbindung gibt den Essays auch wieder den starken Reiz. Sie regen zum Selbstdenken an: Das ist ihr höchster Wert. Sie geben jedem etwas; der eigentümliche und fortwährende Wechsel sehr praktischer und sehr idealer Gesichtspunkte berührt nicht unangenehm, der energische Ton der einen, die stimmungsvolle Mystik der anderen lädt, je nach Laune und Art des Lesers, zur Zustimmung ein. Was für einen europäischen Leser das Erfreulichste ist: nichts im schlechten Sinn Europäisches lebt in diesen Schriften. Die Luft ist reiner, man glaubt, den guten, herzstärkenden Salzwasseratem einzusaugen; der Horizont ist freier; man spürt sufficient elbow-room; die Worte haben nicht so viel kompromittierende Vergangenheit, sondern kommen uns wie frische Kinder entgegen; man vergißt die Jahrtausende des unerquicklichen Prozesses, den einige Ideologen immer noch hartnäckig Kulturgeschichte nennen: man hat das Gefühl, keine Vergangenheit, sondern nur eine unendliche Gegenwart zu haben. Man wird glücklich und froh. »Ich mache alles ungewiß. Nichts ist für mich heilig, nichts profan. Ich stelle einfach Versuche an, ein endloser Sucher mit keiner Vergangenheit hinter mir.« Emerson stand zeitlich dem Beginnen der nordamerikanischen Geschichte nahe genug, um sich zu dem übermütigen Gefühl eines Adam aufschwingen zu können, der mit selig staunenden Augen auf all den Morgenglanz ringsum blickt und zu Erde und Welle, Blüte und Gras, Vogel und Wurm sich neigt, um den Wesen Namen zu geben.

Im vergangenen Jahre ist in Deutschland viel von sogenannter Voraussetzungslosigkeit die Rede gewesen. In einem anderen, sehr viel tieferen und wichtigeren Sinn ist dieses das eigentliche Problem Emersons. Der Philosoph, dessen erster Essay History überschrieben ist, hat wie wenige andere die Macht des Historischen empfunden. Wir sind zu konservativ. Vielleicht ist die Erfindung der Buchdruckerkunst wesentlich mitschuldig daran, daß die Entwicklung der Ideen viel zu langsam geht, daß mit manchem Trödel gar nicht aufzuräumen ist. Dokumente und Überreste werden mit ängstlicher Sorge bewahrt, mit unermüdlichem Eifer erforscht, in Beziehung zueinander gesetzt; jeder Zoll der Vergangenheit wird nachgeprüft; man will um jeden Preis eine lückenlose Kette des Geschehens nachweisen. Wir machen uns das Leben schwer. Eine kaum zu tragende Last von Vergangenheit ruht auf unseren schwächeren Schultern. Nichts, was einmal da war, wird preisgegeben. Unser toter Besitz wird immer größer, immer höher türmen sich die Kataloge und Register auf: wir ersticken vor Retrospektivität und Reproduktivität. Wohl kamen von Gott erleuchtete Wohltäter, wie jener ehrwürdige Kalif Omar, der die Alexandrinische Bibliothek verbrannt haben soll, aber solch weiser Männer gab es leider viel zu wenige. Wenn wir uns die Entwicklung der Hellenen vorstellen, kommen wir zu der notwendigen Annahme, daß dieses Volk sich in einem langen, langen Prozeß gebildet hat, daß eine ungeheure plastische Kraft dazu gehörte, so viel Fremdes auszuscheiden oder umzubilden, bis zuletzt eine Art Kulturreinheit da war. Wie glücklich sind wir, daß wir von diesem ganzen Umbildungsprozeß fast gar nichts wissen! Daß wir nur das schöne Ende sehen! Wir Spätgeborenen bilden keine Mythen mehr. Uns ist es nicht mehr möglich, das, was uns lästig ist, ins Schöne umzudeuten. Wir sind negativ und kritisch geworden. Das war unsere Notwehr. Wir sind eher geneigt, abzulehnen und umzustürzen, als umzubilden. Die Fragen scheinen sich immer mehr auf die eine zu reduzieren: Wie können wir das Leben aushalten? Friedrich Nietzsche hat in seinem nachgelassenen Hauptwerk einem gänzlichen und entschlossenen Agnostizismus das Wort geredet, einer triumphierenden Unterwerfung unter die Bedingungen der Wirklichkeit, einem unbedingten Ja-Sagen zu Erde und Leben. Aber schon ein halbes Jahrhundert vor ihm hatte Emerson als sein Alpha und Omega verkündet: Glaube ans Heute! Kümmere Dich nur ums Heute! Laß die Toten ihre Toten begraben! Sei ein endloser Versucher mit keiner Vergangenheit hinter Dir!

Gleich Nietzsche erkannte auch Emerson nur einen Wert der Geschichte an: daß wir darin die Biographien großer Männer finden. Aus dieser Gesinnung heraus entstanden die Representative Men, die von Manchen als sein Hauptwerk angesehen werden. Ich vermag diese Meinung nicht zu teilen. Von den sechs Essays scheinen mir drei nicht ganz geraten. Der Aufsatz über Shakespeare wird dem Dichter nicht gerecht, noch weniger der über Goethe; auch Napoleon scheint mir nicht gelungen. Wenn Emerson sich inkommensurablen Naturerscheinungen, wie diesen Dreien, gegenübersieht, kommt der ehemalige Prediger in ihm zum Vorschein; er erlaubt sich, zu moralisieren. Der Aufsatz über Swedenborg ist ein interessanter Versuch, noch einmal die Ideenkreise der Divinity School Address durchzudenken; der Schluß ist eine ruhige, aber entschiedene Ablehnung: »Palästina wird immer wertvoller als Kapitel der Weltgeschichte, immer unnützer als Erziehungselement.« Swedenborg ist »ein rachsüchtiger Theologe; die Engel, die er schildert, sind lauter Landgeistliche; ihr Himmel ist ein evangelisches Picknick oder eine französische Preisverteilung an tugendhafte Landleute. Die Schönheit fehlt. Wir wandern verloren durch die glanzlose Landschaft. Kein Vogel sang je in all diesen Totengärten. Der Lorbeer ist mit Zypressen vermischt, in den Weihrauch des Tempels mengt sich fühlbar ein Leichengeruch; Knaben und Mädchen werden den Ort meiden«. An Montaigne, den Emerson als Typus des Skeptikers dem Mystiker Swedenborg gegenüberstellt, erfaßt er nur die allgemeinsten Züge; aber die helle Verständigkeit, der trockene Geist, die spöttische Nüchternheit, kurz das Südliche und Französische in Montaigne entgeht ihm. Der beste Aufsatz ist der über Plato; nur verschwimmt er ins Allgemeine; er ließe sich auf andere Philosophen auch anwenden. Vielleicht sind diese philosophischen Aufsätze Emersons deshalb etwas unbestimmt geraten, weil es unrichtig ist, den einen Denker als Skeptiker, den andern als Mystiker zu definieren; weil nichts mehr übrig bleibt, wenn wir vom Philosophen den Mystiker und den Skeptiker subtrahieren; weil jeder echte Denker beides zugleich ist; weil jeder Philosoph die Lehren der Vorangegangenen in sich aufnimmt, gleich dem Jüngling des Märchens, der die Stärke aller Recken erhält, mit denen er sich in ritterlichem Kampfe gemessen hat.

Emerson ist lange in Deutschland unbekannt geblieben. Er ist es nicht mehr. Herman Grimm hat zuerst auf ihn aufmerksam gemacht, Spielhagen seine English Traits übersetzt, das Beste, was neben Taines Notes sur l'Angleterre über England geschrieben worden ist; fast alle Werke sind nun ins Deutsche übertragen. Am meisten aber hat Nietzsche für Emerson getan. So paradox es klingt: Schopenhauer und Emerson verdanken Nietzsche ebensoviel wie er ihnen. Nietzsche hat die breite Gasse gebahnt: er hat mehr als irgend ein anderer dazu beigetragen, daß die Philosophie wieder vielen Deutschen eine Lebensmacht und ein Lebensbedürfnis wurde.

Nicht zu den großen Philosophen stellen wir Emerson. Er war kein Pflüger, der tiefe Furchen riß, kein Säemann, der neuen Samen ausstreute. Als ein freundlicher Spaziergänger schritt er über Fluren und Felder, über blumige Anger und schattige Heckenwege, sinnend, von Ackerduft und Sonnenglanz umflossen, Garben und Blüten, Ranken und unscheinbare Grasblätter zu einem frischen Strauße vereinend. Über all seinen Schriften ruht die milde Verklärung der ländlichen Gegend, in der er gelebt und gedichtet hat. Als ein unendlich Freundlicher und Gütiger ist er durch das Leben gegangen. Freundlichkeit und Güte, ein unüberwindlicher Optimismus redet aus seinen Werken.


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