Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Nietzsches Testament

(1902)

Wie die Vollendung des Faust dem greisen Goethe als das »Hauptgeschäft« erschien, dem alles andere Hervorbringen nachstehen mußte und nach dessen Abschluß er jeden Tag als reines Geschenk des Schicksals empfand, so ist der Versuch einer Umwertung aller Werte, dessen endgültige Fassung im Willen zur Macht vorliegt, Nietzsches philosophisches Hauptwerk, das er am längsten mit sich herumtrug.

Um das Jahr 1881 taucht die erste Absicht einer planmäßigen Zusammenfassung seiner philosophischen Ideen auf. Übermächtig aber steht die Gestalt Zarathustras vor ihm. Mit einer bis dahin unerhörten Pracht und Wucht verkündet er seine Lehren, in Sätzen und Bildern, die aus edlem Marmor gemeißelt scheinen. Jenseits von Gut und Böse, die erste Erläuterungsschrift zum Zarathustra, – denn als Auslegungen dieses Werkes sind die nun in erstaunlich kurzen Abständen veröffentlichten Bücher zu verstehen – trug den zu wenig beachteten Untertitel Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Vom März 1887 an bis zum Frühjahr 1888 arbeitet Nietzsche, abgesehen von der Fertigstellung der Genealogie der Moral (zwischen 10. und 30. Juni 1887), beinahe ausschließlich am Willen zur Macht. Er versucht, den Stoff zu sichten, legt Verzeichnisse an, versieht die Abschnitte mit Ziffern, Stichworten oder formelhaft knappen Angaben des Inhalts, bemerkt die Nummer des Bandes (I – IV), dem er die einzelnen zuweisen will. Inzwischen sind neue Schriften gereift: Der Fall Wagner löst sich von dem Hauptwerke los, nachdem er ursprünglich als ein Abschnitt der Kritik der Modernität geplant war; vom Mai auf Juni 1888 wird das dünne, aber inhaltschwere Heft in Turin und Sils-Maria entworfen, Nachschriften und Epilog werden im August angefügt. Derselbe Sommer zeitigt die Dionysos-Dithyramben. Als erste deutlichere Ankündigung der Umwertung, aus dem überreichen Stoffe dieses Buches herausgewachsen, stellt die vor dem 3. September 1888 vollendete Götzendämmerung Nietzsches Philosophie in nuce dar. Währenddessen hat er beschlossen, anstatt sein Hauptwerk in vier Bänden abzuschließen, den ganzen Stoff in vier Bücher eines Bandes zusammenzupressen. Der vom 3. bis 30. September vollendete Antichrist ist das erste dieser Bücher. Kurz darauf fällt die Selbstbiographie Ecce Homo (vom 15. Oktober bis 4. November). Gegen Mitte Dezember wird Nietzsche contra Wagner zusammengestellt. Die ersten Tage des Januars 1889 bringen den Zusammenbruch.

Die Werke und ihre Entstehungszeit mußten hier kurz angegeben werden, da nur auf diese Weise gezeigt werden konnte, daß Nietzsches Schaffen vom 17. März 1887 an, an welchem Tage die erste Anordnung der Umwertung niedergeschrieben wurde, bis zu jenem Januartage eine geschlossene Einheit darstellt und von der Umwertung ausgefüllt wird. Diese ist das letzte Ziel des unablässigen Hervorbringens dieser zweiundzwanzig Monate, ihr gemeinsamer Hintergrund, ihr unausschöpfbarer Fond. Die während dieser Zeit herausgegebenen Bücher sind entweder Ableger oder Erholungen vom Hauptwerke. Die Veröffentlichung dieses Hauptwerkes im Dezember 1901 bildet, sollten auch noch so wertvolle Schätze im Weimarer Archiv des Hebens harren, den Abschluß und das wichtigste Ereignis der nachgelassenen Werke.

Die Feststellung des Wortlautes und die Anordnung der einzelnen Abschnitte war mit Schwierigkeiten verbunden, deren Größe der Vorbericht andeutet. Die Herren Peter Gast, Ernst und August Horneffer haben diese Schwierigkeiten bewältigt, und wenn hier eine einzelne Frage ihrer Herausgebertätigkeit berührt wird, so soll damit nur eine abweichende Meinung, nicht ein Tadel ausgesprochen werden. Die Herren Herausgeber haben sich an den Plan vom 17. März 1887 gehalten, demgemäß die Bücher sich so verteilen: I. Der europäische Nihilismus. II. Kritik der höchsten Werte. III. Prinzip einer neuen Wertsetzung. IV. Zucht und Züchtung. Dieser Plan brachte die Schwierigkeit mit sich, zwischen dem ersten und zweiten Buche einerseits, und dem dritten und vierten andererseits die Grenze zu ziehen. Demgegenüber hätte der letzte Plan, aus dem Herbste 1888, den Vorzug scharfer Abgrenzung gehabt: I. Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. II. Der freie Geist. Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung. III. Der Immoralist. Kritik der verhängnisvollsten Art von Unwissenheit, der Moral. IV. Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft. Das erste Buch hätte dann den Antichrist enthalten müssen, so, wie er im achten Bande gedruckt vorliegt, und dazu die Antichrist-Aufzeichnungen des Nachlasses. Das zweite Buch wäre den Grundfragen der Metaphysik und der Erkenntnislehre, das dritte denjenigen der Moral, das vierte der Aufstellung neuer Werte und Ziele gewidmet gewesen. Auch geschichtlich war diese Anordnung glücklich, da sie in der Gliederung des Stoffes zugleich die Entwicklung der modernen Philosophie andeutete. Die Kritik hat beim Christentum angesetzt; die moderne Philosophie ist ihrem Wesen und ihrer Entwicklung nach nichtchristlich. (Auch die Philosophie Arthur Schopenhauers macht davon keine Ausnahme, wenn sie auch ihm selbst als philosophia christianissima erscheinen mochte. Wagnerianischen Weltanschauungsdilettanten gegenüber sei hervorgehoben, daß die Lehre Schopenhauers anti-theistisch ist – man lese nur einmal die neuen Paralipomena! –, und daß es ein Unfug ist, seine einheitliche und strenge Erscheinung mit der abenteuerlichen Verquickung schärfster Gegensätze in Zusammenhang zu bringen, die in den Schriften aus Wagners letzter Zeit und in den Bayreuther Blättern zum Ausdrucke gelangt.) Das Christentum als ein Problem anzusehen, es auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu untersuchen, das war für jeden neueren Philosophen die nicht zu umgehende Voraussetzung seiner Philosophie. Das mußte von selbst zu einer Kritik des Gottesbegriffs überleiten. Damit trat in den Vordergrund der Untersuchung das Problem der Metaphysik überhaupt, von dem dasjenige der Erkenntnis sich nicht abtrennen ließ. Die Erkennbarkeit der Dinge, die Kausalität, die Möglichkeit des Urteilens, des Schließens, der Verknüpfung von Urteilen – all das mußte erst Problem, erschüttert, in Zweifel gezogen werden. Darum war, nach der Kritik des Christentums, diejenige der Metaphysik, der Erkenntnislehre, schließlich auch der Logik nicht zu umgehen. Das zweite Buch der Umwertung hätte diese Kritik gebracht, in neuer Beleuchtung, vertieft, vor allem rücksichtslos – die Kritik der reinen Vernunft und der Urteilskraft von der Vorsicht des deutschen achtzehnten Jahrhunderts befreit und über die Jahrtausende hinweg dem erkenntnistheoretischen Pessimismus der Inder die Hand reichend. Wenn Nietzsche Kant fast durchweg scharf und unehrerbietig angreift, wenn er bei aller Sympathie für die Persönlichkeit Schopenhauers mit seinen Einwänden gegen das nicht zurück hält, was er die metaphysische und psychologische Falschmünzerei dieses Philosophen nennt, so ist sein fortwährendes Auseinandersetzungsbedürfnis ein Fingerzeig dafür, daß er in beiden Männern Gegner sah, die zu bekämpfen der Mühe wert war. – Die Schranke, vor der auch Kant und Schopenhauer Halt gemacht hatten, war die Moral; und zwar waren die Entstehung der sittlichen Anschauungen und Werte gleich ungenügend, und vor allem mit demselben Mangel an Mut zu den letzten Folgerungen, untersucht worden, wie die Frage, welche neuen sittlichen Werte aus der veränderten Stellung zum Christentum, zum Gottesbegriff und zu der der realen Welt gegenübergesetzten »wahren« Welt abzuleiten waren. Die bisherigen Philosophen waren, mit wenigen Ausnahmen, eifrig bemüht gewesen, durch um so zäheres Festhalten an den moralischen Dogmen derselben Weltanschauung, deren religiöse und metaphysische Grundbegriffe sie untergruben, ihre eigene praktische Harmlosigkeit zu erweisen und sich durch stillschweigende Anerkennung oder ausdrückliche Rechtfertigung der herrschenden Moral das Recht abweichender Meinung in anderen Dingen zu erkaufen. Nicht ohne Grund war daher für das dritte Buch der Umwertung die Kritik der bisherigen Art von Moral in Aussicht genommen. Ebenso ergab sich von selbst die Aufstellung positiver Werte und Ziele für das vierte Buch. Es fällt auf, daß Nietzsche in seinem letzten Werke eine ähnliche Einteilung der vier Bücher aufstellt, wie der von ihm in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung angegriffene David Friedrich Strauß. Ein seltsamer Zufall will es, daß er jene Fragen nicht umgehen kann, deren biedermeierhafte Beantwortung durch Strauß er mit Hohn überschüttet hatte: Haben wir noch Religion? Sind wir noch Christen? Wie begreifen wir die Welt? Wie ordnen wir unser Leben?

 

Wenn man nicht umhin kann, zu bedauern, daß vielleicht aus triftigen Gründen der ersten Stoffanordnung vom März 1887 vor der soeben entwickelten letzten vom Herbst 1888 der Vorzug gegeben wurde, so muß man sogleich hinzufügen, daß die Tätigkeit der Herren Herausgeber dem Leser ermöglicht, sich diese Einteilung aus den Werken jener Jahre selbst auszufüllen und das System aufzubauen, das der Philosoph nur andeuten konnte, Kenner Nietzsches wußten bisher schon, was sie von dem gerne vorgebrachten Vorwurfe der Systemlosigkeit zu halten hatten. Als ob nicht auch ein System sowohl die selbstzufriedene Horizontabschließung eines beschränkten Intellekts, wie andererseits den Schematisierungstrieb eines philosophischen Verwaltungsbeamten bedeuten könnte. Die Frage, ob ein Philosoph ein »System« habe, ist so lange müßig, als nicht genau bestimmt wird, in welchem Sinne das Wort zu nehmen ist, und ob es ferner wertvoller sei, Gedanken in Herbarien zwischen Löschpapier zu legen, als sie wild wachsen zu lassen, oder in Beeten zu pflegen oder in Sträuße zu binden, oder als Kränze über die Pforten eines Heiligtumes zu hängen: »System« bedeutet für jeden Denker etwas Anderes! Es kann ein Mechanismus sein und ein Organismus; für eine tiefere und strengere Auffassung hat mancher »systematische« Autor in Wahrheit kein System, weil seiner Gedankenwelt die innere Notwendigkeit fehlt; ein Anderer, der es verschmäht, mit dem konstruktiven Gerippe seiner Darstellung zu prunken, hat ein System, weil er ein System ist; ein mit Notwendigkeit hervorbringender Denker. Durch die Umwertung wird aufs Neue bewiesen, daß Nietzsche mit den Jahren immer systematischer die großen Fragen des menschlichen Lebens betrachtete, in immer umfänglicheren Kreisen seine Interessen ausdehnend, bewußter stets und stets schärfer mit seinen philosophischen Ahnen sich auseinandersetzend, vorsichtiger im Prüfen, strenger in der Selbstkritik und meisterlicher in der Anwendung seiner Methode. Eine geistige Entwicklung von außerordentlicher innerer Notwendigkeit ist hier jäh abgeschnitten worden. Je näher die Werke dem Zeitpunkte der Katastrophe stehen, desto energischer sind sie in der Grundanlage, desto tiefer und allseitiger durchgedacht, desto klarer und schärfer in der Form. Mit einem aus Schmerz, Stolz und Dankbarkeit gemischten Gefühle sieht man den Philosophen in dem Augenblicke unter der Bürde seiner Aufgabe erliegen, da er im Begriffe ist, sein abgerundetstes und eigentümlichstes Werk zu geben und die Gedankenreihen eines Jahrzehntes abzuschließen.

Einen Abschluß hätte die Umwertung bedeutet, vielleicht auch einen Wendepunkt. Denn in seltsamer Weise fließen zwei Strömungen in den Werken der letzten Zeit ungeschieden nebeneinander her: eine Verneinung, die rücksichtslos, heftig und feindselig bis zum Unrechte ist, und ein neues Sehnsuchtsbild vollkommener Güte, das im Zarathustra zum ersten Male aufglänzt, hier noch von herben, scharfen und kriegerischen Umrissen, im Jenseits von Gut und Böse feiner schon und zarter, und in der Folge stets strahlender und herzlicher, ohne daß es von seiner Tapferkeit einbüßte. Der Antichrist hatte dieses Ideal einer Güte ohne Schwäche noch sicherer und fester aufgestellt. Leise Untertöne von Dankbarkeit und Liebe klingen seltsam an, so oft diese Vision des unendlich gütigen, frohgemuten, wohlgeratenen Menschen in den nachgelassenen Werken von Nietzsche erschaut wird. Der spätere Buddhismus kennt und schildert, im Buche des Khuddaka Nikaya im zweiten Pitaka, die Lebensläufe von vierundzwanzig Buddhas, die vor Gautama da gewesen waren; nach Gautama aber soll ein neuer Buddha erscheinen, wenn Sakyamuni und seine Lehre längst vergessen sind, und sein Name wird sein Maitreya Buddha, der Buddha der unendlichen und triumphierenden Güte. Jener vollkommen gütige Mensch der Zukunft in den Schriften Nietzsches ist sein postulierter Maitreya Buddha. Die reine große Güte, die schenkende Tugend, der seine Überfülle selig spendende Reichtum ist ein wesentlicher Zug im Bilde des Übermenschen. Hier reichen sich über die Jahrtausende hin zwei wundervolle Visionen die Hände: der Traum jener sehnsüchtig nach einem reinsten Gütebild ausspähenden buddhistischen Mönche, und die Vision eines deutschen Philosophen, der sich kaum bewußt war, daß sein zögernder Fuß schon die Schwelle des Nirwana berührte.

Es muß immer wieder betont werden, daß Nietzsche ethische Forderungen nur für sich und die Seinen aufstellt. Individualist ist er nur in diesem Sinne. Der weitaus größte Teil der Menschheit jedoch braucht kollektivistische, altruistische Ideale. Und zwar wählt der Einzelne sich seine Moral, seine Lebensanschauung nicht willkürlich, sondern er hat sie instinktiv, je nach Rang und Wesen der Energie, der Vitalität, die er selbst darstellt (wobei das Geistige nicht zu übersehen ist). Jede Bereicherung der Weltanschauung ist nur eine blitzartig aufleuchtende und tief beglückende Anagnorisis. Nur Verwandtes empfindet sich als verwandt. Nur Ähnliches assimiliert sich. Es steht niemanden frei, zur Herrenmoral oder zur Sklavenmoral sich zu bekennen. Man verkündet und lebt, was man ist. Man ist wohlgeraten oder man ist Ressentiment. Wo Nietzsche den Ausdruck »Sklavenmoral« gebraucht, meint er stets nur die Ressentiment-Moral des revoltierenden Sklaven, wie er sie in einigen Religionen und Philosophien zu erblicken glaubte. Daneben gibt es die große Menge der »guten Sklaven« (wobei das Wort »Sklave« nur der Kürze halber, wie eine mathematische Formel, verwendet wird, durchaus nicht beleidigend), die sich in ihrer Existenz glücklich fühlen, bei denen Vitalität und Weltanschauung sich entsprechen. Ihr Glück heißt: Gehorchen! Dienen! Sich Aufopfern! Sie empfinden das nicht als verächtlich. Es ist auch durchaus nicht verächtlich. Verächtlich dagegen wäre es, wenn sie mit der Anmaßung aufträten, die Werte des höheren Menschen zu bestimmen. Dieser höhere Mensch hinwiederum darf nicht altruistisch sein, er wird mit Notwendigkeit in allem Fühlen, Werten, Handeln sich bejahen. Bei ihm ist Egoismus eine Lebensäußerung, bei jenen wäre er Arroganz. »Ne nous laissons donc pas abuser: en dépit des apparences, il n'y a pas de morale plus ascétique, en un certain sens, que celle de Nietzsche: aucune n'exige plus d'abnégation, un plus rude et plus constant effort de volonté.« Kennern Nietzsches sagt dies Wort eines Franzosen nichts Neues. Aber um über ihn zu sprechen, ist es immerhin wünschenswert, daß man von Jenseits von Gut und Böse mehr gelesen habe als den Titel und von der Genealogie der Moral mehr kenne als das Assassinenzitat: Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt; daß man vor allem dort das neunte Hauptstück Was ist vornehm? gründlich durchgedacht und seine letzten Folgerungen erwogen habe.

Man vergleiche mit dem verleumderischen Zerrbilde, das von Nietzsches sittlichen Idealen entworfen zu werden pflegt, die Tafel der vornehmen Werte, wie sie der Antichrist aufstellt: Rechtschaffenheit, Höhe der Seele, Zucht des Geistes, freimütige und gütige Menschlichkeit, Gemeinsinn, Dankbarkeit für Herkunft und Vorfahren, Förderung irgend eines Gemeinwohles, Frohsinn, Hochherzigkeit, Güte ohne Schwäche, Offenherzigkeit, Tatsachensinn.

Man darf nicht vergessen, daß alle Schroffheit und Unerbittlichkeit nur die eine, negative Seite der Gedankenwelt Nietzsches bedeutet; daß sie naturgemäß bei ihm schärfer hervortritt, da er sich zu mancher Erkenntnis hart durchringen mußte, die dem Heutigen längst vertraut geworden ist. Gewiß haben die Betrachter seiner Philosophie Recht, die in ihm vorzugsweise den Kämpfer sehen, und denen er als ein erstarrter Fechter erscheint, vom Geschicke in dem Augenblicke zur Statue versteinert, da er zu einem entscheidenden Hiebe ausholte. Aber auch der hat sein Wesen erfaßt, dem er ruhig und gütevoll vor Augen steht, mit erhobenen Armen ein blaues leuchtendes Meer grüßend zugleich und segnend, ein Glücklicher und Dankbarer, der seine schlimme und gefährliche Anabasis endlich hinter sich hat, und nun all der wolkenlosen Unendlichkeit, die vor seinen entzückten Blicken sich hindehnt, aus tiefster Seele ein »Thalatta! Thalatta!« zujauchzt.

Die Gedanken des neuen Buches sind nicht gleichwertig hinsichtlich ihrer formalen Ausgereiftheit. Die Worte sind stellenweise aufs Geratewohl gewählt, oft nur ein paar Schlagworte angedeutet. Skizzen und Entwürfe stehen neben Abschnitten, die zu dem Vollendetsten gehören, was Nietzsche geschrieben hat. Man sieht, hier ist jemand plötzlich von seiner Arbeit weggerufen worden und nicht mehr zu ihr zurückgekehrt. Die Schwermut des Torsos ruht über dem Ganzen, aber auch der Reiz des Entstehenden. Man hat die Glücksempfindung, eines großen Werdens Zeuge zu sein. Man sieht, wie Nietzsche arbeitet. Wie er ein Problem von allen Seiten anpackt, und am liebsten von der unzugänglichsten; wie er lange Gedankenreihen nebeneinander entwickelt, manche Idee zweimal, dreimal, öfter ausspricht, immer um noch größere Schärfe und Klarheit bemüht; wie er sich selbst Einwände macht, sich ad absurdum zu führen versucht; wie er immer genauer unterscheidet, z. B. zwischen den zwei Ausgangspunkten des Rausches (der übergroßen Fülle des Lebens und dem Zustande einer krankhaften Ernährung des Gehirns) oder zwischen einer doppelten Art von Schwäche (die Schwäche kann ein Anfangs-Phänomen sein: »noch wenig«, oder ein End-Phänomen: »nicht mehr«). Stärker als in den früheren Schriften wird die geschichtliche Entwicklung und damit die sogenannte Berechtigung von Dekadence und Nihilismus festgehalten; das Durch- und Nebeneinander von Symptomen des Verfalles oder des Aufsteigens im Leben der gegenwärtigen Menschheit wird öfter und eindringlicher betont. Nietzsche sieht die Dinge immer komplizierter. Er wirft manchmal Andeutungen hin, aus denen zu erraten ist, daß er hinter jeder scheinbar befriedigenden Antwort neue Fragezeichen und verwickeltere Probleme entdeckt. Es geht ihm wie dem Bergsteiger: was aus der Ferne eine kahle, glatte Wand schien, zeigt sich in der Nähe als ein System von Lagen und Schichten, mit zahllosen Vorsprüngen, Rissen, Klüften, mit Griffen und Tritten. Mit den Schwierigkeiten wachsen zugleich die Möglichkeiten, sie zu überwinden: »Wir leben im Zeitalter der Vergleichung, wir können nachrechnen, wie nie nachgerechnet worden ist. Wir genießen anders, wir leiden anders: die Vergleichung eines unerhörten Vielfachen ist unsere instinktivste Tätigkeit. Wir verstehen alles, wir leben alles, wir haben kein feindseliges Gefühl mehr in uns.«

Das erste Buch enthält Monologe eines modernen Faust. Das Heraufkommen des europäischen Nihilismus wird erzählt (das Wort Nihilismus nicht in einem politisch-agitatorischen Sinne, sondern rein philosophisch genommen). Die allmähliche Verzweiflung, da kein von außen gegebenes Ziel sich halten ließ: wie das »Ziel der Welt« zuerst ins Religiöse, dann ins Moralische, dann ins Rationalistische, dann ins Soziale, dann (durch Hartmann z. B.) ins Immanent-Historische, endlich ins Eudaimonistische verlegt wurde. »Wir haben einen ›Sinn‹ in allem Geschehen gesucht, der nicht darin ist ... Es gibt keine Wahrheit; es gibt keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein ›Ding an sich‹. – Dies ist selbst nur Nihilismus, und zwar der extremste. Er legt den Wert der Dinge gerade da hinein, daß diesen Werten keine Realität entspricht und entsprach, sondern, daß sie immer nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der Wert-Ansetzer sind, eine Simplifikation zum Zwecke des Lebens. Der Glaube an die Vernunftkategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen.«

»Welche werden sich als die Stärksten erweisen? Die Mäßigsten, die keine extremen Glaubensätze nötig haben, die einen guten Teil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Wertes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten – Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentieren.«

Begriffe wie Herrenmoral, Sklavenmoral, Immoralist, Jenseits von Gut und Böse sind γυμναστιχωσ nicht δογματιχωσ aufzufassen. Nietzsche hatte solche Antithesen nötig, »die Leuchtkraft dieser Gegenbegriffe, um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge hinabzuleuchten, der bisher Moral hieß. Man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem herdenhaften, und den herdenhaften nicht nach dem solitären. Aus der Höhe betrachtet, sind beide notwendig; insgleichen ist ihr Antagonismus notwendig

Welches ist Nietzsches letztes Streben? »Wirklich den Pessimismus überwinden –; ein Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat. Eine Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie alles so, wie es gehen sollte, auch wirklich geht: wie jede Art ›Unvollkommenheit‹ und das Leiden an ihr mit in die höchste Wünschbarkeit gehört ... Eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten. Auch dieser Pessimismus der Stärke endet mit einer Theodicee, d. h. mit einem absoluten Jasagen zu der Welt – aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals Nein gesagt hat. – Die Ja-sagenden Affekte: der Stolz, die Freude, die Gesundheit, die Liebe der Geschlechter, die Feindschaft und der Krieg, die Ehrfurcht, die schönen Gebärden, Manieren, der starke Wille, die Zucht der hohen Geistigkeit, der Wille zur Macht, die Dankbarkeit gegen Erde und Leben – alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht.«

Es hieße, Mißverständnisse herbeiführen und unehrlicher Vergutmütigung Tür und Tor öffnen, wenn man die unverminderte, ja noch schärfer gefaßte Abweisung dekadenter Wertungen verschwiege, die auch in diesem Buche den eigentlichen Akzent bedeutet. In der unerbittlichen Verurteilung lebensfeindlicher Werte geht die Umwertung zum Teil noch weiter als der Antichrist. Kleine und hämische Geister haben denn auch nicht verfehlt, in den Ausfällen Nietzsches gegen das Christentum und gegen die altruistische Ethik die Bedeutung seiner Werke zu erblicken: sie haben sich die feindselige Terminologie seiner Ablehnung teils nachsprechend angeeignet, teils sie als Mittel benutzt, ihn zu denunzieren. Wenn hier die Ansicht kundgegeben wird, daß alles Negative bei Nietzsche erst in zweiter Linie, erläuternd nur, nicht beweisend, in Frage komme, so darf der Philosoph selbst als Zeuge angerufen werden – er, dessen Art »jasagend ist und mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu tun hat«, der sich einst als liebsten Wunsch zum neuen Jahre diesen einen gestand: »Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung!« Nietzsche hat, tiefer und leidenschaftlicher als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, verschiedene Seelenzustände durchgemacht, um sie später zu bekämpfen: das Christentum, die Schopenhauerische Philosophie, die künstlerischen Wirkungen der Wagnerischen Musik. Die genannten drei Phänomene gehören für ihn zusammen. Eines nach dem andern hat er, mit Anstrengung und sich selbst wehtuend, aus seiner Seele gerissen, weil ein mächtigeres Grundgefühl es ihm gebot. Gegen die drei Phänomene findet er die bittersten Worte; sich von ihnen losgelöst zu haben, schien ihm sein philosophisches Schicksal; hier in irgend einer Weise nachzugeben, seine größte Gefahr. Nur wer so wie er geliebt hat, kann so hassen, und aus seinem Hasse noch klingt der Schrei enttäuschter Liebe. Es ist, wie wenn Nietzsche in späteren Jahren gegen sich selbst auf der Lauer gestanden wäre, jede aufkeimende sanftere Regung nach dieser Richtung hin sofort zu unterdrücken. Für ihn war diese ungestüme Ablehnung notwendig. Ist sie es auch für uns? Und wäre sie es für ihn geblieben? Es sei gestattet, auf die zweite Frage zuerst zu antworten. Wer den Antichrist kennt, weiß, daß hier eine Darstellung des Christentums und eine Psychologie des Erlösers gegeben wird, die in mehrfacher Beziehung mit den Ausführungen Tolstois übereinstimmt. Wer die Umwertung liest, wird finden, daß in dem Maße, als das Verständnis Nietzsches für die geschichtliche Entwicklung des Christentums sich vertieft, seine Polemik an Gereiztheit verliert, und daß der Gedanke nicht abzuweisen ist, Nietzsche hätte auch das Christentum schließlich unter jene vereinigten Gegensätze mit inbegriffen, mit denen sein »großer Mittag, die Erlösung alles Vergangenen« vollgestopft erscheint (XII, 395). So darf vielleicht die ganze Umwertung als die letzte und größte Anstrengung angesehen werden, von aller Negation und Kritik endgiltig sich zu befreien, die ganze Vergangenheit noch einmal, zum letzten Male, heraufzubeschwören, sie einmal noch zu prüfen, auf die einfachste Formel zu bringen, um sich für immer von ihr abwenden zu können. Auch die Umwertung ist eine Vita Nuova, eine große und gründliche Abrechnung, ein letzter zürnender Blick auf die Gestade der Vergangenheit, ehe das Schiff die hohe See erreicht und nach neuen, nie geschauten, aber inbrünstig geahnten Küsten die herbe Salzflut durchpflügt.

Da über das Verhältnis der jüngeren Deutschen zu Nietzsche unklare und unrichtige Vorstellungen verbreitet sind, sei eine Bemerkung dazu gestattet. Die neue Generation, die um die Zeit des Krieges [1870/71] auf die Welt gekommen ist, ihre höheren Schulen hinter sich hat und anfängt, am öffentlichen Leben teilzunehmen, ist wesentlich kühler und leiser als die vorhergehende, ohne deswegen pessimistisch zu sein. Sie verachtet das Parteigezänke in religiösen und politischen Dingen. Sie hat an den Kämpfen um das neue Reich nicht teilgenommen und keine Veranlassung, sich für politische Gegenstände leidenschaftlich zu erwärmen. Sie hat die Kämpfe um Richard Wagner nicht erlebt und steht dem Manne, seiner Kunst und dem Musikdrama mit zweifelnder Bewunderung gegenüber. Sie schickt sich an, soweit sie für den Naturalismus schwärmte, von dieser ästhetischen Kinderkrankheit zu genesen. Gemeinsam ist diesen Jüngeren eine Abneigung gegen große Worte, eine Geringschätzung jeder Borniertheit, die sich unbedingt und unentwegt gebärdet, und eine bewußte Flucht vor der Öffentlichkeit. Sie haben gelernt, daß Jeder das Entscheidende mit sich ganz allein auszumachen hat, daß ihnen Niemand dabei zu helfen vermag; daß ihnen Niemand zu befehlen hat, soweit es sich um Fragen des inneren Erlebens handelt. In diesem Sinne anerkennen sie keine Autorität. Sie haben ihre Sinne weit aufgetan für das Wirkliche, und ihr Herz hängt innig an allem, was schön ist: die leisen Lockungen der Kunst, jeder Art von Kunst, sind beinahe die einzigen, denen sie folgen. Sie sind nicht apathisch, aber antipathetisch, abwartend und zurückhaltend. Die Vorwürfe von Schwächlichkeit und Nervosität sind Geschwätz. Die neue Generation ist körperlich und geistig energisch und vielseitig; sie stellt strenge Anforderungen an sich selbst und an die Andern. Für die Ideale Derer, die um das Jahr 1860 jung waren, hat sie wenig Liebe. Selten haben Väter und Söhne sich so wenig verstanden. Wenn die Söhne ein Ziel deutlich verfolgen, so ist es dieses: unabhängig und abseits zu leben und zu versuchen, was sie aus ihrem Leben machen können, so daß es ihr eigentümliches und persönliches Leben bleibe, sowie von religiöser, nationaler und ästhetischer Rechthaberei sich möglichst frei zu halten. Der Philosoph, der diese Jüngeren am nachhaltigsten angeregt hat, ist Friedrich Nietzsche. Sie sehen schlechterdings nicht ein, an wen sonst sie hätten anknüpfen sollen, wenn sie auch seinen Vorgängern die Ehrfurcht nicht versagen. Seinen Ansichten unbedingt zu glauben oder zu folgen, fällt ihnen nicht im Traume ein. Aber sie verehren in ihm den letzten bedeutenden Denker seit Schopenhauer. Im Einzelnen hält jeder für richtig, was ihm beliebt. In dem Romane Niels Lyhne des dänischen Schriftstellers Jacobsen – er gehört zu den geliebtesten Büchern dieser Jüngeren – findet sich die Stelle, daß sich das ganze Problem auf eine einfache Formel bringen lasse: das Leben zu ertragen, wie es sei, und jegliches Leben nach den eigenen Gesetzen des Lebens sich bilden zu lassen. Auf Grund dieser Formel kann man sich verständigen. Sie ist, in einen Satz zusammengepreßt, der Inhalt der Umwertung aller Werte.

Dem nachgelassenen Hauptwerke Nietzsches wird dasselbe Schicksal zuteil werden wie dem Manne selbst: es wird mehr gelesen als verstanden werden. Man wird ihm vorwerfen, daß es trotz alledem nicht systematisch sei. Mit demselben Rechte würde man an einem Gemälde Böcklins tadeln, daß es trotz alledem kein Schachbrett sei. Man wird an dem Buche aussetzen, daß ihm die Originalität fehle. Mit demselben Rechte würde man von einem Baume verlangen, daß er in der Luft wurzele. Man wird endlich geruhen, ex cathedra zu verkünden, daß es für die Wissenschaft nicht existiere. Durch denselben Vorwurf ist Burckhardts Griechische Kulturgeschichte in die Reihe der erlauchten Bücher gestellt worden, die für die Menschheit existieren. Vielleicht werden es die gelehrten Diurnisten ignorieren. Dies wäre das Weiseste was sie tun könnten.


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