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XX.
Der Sieg

Der Sommer ging hin. In der preußischen Monarchie entflammte ein mannhaftes Volk in vaterländischer Leidenschaft. Doch es währte viele Monate, bis man mit der Ausbildung der Truppen so weit war, daß man die Richtlinien für einen Entscheidungskampf aufstellen konnte. Die Vorbereitungen wurden immer wieder gehemmt, weil die Franzosen noch Festungen und viele Gebiete des Landes besetzt hielten und überall ihre Spione hatten. So waren heimliche Wach- und Botendienste nötig. Kommissare leiteten die Erfassung und Ausrüstung der einzelnen Provinzen. Es bedeutete unendliche Mühe, Uniformen und Waffen zu beschaffen. Der Opfersinn des Volkes bewährte sich auf die wunderbarste Weise. »Gold gab ich für Eisen«, stand in den eisernen Reifen, die sich die Spender ihrer Eheringe holen konnten.

Freikorps, wie Major von Lützows »Schwarze Schar« und andere, wollten den Kern der Volkserhebung bilden. Theodor Körner, der Freiheitssänger, trat zu den Lützowschen Jägern, Friedrich Rückert und Max von Schenkendorf erhoben ihre befeuernden Stimmen, eine Reihe edler Gelehrter sprach zum Volke. Fichtes Wort klang auf: »Auch im Kriege wird ein Volk zum Volke. Wer diesen Krieg nicht mitmacht, kann durch kein Dekret dem deutschen Volke einverleibt werden.«

Die preußische Erhebung bot ein so ergreifendes Bild, daß in Paris der große Freund der berühmten Madame de Staël, Benjamin Constant, bekannte: »Die Preußen haben das menschliche Angesicht wieder zu Ehren gebracht.«

Doch immer noch zögerten die süddeutschen Rheinbundstaaten sich anzuschließen. Österreich, dessen Kaiser seinen Schwiegersohn Napoleon zwar in seine Schranken weisen, aber nicht völlig verdrängt sehen wollte, blieb unentschlossen. Auch der angebetete Zar Alexander, obwohl nun Preußens Bundesgenosse, ließ sich Zeit, seine Armeen zu schicken.

So gelang es noch einmal der Geschicklichkeit Napoleons, dem König von Preußen einen Waffenstillstand aufzudrängen. Einzelkämpfe waren dem vorausgegangen. Nun überflutete Enttäuschung und Wirrnis das Volk. War alles vergeblich gewesen, und sollte man noch einmal auf ungewisse Zeit die Bitternis des Wartens tragen?

In die widersprechenden und teils unbegreiflichen Nachrichten hinein klangen heroische Namen auf als Trost und heiße Hoffnung: Blücher, Scharnhorst, Gneisenau.

Mit verhaltener Wut nahm man die böse Kunde hin, daß die Stadt Hamburg in die Hände von Marschall Davoust gefallen war und von ihm aufs grausamste behandelt wurde. Die Lützowsche Freischar hatte bei Kitzingen große Verluste erlitten. Dennoch blieb der Mut aufrecht. Die Lieder der Freiheitssänger hoben die Begeisterung, und endlich brachte der notgedrungene Waffenstillstand Österreich zu der Koalition gegen Napoleon. Auch Bernadotte, seit 1810 der erwählte Kronprinz von Schweden, wollte sich am Sturze des Kaisers beteiligen.

All diese Nachrichten erhielt Ulrike von ihrem Manne über das Postamt bei Jean Paul. Und endlich drang es nach Bayreuth durch, daß drei formierte Armeen sich gegen Napoleon wenden würden, der sich in Sachsen, dem Rheinbundstaat, aufhielt.

Die Verbündeten planten, dem französischen Heer auf der Ebene von Leipzig die Entscheidungsschlacht anzubieten. War das ein Gerücht? Handelte es sich um einen festen Entschluß? Vermutungen flogen durchs Land –

Ulrike sah ihren Bruder wieder. Er führte sie durch die gilbenden Alleen von Alexandersbad oder in das quellenreiche Wiesenland. Freie Luft und Bewegung waren ihr so notwendig, denn sie erwartete ein Kind.

Lange lag die Auseinandersetzung mit dem Vater hinter ihr, lange hatte er Heinrich Hügels Brief erhalten. Der Oberjägermeister hatte weder seinen Zorn noch unschöne und böse Worte unterdrückt. Ulrike erneuerte sie nicht in ihrem Gedächtnis, sie war dankbar, daß sie in den Pfarrhof übersiedeln konnte zu den guten Menschen, die ihre Hochzeit ausgerichtet hatten.

Nun hielt sie sich in dem kleinen Badeort auf, da der Bruder nicht die Gastfreundschaft einer ihm fremden Familie annehmen wollte.

Alexander von Egloff stand wie Heinrich Hügel bei der Blücherschen Armee und hatte etwas Urlaub in diesen Septembertagen. Er berichtete, daß der Aufmarsch der Alliierten erst im Oktober beendet sein würde, und war voll Zuversicht: »Und wenn die Welt voll Teufel wär, es muß uns doch gelingen.« Mit diesem Lutherschen Kernwort begegnete er mancher Frage der Schwester. Sie freute sich der Gegenwart des Bruders und seiner freundlichen Fürsorge. Sie hatte doch darunter gelitten, von ihrer Familie wie abgeschnitten zu sein.

Alexander von Egloff war nicht mehr der weiche Charakter von einst. Auch sein Gesicht hatte schärfere Umrisse bekommen. Er sagte: »Heinrich Hügel kann sich nach Potsdam versetzen lassen, wenn wir gesiegt haben. Dann besucht uns mal der Vater, und wir sind alle beisammen. Wenn es deinem Gatten beschieden sein sollte, für das Vaterland zu fallen, so trage es als Soldatenfrau. Aber er wird nicht fallen.« Scherzend fuhr er fort: »Papa kann verlangen, daß Heinrich Hügel dir wenigstens den Titel ›Frau Generalin‹ verschafft, und dazu braucht es Zeit.«

Sie waren den Weg hinaufgegangen, der zur Luisenburg führt. Nein, sie wollten nicht bis zum Felsenlabyrinth gehen, Ulrike mußte geschont werden. So suchten sie einen Platz in der Sonne, im Preißelbeergestrüpp.

»Beerenweiblein«, lachte Alexander, nachdem er mit einem Plaid für Ulrike den Sitzplatz bequem gemacht hatte. Und er fuhr fort: »Unser Vater hat es nicht leicht mit seinen Kindern. Er war der Herr des Fichtelgebirges, und nun sitzen Tochter und Sohn hier im Preißelbeerkraut, sind wie eine alte Sage von Bruder und Schwester. Du solltest eine neue Krone in Vaters Stammbaum gebracht haben, einen Hügel vermag er nicht anzuerkennen. Und wenn du erst ein Büblein hast, mußt du darauf gefaßt sein, daß Vater an ihm einen Geburtstitel vermißt.«

Sie antwortete heiter: »Auch das will ich überstehen. Es wird Heinrichs Kind sein und das Kind in einem erneuerten und befreiten Vaterland.«

Der stille, besonnte Septembertag, der Anblick der Schwester, für die noch kein eigenes Haus bereit stand, in dem sie ihr Kind zur Welt bringen konnte, die ungewisse Zukunft, dies alles machte Alexander von Egloff aufgeschlossen. Vielleicht sah er zum letztenmal die heimatlichen Berge und die Schwester?

Unvermittelt begann er: »Im Falle unsere Gespräche keine Fortsetzung finden können, denn morgen reise ich zum Regiment, sollst du doch wissen, daß ich Marya noch einmal wiedergesehen habe. Sie lebt jetzt in Paris, äußerlich glücklich. Sie hat mir Genugtuung gegeben. Ich war doch kein Narr, wenn ich an ihre Neigung glaubte. Aber ich konnte über ihre Untreue nicht hinweg. Ein polnisches Herz paßt nicht zu unserem Herzen.«

Die Schwester griff nach seiner Hand. Ach, sie wußte so genau, der Bruder kam über nichts hinweg, das einmal sein Herz getroffen hatte. Nie würde er den Jugendtraum mit Marya vergessen.

»Alexander«, sagte sie wie beschwörend, »das Leben ist kurz. Ihr Soldaten wißt es genau, es ist euch vielleicht nicht die Zeit gegeben, all eure menschlichen Möglichkeiten zur Vollendung zu bringen. Auch ich weiß nicht, ob ich meine schwere Stunde überstehe. So sind wir vom Schicksal bestimmt, in eine kurze Frist zusammenzudrängen, was zu anderen Zeiten in einem langen Dasein ausschwingen konnte, wie vielleicht die Erlebnisse vieler Jahre in einem Lied zusammengefaßt sind. Nicht aber in einem Liede der Wehmut, Alexander – immer sollen wir doch für ein Bleibendes sorgen.«

Sie machte eine Pause. Dann klang in die große Stille des Septembertags zärtlich und innig ihre Stimme: »Ich kann es mir nicht denken, daß niemand auf dich wartet, Alex. Irgendwo ist doch immer jemand, der uns liebt, dem wir alles sein könnten.«

Er lächelte flüchtig. »Prinz Louis Ferdinand fiel mit den Briefen seiner Schwester auf dem Herzen. Ich habe dich aufgesucht, ehe ich in den Krieg gehe. Aber vielleicht sitzen wir einst, in ruhigen Jahren, an einem Kaminfeuer und gedenken der alten Zeiten, und deine Kinder spielen mit meinen kleinen Egloffs. Jetzt habe ich den Vater und dich wiedergesehen. Ich sah auch die alte Stadt, in der ich so glücklich war. Was ich bin, gehört nun dem Vaterland.«

Sie wagte es nicht, weiter in ihn zu dringen. Langsam gingen sie den Weg zurück, begegneten heimkehrenden Waldarbeitern, alten Männern, Frauen und Kindern. Alexanders Uniform erregte Neugier und Freude. Ulrike erkannte einen alten Förster und begrüßte ihn. Rasch entstand eine kleine Versammlung um Ulrike und Alexander.

»Gibt es bald Krieg?« wurde er gefragt und hörte dann, wie viele junge Leute aus dem Fichtelgebirge zu den Freiwilligen geeilt waren. Gneisenau hatte von Breslau aus Boten zu seinen Vertrauensmännern gesandt, zu Amtsleuten und treuen Bürgern, die er von seiner Bayreuther Zeit her noch kannte. Gespannt horchten die Leute auf Alexanders knappe Berichte. Ja, es würde bald Krieg geben, Deutschland mußte frei werden von jeder Fremdherrschaft, sagte er und lächelte den Menschen der Heimat zu.

*

In den Ebenen um Leipzig hatten die alliierten Armeen Aufstellung genommen.

Blücher und Gneisenau führten die Nordarmee; sie bestand aus den schlesischen Regimentern, den Freiwilligen und den preußischen Kerntruppen. Schwarzenberg befehligte die Österreicher, Bernadotte seine Schweden, Zar Alexander war mit großem Aufgebot gekommen.

Unter Napoleon hatten sein Schwager Joachim Murat, Marschall Ney und Macdonald wichtige Kommandos inne.

Mit russischen Truppen im Rücken näherte sich der vorwärtsstürmende Blücher in der Gegend um Gohlis und Pfaffendorf den französischen Karrees.

Der sechzehnte Oktober brachte heftige Kämpfe und Teilerfolge auf beiden Seiten. Am siebzehnten Oktober, einem Sonntag, lag dumpfe Stille über der weiten Kampffläche. Heinrich Hügel erlebte die zweite, große Schlacht. Gewaltsam verdrängte er jede Erinnerung an das Plateau von Jena. Doch wie damals fehlte ihm jeder Überblick. Nur das eine war deutlich fühlbar: ein harter Wille lebte in den Kämpfern. Offiziere und Mannschaften wußten: auf den Ebenen um Leipzig entschied sich das endgültige Schicksal der Nation.

Es waren andere Führer als bei Jena. Der König durfte seinen Generalen vertrauen. In der preußischen Armee schwang das Gefühl von der Unwiderstehlichkeit ihrer gerechten Sache.

Kanonendonner, Schwaden von Pulverrauch, brennende Dörfer. Der Herbsthimmel darüber: es galt ganz fühllos zu werden. Man mußte vorwärts, vorwärts. Wer fiel, starb für sein Vaterland.

Von Gohlis aus, das Blücher nach gewaltigen Eilmärschen besetzt hatte, gelang dem Premierleutnant Hügel eine kühne Überrumpelung der Franzosen bei Pfaffendorf. Er entwaffnete mit seiner Mannschaft an zweitausend Soldaten der Großen Armee.

Bauernscheunen nahmen die Gefangenen auf. Heinrich Hügel hatte sich auf ein verirrtes Pferd geworfen, umritt das Gefangenenlager, schrie seine Befehle aus. Die blaue Mütze war verloren, und sein helles Haar flatterte im Wind.

Da sprengte ein Offizier heran. Breit und schwer, das volle Gesicht gerötet, saß er im Sattel, hob die Hand:

»Wer kommandiert hier wie ein Feldmarschall?«

Der Infanterieleutnant Hügel glitt vom Pferd, salutierte, erstattete seine Meldung.

»Sie sollte ich doch kennen? Aber woher?«

»An der Kirchentüre von Vierzehnheiligen hatte ich die Ehre, Herr Generalmajor von Gneisenau.«

Sekundenlang dachte Gneisenau nach. Dann reichte er Heinrich Hügel die Hand. »Dies ist ein anderes Treffen. Haben Chance gehabt, Leutnant Hügel aus Bayreuth. Morgen wird die letzte Entscheidung sein. Melden sich bei mir, wenn wir in Leipzig stehen.«

Nacht am Wachtfeuer. Blutiger Morgen, letztes Ringen. Des Mittags am 18. Oktober drang Blüchers Armee gegen Leipzig vor und war dann beteiligt am Einzug des Königs und des Zaren.

Unermeßlicher Jubel brandete ihnen entgegen.

Napoleon war geflohen. Die Alliierten feierten ihren Sieg. In den Häusern wurden die Verwundeten von den Bewohnern gepflegt. Der Bürger tat sein Letztes –

Am 19. Oktober begab sich Heinrich Hügel auf die Kommandantur und ließ sich bei dem Generalstabschef von Gneisenau melden. Man bedeutete dem Premierleutnant, der Generalstabschef sei nunmehr mit Herr Generalleutnant oder Herr Graf anzusprechen, der König habe ihm durch Verleihung dieser Titel seine Dankbarkeit bewiesen.

»Das ist eine Karriere vom Gänsehirtenbüblein her«, dachte Heinrich Hügel und rückte lachend an seiner Mütze. Sie stand hoch und schief auf dem schmalen Kopf. Gestern Abend noch hatte ihn eine Kugel gestreift. Über der Fleischwunde saß nun ein dicker Verband.

Heinrich Hügel mußte lange warten. Kaum aber war er in ein saalartiges Zimmer zu dem neuen Grafen Gneisenau gewiesen, so trat durch eine Seitentür der König ein. Blaß, vornehm, nur durch seine aufrechte Haltung den Sieger andeutend, stand Friedrich Wilhelm da. Heinrich Hügel, erschüttert vom Anblick des Mannes, der so viel durchlitten hatte und nun einen großen Sieg feiern durfte, wußte nicht, ob er sich sofort entfernen oder auf einen Wink dazu warten solle. Da sagte der König in seiner abgekürzten Sprechweise: »Wer das?«

Graf Gneisenau antwortete: »Eure Majestät, das ist Premierleutnant Hügel gebürtig aus Bayreuth, ein Mann, der Beförderung verdient. Bei Pfaffendorf hat er mit seinen Leuten an zweitausend Franzosen entwaffnet.«

Der König ließ sich an dem mit Papieren bedeckten Tisch nieder, um den viele Stühle standen.

»Gut, sehr gut. Sind verheiratet, wie? Tragen Ring –«

Heinrich Hügel stieß heraus, seit dem Frühling sei er verheiratet mit der Tochter des früheren Markgräflich-Ansbach-Bayreuthschen Oberjägermeisters Baron von Egloff.

Der König senkte das Gesicht, flüsterte: »Bayreuth, Luisenburg.« Dann nahm er ein Papier auf. Es war zum Teil beschriftet. Die Regimentsschreiber hatten schon Mengen von Beförderungspatenten vorbereitet. Der König winkte Gneisenau heran und bat ihn, zu schreiben. »Einer aus den Stammlanden. Möchte ihm Freude machen. Meine Frau hat mit mir die Stammlande bereist«, sagte er.

Da sprang es Heinrich Hügel über die Lippen:

»Ihre Majestät, unsere unvergeßliche Königin, hatte die Gnade, mich bei Naumburg einiger Worte zu würdigen.«

Dunkle Röte schoß in Heinrich Hügels Gesicht. Hatte ihn der König vielleicht aufgefordert, etwas zu erzählen?

Doch der König schien den Etikettefehler nicht zu beachten.

»Bekommen Eisernes Kreuz und Avancement. Haben Hauptmann vertreten, wie?«

»Zu Befehl, eure Majestät. Mein Hauptmann ist gefallen.« Der König sah ihn lange an. In seinen blauen Augen war ein sehr stilles Licht.

»Ein Freiherr von Egloff steht in Potsdam. Verwandt mit Ihnen?«

»Zu Befehl, Eure Majestät, es ist mein Schwager.«

Der König winkte Gneisenau zu. »Schreiben Sie bitte, lieber Graf.« Und Friedrich Wilhelm diktierte:

»Wegen besonderer Tapferkeit vor dem Feind wird Premierleutnant« – er sah auf: »wie Vorname?« Der König lächelte: »Also wird der Premierleutnant Heinrich von Hügel zum Hauptmann im Ersten Garderegiment zu Fuß befördert.«

Heinrich Hügel hob an: »Zu Befehl, Eure Majestät, ich –«

Gneisenau schnitt ihm das Wort durch eine Handbewegung ab, und Heinrich Hügel verstummte erschrocken.

Der König setzte seinen Namen unter das Patent, erhob sich, reichte dem neuen Hauptmann die Hand. Dann trat Friedrich Wilhelm an ein Fenster. Unten auf der Straße jubelten Soldaten und Bürger.

Heinrich Hügel hielt das Patent in der Hand. Er deutete auf die drei Buchstaben zwischen seinem Namen, sein Blick suchte Gneisenaus Augen.

Der jugendliche Kronprinz stürmte in den Raum. Seine Locken standen in dichten Ringeln, seine Wangen glühten. Er riß die Balkontüre auf, bat, der König möchte sich doch der Menge zeigen.

Gneisenau lächelte und flüsterte Heinrich Hügel zu: »Sie werden doch Seine Majestät nicht desavouieren wollen! Schwertsieg und Schwertadel sind ihm identisch. Adieu, mein Junge. Wollen Sie Ihre Frau besuchen? Ich werde bei Ihrem bisherigen Oberst einen Urlaub erwirken, sobald wir hier wieder in einer gewissen Ordnung sind.« –

Mehrere Tage lang irrte der neue Hauptmann durch die Stadt Leipzig, bis er in einem wohlhabenden Bürgerhaus Alexander von Egloff fand. Er lag mit durchschossenem Bein. Mitten in der Prunkstube der Wohnung war sein Bett aufgeschlagen. Zwei hübsche kleine Jungen saßen bei ihm und sorgten für seine Unterhaltung. Der Anblick war so friedlich, daß Heinrich Hügel Tränen kamen. Denn er hatte bei seinen Wegen durch Leipzig Entsetzliches gesehen. Er war in den Sälen des Gewandhauses gewesen und hatte dort unter Toten, Verwundeten und Kranken, die auf faulendem Stroh lagen, nach Alexander von Egloff gesucht. Die preußischen Feldscherer arbeiteten ohne Unterlaß, die gutherzigen Leipziger Bürger waren mehr willig als geschickt zu Hilfe und Organisation. Sie konnten es kaum fassen, daß ihr Leipzig zum Schauplatz blutiger Weltereignisse geworden war.

»Ich werde wieder heil«, sagte Alexander von Egloff, »meine Sache ist nicht schlimm. Der Stolz auf unsere wiedererrungene Freiheit ist die allerbeste Arznei.« –

*

Durch die Straßen von Bayreuth wehte wieder der Föhnwind. »In zwei, drei Stunden bin ich bei Ulrike«, wußte Heinrich Hügel, als er der Eilpost entstieg und sich einen Wagen in das Pfarrhaus am Rande des Fichtelgebirges bestellte.

Sporenklirrend stieg er die Treppen zu Ulrikes Vater hinauf. Dem preußischen Hauptmann, der das Eiserne Kreuz trägt, wird der Baron Egloff wohl nicht die Türe weisen, dachte Heinrich Hügel. Ich bin und bleibe der Gärtnerssohn, doch der alte Herr muß umlernen, muß begreifen, daß das Volk die ewige Kraft eines Landes ist. Die Erhebung des Volkes hat Deutschland befreit, und so viele seiner großen Führer sind nicht in vergoldeten Wiegen geschaukelt worden, sondern waren einst kleine, arme Burschen, deren größter Schatz ihre Träume von Abenteuer und Glück gewesen sind.

Jäh blieb er stehen: könnte ich dem Großvater doch noch einmal in die Augen sehen, ihm sagen, ich bin dabei gewesen, als die Adler Friedrichs des Großen wieder aufrauschten. –

Lächelnden Mundes sagte er dann zu Baron Egloff, als er vor ihm stand:

»Herr Baron von Egloff, ich habe die Ehre, Ihnen zu melden, daß das Kind Ihrer Tochter, meiner liebsten Ulrike, adlig geboren werden wird.«

Er hielt einen Augenblick inne, um die Worte wirken zu lassen, und fuhr dann fort: »Der König von Preußen hat geruht, zu Leipzig dem Gärtnerssohn aus Bayreuth das kleine ›von‹ ins Hauptmannspatent schreiben zu lassen, eigenhändig von Gneisenau.«

Der alte Herr verstand nicht sofort. Heinrich überreichte ihm sein Patent, das er in einer Lederhülle unterm Waffenrock trug.

Und während Ulrikes Vater mit Hilfe eines Augenglases auf die Unterschrift seines Königs Friedrich Wilhelm sah, konnte Heinrich Hügel es nicht unterdrücken, noch mit heller Stimme zu sagen:

»Ihr Adel, Herr Baron, mag aus den Kreuzzügen stammen und ist daher fast tausendjährig. Der meinige ist noch nicht tausend Stunden alt. Aber auch er rührt vom Schwerte her. Das Schwert, der Pflug, der Spaten: lassen Sie dieses eiserne Kleeblatt gelten.«

Ulrikes Vater sah auf. »Es ist mir wirklich sehr angenehm, Herr Hauptmann von Hügel –« Plötzlich streckte er die Hand aus: »Wissen Sie, Heinrich, ein Narr war ich nie. Sagen Sie meiner Tochter, sie soll heimkommen. Ein preußischer Offizier, ob bürgerlich oder adlig, ist eine Ehre für mein Haus. Und nun lassen Sie uns ein Glas Wein trinken. Erzählen Sie mir, Sie haben unseren König gesprochen?« –

Als Heinrich Hügel wieder auf der Straße war, kam um die nächste Häuserecke Jean Paul gewandelt.

Oh, wie sah er aus! Die fürsorgliche Gattin hatte ihm den dicken Mantel aufgenötigt, der dem Dichter wohl zu heiß oder zu eng war, darum nun aufgeknöpft die Gestalt umstand und den Blick auf eine schief geschlossene Weste freigab.

Auf die herzlichste Begrüßung folgte rasches Erzählen. Jean Paul bat, der neue Hauptmann möchte seine bestellten Rosse rascher laufen lassen und ihm noch zehn Minuten schenken. Die Gattin sei leider nicht zu Hause, so brauche der liebe junge Freund nicht ins Haus zu gehen, sondern könne in der Kornelkirschenlaube niedersitzen. Sie war entblättert, doch auf der Schattenseite hing noch ein Zweig voll roter Früchte.

»Immer habe ich diese dauerhaften Kornelkirschen bewundert und gerätselt, warum sie so spät zur Reife kamen und sich noch an den Ast anklammern. Nun weiß ich es, sie sind für die liebe Ulrike.«

Jean Paul riß ein beschriebenes Blatt aus der Manteltasche, schickte sich an, eine Tüte zu formen. Heinrich Hügel hinderte ihn.

»Das ist doch ein Manuskript, Verehrtester.« Er las laut den kurzen Dialog, der darauf stand:

»Was würdest du tun, wenn es keine Unsterblichkeit gäbe?«

»Ich würde lieben.«

Großer wunderlicher Mensch, fühlte der Jüngere.

»Geben Sie nur her, das weiß ich auswendig. Glücklicherweise besitzen wir beides, sowohl die Liebe als den Glauben an die Unsterblichkeit.«

Die Tüte wurde geformt, die lieberoten Beeren kamen hinein. Jean Paul lächelte: »Und nun fahren Sie nach dem Dörfchen, in dem Ihr Ehebund geschlossen wurde. Wie glücklich sind Sie, Heinrich Hügel, die Geliebte der Jünglingsjahre nun für immer Ihr eigen zu nennen, als reines, lichtes Gestirn ihres Lebens.« –

Heinrich Hügel nickte. Er wußte: Ulrike ist mein Liebstes, meine Hauptmannsfrau, meine Heimat. Er hatte auf den Ebenen um Leipzig dem frühen Tod ins Auge geblickt und die Bitte zum Himmel gesandt: »Nur noch einmal Ulrike und die Heimat sehen –«

Die Tüte mit den Kornelkirschen kam in die Manteltasche. Heinrich Hügel fragte, ob auch ein Feuerlein in Jean Pauls Arbeitszimmer brenne, der Dichter müsse jetzt hinaufgehen, man könne nicht mehr in Sommerlauben sitzen.

»Einst waren Sie mein Armenanwalt, Verehrtester, und gingen einen harten Weg für mich. Ja, ich paßte gewiß in Ihr Buch vom Armenanwalt Siebenkäs.« Heinrich Hügels Blick leuchtete in Dankbarkeit auf. Dann aber lachte er sein altes Knabenlachen: »Pardon, Herr Legationsrat Jean Paul Friedrich Richter, wenn ich Romane schreiben könnte, würde ich meinen Helden nicht so nahrhafte Namen geben. Doch jetzt, Verehrtester, paßte ich fast in Ihren ›Titan‹: als Henricus de Collin würde ich mich melden.«

Der Dichter begriff, fragte aber dennoch: »Wahrhaftig, Sie wurden geadelt?«

»Ja, Verehrtester. Es geschah unter dem Lächeln Gneisenaus, der einst ein Hirtenbub gewesen ist. Ich werde dieses Lächeln nie vergessen. Es drückte eine letzte Überlegenheit aus, und es schenkte mir, daß ich mich für einen Augenblick als sein Kamerad fühlen durfte.«

Hell klang Jean Pauls Stimme auf: »Wie froh bin ich um Ulrikes willen. Sind wir auch dem Unendlichen verschrieben, für eine Frau ist es schön, auf der Erde im Kreise ihres Herkommens zu bleiben. Sie haben für die Befreiung unseres Vaterlandes gekämpft. Ulrike aber lernte: jene Sicherheit, die sie durch ihre Geburt empfangen, mußte durch den Aufbruch eines Volkes für jeden Angehörigen der Nation erstritten werden. Der arme und der ärmste Deutsche wissen sich heute im Gefühl zum Vaterland mit den Großen der Zeit verbunden.«

Der Dichter reichte Heinrich Hügel beide Hände: »Fahren Sie glücklich. Grüßen Sie das Wanderziel Ihrer Jugendtage, unser Fichtelgebirge, grüßen Sie unsere teuere Ulrike.«

Der Föhnwind brauste durch das Tal, in dem Bayreuth liegt. Der Föhnwind rüttelte die Bäume des Berglandes. – –

In einem weitab vom Dorfe gelegenen Obstgarten stand wie jeden Tag Ulrike und wartete, ob nicht Heinrichs Wagen käme. Ein leichter Mantel verhüllte ihre Gestalt, ihre Augen suchten und suchten.

Aber heute war sie ein wenig spät an ihren Aussichtsplatz gekommen. Kein Wagenrollen erklang, doch plötzlich waren hinter ihr rasche Schritte.

Sie wandte sich, sah helles Blondhaar schimmern, sah blaue Augen aufblitzen und lag in den Armen des Geliebten. Im Aufruhr des warmen Windes, der über das herbstliche Land dahinfuhr, und der alles, was Menschenherzen bewegen kann, Erinnerung, Schmerz, Seligkeit des Augenblicks und das Glück der Zukunft, zu einem schimmernden Triumph erhob, klang es für Heinrich und Ulrike:

Liebe, Freiheit, ewiges Vaterland.


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