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XIX.
Jean Pauls Mission

Die Zeit schlich. Die Zeit eilte. Die Zeit floh.

Während des heißen Sommers von 1811 stand ein großer Komet mit einem rotschimmernden Flammenschweif am Himmel der Nacht.

Das Volk betrachtete ihn als den Vorboten entscheidender Wandlungen und war überzeugt, daß Unerhörtes bevorstünde. Auf den Feldern reifte das Korn zu früher Ernte, die Rebstöcke versprachen köstlichen Wein. Tausend Gerüchte liefen durchs Land. Der Kaiser Napoleon solle wieder einen Krieg von ungeheuerlichem Ausmaß planen, hieß es.

Die Zeit schlich, die Zeit eilte, die Zeit floh.

Heinrich Hügel nahm den Dienst in München als Lehr- und Ausbildungszeit. Es kann, so wußte er nun, einem Manne nicht schaden, wenn er sich in Weltklugheit übt, wie er es tun mußte. Er rechnete darauf, daß er nach einer schicklichen Frist den Abschied nehmen könnte. Der Major von Lastrow, mit dem er wieder in Verbindung getreten war, hatte ihm von der Vermählung seiner Nichte mit einem Verwandten berichtet und ihm angedeutet, daß er dem einstigen Hausgenossen, wenn es erwünscht sei, eine Berufung auf ein Gut verschaffen könne. Das Abschiedsgesuch würde also eine Grundlage haben. Den Gedanken, aufs Land zu gehen und mit dem Erbe des Großvaters eine bescheidene Existenz zu gründen, hatte Heinrich Hügel schon mit Ulrike besprochen, und dieser Plan wurde in dem vorsichtigen Briefwechsel weitergesponnen.

Das Postamt für die Liebenden befand sich bei Jean Paul. Der Dichter versuchte auf seine Weise Ulrike zu trösten. Es gab eilige Heiraten genug in der unruhevollen Weltlage. Es gab aber auch, und zwar in der Mehrzahl, lange Verlobungen. Allein in der Stadt Bayreuth kannte man viele Töchter vornehmer Häuser oder guter Beamten- und Bürgerfamilien mit der sogenannten ewigen Brautschaft. Vom ersten Universitätsjahr bis zum Akzessisten brauchte ein junger Jurist zehn Jahre, dann kamen nochmal drei Frühlinge, bis der Assessor und damit die Heiratsmöglichkeit erreicht war. Die Bräute von Fahnenjunkern wurden erst als etwas müde Erscheinungen zu Hauptmannsfrauen. Doch die Ehre des Mannes hieß Treue, die Treue der Verlobten hieß Geduld. Niemand redete von toter Zeit, wenn man im Warten seiner Bestimmung zustrebte und so lange das Nützliche und Rechte tat. –

Nicht völlig unerwartet, denn es waren mancherlei Gerüchte durchs Land gelaufen, doch nun, letzte Hoffnungen zerstörend, kam die Nachricht, daß Napoleon wirklich einen Feldzug gegen das Zarenreich begann. Erneut würden durch Deutschland französische Heeresmassen marschieren. Während man sich besann, ob Bayern als Rheinbundstaat wirklich zu diesem ungeheuerlichen Waffengang Truppen stellen müsse, ereilte Bayreuth die Schreckensnachricht, Napoleon würde auf seinem Zuge nach Rußland im Bayreuther Schloß übernachten.

Quartiermacher und nach ihnen eine Reihe von Offizieren in glänzenden Uniformen trafen ein. Neugier machte die Bevölkerung mutig, trieb sie auf Markt und Gassen, die Fremden und den Kaiser zu sehen. Ulrikes Vater bebte vor Zorn, wollte abreisen und blieb dann doch, erbat sich ein Fenster in einem Bürgerhause, das Sicht auf das große Schloßportal hatte, und ging mit seiner Tochter dorthin, um einen Blick auf »das korsische Ungeheuer« werfen zu können.

Sie erblickten denn auch flüchtig ein unbewegtes, gelbes Gesicht unter dem kleinen Hut. Der Wagen raste in die Einfahrt, dünn klangen die Rufe »Vive l'empereur«.

In dieser Nacht ging Baron Egloff unablässig durch seine Wohnung. Ulrike, die besorgt nach dem Vater sah, hörte seine haßerfüllten Selbstgespräche. »Unter einem Dach mit ihm – Man hat eine sichere Hand – Der Feind muß sich zum Zweikampf stellen – Wenn ein braver Mann sein Leben einsetzt, das Böse zu vernichten, so ist das nicht Mord – es ist die große Herausforderung.«

Ulrike sah den Vater mit Waffen hantieren, sie sah, wie er sich in seinen alten Rock vom Dragonerregiment Ansbach-Bayreuth pressen wollte und schweratmend merkte, er hatte nicht mehr die Schlankheit seiner Jünglingsjahre.

Sie bat, sie flehte, sie rang mit dem alternden Mann. Sie stellte ihm vor, daß er unsägliches Unglück über die Stadt bringen würde, wenn er auch nur den Versuch eines Angriffs auf Napoleon mache.

Vor den Fenstern stand die Mainacht. Der kühle Duft jungen Laubes wehte aus dem Hofgarten herein. Der Oberjägermeister hatte die Fenster aufgerissen. Wenn unten Wachen patrouillierten, mußten sie seine Zornausbrüche hören. Verstanden sie auch die Worte nicht, der Ton mußte sie aufmerksam machen.

Ulrike, bis ins letzte geängstet, war endlich fast erleichtert, als der Vater, zermürbt von seinem wirren Denken und sinnlosen Hantieren, auf der Treppe zur Haustür ohnmächtig zusammenbrach.

Nun konnte die Tochter die Dienerschaft herbeirufen. Man trug den Ober Jägermeister auf sein Bett, flößte ihm Wein ein, rieb seine Schläfen mit scharfen Essenzen, bis er wieder zu sich kam und dann in einen Erschöpfungsschlaf fiel.

Ulrike wachte bei ihm. Der Morgen dämmerte herauf, Pferdegetrappel erscholl, die Rufe der Clairons ertönten – Aufbruch, Aufbruch fühlte Ulrike, von banger Last befreit …

Ein paar Stunden später, als Baron Egloff noch schlief, ließ sich der Schloßkastellan melden. Ulrike empfing den ihr wohlbekannten Mann. Er legte einen Finger auf die Lippen und flüsterte:

»Der Kaiser ist fort. »Ce maudit château« hat er gesagt, und daß er nie wieder hier übernachten wolle.

In den Augen des Kastellans war ein listiges Flimmern. Er trat Ulrike näher: »Sagen Sie es dem Herrn Papa, niemand als er darf es wissen. Niemand als er und die gnädige Baronesse.« Der Kastellan verzog den Mund zu einem breiten Lachen: »Diese Nacht war ich die Weiße Frau – und ich habe den Napoleon aus seinem Bett geworfen. Sagen Sie es dem Herrn Baron: so beginnt der russische Feldzug.«

Die Tat des Kastellans blieb nicht lange ein Geheimnis. In den hohenzollerntreuen Häusern der Stadt lief sie von Mund zu Mund. Der abergläubische Bonaparte hatte sich vor einigen weißen Leintüchern, mit denen sich der Schloßhüter drapierte, gefürchtet. Das war in allem Unglück über die neue Kriegslage ein Spaß. Jetzt ging der Mai in den Frühsommer über – aber bis Napoleon in Rußland kämpfte, fielen wohl die Flocken vom Himmel.

Jean Paul scherzte: »Als der Danebrog vom Himmel fiel, erbaute man an der Stelle die Stadt Riga. Als die ersten Schneeflocken fielen, fand in Löbichau das Fest der Herzogin Dorothea statt, und unser Balte Theodor von Lieven erhielt die Schneerose der Freundschaft. Wenn aber der Himmel über das Zarenreich seine weißen Tücher ausstreut, wird Bonaparte sie wohl mehr zu fürchten haben als die Bettlaken des Bayreuther Schloßkastellans.«

Doch es kam der Tag, da Jean Paul all seinen Humor und auch all seine gewohnte Morgenarbeit nebst dem Federkiel und dem alten Schlafrock zur Seite legte. In eiligem Entschluß rüstete er sich, einen Besuch zu machen. Und das war für ihn eine Tat. Ein Beamter oder ein Offizier, der an einen neuen Wirkungsplatz versetzt wird, macht hundert oder mehr Besuche, redet überall das gleiche, erfüllt einen herkömmlichen Dienst; denn die Konvention ist ihm eingeboren und anerzogen. Ein Dichter aber muß sich aus einer Welt von Gedanken lösen, wenn er sich zu einem »Auftreten« anschickt.

Für Jean Paul war es wie Verkleidung, wenn er einen Besuchsanzug tragen mußte. Ein Romankapitel zu schreiben, bedeutete ihm Kinderspiel gegen die Nötigung, den ungewohnten Rock, ungewohnte Schuhe und Handschuhe zu tragen. Von der Überzeugung überflutet, eine höchst auffällige oder lächerliche Erscheinung zu sein, schien es ihm wie ein Überschreiten des Rubikons, so in feierlicher Gewandung über die Straßen zu gehen.

Er wußte sich außerdem unwillkommen in dem Haus, das er doch aufsuchen wollte. Seit Äonen, dachte er, nein, nein, das Wort ist von Herrn von Goethe, also seit meiner armseligen Jugend habe ich kein Haus mehr betreten müssen, wo ich unwillkommen war. »Aber ich gehe, meine gute Line, ich gehe«, sagte er zu seiner Frau.

Die besorgte Gattin bürstete noch an ihm herum, reichte ihm den Hut und sagte:

»Ich weiß, welches Opfer du bringst.«

»Und wenn ich unterliege?«

»So ist dein Opfer nicht kleiner, Liebster.«

Jean Paul wanderte, voll von äußerem Unbehagen und innerem Aufruhr, in die Wohnung des Barons von Egloff. Denn es war am frühen Morgen mit Extrapost eine Nachricht von dem Premierleutnant Hügel gekommen: er hatte Befehl, jetzt im Sommer 1812 mit seinem Regiment zu der Großen Armee des Kaisers der Franzosen zum Feldzug gegen Rußland zu stoßen.

Jean Paul war über die Weltlage unterrichtet. Im Februar hatte Napoleon den König von Preußen zu einem friedlichen Abkommen gezwungen. Auf französische Drohungen hin mußten die preußischen Rüstungen teilweise eingestellt werden. König Friedrich Wilhelm war gezwungen, den zusammengewürfelten französischen Truppen den Durchzug zu gestatten, wenn er die Monarchie nicht verloren geben wollte. In Berlin sammelten sich französische Regimenter. Friedrich Wilhelm und der Zar blieben Freunde, trotz der bitteren Lage. Der Freiherr vom Stein und Scharnhorst berieten den Zaren. Preußische Regimenter mußten an die russische Grenze vorgeschoben werden. Es handelte sich um ein verzweiflungsvolles Spiel mit der Hoffnung, die Preußen würden Chance erhalten, sich auf russische Seite zu schlagen.

Dies hatte Ulrike dem Dichter Jean Paul mitgeteilt: Alexander von Egloff war kurz zu Hause gewesen und stand nun bei den Truppen des Generals Yorck, beseelt von der Hoffnung, daß, was der König nicht vermochte, die Armee schaffen würde: den Bruch mit den Folgen des Friedens von Tilsit.

Der arme Heinrich Hügel aber war ein Offizier des Bayernkönigs, des getreuesten Vasallen Napoleons. Der Wittelsbacher beschönigte seine antideutsche Haltung mit dem Nachweis gefälliger »Historiker«, daß die Bayern oder Bojer keltischer Abstammung seien.

Je mehr Jean Paul sich dem Egloffschen Hause näherte, desto schwieriger schien ihm seine Mission: er sollte die Bitte Heinrich Hügels übermitteln, daß auf seinem Wege, der über Hof oder Bamberg führen würde, seine Trauung mit Ulrike stattfinden dürfe.

Jean Paul fand Baron Egloff beim Siegeln eines Briefes in amtlichem Format. Es roch nach Wachs und Lack im Räume. »Was verschafft mir die Ehre, Herr Legationsrat Richter?«

Jean Paul sog den Duft von Wachs und Lack ein und fand so den Anschluß: »Ja, Brief und Siegel, Herr Baron, sind sozusagen die Stützen zivilisierten Lebens. Man braucht Brief und Siegel zum Studium, zur Anstellung, zu Erbe und Kauf. Und auch die Liebe, die Morgenröte unseres Lebens, braucht Brief und Siegel, wenn sie aus den Schleiern ihres Geheimnisses heraustreten will zur Gründung einer Familie –«

Baron Egloff unterbrach: »Ich habe, wenn Sie es denn wissen wollen, soeben das Siegel auf mein Abschiedsgesuch gedrückt. Bayerische Regimenter ziehen mit Napoleon in den Krieg. Ich will kein bayerischer Beamter mehr sein.«

Welch ein Anfang! Jean Paul erblaßte und wünschte sich weit fort. Dennoch fand er geläufige Worte, dem Dienstaustritt des Oberjägermeisters auch die schöne Seite abzugewinnen: Zeit und Freiheit wären dem rüstigen Manne nun geschenkt.

Dem alten Freiherrn kam ein Lächeln: »Sie haben recht, ich kann nun mit meiner Tochter nach Berlin reisen und hören, wie die Dinge dort weiter laufen.«

Ja, gewiß. Reisen, Reisen. Die liebe Baronesse aber, nun, vor ihr stünde eine ganz besondere Reise.

Die Gegenrede erfolgte rasch. So, eine besondere Reise? Und davon wisse der Vater nichts, aber der Herr Legationsrat kenne den Plan? Sonderbare Welt!

Jean Paul überkam Rührung. »Sie haben mir einmal gesagt, Baron Egloff, daß Sie meinen »Titan« gelesen haben. In diesem Buch ist eine Gestalt, die ich nicht anders betrachte als ein gütiges Geschenk, das mir der Himmel zuwarf. Ich bin glücklich, daß ich dieses Wesen, diese seltsame Jungfrau Liane gestalten durfte. Der Glaube meiner Jugend liegt in ihrem Sein. Wenn ich dies ausspreche, so werden Sie es nicht als unbescheiden nehmen, daß ich bekenne, beim Anblick Ihrer Tochter, Herr Baron, ist mir oft, als sei Liane wieder unter den Menschen, als ein ›Lächeln Gottes‹.«

Der Baron geriet bei diesen Worten etwas in Verwirrung, wußte nicht recht, was er erwidern sollte. Plötzlich aber erhob er sich, riß einen Fensterflügel auf, schöpfte einen Augenblick lang Luft und wandte sich zu Jean Paul zurück:

»Jetzt verstehe ich, was Ihr wertgeschätzter Besuch bedeutet. Sie haben nicht nur die Geschichte eines Armenanwaltes geschrieben, Sie treten auch in eigener Person als solcher auf. Sie haben sich sogar angezogen wie ein Hochzeitslader. Nur den Rosmarinstengel vergaßen Sie, und das mit Recht! Nun, der Herr Gärtnerssohn Hügel hat selbst die Güte gehabt, an mich zu schreiben –«

Baron Egloff riß eine Schreibtischlade auf und warf einen zerknitterten Brief auf den Tisch. »Meine Tochter soll einen Menschen heiraten, der auszieht, um unter ›keltischen‹ Fahnen gegen den Zaren zu kämpfen?« Die Stimme des alten Herrn steigerte sich in Erregung. »Kaiser Alexander ist die Hoffnung dieser Zeit. Wenn ein Mann sagen darf, daß sein Herz in heißer Bewunderung für einen anderen erglüht, so nenne ich für mich den Namen des teuren Zaren.«

Dem bedrängten Dichter ward das Geschenk eines Einfalls: »Gut, Herr Baron, sehr gut! Doch Ihr geliebter Zar hat sehr lange gegenüber seinem Freunde Friedrich Wilhelm gezögert. Wissen wir in diesem Augenblick, was Preußen mit seiner Duldung vorbereitet? Auch Preußen muß Napoleon Regimenter zur Verfügung stellen –«

Baron Egloff unterbrach: »Wenn zwei dasselbe tun, ist's nicht das gleiche. Der Bayernkönig legt sich Bonaparte zu Füßen, der König von Preußen aber weiß seine Getreuesten, den Freiherrn vom Stein und Scharnhorst, in der Nähe des Zaren.«

Jean Paul fragte: »Und was bindet den Leutnant Hügel an einen erzwungenen Eid, wenn er russischen Boden betreten hat?«

Ulrikes Vater sah mit einem gewissen Interesse auf, doch seine Antwort lautete, Jean Paul verwechsle den kleinen Leutnant mit einem mächtigen Heerführer. »Die Soldaten, die nach Rußland ziehen, werden untergehen.«

Jean Paul sprang auf. »So lassen Sie denn Ihre Tochter einen Gatten beweinen, nicht aber ein Leben ohne Erfüllung.«

Baron Egloff wurde hitzig. »Meine Tochter wird ihr Leben an der Seite eines einfachen Edelmannes im einfachen Pflichtkreis einer Landedelfrau nicht zu beweinen haben. Mein Herr Legationsrat, ehe durch Rousseaus ›Neue Heloise‹ die romantische Liebe Mode wurde, und auch nachdem ›Die Leiden des jungen Werther‹ und der ›Titan‹ geschrieben waren, gab und gibt es die schlichte, pflichttreue Ehe im Sinne von Geburt, Herkommen und Tradition. Meine Tochter heiratet weder einen Gärtnerssohn noch einen Rheinbundoffizier.«

In Jean Pauls Augen standen plötzlich Tränen. Er genierte sich sehr, denn ach, er hatte das feine Taschentuch vergessen, das ihm die Gattin so fürsorglich zurechtgelegt hatte. So wischte er sich wie einst als armer Junge mit dem Handrücken über die Augen.

Das hatte eine seltsame Wirkung. Was alle Worte des Dichters nicht vermocht hatten, bewirkte die hilflose Gebärde. Der Oberjägermeister sagte sich: dieser Mann da wurde von der Königin Luise gefeiert, von vielen klugen Menschen hochgeehrt, seine Werke verschlingt das Publikum – und er steht da vor mir und weint um das Geschick meiner Tochter? Seine Hand, die so viel geschrieben hat und so schön musiziert, hebt sich und wischt Tränen ab?

Baron Egloff ergriff diese Hand.

»Sie ließen sich diesen Weg etwas kosten, Sie der Dichter Jean Paul. Da will ich nicht als ein Geiziger vor Ihnen stehen. Wenn der junge Mensch, dessen Fürsprecher Sie sind, einmal etwas für Deutschland getan hat, soll er sich bei mir melden. Schreiben Sie ihm das. Ich verreise nächster Tage mit meiner Tochter –«

Der Legationsrat Richter sprach kein Wort mehr. Er verbeugte sich und ging. – –

*

Ulrike von Egloff gewann, ohne daß sie das Schicksal zu einer großen Handlung aufrief, jene mutige Seele, der sich die Verzweiflung nicht nähern darf. Ihr Werk an sich selbst war, den Alltag zu erdulden, ohne ihm hörig zu werden. Wenn der kleine Max Richter, Jean Pauls Söhnchen, ihr manchmal sagte: »Dein Soldat ist im Krieg«, so war es ihr, als wollte der Junge ihr zurufen: Du kannst stolz sein!

Jean Paul ließ all seine Beziehungen spielen, um die napoleonischen »Bulletins der Großen Armee« früher zu erhalten, als sie von München aus in die etwas abseitige Stadt Bayreuth kamen. Ulrike wußte, daß aus diesen Mitteilungen für die Welt nicht die Stimme der Wahrheit drang. Auf einen Brief des Verlobten zu warten, wäre eine irre Hoffnung gewesen. Sie hatte den Freund ihrer Jugend dem Schutze des allmächtigen Gottes übergeben.

In Ulrike ging langsam, fast unmerklich, eine weitgreifende innere Wandlung vor. All das Bangen, all der Druck der Zeit ließen ein Neues in ihr erwachen: den Drang, für das Vaterland zu wirken. Man durfte in dieser Atempause vor der ungeheuren Schicksalsentscheidung nicht mehr als wohlbehütete Tochter dahinleben und in der Abgeschlossenheit seine eigenen Gedanken und Stimmungen pflegen. Auch eine kleine Betätigung war wichtig geworden.

Bisher hatte Ulrike schlicht nur an die engste Heimat, an Vaterland, Verwandte, Freunde und Wohltätigkeit gedacht. Jetzt begann sie zu verstehen, wie sehr der Einzelne mit dem Allgemeinschicksal zusammenhängt.

Die großen Liebenden und die großen Opfernden, jene kostbaren Zeugen menschlicher Güte und Herzenskraft, mahnten als Vorbilder. Auch unerreichbare Idealgestalten rufen zur Nachfolge.

In ihrer Betrübnis und Angst um Heinrich Hügel wußte Ulrike: jede Leidenszeit hat den tiefen Sinn der Läuterung. Überall leben Deutsche in Gewissensbedrängnis, in Sehnsucht nach der Befreiung. Kann man nicht den Erreichbaren durch Wort und Austausch das Gefühl der Verbundenheit bringen? Wäre Heinrich hier, wie würde er die Menschen befeuern. Ich muß in meinem kleinen Ausmaß versuchen, was Heinrich tun würde, beschloß Ulrike. Doch diese selbstgesetzte Aufgabe war bei der Begrenztheit ihrer Lage nicht leicht zu erfüllen. Ulrike hatte keinen festen Kreis mehr in der Stadt. Es lebten nun so viele altbayrische Beamte in Bayreuth, und sie priesen in allen Tönen das Genie des Kaisers Napoleon. Der fränkische Adel hatte sich auf seine Güter zurückgezogen. In den Bürgerhäusern herrschte Angst, sich mitzuteilen, und es gelangen keine Anknüpfungen.

So beredete Ulrike den Vater, doch wieder seinen alten Bezirk zu besuchen, die Förstereien, Dörfer und Mühlen im Fichtelgebirge. Man konnte dort Bestellungen machen, sich umhören, eine Fühlungnahme herbeiführen. Es war Ulrike immer leichter gewesen, sich mit dem einfachen Volk zu verständigen, als bei Kleinbürgerfrauen hinter der zur Schau getragenen Respektabilität bis zu unbefangenen Äußerungen vorzudringen.

Der Oberjägermeister nahm Ulrikes Vorschlag zu einer kleinen Reise durchs Fichtelgebirge freundlich auf. Er selbst sehnte sich nach den Wäldern und nach Gesichtern, die keine Maske trugen, sondern ehrlich zeigten, was man dachte und hoffte.

So wurde die Fahrt angetreten, und mit Genugtuung bemerkte Ulrikes Vater: in jedem Haus, das er betrat, bedeutete sein Kommen Freude. Die einstigen Untergebenen schienen auf Aussprache, Mitteilung und Weisung gewartet zu haben. Ulrike aber hatte neue Kraft bekommen, sich Menschen zu nähern. Sie spürte, ohne daß besondere oder einprägsame Äußerungen fielen: hier lebten nicht mehr endlos Geduldige, die alles hinnahmen, wie es kam, sondern eine unruhige Sehnsucht war aufgebrochen. Ulrike fand manch eindringliches Wort, den Glauben an die kommende Befreiung zu verstärken.

In einer Mühlenwirtschaft, die durch ihre Forellengerichte berühmt war, fragte die Frau plötzlich nach dem Baron Alexander. Auf freundlichen Bescheid hin flüsterte sie, ihr Ältester ginge auch mit, wenn der Napoleon wieder ins Land käme. Sie habe schon vorgesorgt und sich mit zwei alten Männern verabredet, die das Mühlenwerk im Gang halten würden, wenn der Sohn in den Krieg zöge.

Vor dieser werktätigen Voraussicht wurde Ulrike fast kleinlaut: sie selbst hatte ihre innere Bereitschaft für alles Schicksal so langsam errungen. Von der einfachen Frau aber waren die Maßnahmen zum Handeln getroffen.

»Mein Sohn ist schon bei einem Regiment in Schlesien angemeldet«, erzählte die Wirtin mit leiser Stimme und verhaltenem Stolz …

*

Der Sommer war längst dahin, die letzten Herbstveilchen hatten ihren Duft verströmt und die Äquinoktien ihre wilde Musik gebracht, Weihnachten und der Jahreswechsel mit ihren Festen waren überstanden. Da überstürzten sich die ungeheuerlichsten Nachrichten, drangen auch in die still gewordene Stadt Bayreuth. Sie kamen über Dänemark herein und erreichten erst spät das innere Deutschland.

Altrussischer Fanatismus hatte das »heilige« Moskau in Brand gesteckt, als ein Flammenzeichen des Hasses gegen den französischen Feind, als einen Feuerabgrund des Verderbens. Napoleon und seine Truppen mußten die verödete Stadt verlassen und in wirrer Flucht das auf dem Hinweg bis zum letzten Halm ausgeplünderte Land durchziehen, das nun eine Schneewüste war.

Grauen und Entsetzen überfiel Ulrike, während ihr Vater voll Genugtuung den »Moniteur« mit dem neunundzwanzigsten Bulletin zu seinen Freunden trug. Er enthielt die Nachricht, die Große Armee sei vernichtet, aber die Gesundheit des Kaisers nie besser gewesen. Er befand sich schon auf französischem Boden. Genauere Nachrichten über seine gespensterhaft wirkende, rasende Fahrt durch Deutschland, brachten erst Reisende, dann auch vereinzelte abgerissene Soldaten, die sich halb erfroren, halb verhungert in wildem Lebenstrieb nach Deutschland durchgeschlagen hatten und um Obdach bettelten. Ein aus Nürnberg stammender bayerischer Offizier war mit seinem Bedienten nach Bayreuth versprengt worden und hatte Quartier beim Schloßkastellan bekommen, bei jenem Manne, der Napoleon durch eine Vortäuschung der »Weißen Frau« erschreckt und vertrieben hatte.

Es war selbstverständlich, daß in der Egloffschen Küche für den Erschöpften gesorgt wurde und Baron Egloff zu ihm eilte, um Näheres zu erfahren.

So drangen dann auch zu Ulrike die Erzählungen von der grauenvollen Flucht über die Beresina, da man über Ertrunkene und Erfrorene hinwegritt, von Kosakenschwärmen und zur Raserei aufgestachelten Bauern verfolgt. Sie hatten in den Wäldern und den unermeßlichen Schneewüsten die fliehenden Soldaten wie böse Tiere niedergeschlagen. »Alles Elend, das Sterbliche heimsuchen kann, brach über die Unseligen herein, die das Reich Zar Alexanders vernichten wollten«, erzählte schonungslos der Vater seiner armen Tochter. Und er malte aus, es sei gewesen, als ob die Reiter der Apokalypse über die Schneefelder dahinrasten. Als jammernde Elendsgestalten, halb blind und taub vor Kälte, in abenteuerlicher Vermummung oder in schmutzige Fetzen notdürftig gekleidet, so flüchteten die »Helden« der Großen Armee zurück.

»Mit Roß und Mann und Wagen
Hat sie der Herr geschlagen.«

Eine dämonische Freude über den Sieg des Zaren hatte Baron Egloff erfaßt. Er kannte kein anderes Gesprächsthema mehr, als das über Napoleon hereingebrochene Gottesgericht.

Eines Spätnachmittags reichte der Vater Ulrike einen Brief seines Sohnes. Mit Augen, die übermüdet von Tränen waren, las sie, daß Alexander das Glück erlebt hatte, im Gefolge des alten verehrten Generals Yorck zu sein, als dieser am 30. Dezember 1812 in der Poscheruner Mühle bei Tauroggen, einem Flecken in dem russischen Gouvernement Kowno, mit russischen Unterhändlern zusammentraf. Es waren geborene Preußen, Diebitsch, Dohna und Karl von Clausewitz. Sie unterzeichneten eine Konvention, kraft deren das Yorcksche Korps die Gegend zwischen Memel und Tilsit besetzte, um dort die Befehle Friedrich Wilhelms zu erwarten. Der alte General hatte eigenmächtig gehandelt und für seinen König das Wort gegeben. Das konnte ihm den Kopf kosten; aber Yorck stand die Ehre höher als der Gehorsam. Er hatte an den König geschrieben: »Jetzt oder nie ist der Moment, Freiheit, Unabhängigkeit und Größe wieder zu erlangen. In dem Entschluß Eurer Majestät liegt das Schicksal der Welt.«

Vater Egloff sah auf seine sehr schmal gewordene Tochter. Erfühlte wohl, daß er kaum Jubel von ihr erwarten durfte. Sie stand allein. Der Mann ihrer »törichten« Jugendliebe lag wohl längst in den Schneewüsten Rußlands begraben. Baron Egloff wollte ein gutes Wort sagen. Doch er fand es nicht. Sie waren einander fremd geworden.

»Ich begleite dich zu deinen Jean Pauls«, hob er endlich an. »Du kannst ihnen den Brief zeigen. Du darfst es ihnen sagen: unser Alexander war dabei, als der Yorck den ersten Schritt zum Bündnis zwischen Preußen und Rußland getan hat.«

*

Der Februar verging in Kälte, Schnee und Nässe. Man wartete. Der König war nach Schlesien gereist. Auf dieser, von Friedrich dem Großen siegreich zurückerkämpften deutschen Erde würde sich die Armee sammeln. Man wußte Gneisenau und Scharnhorst um den König, und Friedrich Wilhelms Aufruf »An mein Volk« erreichte an Jean Pauls Geburtstag, dem 21. März, die alte Markgrafenstadt Bayreuth.

An diesem Geburtstagsmorgen schickte Jean Paul seine kleine Tochter Emma in frühester Stunde zu Ulrike. Sie war noch nicht angekleidet. Emma Richter wurde in das Schlafzimmer eingelassen, und während ihre bewundernden Blicke an einem großen Rokokospiegel hingen, rief sie: »Der Vater ist voller Ungeduld, daß du kommst, Tante Ulrike. Er hat einen guten Brief für dich, hat er gesagt und über das ganze Gesicht so gelacht.« Und die Tochter des Dichters blies ihre schmalen Wangen auf und schüttelte sich in den Schultern, um das Lachen ihres Vaters recht bildhaft zu machen.

Heinrich Hügels Brief an Ulrike lag auf den Tasten von Jean Pauls Tafelklavier. Allein im Räume gelassen, las Ulrike Heinrichs zärtliche Worte, seine Bitte um baldige Heirat. Nach einer schicklichen Zeit trat Jean Paul mit seiner Frau wieder ein. Sie umarmten Ulrike, strömten ihre Herzlichkeit aus, und Jean Paul, der doch bei aller Rührung nie seinen Witz unterdrücken konnte, rief: »Ich habe es ja immer gesagt, der Heinrich Hügel gehört nicht zu den absurden Leuten, die als Akzessisten sterben. Also, wir werden ihn wiedersehen, und zwar bald.« Jean Paul las vor, was Heinrich Hügel an ihn schrieb:

 

»Ich lag in Rußland verwundet. Zu Minsk nahm mich ein alter Apotheker auf, der einst in Baden-Baden in Stellung war. In Minsk gab mir auch mein Oberst, der die Flucht fortsetzen konnte, den Abschied, wohl in dem freundlichen Gedanken, ich hätte es leichter für meine letzten Tage, wenn ich kein Soldat mehr wäre. Ich will nicht berichten, wie lange ich um mein Leben rang, sondern nur sagen, zum zweitenmal haben mich gute Menschen von dem Übergang in das Land, aus des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt, zurückgerissen.

Vorgestern bin ich in Breslau angekommen, genesen und fast im Vollbesitz neuer Kräfte. Ich sah Unbeschreibliches: sah Scharnhorst neben dem König an einem Fenster, ihm die jubelnden Scharen von Freiwilligen zeigend, die sich zu Fuß, zu Roß und Wagen an den Giebelhäusern des Rings vorüberdrängten. Der König weinte. Über zweihunderttausend Mann sind schon zu den Fahnen gekommen. Ich ließ mich bei Gneisenau melden und bin wieder in die preußische Armee eingegliedert, und zwar mit meinem Rang als Premierleutnant. Zur Regelung meiner privaten Angelegenheiten wurde mir ein Urlaub vom ersten bis fünfzehnten Mai bewilligt. Ich brauche sechs Tage nach Benk bei Bayreuth, sechs Tage zurück. Am 7. Mai wird mich, so weiß ich, mein Vetter, der Pfarrer, ohne alle Umstände mit meiner geliebten Ulrike trauen. Ihr Vater darf nicht mehr gefragt werden. Es geht von der Hochzeit aus zum drittenmal in den Krieg. Was der Krieg mir bringt, weiß ich nicht. Aber das eine weiß ich, Ulrike soll als meine Gattin an mich denken.

Verehrtester Herr und Freund, ich bitte Sie und Ihre hochgeschätzte Gattin um Ihren Beistand für meine Verlobte. Sie decken nicht eine häßliche Heimlichkeit, sondern Sie helfen zwei Menschen, die härteste Prüfungen durchschritten haben, zu ihrem Lebensrecht. Ich weiß es in meinem Herzen, daß ich keine Fehlbitte tue, und grüße Sie in Ergebenheit und Respekt als Ihr gehorsamer

Heinrich Hügel
Königlich preußischer Premierleutnant.

PS. Einmal in seinem Leben soll unser verehrter Dichter mit seiner Gattin einen Ausflug in unser heimatliches Gebirge machen. Von der Rollwenzelei wird Sie ein Wagen abholen.«

 

Frau Legationsrat Richter sah Ulrike lange an, und dann blickte sie auf die Uhr. Wenn jetzt die liebe Baronesse etwas in den Hofgarten ginge, so braucht sie sich nicht vor dem Vater zu zeigen. Fuhr dann um elf bei dem Freiherrn von Egloff ein Wagen vor, und Jean Pauls baten die Baronesse zu einer Tagesfahrt nach der Eremitage, so würde die Erlaubnis gewiß gegeben, und draußen in der Natur würde Ulrike von Egloff alle Gefühlsstürme, die jetzt über sie hereingebrochen waren, soweit beruhigen, daß sie am Abend wieder in der notwendigen Gelassenheit mit ihrem Vater von seinen politischen Ansichten plaudern könnte.

»Unsere Emma geht mit Ihnen in den Hofgarten, liebste Baronesse.«

Die kleine Emma wurde gerufen und war beglückt von der Aussicht, mit der Tante abwandern zu dürfen. Was ihre freudig erregten Eltern nicht bedacht hatten, sprach der Kindermund aus: »Erst muß aber Tante Ulrike einen Kaffee mit Geburtstagskuchen bekommen. Sie hat ja heut noch gar nicht gefrühstückt.« –

*

Der April führte seine Schelmenstücke aus, ließ Anemonen, Veilchen und kleine Tulpen erblühen, um sie dann wieder mit kühlen Schneeflocken zu bewerfen. Am sonnigen Tag rannten die Amseln über frisch aufgeworfene Gartenerde und grünenden Rasen, am nächsten Morgen kamen sie wieder an die Fenster mildtätiger Menschen und haschten dort im Fluge das hingestreute Futter. Vor dünnem Himmelsblau standen die Birken als lichte Boten, ein sanfter Wind ließ ihre Zweige wie Schleier wehen. Aurikeln wagten in königlicher Purpurfarbe sich ans Licht. Die »Samtveilchen«, wie Jean Paul aus seiner Thüringer Zeit noch die Stiefmütterchen nannte, blühten in den Vorgärten. Der April gab sich, wie es immer seine Art ist, kräftig und mild: war heute ein Sonnentag, so daß man meinte, im weißen Kleid oder im Lüsterröckchen wandeln zu müssen und alle Mäntel und Mützen auf lange Zeit verbannen zu können, so ließ der April in der nächsten Nacht wieder die Dachreiter und die Fensterläden musizieren, als wäre ein Faschingsspektakel. Aber man lachte nur noch über diese stürmischen Versuche.

Ulrike lief durch den Hofgarten. Die Türen eines Gewächshauses standen offen, die Gärtnerburschen hantierten mit den grünen Kübeln, in denen Lorbeer- und Orangenbäume standen. Man trug sie auf Stunden an die Luft, an die Sonne. Als sie aus der Hörweite der Arbeiter war, sang Ulrike. Sie sang leise in aufquellender Glückseligkeit:

»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht –
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!«

Über das Land zitterte Erwartung. Neu und herrlicher kam das Leben wieder herauf. Noch war soviel Raum in der Landschaft, noch kein Blätterschwall, keine Fülle der Felder: einzugbereit öffnete die Welt sich dem Frühling. Aufbruch überall!

Ulrikes Vater ging in Unruhe. Er sehnte sich nach seinen Dienstfahrten ins Fichtelgebirge. Der Schnepfenstrich war vorbei. Der pensionierte Beamte hatte sich nicht von seinem Nachfolger einladen lassen. Er mochte nicht in den Forsthäusern hören, daß er nun der alte Oberjägermeister sei. Lieber fuhr er nach Giech. Ob Ulrike Lust hätte, mitzukommen?

Sie antwortete, mühsam ihre Freude unterdrückend, daß Jean Pauls sie zu einem Maiausflug eingeladen hätten.

»Du kannst auch wieder einmal an Theodor von Lieven schreiben«, mahnte der Vater. Ja, das wollte sie gerne tun. Lieven befand sich wieder in Kurland auf einem Familiengut, nachdem er leider erfahren hatte, daß die Bergarbeiter in Wales für seine Pläne und Absichten keine Eignung besaßen. In Kurland hingegen fand er offenere Gemüter und liebenswürdigere Wesen, als die unerweckbaren Frauen in Wales oder die frivolen Damen in London. Theodor wird bald einmal seine Verlobung berichten, fühlte Ulrike. Es war doch ein freundlicher Gedanke, ihn zu kennen. Er lebte leichter als ihr Bruder. Nie mehr hatte Alexander von Maruschka gesprochen, und Ulrike wußte doch, er konnte sie nicht vergessen. Alexander gehörte wohl zu jenen Männern, die über eine verlorene Jugendliebe nicht ganz hinwegkommen und erst in den reifen Jahren den Entschluß fassen, ohne Leidenschaft an die Gründung einer Familie zu gehen.

Sie würde jetzt in wenig Tagen eine Soldatenfrau sein. Es brauchte kein Prachtgewand zu der Hochzeit in der kleinen Dorfkirche. Ein weißes Seidenkleid hing im Schrank, das sie ein paarmal in Alexandersbad getragen hatte, ehe Heinrich nach München mußte. Sie hatte es nie mehr angelegt, sondern zärtlich behütet; es war weder vergilbt noch zerknittert. Es hatte den Schnitt, den die Königin Luise bevorzugte. Es müßte nicht geändert, nur ein wenig verengert werden. Ein Schleier? Jean Pauls Frau hatte gebeten, ihn schenken zu dürfen –

Als Urkunde über ihr Dasein besaß Ulrike den Konfirmationsschein. Er war schon an den Pfarrer von Benk gesandt. Und die Wohnung war geordnet. Bärbel, die Jungfer, durfte ein paar Tage aufs Land, wo sie etwas fürs Herz hatte. Der alte Hauswart und die Köchin gedachten, eine Frühlingstöberei zu veranstalten, wenn die Baronesse »ein Reislein« machte. In der Stadt war viel Veränderung, neue Bekannte standen nicht nahe genug, um eine kleine Abwesenheit als auffällig zu bemerken.

Ulrike hatte nichts mehr zu tun. Ihr Reisegepäck war von ihr selbst geordnet. Sie ging durch die Räume, grüßte alle Dinge und wußte, sie kam als eine andere wieder.

›Ich fliehe aus meinem Vaterhaus. Ohne Geleit, ohne einen guten Wunsch gehe ich heimlich fort. Und wenn ich wiederkomme, muß ich immer weiter die sanfte Tochter sein und den Namen, den ich fürs Leben trage, verbergen, bis Heinrich es anders will.‹

Aber sie fühlte keine Wehmut, keine Furcht, keinen Selbstvorwurf. In ihrem Herzen schwang Triumph – –

*

Die Fahrt ging rasch. Und dann sah Ulrike Heinrich Hügels hellblondes Haar, sah den blauen Blick der geliebten Augen, in denen Stolz und Zärtlichkeit flammten. Sein kühnes Gesicht beugte sich über sie, sie hörte sein frohes Lachen. Die bebende Lust an seinem Anblick, seiner Nähe, überflutete sie wie eine warme Welle.

Sie blieben allein miteinander im Grasgarten unter blühenden Apfelbäumen. Alles Entbehren war vergessen vor dem Wissen: er lebt, wir leben –

Jean Pauls Gattin machte Ulrikes Kammerjungfer. Eine Bauersfrau schenkte die Blüten ihres Myrtenstockes her. Der weiße Schleier rieselte über Ulrikes Haar. Der Dorfbürgermeister, ein Mitkämpfer von 1806, und ein Schäfer, der von weiten Fahrten kam, alte Bekannte Heinrich Hügels, waren seine Trauzeugen. Für Ulrike standen Jean Pauls ein. Die Pfarrerskinder streuten Himmelsschlüssel auf den Weg. Zum Getön der alten Orgel sang die Pfarrfrau das Hochzeitslied des Grafen Zinzendorf, als der kleine Brautzug die Kirche betrat. Ulrike trug Apfelblüten in der Hand, die nun auf Heinrich Hügels Arm lag, auf dem blauen Rock der preußischen Infanterie.

Es war eine alte kleine Kirche mit manchen Neuerungen, hinter denen man die vom Zeitgeschmack verborgene Schönheit ahnen konnte. In der Hochzeitsrede, die der Pfarrer kurz machte, klang es plötzlich wie ein Fanfarenruf: »Flieg', roter Adler Brandenburgs.«

Heinrich Hügels hohe Gestalt straffte sich, und Ulrike fühlte, wie ihr das Herz entbrannte in Stolz und Zuversicht.

Der Schäfer brauchte sehr lange, bis er seinen Namen »Georg Wilhelm Dietzfelbinger gebürtig aus Himmelkron« in das Kirchenbuch schrieb, und auch der Dichter hielt es für nötig, unter sein Jean Paul Friedrich Richter noch den Legationsrat und die genaue Wohnungsangabe einzuzeichnen. So hatte Ulrike Zeit, die stürmischen Schriftzüge von Heinrich Friedrich Wilhelm Karl August Hügel auf sich wirken zu lassen.

»Ich gratuliere auch vielmals, Frau Leutnant gnädige Frau«, sprach der Schäfer. Jean Paul bedachte seine Tischrede: ein alter Soldat, ein Schäfer, ein Dichter und seine Gattin sind die Zeugen dieses Bündnisses. Welche Beispiele und Vergleiche ergaben sich da? Welch ein Kranz der Erinnerung schloß sich? Ach, vielleicht waren auch die Egloffs dereinst Hirten gewesen auf ihrem Lande, ehe sie Edelleute und dann Freiherrn wurden.

Es gab ein frohes Gastmahl, und dann mußten die Dorfkinder mit Kaffee und Kuchen bewirtet werden. Man eilte immer wieder in die Kammer, um neue Kuchenberge zu holen. Jean Paul war sehr väterlich zu Heinrich Hügel. Unbesorgt solle der künftige Kriegsheld sein; wenn Ulrike Schutz oder Stille brauche, es war ihr alles hier in diesem guten Hause gesichert, und Rat und Beistand fand sie stets bei ihren Trauzeugen.

Heinrich und Ulrike fuhren gegen Abend ab. Als Sonne und Mond am Himmel standen und ihr Lichtschauspiel Verklärung über das Land warf, wechselten sie an einer Poststation den Wagen. In einem alten, schönen Mauthaus, ganz einsam am Wege, hatte Heinrich Hügel Quartier bestellt. Sie konnten zwei Nächte und einen ganzen, langen, goldenen Maitag bleiben. Sie fuhren durch Täler und über Waldhöhen; fuhren dahin im Dufte des jungen Laubes, sie sahen die rote Sonne versinken, sahen den Mond immer silberner werden, sahen, wie sich der blaudunkelnde Himmel der Nacht mit Sternen schmückte zu dem Wunder ihrer Vereinigung …

Frau Caroline Richter suchte am Hochzeitstage zu später Stunde ihren Gatten, fand ihn endlich am Rande des Dorfes im Grase sitzend und den Himmel betrachtend. Er hörte ihre Schritte nicht, sie aber hörte, wie er voll Andacht vor sich hin sprach. Es waren seine Lieblingsworte, die Shakespeare-Verse, die ihn einst so erschüttert hatten, als ein Leipziger Professor sie zitierte:

»We are such stuff, as dreams are made on
And our little life is rounded with a sleep.«

»Das sagst du heute – an diesem Tage?« fragte Caroline.

»Ich sage es immer, wenn ich sehr glücklich bin, wenn Traum und Leben so schön zusammenfließen«, antwortete der Wunderliche.


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