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XV.
Ein verhängnisvoller Gast

Heinrich Hügel ging jeden Nachmittag ein großes Stück die Landstraße entlang. Sein Bote war nun so lange fort, daß man die Rückkehr erwarten durfte. Major von Lastrow sah dem Gast die Unruhe an und packte ihm tüchtig Schreibereien auf, weil Arbeit die Tage kürzt.

Der alte Herr kam oft auf Küstrin zu sprechen und wünschte, Heinrich Hügel möge von der Haft dort erzählen. Er belohnte dann diese Mitteilungen, indem er eifrig politisierte. So erhielt Heinrich Hügel ein Bild der verworrenen Gegenwart. Die Patrioten im Lande taten Kleinarbeit, bei der nicht Mut, sondern Vorsicht die erste Pflicht war. Zwar bestand schon seit zwei Jahren die Militärorganisationskommission, die von Scharnhorst, Gneisenau, Grolmann und Boyen geleitet wurde und den Zweck hatte, das preußische Offizierkorps von allen unwürdigen Elementen zu befreien. Doch mußte aller Anschein vermieden werden, als könnte es sich um eine Kriegspartei handeln.

»Exerzieren, exerzieren, das erlaubt Napoleon uns Preußen noch«, rief der alte Major in sein Gutsbüro hinein. »Fichte und Schleiermacher halten Reden an die deutsche Nation, sie suchen die Liebe zum Vaterland neu zu erwecken. Auch hat man zu Königsberg soeben den »Tugendbund« gegründet, in dem sich alle Patrioten zusammenschließen. Doch man weiß, Kaiser Napoleon hat viele tausend Ohren in Deutschland. Und es gibt auch noch die französisch gesinnten Friedensfreunde in Preußen.«

Der Major stieß heftige Dampfwolken aus seiner Pfeife: »Die Köckeritz und Kalckreuth soll der Teufel holen, sie reden unserem königlichen Herrn immer wieder vor, mit dem Satan Bonaparte sei ein anständiges Abkommen zu treffen und warnen vor einer Verbindung mit Österreich. Ja, Leutnant Hügel, ich sehe es Ihnen an, Sie möchten hier davonlaufen und zu Ihrem Regiment stoßen. Na, klopfen Sie mir lieber die Pfeife aus und füllen Sie sie neu.«

Der Major fuhr fort: »Sie müssen erst ein wenig Schauspielkunst erlernen, ehe ich Sie ziehen lasse. Weiß der Himmel, Leutnant, wenn Sie aus sich herausgehen, klingt es gleich immer wie Schillersches Pathos. Und so sehr wir alle Schillers Unbedingtheit lieben, wir müssen nach außen hin zunächst lavieren. In Ihrer heutigen Verfassung kämen Sie keine Tagesreise weit, ohne einem französischen Spion in die Hände zu fallen. Der König mußte den Freiherrn vom Stein längst entlassen, der Adjutant von Prinz August, Clausewitz, der feine Kopf, wurde nach der Kapitulation von Prenzlau nach Nancy abgeführt.«

Die Stimme des Majors ging in ein Flüstern über. »Ich halte es mit dem Gneisenau, Leutnant. Gneisenau ist so klug als tapfer. Von zuverlässiger Seite her weiß ich, er läßt im Fichtelgebirge, das er von seiner Jugendgarnison Bayreuth her kennt, bei alten Freunden schon für den künftigen Befreiungskampf werben. Wenn Sie erst präsentabel für die Welt sind, Leutnant, werde ich Sie zu Gneisenau schicken.«

Heinrich Hügel war aufgesprungen. Schlank, blond, den eisblauen Blick auf den kleinen, alten Major gerichtet, stand er da und fragte: »Und wann bin ich präsentabel, Herr Major?«

Der Major lachte vor sich hin und antwortete, daß er so seine Pläne habe. Er selbst könne sich dem königlichen Herrn nicht mehr zur Verfügung stellen, denn der brauche junge Leute. Der Erbe dieses Rittergutes aber sei noch keine drei Jahre alt, und was die übrige Verwandtschaft betreffe, so sei diese schon an ihren richtigen Plätzen. Darum wolle der Major in dem Fisch, den man der Oder entrissen habe, dem König einen Offizier zurückgeben. An Geld und Mitteln würde ein von Lastrow zu diesem Zwecke nicht sparen.

Heinrich Hügel errötete. Es war nicht alles voll Takt an diesem Offizier aus dem Siebenjährigen Krieg, und es ist niemals leicht, ein bettelarmer Gast zu sein, der in geschenkten Kleidern geht.

Der Major spann seinen Plan aus. Wenn heute im »König von Portugal« oder sonst in einem guten Gasthof zu Berlin ein Vergnügungsreisender einträfe, à la mode gekleidet, mit gebrannten Locken, parfümierten Händen und einer süßlich gezierten Sprache in gebrochenem Deutsch, und sich als einen auswärtigen Edelmann ausgäbe, würde ihn keine Spionage belästigen. Die äußere Aufmachung könne man wohl beschaffen, die bestechenden Manieren eines Vergnügungsreisenden aber müsse sich Leutnant Hügel erst angewöhnen. Ja, und schon baldigst könne er in eine gute Schule kommen; denn die Gutsherrin, Frau von Lastrow, habe ein Billet erhalten, daß hier morgen eine weitgereiste Dame für einen nicht ganz kurz bemessenen Aufenthalt eintreffen würde.

»Sie wird Ihre Mätresse werden, nein, Leutnant – die Dame möge mir mein loses Witzwort verzeihen –, ich meine natürlich Ihre Gouvernante. Sie sind ein guter Kopf, es kann Ihnen nicht schwer werden, ein Dutzend fremder Phrasen zu erlernen, und meine Nichte wird das ihrige tun, Ihnen eine gewisse Lässigkeit des Benehmens zu vermitteln.«

Der Major klingelte, und ein Schneidermeister aus der nächsten Stadt trat ein. Er trug ein mit Stoff umwickeltes Paket, verbeugte sich vielmals und erfuhr, daß er die Ehre habe, bis zum Abend den fast fertigen Gesellschaftsanzug für den jungen Herrn zur letzten Eleganz zu bringen.

Der blaue Frack, unter dessen Knopfabschluß die Weste etwas hervorsah, kleidete Heinrich Hügel sehr gut. Es war ihm auch wohltätig, nach Jahren wieder neuen Stoff am Leibe zu haben. So sehr er den Plan des Majors verwarf und entschlossen war, auf eigene Faust zunächst in die Heimat zurückzugelangen, so fühlte er doch ein gewisses Behagen, als wohlgekleideter junger Mann zur Abendtafel zu gehen. In diesem Gewande war er auch glaubwürdiger der gelehrte Herr von Reinosch, welchen Namen man ihm nicht erließ.

Frau Charlotte von Lastrow lächelte ihm zu: »Wenn Sie erst noch gebrannte Locken haben und Ihre Eisblicke in wohlwollende verwandeln, wird kein Spion Sie mehr erkennen, Herr von Reinosch. Wir haben heute einen zweiten Bedienten angenommen, da ich einen verwöhnten Gast erwarte. Mein Oheim wünscht, daß wir diesen Abend schon uns so zueinander benehmen, als wären Sie soeben erst eingetroffen.«

Heinrich Hügel verbeugte sich lächelnd: »Es beginnt also meine Erziehung, gnädige Frau.«

Als man zu Tisch saß, ließ sie ihre anmutige Redegabe spielen. Sie erzählte von Schlössern und Gärten am Rhein und verweilte dabei lange in Koblenz und Schwetzingen. Dort waren die Volieren mit all den bunten Vögeln ihr Entzücken gewesen. Vögel: das ist Leichtigkeit, Farbe und Ferne. Mit den bunten Vögeln holt man sich die einsamen und kühnen Bewohner der arktischen Länder, oder die strahlende Buntheit südlicher Inseln in seine Nähe – dann Hausvögel, Sänger, und die seltsam instinktreichen Wandervögel, die aufrauschen, wenn ihre Zeit ist. Sie kennen besser als der Mensch den Augenblick des Entschlusses und des Aufbruchs.

Heinrich Hügel hörte stumm zu, sah einen Zug der Sehnsucht auf Frau von Lastrows Gesicht. Wünschte sie sich fort? Aber sie kam von den Vögeln rasch auf Sträucher und Blumen, mit denen man sich hier in der Markgrafschaft Schwedt begnügen mußte. Syringen, Jasmin, Schwertlilien seien alter Bestand. Doch fehle es diesem Landstrich vielfach an den Blumen der Wildnis. In schwärmerischem Ton pries Frau von Lastrow Königskerzen, Weidenröschen, Pulsatillen, Märzenbecher, Berganemonen, den Fingerhut, den Seidelbast, alles geschaut auf Fahrten durch Thüringen und den fränkischen Jura.

Heinrich Hügel staunte über so viele Kenntnisse. Endlich sah ihm Frau von Lastrow spöttisch ins Gesicht und sagte ungeduldig: »Merken Sie es denn durchaus nicht, daß ich Ihnen ein wenig den Hof mache? Ihr Stammbaum wurzelt doch in einem Garten, soviel ich weiß.«

Er raffte sich zusammen. Seine Gedanken irrten nach Worten von lässiger Höflichkeit. »Daß Ihr Stammbaum, gnädigste Frau, in den Kreuzzügen ruht, kann ich kaum erwidern. Denn schöne junge Damen repräsentieren stets das Heute. Doch ich bin Ihnen sehr verbunden, daß Sie mich gütigst an den Garten –«

Sie unterbrach ihn rasch: »… an den Garten von Schloß Reinosch erinnere. Ich habe ihn leider nie gesehen. Gibt es Lindenalleen dort?«

Heinrich Hügel antwortete frisch: »Die blühende Linde hat den Scharm, den Duft, die Milde der blonden Frau. Jedes Volk, das Frauen zu verehren weiß, pflanzt Linden.«

»Nun geht es schon ein wenig besser«, lobte der Major.

»Also, da Sie uns doch nach Ihrem Schloß eingeladen haben, Herr von Reinosch, erzählen Sie ein wenig davon.«

Der Tisch war abserviert. Burgunder schimmerte in alten Gläsern. Glühen so die Herzen fürs Vaterland? dachte Heinrich Hügel. Trinkt man den roten Wein als ein Symbol für die Heftigkeit seiner Gefühle, während man, um sich in Klugheit und Vorsicht zu üben, Gespräche führt, als gäbe es keine bitteren Probleme, keine schwere Zukunft?

»Ist das Schloß Ihrer Väter vielleicht etwas klein?« ermunterte der Major.

»Ja, vielleicht schon. Nur vierhundert Räume.«

»Gut, sehr gut. Da hat man wohl allen Boden für Schloß und Park gebraucht? Sind noch einige Hufen Land übrig?«

»So etwa zehntausend Morgen.«

»Wohl Moor und Sümpfe?«

»Nein, es ist Weizenboden.«

»Da gibt es also keinen Wald?«

»Oh, etwas Gehölz ist schon da. Wenigstens Platz genug für Damm- und Rotwild, Sauen und hundert Jäger.«

»Eine nette Klitsche. Gehört auch ein Dorf dazu?«

»Doch ja, so ein halbes Dutzend Kirchtürme hat die Gutsherrschaft im Laufe der Zeiten gebaut.«

Der Major rieb sich die Hände: »Sie können Aufsehen erregen als bescheidener reicher Mann. Wirklich, das ist eine neue Note. Nur haben Sie Klagen über die Steuern vergessen? Aber bitte, wo liegt Ihr Schloß?«

Heinrich Hügel formte eine muntere Handbewegung: »Nicht einmal im Land der Träume. Doch wenn Sie befehlen, Frau von Lastrow, so zeichne ich einen Grundriß.«

»Drüben auf dem Spiegeltisch liegt Schreibmaterial«, antwortete sie heiter. Und als er Papier und Stift geholt hatte, beugte sie sich nahe zu ihm und befahl: »Bitte, zeichnen Sie erst die Türme ein. Einen Wachtturm, einen Aussichtsturm – und nun gruppieren Sie die Festsäle.«

Der Rötelstift überquerte das Papier. Frau von Lastrow ließ zuweilen ihre schlanken Finger neben den Linien herlaufen. Heinrich Hügel spürte den Duft ihres Blondhaares und fühlte, es roch nach Sommer und Lindenblüte. Ein Seufzer stieg in ihm auf: wenn er doch mit Ulrike wieder unter den blühenden Linden der Heimat sein könnte! Ach, hatte Ulrike nun seine Botschaft? Sie würde hinüber in die Hofgärtnerei gehen. Wahrscheinlich gab der Großvater dem Boten Quartier, hielt darauf, daß er sich tüchtig ausruhte, bis er wieder den Rückweg antrat. Heinrich Hügel lächelte, ja, so mußte es sein! Vielleicht sprach man diesen Abend von ihm in der Hofgärtnerei. Vielleicht schrieb ihm diesen Abend Ulrike einen Antwortbrief. Freude überflutete ihn bei der Vorstellung, während der Stift dem Märchenschloß immer gewaltigere Ausmaße gab. –

Am andern Mittag bekam Heinrich Hügel nicht wie sonst das Essen auf sein Zimmer, sondern wurde in den Wohnraum gebeten. Da saßen zwei blonde Kinder zwischen ihrer Mutter mit am Tisch, eine winzige braune Luise und der hübsche Erbe des Hauses; des Jungen Bemühungen, sich mitzuteilen, waren sehr komisch in ihrer hilflosen Zutraulichkeit. Frau von Lastrows zärtliche Blicke umfingen die wohlerzogenen Kinder; es ging etwas Rührendes von der Gruppe aus. Die Kleinen haben keinen Vater mehr, nur den knurrigen, ein wenig sonderbaren Großonkel, dachte Heinrich Hügel und bemühte sich, das Zutrauen der Kinder zu gewinnen. So eine Witwe muß Mut haben, fühlte er, sie muß in dieser Zeit auch in Betracht ziehen, daß sie jeden Tag französische Invasion bekommen kann. Er verstand plötzlich, warum man ihm hier einen fremden Namen gab, ihn mit Modekleidern ausstaffierte. Es war Schutz, was er gestern noch für eine gelinde Narretei gehalten. Dankbarkeit stieg in ihm hoch …

Am Nachmittag war er wieder draußen im Freien und spähte nach dem Boten August Hicketier aus. Die Landstraße zog sich leer dahin, verlor sich im fernen Grau der Ebene. Doch dort, am Rand des Gesichtsfeldes sah man niedrige, geduckte Dächer. Er beschloß, den Weg dahin zu machen, vielleicht war der Bote dort angelangt und zu müde, um heute noch weiterzugehen.

Als Heinrich Hügel nach einer guten Stunde das Gehöft erreichte und an die Türe eines langgestreckten Wohnhauses klopfte, wurde ihm von einem wohlgekleideten Mann in mittleren Jahren geöffnet. Er glaubte, ihn schon gesehen zu haben. »Kommen Sie vom Gut? Wollen Sie die gnädige Frau abholen?«

Frau Charlotte von Lastrow besprach sich gerade mit dem Verwalter des Vorwerks. Sie lächelte sonderbar, als sie ihren Gast erblickte. »Das ist ja nett, Herr von Reinosch, mein Onkel hat Sie wohl geschickt? Hier wird soeben die Frage des Lupinenanbaues erwogen.«

Es ergab sich, daß Heinrich Hügel das Reitpferd des Verwalters bekam, um Frau von Lastrow nach Hause zu begleiten. Der Nebel hatte sich gelichtet, Sternbilder wurden deutlich. Die Kapella schimmerte im Fuhrmann, über dem noch halb versunkenen Orion glänzte im Stier der Aldebaran.

»Wenn der Mond über den Aldebaran geht, wird es Sommer sein«, sagte die Reiterin zärtlich.

»Reiten Sie immer so spät am Abend auf der einsamen Straße, gnädige Frau?«

Ihre Antwort war ein leises, warmes Lachen.

Er freute sich über den Ritt, etwas wie Beschützerwille stieg in ihm auf. Er freute sich auch auf den Abend. Wärme, Gespräch, ein wenig Verwöhntwerden: er hatte es so lange nicht mehr gekannt.

An diesem Abend öffnete Frau von Lastrow das in Flügelform gebaute Spinett. Sie betonte mit feierlicher Stimme, Prinz Louis Ferdinand habe darauf gespielt – ach, in anderen Tagen, in seiner glücklichen Zeit, ehe das böse Jahr kam.

Das Zimmer veränderte sich für Heinrich Hügel. Louis Ferdinand der Schöne, Verwegene, der große Patriot war hier gewesen?

»Und was spielte der Prinz?«

»Sie werden es hören«, antwortete Frau von Lastrow und begann mit sicherem Anschlag den Trauermarsch aus Beethovens Eroica. Wieder veränderte sich der Raum, wuchs zur Weite. War es nicht, als gälte diese Musik den toten Kameraden von Jena?

Als Frau von Lastrow geendet hatte, wandte sie sich zu ihrem ergriffenen Gast: »Ich hoffe, diese Musik sagt Ihnen, daß man hier nicht aus Spaß oder Freude an Verkleidung und Spielerei Sie zu einem Herrn von Reinosch macht. Sie dürfen nicht wieder in die Hände der Franzosen fallen, sondern müssen in ein preußisches Regiment eintreten, sobald Sie es gelernt haben, als harmloser Reisender durch die Lande zu ziehen.«

Jäh schlug ihre Stimme ins Leichte und Heitere um. Heinrich Hügel fühlte, daß er jung war und ihm das Lachen plötzlich leicht fiel …

*

Am andern Nachmittag, als er wieder über die Landstraße wanderte, um seinem Boten aus Bayreuth entgegenzugehen, tauchte eine große vornehme Reisekutsche auf. Neben dem Kutscher saß ein Bedienter, im Wagen erblickte man eine pelzverhüllte Dame und ihre Jungfer, die Rückschau auf den Wagen zeigte aufgeschnallte große Koffer mit Seehundsfell bezogen. Das war also der erwartete Gast.

Über den Feldern, die Reif eindeckte, taumelten Krähen und stießen ihre heiseren Rufe aus. Sie sammelten sich zu Schwärmen, und das sah aus, als wären es die Rauchfetzen von einem Brand. Für Heinrich Hügel, als Kind eines Berglandes, hatte die Ebene weniger Reiz. Im Fichtelgebirge würden jetzt noch schwere Schneemassen liegen, und im Hofgarten von Bayreuth trugen die griechischen Steingestalten vielleicht hohe weiße Mützen. Heinrich Hügel malte sich aus, wie es sein würde, wenn er den Hofgarten wieder beträte. Die Pläne des Majors und der Frau von Lastrow waren sicherlich wohl überlegt; aber sie paßten nicht für ihn und seine Ungeduld. Es würde ihm mehr liegen, sich als Handwerksbursche oder Bauer durchzuschlagen. Ehe er zu einem Regiment ging, mußte er bei Ulrike gewesen sein. –

Im schön durchwärmten Eßzimmer erstrahlte der Glanz vieler Kerzen, als Heinrich Hügel es betrat, um dem Gast vorgestellt zu werden. Daß es sich bei der Dame mit der prächtigen Reisekutsche um eine schwedische Gräfin handelte, wußte er schon. Er sprach nach Verbeugung und Handkuß etwas von »großer Ehre« und hörte sich mit klirrender Stimme (sie war ein Nachhall aus Löbichau) von der Dame, die noch die besten Frauenjahre schmückten, freundlich angesprochen.

Man ging sogleich zu Tisch. Der Major reckte seine alte Husarengestalt, ehe er der Gräfin Munk seinen Arm bot. Frau von Lastrow nickte ermunternd und winkte Heinrich Hügel zu sich heran.

Die Gräfin hatte alle Nachfragen über das Ergehen des Hauses schon erledigt, auch ihre mühselige Fahrt geschildert und begann nun schon beim Vorgericht von ihren Tagen in Löbichau zu erzählen.

Nachdem die Herzogin von Kurland, ihre Tochter, ihre Schwester beschrieben waren, Persönlichkeiten, von denen Heinrich Hügel noch nie ein Wort gehört hatte, wie er auf eine Frage in sehr unweitläufiger Offenheit antwortete, hob die Gräfin ihr Lorgnon, sah ihn belustigt an und sagte: »Nun, Sie sind sehr jung, Herr von Reinosch. Doch jetzt nenne ich Ihnen einen Namen, den Sie sicher kennen: der Dichter Jean Paul war auch als Gast in Löbichau.«

Jean Paul? Der sogenannte Herr von Reinosch schoß vom Stuhle hoch. Temperament brach aus seinen Gebärden, seinen Worten: »Gnädigste Gräfin haben Jean Paul gesprochen, jetzt gesehen? Ja, er ist der Dichter meiner Heimat –«

»Oh, Sie stammen aus Bayreuth –?«

Der Major ließ da seine Erziehungspläne fallen! Es gab nur noch einen Ausweg, die Situation zu retten, und so rief der alte Herr rasch: »Jawohl, Gräfin. Und er trägt hier einen ›nom de guerre‹, wie Sie bei der Situation unter französischer Bespitzelung wohl verstehen.«

Ein befehlender Blick flog zu Heinrich Hügel, und dieser Blick forderte, daß er seine Abkunft nicht weiter enthülle.

Die Gräfin, wohl merkend, daß hier irgend etwas verborgen werden sollte, und daß ihre Worte Aufregung hervorbrachten, fuhr liebenswürdig-gelassen fort: »Bayreuth ist eine reizende Stadt. Ich trennte mich ungern von ihr. Vielleicht wäre ich noch länger geblieben, wenn nicht die Einladung der Herzogin von Kurland meinen Aufbruch gefordert hätte.«

Gräfin Munk begann ihre Begegnungen mit Jean Paul zu schildern. Er sei so bescheiden, so liebenswürdig. Sein Wort: »ich habe nur eines vor dem großen Goethe voraus, nämlich, daß ich seine Werke viel aufmerksamer lese, als er die meinen«, habe ihr außerordentlich gefallen. Denn gerade bei Literaten fände man selten soviel Gelassenheit gegenüber der Größe und dem Verdienst eines anderen Dichters.

»Sie hatten also Freude an Jean Paul, Gräfin?« sagte Frau von Lastrow.

»Ich habe einen gütigen, liebenswerten Menschen kennengelernt.«

Mit großer Geschicklichkeit wußte dann die Gastgeberin das Gespräch von Bayreuth abzulenken. Doch als der Abend beschlossen wurde, wandte sich Gräfin Munk noch einmal an Heinrich Hügel und sagte sehr freundlich: »Ich werde Ihnen morgen aus Ihrer Heimatstadt erzählen, ich lernte noch manche Menschen dort kennen, vielleicht sagen Ihnen ihre Namen etwas.«

Heinrich Hügel verbrachte eine schlaflose Nacht. Diese schwedische Dame, die jetzt unter demselben Dach wohnte wie er, war vor wenig Wochen aus Bayreuth aufgebrochen. Sie hatte sich länger dort aufgehalten und Jean Paul öfter getroffen. Dann war es kaum anders möglich, als daß sie auch Ulrike begegnet war.

Er verwünschte seine Blödigkeit, wie er es nannte, daß er sich durch die Blicke des Majors, und die Unterbrechungen Frau von Lastrows hatte abhalten lassen, die Gräfin direkt zu fragen. Man versteckte ihn hier, man gab ihm Asyl. Aber deswegen brauchte er sich doch nicht den Mund verbieten zu lassen.

Ehe der Morgen graute, war er frisch gewaschen, rasiert, angekleidet. Er horchte auf den Korridor hinaus, ob nicht Schritte erklangen. Doch weder Bediente noch Jungfern nahmen schon ihre Tätigkeit auf. Das ganze Haus schlief noch.

Verfröstelt und erregt wartete Heinrich Hügel. Die Minuten schlichen ihm hin wie in den schlaflosen Zeiten von Küstrin. Vor den Fenstern standen Nebel und Dunkelheit.

Als die Gräfin Munk ihre Morgenschokolade trank, meldete ihr die Jungfer, daß der fremde junge Herr schon seit einer Stunde auf dem Korridor warte und dringend um eine Unterredung bitten lasse. »Wenn es in meinem Wohnzimmer warm ist, werde ich ihn empfangen.«

Bediente rannten, Buchenscheite prasselten, Mägde liefen mit Scheuereimern.

Endlich kam die Audienz zustande.

»Sie wollen von der Heimat hören«, sprach die schwedische Gräfin und zog ihren Pelz enger um die Schultern. »Bitte nehmen Sie Platz.«

Und Heinrich Hügel vernahm, daß in seiner Vaterstadt alles in bester Ordnung sei. Die französische Besatzung wäre abgezogen, es regierten nun die Kommissare des Königs von Bayern. Damit seien tonangebende katholische Elemente in die Stadt gekommen, die fast durchweg dem evangelischen Bekenntnis angehöre. Der Name Gustav Adolfs habe, wie die Schwedin mit Freude gemerkt, in Bayreuth seinen großen Klang.

Heinrich Hügel zitterte vor Ungeduld. Endlich stieß er hervor, ob die Gräfin auch den Hofgarten besucht habe.

Ach, die Dame hatte dort nicht mit einem alten Gärtner geplaudert. Im Schlosse der Markgräfin war ein Kastellan in einer hellblauen, bayrischen Uniform und mit einer vollkommen unverständlichen Sprache gewesen.

»Wohnt noch die Freiherrlich von Egloffsche Familie im Gartenflügel des Schlosses?«

Gräfin Munk fühlte sekundenlang eine kleine Warnung. Der Fragende schien ihr so sehr erregt. Sogleich erinnerte sie sich, daß gestern abend ihre liebe Charlotte von Lastrow diesen hübschen Mann, der einen »nom de guerre« trug, zuweilen mit einem jener Blicke gestreift hatte, die eine wissende Frau versteht. Die reizende kleine Egloff und der Balte gehörten zusammen – dieser Fremdling hier gefiel Frau von Lastrow. Es war also unnötig, daß er sich noch Gedanken um die Baronesse von Egloff machte und dadurch vielleicht hier eine Chance verscherzte.

So hörte Heinrich Hügel von dem herrlichen Feste bei der Herzogin von Kurland, das eine besonders hübsche Note dadurch bekommen hätte, daß die beiden jungen Menschen aus Bayreuth, Baronesse Ulrike von Egloff und der Balte Baron Lieven, dort als ein verliebtes und dann beim letzten Tanz als ein verlobtes Paar aufgetreten wären.

Die Gräfin Munk sah taktvoll in die Luft und fügte hinzu: »Der Dichter Jean Paul, mit dem ich dem Tanz zusah, bestätigte es mir. Ich hatte die beiden ja öfters in seinem Hause getroffen.« – –

Heinrich Hügel wußte nicht, wie er aus dem Zimmer der Gräfin Munk gekommen war. Auf dem Korridor redete ihn der Bediente des Majors an und fragte, ob ihm schlecht sei, ob er ihm etwas Wein bringen solle? Heinrich Hügel wehrte wortlos ab, ging in aufrechter Haltung weiter. Wenn ich nur in mein Zimmer komme, wenn ich nur ganz allein wäre, wünschte er sich.

siehe Bildunterschrift

Der Fünfunddreißigjährige Jean Paul. Gemälde von Heinrich Pfenniger

Mit starren Augen und wie vereist im Herzen ging er weiter – vorüber an Mauern und Wänden, wie durch einen Schacht – überschritt den Wirtschaftshof – erreichte die Landstraße – ging weiter, immer weiter – –


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