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IV.
Ein Abschied

Viele Tage lang sahen die Bewohner Bayreuths voll Angst und Sorge nach den Höhenzügen, die im weiten Umkreis die Stadt umgeben. Wachposten waren aufgestellt, neue und älteste Fernrohre wurden hervorgesucht, die Gegend abzusuchen. An den Zufahrtsstraßen stand Bürgerwehr: man erwartete in Angst und Schauder den Einbruch französischer Truppen. Die Zeit floß ineinander, Tag und Nacht fieberte die Unruhe. Die Menschen taten nur notdürftig ihre Arbeit in dem Gefühl: was sie hatten und besaßen, konnte ihnen die nächste Stunde rauben.

Nur Jean Paul behielt eine gewisse Ruhe. Er arbeitete wie jeden Morgen, spielte mit seinen Kindern und seinen Tieren, empfing Freunde und suchte ihnen Mut einzuflößen. Auch seine Wanderungen zu der alten Bäuerin, Frau Rollwenzel, gab er nicht auf. Er saß dort, wie immer, über vielen in dem »Dachsranzen« und seinen Rocktaschen mitgebrachten, zerknitterten und gerollten Papieren, schrieb, häufte Gleichnisse und Bilder, um eine Verbindung herzustellen zwischen allen Dingen, die sein Geist erreichte, seine Seele ersehnte, sein Erleben kannte. Da stürmten heftige Schritte die kleine, alte Treppe herauf, es pochte an die Türe, und fast zu gleicher Zeit trat der Student Heinrich Hügel ein.

Er war gestiefelt und gespornt, trug eine knappe Jagdkleidung, hielt die Sturmmütze in der Hand und bat:

»Verehrtester, wollen Sie mir auf der Stelle folgen. Ein Meldereiter berichtet, daß große Trupps französischer Offiziere und ihre Bedienungsmannschaft in Kreußen Mittagsmahl und Mittagsrast halten. Es ist möglich, sie nehmen den Weg hier vorbei zum Einzug in die Stadt. Da soll man Sie nicht als Fußgänger auf der Landstraße finden, und Ihre Familie darf nicht allein sein, wenn die Besatzung kommt.«

Jean Paul antwortete: »Wir werden uns an die fremden Soldaten gewöhnen müssen.«

»Ich nicht«, rief Hügel. »Ich reite ab, sobald ich Sie nach Hause begleitet habe.« Und er dachte, wenn fremde Offiziere und Soldaten, die den geistigen Rang des verehrungswürdigen Mannes nicht kennen, ihm auf der Alleestraße, begleitet von seinem weißen Pudel, in seiner wunderlichen Kleidung begegnen, könnten sie vielleicht ungute Scherze mit ihm treiben.

So wanderten die beiden ab. Heinrich Hügel erzählte, sein Großvater fürchte die Franzosen nicht, da er ihre Sprache einigermaßen verstünde. Er habe noch König Friedrich Wilhelm II. gesehen und wünsche es selbst, daß der Enkel zur preußischen Armee ginge.

Jean Paul sah wohlgefällig auf seinen Begleiter. »Wenn ich noch jung wäre –« sagte er still. Der andere wehrte ab. Ein Mann, dessen Schöpfungen Tausenden Trost und Beruhigung gaben, gehöre nicht zum Waffenhandwerk. Doch ihn dränge es in die preußische Armee. Die große Abrechnung Europas mit dem kalten fremden Eroberer würde von Preußen ausgehen, vielleicht in Verbindung mit dem Zaren Alexander.

»Preußen ist jetzt sehr in der Tiefe«, flüsterte Jean Paul. »Aber freilich, wer es zu gut gehabt hat, verliert die Sehnsucht, verliert auch seine strebenden und sogar die erhaltenden Kräfte.«

Der Abendschein beglänzte das Land. Die beiden Wanderer sahen gerührt über die vertraute Gegend. Die Stadt fanden sie dann in wilder Erregung. Neugier und Angst trieben die Menschen auf Markt und Gassen.

Der Feind nahte – es lag in der Luft. Man erzählte sich: die Wallers Lisa habe im Traum die Franzosen gegen Bayreuth marschieren gesehen, und die Wallers Lisa besaß übersinnliche Kräfte und Ahnungen – das wußte jedes Kind.

Plötzlich schlugen die Glocken der Stadtkirche an – das war das Zeichen, daß der Türmer heranziehendes Militär gesichtet hatte. Schreie des Entsetzens erfüllten die Luft. Hastende und angstvolle Menschen rannten über die Straßen, versammelten sich in Gruppen, schrien und klagten:

»Die Franzosen kommen –«

Heinrich Hügel brachte den Dichter noch bis zu seinem Hause in der Friedrichstraße. Dann versuchte er, wie so oft in den letzten Tagen, die Menge zu beschwichtigen. Jeder solle heimgehen, in seiner Behausung sich beschäftigen. Ruhe sei im Augenblick die wichtigste Pflicht. Der Bürgermeister und die Ratsherren würden zur Stelle sein und den französischen Truppen Quartiere anweisen.

Doch die Leute hörten nicht mehr zu. Sie streckten die Hände zum Himmel und riefen, die Stunde des Untergangs sei gekommen, Gott solle helfen und ein Wunder tun!

Das Gewimmer der Glocken tönte fort. Als Heinrich Hügel den Markt überquerte, sah er dort die Bürgerwehr aufziehen, meist stattliche Männer in zu enggewordenen Uniformen. Zu ihnen gesellten sich die Soldaten der kleinen Garnison. An Widerstand war nicht zu denken. Man konnte nur hoffen, daß die heimische Mannschaft Ordnung halten würde.

Mein armes Bayreuth, dachte Heinrich Hügel. Da er nicht helfen konnte, hatte sein Hierbleiben wenig Zweck. So war es besser, schon heute zu seinem Naumburger Regiment aufzubrechen.

Wie weit konnte er heute noch gelangen?

Er nahm Abschied vom Großvater, bestieg sein Pferd, verließ die heimatliche Stadt. Als die Nacht hereinbrach, erreichte er Kloster und Schloß Himmelkron.

Der Kastellan dort war ein alter Mann. Verstand er die Erzählung nicht, daß die Franzosen um diese Stunde schon Bayreuth erreicht hatten?

»Im Kreuzgang der Kirche und im Schloß hier werden sie nichts suchen«, sagte er ahnungslos.

Heinrich Hügel lag auf einem Strohsack. Die Laterne des Kastellans war erloschen, aber der Mond warf weißes Licht in den herrlichen Festsaal, der ihm heute als Schlafkammer diente.

Er brauchte auch keine Beleuchtung, um Ulrikes Brief zu lesen – er wußte ihn auswendig. Sie schrieb ihm, der sie um einen Treffpunkt gebeten hatte, daß sie morgen gegen Mittag auf Burg Zwernitz eintreffen werde, um zwei Waisenkinder abzuholen. Vielleicht sei Zeit zu einem Gang durch die Felsengärten von Sanspareil, dem dicht bei Zwernitz liegenden, verlassenen Lustschloß der großen Markgräfin.

Sein Herz schlug den unruhigen Takt der Erwartung. Ulrike wollte ihn noch wiedersehen, wollte noch allein ein Wort mit ihm sprechen? Welch ein Trost, welch ein Pfand für die Zukunft! Er liebte sie, er fieberte nach ihrer Nähe. Er wußte, es würde viele Hindernisse geben, wenn sie einst einwilligte, ihm anzugehören. Aber er lachte über die Hindernisse. Die Zeiten hatten sich geändert. Auch wem es an vornehmer Geburt mangelte, konnte heute Ansehen und Ruhm erreichen. Die Kraft seiner Jugend warf einen schönen hohen Bogen in die Zukunft. War er erst Offizier der königlich preußischen Armee, kämpfte er für dieses ihm so teure Land und seinen König, dann konnte er in äußerlich anderer Lage vor Ulrikes Vater treten.

Am frühen Morgen ritt Heinrich Hügel weiter. Viele Meilen weit dehnte sich der Wald, kaum daß ein wenig Weideland, ein dürftiges Ackerstück Abwechslung in die einsame Landschaft brachten.

Als er die schon in leichtem Verfall liegenden Rokokolusthäuser der Markgräfin Wilhelmine erreichte, sah er auf einem freien Platz den Giech'schen Wagen stehen. Eine alte Wirtschafterin saß darin, der Kutscher rauchte sein Pfeifchen. Die paar Kleider der Waisenkinder hingen noch auf der Leine.

Die Baronesse sei soeben in den Felsenwald gegangen, erfuhr er. Beglückt von dieser Botschaft, eilte er auf schmalem Pfad dem Felsenlabyrinth zu, das die Anlage krönt. Es währte nicht lange, so tauchte Ulrikes zierliche Gestalt im weißen Kleid hinter dem Gebüsch auf. In diesen Stunden des Alleinseins mit Ulrike, so dachte Heinrich Hügel, die wohl für lange die letzten waren, durfte er ihr endlich sagen, wie teuer sie ihm war und wie er sein ganzes Leben so einrichten würde, daß sie es einst mit ihm teilen konnte –

Er zog seinen Rock straffer, strich das Blondhaar aus der Stirn. Ulrike von Egloff lächelte, als sie seinen Gruß durch die Stille hallen hörte.

»Ach, daß wir uns noch einmal treffen. So oft waren Sie im Traum bei mir.«

Sie errötete, fragte: »Sie wollen nach Naumburg, zum Jägerregiment? Haben Sie eine Empfehlung?«

Jäh wurde ihm wieder bewußt, sie war aus fränkischem Uradel und er der Sohn und Enkel von Gärtnern.

»Könnte Ihnen nicht mein Onkel Giech einen Brief an den Naumburger Kommandanten mitgeben?«

So freundlich die Worte klangen, Heinrich Hügel sah in Empfehlungsbriefen eine Hilfe für Arme oder Unbedeutende. Der Reichsgraf zu Giech sollte aus Mitleid für ihn ein Wort einlegen? Das Selbstgefühl stolzer Jugend flammte auf:

»Es ist sehr lieb von Ihnen, Ulrike. Ich danke tausendmal, aber ich glaube, der König von Preußen braucht jetzt jeden Mann –«

Sie verstand sofort. »Sind wir denn nicht alte Kameraden? Soll ich keine Kameradschaft üben dürfen?«

Er hätte sie in seine Arme reißen mögen. Aber das wäre ein Bruch des Vertrauens gewesen, das sie ihm in diesen Waldstunden des Alleinseins schenkte.

»Ich will und werde mich aus eigener Kraft durchsetzen«, stieß er mit vor Erregung heiserer Stimme heraus.

Wieder lächelte sie: »Sie haben vielleicht recht. Wenn Sie erst an einem preußischen Waffenplatz sind, betreten Sie gewissermaßen eine Weltbühne. Denn in unserem Bayreuth war es so still geworden –«

Im Wald, zwischen den Felsen und Grotten blühten Anemonen. Er bückte sich nach ein paar Blumen und reichte sie ihr.

»Sie werden auf Schloß Giech bleiben, bis in Bayreuth die französische Invasion vielleicht ein Regiment der Ordnung schafft? Man sagt, Marschall Bernadotte, der den Oberbefehl über die fränkischen Hohenzollernlande haben wird, sei ein Mann, der den Adel schätzt.«

Sie sah sehr damenhaft aus, als sie antwortete: »Mein Onkel Giech ist ein überaus kluger Herr und ein fester Charakter. Er wird zu verhandeln wissen. Der Erbgraf steht im Regiment der Gardes du corps in Potsdam. Meine Tante ist tot, meine Großtante sehr alt. Ich werde mich um die Kinder und die Armen von Giech kümmern können.«

Heinrich Hügel sah auf Ulrikes schmale kleine Hände und verlor die Scheu, die ihn gequält hatte.

»Darf ich du sagen?« fragte er leise.

Sie nickte: »Wir haben einander tausendmal Heinrich und Ulrike genannt. Wir waren Gespielen von Anbeginn.«

Wohin treibt die Zeit, dachte sie. Der Krieg wird ganz Europa überziehen, vielleicht bin ich zum letztenmal zusammen mit dem Gefährten heiterer und lichter Tage. Sie vergaß ihren adelsstolzen Vater, sie vergaß alle Erwartungen, die er auf eine vornehme Heirat für sie hegte. Sie wünschte dem schönen Menschen, der nun hinausging in ein unbekanntes Schicksal, ein Wort mitzugeben auf seinen schweren Weg. Ihre Stimme wurde leise und schwebend:

»Sagt man nicht, eine gemeinsame Jugend sei ein unzerreißliches Band?«

Sein helles Gesicht errötete. Er schlang den Arm um ihre zierlich-zärtliche Gestalt. Und so wanderten sie, im Pathos des Abschieds, durch die Schauplätze einer anderen Generation, an wunderlichen Findlingsblocken vorbei durch den Vorfrühlingswald, hingegeben in das Gefühl der Stunde.

Scheu flüsterte er: »Bist du mir gut, Ulrike?« Und sie lächelte ihm zu, und sein Mund fand ihre Lippen.

Dieser Augenblick war so kostbar, so über alle Hoffnung hinaus ein Geschenk der Einsamkeit, daß ihnen die Notwendigkeit der Trennung noch kein Schmerz war, nur die Verheißung des Wiedersehens. Sie tauschten keine großen Worte, keine Schwüre – sie wußten ihr Schicksal in einer gemeinsamen Zukunft beschlossen.


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