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XIII.
Aus der Oder gefischt

In Bayreuth vollzog sich die Übergabe von Stadt und Land an das neue Königreich Bayern. Napoleon hatte es seinem ergebensten Rheinbundfürsten geschenkt. Der Traum aller Hohenzollerntreuen auf Rückkehr zu Preußen war dahin. Das fast ganz evangelische Fürstentum kam an einen katholischen Herrscher, dessen Devotion gegen den Korsen ihm bitter verdacht wurde. Bayrisches Militär, bayrische Kommissäre kamen, die blauweiße Fahne verdrängte die fränkischen Farben, der bayrische Löwe den hohenzollernschen roten Adler. Die französische Besatzung feierte noch Feste vor ihrem Abzug.

Das war der Gräfin Munk alles so interessant, daß sie ihre Abreise immer weiter hinausrückte. Endlich aber ging sie doch, als Theodor von Lieven ihrem sehr deutlichen Wunsch entsprach, sie nach Löbichau zur Herzogin von Kurland zu begleiten.

Ulrike hatte schwere Tage mit ihrem Vater. Er war bisher in seinem Dienst geblieben, weil er die feste Überzeugung hatte, trotz der französischen Okkupation für seinen König Friedrich Wilhelm zu arbeiten. Nun kam für den achtundfünfzigjährigen Oberjägermeister die Frage, ob er bayrischer Beamter werden oder auf seine Herrschaft über das geliebte Fichtelgebirge verzichten solle.

Er plante, sich auf das kleine Familiengut Egloffstein zurückzuziehen. Dort aber war ein langjähriger, treuer Verwalter und eine so große Stille, wie sie für eine junge Tochter wenig paßte. Ulrike lebte nach der bitteren Erfahrung mit der polnischen Freundin sehr zurückgezogen. Mit Lieven mochte sie die Angelegenheit des Vaters nicht weiter bereden. Denn der Balte wußte nur einen Ausweg: er würde seine Herrnhuter Kolonie gründen, sobald Ulrike ihm das Wort gegeben, nachzukommen.

Die lange Wartezeit auf ein Lebenszeichen von Heinrich Hügel hatte Ulrike zermürbt und müde gemacht. Vereinsamt, wie sie sich fühlte, war ihr Lieven näher gekommen, als sie wollte. Aber sie verriet ihre Liebe zu Heinrich Hügel darum nicht –

Ist denn unsere Jugend tot? dachte sie bei einem Weg durch die Gärten von Eremitage. Marya hat uns verlassen. Heinrich ist verschollen. Unser Königshaus mußte uns aufgeben. Und doch blüht der Sommer, als sei alles wie einst – –

*

Von der Festung Küstrin aus sah Heinrich Hügel auch die sommerlichen Felder der Ebene. Ein neuer Kommandant hatte ihn zum Schreiber gemacht, ihm auch das Zimmer in dem turmartigen niedrigen Bau angewiesen, das der »Weißkopf« hieß.

Alle Fluchtpläne waren gescheitert. Es hatte nichts geholfen, daß er sich krank stellte. Der Arzt, eine ängstliche Natur, mahnte nur zu Geduld. Der freundliche Maurer zeigte sich viele Monate lang nicht.

Die linden Sommernächte gingen übers Land. Von dem vergitterten Fenster im »Weißkopf« konnte Heinrich Hügel ein Stück Himmel sehen. Er kannte den Lauf der Gestirne: wenn in der Milchstraße das Sternbild des Schwans sich dem Zenith nähert, ist die Zeit der Kornreife. Wenn die Kassiopeia immer heller funkelt, geht es dem Sommerende zu. Sieht man in noch grauen Morgenstunden schon den Orion, so nähert sich der Herbst.

Die Zeit schleicht und flieht zugleich. Ist denn unsere Jugend tot? dachte auch Heinrich Hügel. Es war ihm über alle Maßen beschämend, nun schon fast zwei Jahre ein Gefangener zu sein, dessen Hirn und Hände keinen Fluchtplan zum Gelingen führen konnten. Ihm ekelte vor seinen verwahrlosten Kleidern, die um so fadenscheiniger wurden, je mehr er daran rieb, um sie in einer Art von Sauberkeit zu erhalten. Es erfüllte ihn mit Entsetzen, daß sein Geist keinerlei Zufuhr mehr bekam und nur von eigener Spekulation leben konnte. Nicht minder quälend war, niemals Nachrichten zu erhalten. Die Ausrufe der französischen Soldaten »Berlin kaputt, Preußen perdu« prägten sich aufreizend ein. Wenn er gleich tausendmal wußte, die Kerle lügen: es ist sehr schwer, in völliger Ereignislosigkeit den Glauben zu behalten, daß sich ferne die Zeichen des Aufbruchs zur Befreiung erheben.

Heinrich Hügel dachte oftmals an den Dichter Schubart, den Gefangenen vom Hohenasperg. Er kannte ein schönes Wort des unglücklichen Mannes: »Nur Gott ist größer als unser Herz.« Doch Gott hatte sein Angesicht von Preußen und seinen Soldaten abgewandt, und was vermochte Heinrich Hügels Herz? Kein Dienst an Nebenmenschen war ihm möglich. Jede Anknüpfung mit den Franzosen wäre ihm gegen die Ehre gegangen. Deutschen Mitgefangenen sich zu nähern, blieb ausgeschlossen. Wenn sie im Festungshof ihren sogenannten Spaziergang antraten, geschah es einzeln und unter strengster Bewachung. Auf der Schreibstube saßen nur alte, verbissene Regimentsschreiber, die Heinrich Hügels Tisch mit all der Arbeit beluden, die sie selbst nicht machen mochten. Es handelte sich immer noch um Materialverlustlisten, um Personalien französischer Gefallener. Nichts war unter den mehrfach zu kopierenden Akten, was den geringsten Einblick in die gegenwärtige Lage geben konnte.

Die Sonne ging auf, die Sonne ging unter, umgrenzte einen öden Tag nach dem andern. Geringes Essen, vertragene Kleider, Mangel an Hilfsmitteln zur Körperpflege weckten Widerwillen. Der Barbier, ja selbst sein Geschwätz, wurde Wohltat.

In den Nächten ging der aussichtslose Kreislauf der Gedanken, die durch Finsternisse irrten. Ist nicht jedes Menschen Schicksal ungerecht von Anbeginn? Der Mensch müht sich sein Leben lang ab, sei es in Arbeit, sei es in der Gier nach immer neuen Zerstreuungen, um als ein Fleißiger oder ein Müßiggänger endlich zu vergehen. Vorher gibt er den Ärzten noch etwas zu verdienen, nachher bereichert er Erben, und arme Schüler bekommen ein paar Kreuzer, weil sie die Leichenlitaneien singen. – Nein, nein, es gibt auch den heroischen Tod – es gibt auch das heroische Leben, das weiter ragt in die Jahrhunderte! Immer wieder rief Heinrich Hügel in sich die Hoffnung auf, noch einmal und glücklicher für sein Vaterland kämpfen zu dürfen und die Heimat wiederzusehen.

Die Heimat, das ist Ulrike – –

Als ihr Geburtstag nahte und er so ganz vertieft in den Gedanken war, wie sie wohl ihn verbringen würde, bekam er jäh ein fröhliches Herz. Ja, es fiel ihm sogar ein, wie oft sie im kindlichen Spiel im alten Hofgarten von Bayreuth nicht nur ersonnene Gefahren bestanden, sondern auch erdachte Widersacher überlistet hatten.

Da gab es doch den Bauernkittel, in dem er nach Küstrin gebracht worden war. Er entschloß sich, den alten Korporal danach zu fragen. Wenn er den Kittel aus derbem Drillich wieder hätte, könnte er Streifen daraus schneiden und sich ein Seil knüpfen. Aber womit schneidet man ohne Schere und ohne Messer? Nun, das ist erst die zweite Frage. Die erste heißt: ist der Korporal für meine alte Taschenuhr gefällig, die man mir in unfaßlicher Großmut gelassen hat?

Der Korporal war es. Der Kittel lag noch in einer Kleiderkammer. Warum soll ein Gefangener nicht einen Nachtkittel haben? Ulrikes Geburtsfest wurde zum Glückstag. Der alte, gute Maurer tauchte auch nach langer Zeit wieder auf, kam kurz vor Feierabend in den »Weißkopf«, dort einen Rest Kalkfarbe zu verpinseln. Er war von einer Wache begleitet. Die Wache sah es nicht, daß der Maurer dem Gefangenen einen kleinen Papierknäuel zusteckte. Als Heinrich Hügel wieder allein war, glättete er das Papier und las in der sauberen Schrift eines Schulkindes: »Unten links am Fenster ist unter Putz ein starker Eisenhaken eingemauert. Feile und Schere hängen daran.«

Heinrich Hügel fühlte seine Hände zittern, bevor sie wieder fest und hart wurden. Eine Feile, um einen der Eisenstäbe zu durchsägen! Eine Schere, um Kittel und Strohsackstoff in Streifen zu schneiden! Das vermochte er, wenn er den Verputz herausgestoßen hatte. Er wußte, zu dem allen brauchte er eine lange Nacht, und eine Nacht, in der nicht absolute Stille herrschte. Im vorigen Jahre hatten die Franzosen lärmend und mit viel Wein ihren Siegestag von Jena gefeiert, den 14. Oktober. Es war noch über eine Woche bis dahin. Also noch einmal Geduld. Der »Weißkopf« lag nicht sehr hoch. Vom Seil aus konnte er wohl einen Sprung in die Tiefe wagen. Und dann kam er bis zur Oder. Die Strömung würde ihn weiter tragen, wenn die Kräfte zum Schwimmen versagen sollten – –

Die Flucht gelang. Als am Morgen des 15. Oktober der alte Korporal im kalten Nebel dem »Weißkopf« zuschritt, um den Gefangenen zum Schreiberdienst zu holen, war Heinrich Hügel längst viele Stunden geschwommen. Er hoffte, das Gebiet der Markgrafschaft Schwedt erreichen zu können, diese stillgewordene Gegend würde frei von französischer Invasion sein –

In den Morgenstunden sah ein Fischer einen anscheinend leblosen, erstarrten Körper im Röhricht des Oderufers, empfand Mitleid, holte den Fremden in seinen Kahn und lieferte ihn bei seiner Gutsherrschaft ab. Die Gutsherrschaft war die noch junge Witwe eines preußischen Offiziers, die unter Beihilfe eines betagten Oheims für ihren kleinen Sohn das Erbe verwaltete.

Als man Frau Charlotte von Lastrow meldete, in eine leere Gesindestube sei ein Mensch gebracht worden, den man bewußtlos im Wasser gefunden, zögerte sie nicht, selbst nachzusehen. Da lag, immer noch im Schlaf der Erschöpfung, ein blonder, junger Mann, der, nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, wohl den besseren Ständen angehörte. Die ausgerungene, zerfetzte Kleidung bestand aus Hemd und Hose, zeigte, auch wenn man von der Beschädigung absah, eine große Ärmlichkeit.

Frau von Lastrow ordnete die notwendige Hilfe an, Erwärmung des Bettes, heißen Grog, später eine Suppe, betrachtete eine Weile das schön geformte Gesicht des Schläfers und bedachte, daß der Oheim wohl Kleider und Wäsche abgeben könne. Die junge Gutsfrau besaß einen lichten Verstand und Kombinationsgabe: dieser Mensch muß ein Flüchtling sein, sagte sie sich, und sie dachte sofort an den Lauf der Oder und an Küstrin.

Frau von Lastrow legte ihrem Fischer und ihrem Hauspersonal Schweigen auf. »Der junge Mensch wird weitergehen, sobald er Kräfte hat, es ist also nichts darüber zu reden«, befahl sie. Dann ging sie dem Oheim Bericht zu erstatten. Major von Lastrow kam ihr an seinem Krückstock entgegen, er hatte vom Schluß des Siebenjährigen Krieges her eine Beinverletzung.

Als Heinrich Hügel am Nachmittag eben versuchte, das Dienstbotenbett zu verlassen und sich zu orientieren, wo er sei, sah er einen zwar hinkenden, aber sonst sehr rüstigen Siebziger eintreten, der ihm zurief:

»Ich will Ihn nicht im Hemde sehen. Bleib Er liegen. Man hat Ihn aus der Oder gefischt. Erstatte Er mir, dem Herrn Major, seine Meldung. Er gilt im Augenblick als blessiert.«

Heinrich Hügel wußte von der alten Magd, die ihm Essen gebracht hatte, daß in diesem Hause keine Franzosen verkehrten. So richtete er sich auf, ließ seine Stimme klingen:

»Zu Befehl, Herr Major, meine Blessur stammt aus der Schlacht bei Jena. Jetzt bin ich nur in die Oder gefallen.«

Der alte Herr von Lastrow ließ sich auf einen Stuhl nieder und knurrte: »Höchstwahrscheinlich, daß Sie in die Oder fielen und sich finden ließen wie ein Moseskindchen, sechs Fuß lang, blond und blauäugig. In welchem Dorfe sind Sie denn in den Fluß gestürzt? Oder war es eine Stadt? Frankfurt, Schwedt liegen an der Oder. Wo soll man Ihre Kleider holen lassen? Na, so reden Sie doch.«

Heinrich Hügel war wachsam. Durfte er offen sein? Bestand nicht überall im Lande die Pflicht, entsprungene Kriegsgefangene auszuliefern?

»Die Schlacht bei Jena ist jetzt gerade zwei Jahre her«, begann der alte Herr von neuem. »Haben Sie von der Saale zur Oder so lange gebraucht? Also, dieses Haus ist ein preußischer Edelsitz. Und wer sind Sie?«

Heinrich Hügel nannte Namen, Charge und die Festung Küstrin. Der alte Herr versank in langes Nachdenken. Als er sich erhob, sagte er: »Öffnen Sie später das Fenster. Es wird gegen Abend ein Felleisen mit Kleidern hereinfallen. Vor Tag steigen Sie aus dem Fenster und kommen später über die Freitreppe ins Herrenhaus. Sie melden sich für die Sekretärstelle, die ich ausgeschrieben habe. Sie heißen Herr von Reinosch. Wiederholen Sie, von Reinosch.« – –

Heinrich Hügel war nach einem langen Schlaf wieder frisch. Bei Kerzenschein besorgte er vor Sonnenaufgang seine Verwandlung. Er hatte nicht nur Kleider, sondern auch Rasierzeug in dem Felleisen gefunden. Kein Hund schlug an, als er den Edelhof verließ. Er umwanderte Stallgebäude und Scheuern, am Himmel standen die alten Sterne. Als der Tag graute, ging er zwischen Hecken und Zäunen, kam über kleine Wege an gilbenden Wiesen entlang, sah Schlehenbüsche mit Früchten, sah Berberitzensträuche, erst als wirre, dunkelnde Streifen, dann so tröstlich in ihren Farben. Er griff in einen Schlehenbusch, holte sich die noch von keinem Frost süß gemachten blauen Kugeln, genoß ihren herben Geschmack. Die Schlehe ist der Weinstock des Fichtelgebirges, dachte er sehnsüchtig.

Er fühlte warme Sachen am Leibe, geräumige Stiefel an den Füßen, dachte: wenn die Sonne aufgeht, weiß ich die Himmelsrichtung. Ich könnte wandern über Eberswalde, Potsdam, Halle hin ins Bayreuthsche, auf listigen Umwegen von der Oder zur Saale, zum Main. Ich könnte bei Bauern Arbeit tun für Reisegroschen. In Küstrin werden sie überzeugt sein, daß ich in der Oder ertrunken bin. Und auch wenn sie die Gegend alarmieren, niemand sucht mich in dem Magistergewand oder wie man sonst den bürgerlichen Anzug nennen kann, den ich trage. Er sah über das sich langsam erhellende, schwach hügelige Land mit seinen abgeernteten Feldern, in die sich Waldstreifen schoben. In einer Stunde raschen Wanderns konnte er Deckung haben, wenn er bis Mittag weiter lief, war er in irgendeinem nicht mehr benachbarten Dorf – und für jedermann verschwunden.

Der Plan lockte: ein Rennen um die Freiheit. Nicht das Rennen des Marathonläufers mit der Siegesbotschaft, nein, sein Sieg würde die Freiheit sein.

Wunderbar leuchtend war die Vorstellung; durch Wälder und Felder, über steinige Wege, durch Gefahr und Mühsal komme ich zu dir, Ulrike. Ich kann dir nur meine Treue bringen. Vor der Welt mag sie ein Nichts sein, uns beiden aber ist die Treue das Erdreich alles Lebens.

Für Augenblicke sah er sich und Ulrike aufeinander zuwandern, als seien sie die ersten Menschen, hineingestellt auf eine neue Erde.

Dann erhob sich ein Zimmer des Bayreuther Schlosses vor seiner inneren Schau. Dort saß der Oberjägermeister Baron Egloff und sprach: »Ein Landstreicher will meine Tochter zur Frau?«

Heinrich Hügel wandte die Schritte zurück nach dem Edelhof. Wenn ihm Gelegenheit gegeben würde, seine Verhältnisse zu erklären, bekam er wahrscheinlich Ausweispapiere, ein Ansehen verschaffendes Gepäck und Geld für Fahrgelegenheit. Er konnte genug Zeugen für seine redliche Existenz und den nicht unbemittelten Großvater nennen. Ja, er konnte auch so viel von dem berühmten Dichter Jean Paul erzählen, was nicht aus Büchern bekannt war, daß es zur Legitimation würde.

Heinrich Hügel kam an die Türe des Herrenhauses, brachte einem Diener sein Anliegen vor, durchschritt in flüchtiger Wahrnehmung schöner Räume einen Gartensaal, ein Spielzimmer, kam über einen breiten Flur mit vielen altersdunklen Ölbildern in die Schreibstube des Herrn von Lastrow. Der Major saß auf dem einzigen Prunkstück dieses Büros, einem großen Ledersofa, rauchte seine Pfeife, nickte dem Eintretenden zu und begann ein Examen.

Es ließ an ausdauernder Gründlichkeit nichts zu wünschen übrig. Das Alter fragt anderes als die Jugend. Dem Alter geht es oft um Dinge, die der Jugend wesenlos erscheinen mögen. Das Alter weiß kleine Regungen oder auch Abwegigkeiten tiefer einzuschätzen. Der Major schien von Heinrich Hügels Antworten befriedigt.

»Gut, gut«, nickte er. »Und welche Bekannte oder Freunde haben Sie in der Stadt Bayreuth? Erzählen Sie mir ausführlich, wie man sich dort zu der französischen Okkupation stellte.«

Heinrich Hügel berichtete. Aus seinen Augen sprühte Zorn. In seinem Herzen war Erregung. Während er sprach, fühlte er jäh einen quälenden Hunger, eine immer zunehmende Erschöpfung. Plötzlich war ihm, als wiche der Fußboden unter ihm, er hörte die eigene Stimme wie aus weiter Ferne, der Raum schien sich vor seinen Augen zu drehen – Heinrich Hügel sank in Ohnmacht …

Da hinkte der alte Major zu der nur angelehnten Nebentür, öffnete einen Spalt und flüsterte: »Du hast gehört, Charlotte, der arme Kerl ist ein Mann von Wert und Gesinnung. Wir behalten ihn, geben ihm Beschäftigung. Jetzt brauche ich einen guten Branntwein für ihn.«

Als Heinrich Hügel wieder bei Bewußtsein war, bat er um etwas zu essen, erhielt es und hörte den Befehl, nun müsse er schlafen, solange er könne. Und er solle sich merken, daß er jetzt Herr von Reinosch hieße und der neue Sekretär sei. Denn ein hochgewachsener Studiosus von Reinosch habe vor drei Jahren hier seine Ausweispapiere gelassen und sei dann nach Dänemark übergesiedelt. Er würde keine Einsprüche erheben, es sei ein sehr unbesorgter Mensch gewesen. –

Heinrich Hügel lag wochenlang in Fieberphantasien. Er wußte es kaum, daß er ein anderes Zimmer bekommen hatte.

Manchmal war ein Arzt bei ihm, oft der alte Major. Ohne daß der Kranke es merkte, betrat auch Frau von Lastrow den hellen, schönen Gastraum. In seinen Fieberphantasien sprach Heinrich Hügel immer von einem Boten, der nach Bayreuth reisen und dorthin eine Kundschaft bringen sollte. –

Zu Beginn des Novembers kam der Föhn brausend übers Land, trieb die grauen Wolken fort, ließ Himmelsblau aufblitzen und breitete es wie Frühlingsahnen über das braune Land. Der Föhnwind rüttelte an Fenstern und Läden, gab den Bäumen eine Stimme, machte die Menschen erregt.

Der Föhnwind weckte auch Heinrich Hügel aus dem bangen Schlaf, in dem seine Seele gefangen gewesen. Er vermochte plötzlich all die Geräusche zu unterscheiden, die von den Gutsgebäuden herüberdrangen. Er konnte jählings aufstehen, ans Fenster treten. Waren Frühlingsstürme?

Er sah Knechte mit Gespannen ausfahren, er hörte das Brüllen der Kühe, sah Taubenschwärme auffliegen, Katzen ihr Spiel treiben und sah endlich eine hochgewachsene junge Frau, die im braungrünen Reitkleid ein Pferd bestieg und in schlankem Trab aus dem Hof ritt. Wunderlich, wie schön sie im Sattel saß. Man konnte mit den Blicken ihren Weg verfolgen. Sie ließ den Park zur Seite und suchte das freie Land. Noch lange konnte Heinrich Hügel ihren Ritt verfolgen –

Er merkte, daß er sehr gute Kleider trug und dachte, warum sind die Menschen hier so freundlich zu mir? Ich kann ihnen doch nichts sein, als eine Last. Sie haben wohl viele Mühe, mich, den entsprungenen Kriegsgefangenen, zu verbergen.

Er schaute sich in seinem Zimmer um: auf dem Tisch stand ein Strauß Föhrenzweige, auch Bücher und Schreibmaterial lagen da. Er hatte nicht lange über diese Fürsorge nachgedacht, als etwas mühsame, unrhythmische Schritte hörbar wurden und der alte Major eintrat.

»Na, die Gebrüder Beneken machen wieder Dienst«, rief er, ließ sich nieder und wehrte Heinrich Hügels Dankesworte ab. »Erinnern Sie sich auch, daß Sie der Kandidat Fritz von Reinosch sind? Diese Vorsicht ist geboten, auch unsere Leute wissen es nicht anders; allerdings etwas verändert kam der Reinosch von damals zurück.«

Der Major ging rasch auf die oft gehörte Bitte um eine Meldung in die Heimatstadt Bayreuth über. Trotz aller Fieberphantasien war dies ein sehr klarer Wunsch des Gastes gewesen. Doch in Frankfurt an der Oder sowie in Berlin gäbe es Prüfungsstellen, die alles Schriftliche, was irgendwie auffällig erschiene, einfach kassierten. Jedoch ein Bote würde zu finden sein.

Am Abend war Heinrich Hügel zu Tisch gebeten. Er fand im Kleiderschrank noch einen anderen Anzug, fand auch Wäsche und machte sich in erborgter Pracht fein. Es kam ihm nicht mehr darauf an, von wem die Kleider stammten, hatte er doch so lange in Küstrin den Rock eines toten Soldaten getragen.

Etwas zögernd betrat er das Eßzimmer, fühlte die Wärme eines Kaminfeuers, hörte einen Zuruf des Majors und beugte sich über die Hand der schönen, blonden Frau. Sie war sehr apart gekleidet, grünliche Seide mit etwas Pelz. Heinrich Hügel schloß nach dem Gewand auf Reichtum. Er versuchte Dankesworte, die ihm mit einer Geste und einem Lächeln abgeschnitten wurden.

Ein runder Tisch nahm den kleinen Kreis auf. Der Diener reichte warme Gerichte.

»Lieber Herr von Reinosch«, begann Frau von Lastrow mit heller Stimme ein Gespräch, »wir freuen uns Ihrer Genesung. Nun können Sie meinem Oheim und mir endlich erzählen, was Sie in Kopenhagen erlebt haben.«

Er begriff sofort, vor dem Personal sollte er aus einem von den Kriegswirren verschont gebliebenen Lande berichten. Er war nie in Kopenhagen, nie auf Seeland, nie in Jütland gewesen. Doch welcher gebildete Deutsche wußte nicht vom Grafen Schimmelmann, von Baggesen, den Rettern Schillers aus tiefer Bedrängnis?

Und so hob der »Kandidat von Reinosch« denn an, allerlei zu fabeln. Er ließ das nie erblickte Meer aufrauschen, er schilderte die Fahrt durch den Oeresund, die Reize Kopenhagens.

»Man weiß kaum, was Dichtung und Wahrheit in Ihrer Erzählung ist«, sagte Frau von Lastrow, als der Diener abserviert hatte und verschwunden war. »Und nun bitte erzählen Sie von Küstrin und Jena.«

Es wurde Heinrich Hügel wie ein Traum, hier in einem schönen Zimmer, dessen Wände gutgemalte Frucht- und Blumenstücke schmückten, bei den Bewohnern eines preußischen Herrensitzes als Gast zu sitzen. Er fühlte deutlich, daß man seinen Offiziersrang achtete, und bemerkte auch ein Interesse an seiner Person. Frau von Lastrow, die kaum fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, verbrannte etwas Räucherpulver im Kamin, es roch nach getrockneten Rosenblättern.

Behagen überströmte den Flüchtling. Er gab die erwarteten Schilderungen und erzählte dabei von der furchtbaren Nachrichtenlosigkeit, die ihm das Quälendste während der Festungshaft gewesen war.

»Sie wünschen also einen Boten in die Heimat Bayreuth, denn Briefe durch die Post würden nicht ankommen. Sie selbst können nicht reisen. Sie würden Gefahr laufen, wieder in Gefangenschaft zu geraten. Es muß ein Bote sein, der nicht aussieht, als ob er wieder Kriegsdienste leisten könne.« Frau von Lastrow lächelte. »Wir besitzen hier einen älteren, sehr verschmitzten, im Winter überzähligen Handlanger. Er ist im Vogtland zu Hause und kennt die Wege.«

Der Major stimmte lebhaft zu und betonte, der aus Küstrin entsprungene Flüchtling müsse sich notgedrungen noch eine Weile unter einem fremden Namen und im Schutze des abgelegenen Rittergutes verborgen halten. Preußen würde seine Offiziere wieder brauchen, und zum zweitenmal in Gefangenschaft zu geraten, könnte eine sehr schlimme Sache werden.

Heinrich Hügel durfte sich dieser Mahnung nicht entziehen und war gerührt von so viel Fürsorge. Und während so der Abend hinfloß in leisem Gespräch über die Ereignisse der Zeit und die Hoffnungen der Patrioten, überkam ihn ein seltsames Wohlgefühl. Zu seinen Ohren waren über zwei Jahre lang fast nur häßliche und höhnische Worte französischer Soldaten gedrungen. Nun fand er, daß Frau von Lastrow eine sehr angenehme Stimme habe. Sie sprach das reine Deutsch der Preußin, sie besaß auch eine anmutige Unterhaltungsgabe. Ihr Mann war bei Auerstädt gefallen, so sah sie in Heinrich Hügel einen Kameraden des Toten. Morgen würde sie ihre beiden Kinderchen zeigen: den zweieinhalb jährigen Erben, die nachgeborene kleine Tochter. Frau von Lastrow ließ zum Beschluß des Abends noch Wein bringen. Leise klangen die Gläser zusammen, leise klangen die Worte: »Es lebe der König.«

Heinrich Hügel hätte die ganze Nacht plaudern mögen, so wohl tat es ihm, nach so langer Zeit sich wieder aussprechen zu können. Wie mache ich so viel Teilnahme wieder gut? dachte er vorm Einschlafen. Keinen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß der alte Major und die junge Gutsherrin wohl auch Freude an einem Gast hatten, der einen neuen Ton in die ländliche Stille brachte.

Am anderen Morgen stellte sich ihm der Bote vor. Ja wirklich, diesen schmächtigen Mann würden französische Spione ruhig seines Weges ziehen lassen. Man sah ihm an, daß er nie im Leben den Soldatenrock getragen hatte, und nun war er ein guter Vierziger. Doch er hatte seine listigen, sächsischen Blinkeraugen, ein rasches Mundwerk und flinke Beine. Er war Landwirt von Beruf, aber es war ihm allezeit lieber gewesen, wandernd die Felder zu begrüßen, als sie zu pflügen. Nur um seiner bresthaften Kleider und Schuhe willen war er hier auf dem Rittergut zur Arbeit hängen geblieben. Nun freute er sich, über seine Heimat nach Bayreuth zu marschieren. Briefe wolle der Herr befördern? Gut, man nähte sie in den Rock von August Hicketier ein. Ja, und wenn ihm das Unglück passierte, daß er unter die Räuber fiele: sein Gedächtnis könne ihm niemand stehlen.

»Ich, der August Hicketier, will einen Besen fressen, wenn ich den Auftrag vergesse. Mit Pfeffer soll man mich in eine Dornenhecke schießen, wenn ich nicht der Grundehrlich bin.«

Dieser Bote wird sich durchschwatzen, dachte Heinrich Hügel und fragte, wann er seinen Weg antreten könne?

»Nu da, auf der Stelle«, antwortete der Mann.

Die Briefe waren schon in der Nacht geschrieben. Heinrich Hügel sah zu, wie sie zwischen Tuch und Futter des warmen Rockes eingenäht wurden.

»Ich komme wieder mit die Antworten«, rief August Hicketier beim Abschied.

Heinrich Hügel sah dem Manne nach, Neid im Herzen. Ulrike, Ulrike! Könnte er doch selbst auf der Stelle zu ihr eilen. Doch er verstand, fiele er ein zweites Mal in die Hände der Franzosen, dann adieu Leben. Und er wollte leben, für seine Liebe, für sein Vaterland. Wenn der König rief, dann mußten alle, alle bereit sein.


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