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VII.
Die Reise nach Weimar

Die Nachricht von der Schlacht bei Jena und ihrem furchtbaren Ausgang für die preußische Armee verbreitete sich rasch. Es war einer großen Menge von Soldaten gelungen, durch Flucht dem Untergang zu entrinnen. Die Trümmer des preußischen Heeres retteten sich zum größeren Teil in die Gegend um Erfurt und vereinigten sich dort mit der bei Auerstädt geschlagenen Hauptarmee. Kleinere, versprengte Trupps kamen ins Vogtland, und so drang die grausame Botschaft von dem ungeheuren Sieg Napoleons bald auch nach Bayreuth.

Ulrike von Egloff hatte nicht den Trost, mit ihrem Vater das folgenschwere Ereignis besprechen zu können. Er war gleich seinem Sohne dienstlich nach Ansbach berufen worden und rechnete mit einem Aufenthalt von mehreren Wochen. Die Großtante, Gräfin Giech, die mit ihrer Sachwalterin, zwei Bedienten und einer Jungfer wieder für den Winter in die Egloffsche Wohnung übergesiedelt war, erklärte die Schreckenskunde für ein übles Gerücht.

In Jena – meinte sie – nun da herrsche doch Karl August, der tapfer war wie einst sein Ahnherr Bernhard von Weimar. Und der König von Preußen stand in Thüringen! Welche Idee, da von verlorener Schlacht zu reden! Die greise Gräfin verfaßte sofort ein Brieflein an die Damen von Egloffstein in Jena, Namensverwandte von uralter Zeit her. Denn – so sprach die nicht mehr ganz zeitgemäß denkende alte Frau – bestimmte und glaubwürdige Nachrichten bekomme man nur von Standesgenossen.

»Wäre der Weg nicht so weit, führe ich selbst hin, der Königin Luise und den Weimarischen Herrschaften meine Aufwartung zu machen«, sagte sie und blickte Ulrike aufmunternd an. »Warum soll man nicht reisen? Will uns vielleicht der Bonaparte die Wege versperren?«

Die Witwe von Minkwitz, Gesellschafterin, Hausdame, Vorleserin und Vertraute in einer Person, wußte längst, daß die Reichsgräfin von Giech Widersprüche nicht liebte. Die Minkwitz war wortgewandt und hielt dafür, daß man der Gegenwart lebe, nicht Zukunftsplänen. So sagte sie: »Hochgräfliche Gnaden, heute wäre das Wetter unbedingt zu schlecht, um eine Reise anzutreten.« –

Der Brief von Heinrich Hügel erreichte Ulrike. Sie las zuerst die Sätze der Bauernwitwe Kunze auf dem Umschlag, das Wort: »Kommen Sie« sprang ihr wie ein Befehl entgegen. Die Nachricht, Heinrich Hügel läge verwundet in einem Dorfe des Kampfgebietes, erfüllte sie mit solcher Herzensangst, daß sie alle Scheu beiseite ließ und zu Jean Paul eilte.

Es war am Morgen. Der Dichter saß mit seiner Gattin beim Frühstück. Die Kinder umringten ihn, zupften noch seine Kleidung zurecht und schnürten ihm die Wanderschuhe. Die leise Verlegenheit, von der die Frau Legationsrätin infolge einer mangelnden Frühstücksdecke und anderer kleiner Lässigkeiten befallen wurde, verlor sich sofort, als man erfuhr, was die junge Baronesse ins Haus getrieben hatte. Ulrike erklärte, daß sie reisen und den Verwundeten aufsuchen wollte.

Jean Paul vergaß vormalige Bedenken.

»Es ist Krieg«, sagte Frau Caroline Richter, und ihr Mann sowohl als Ulrike verstanden, daß sie warnen wollte.

Jean Paul stand auf und holte eine frische Tasse aus einem Wandschränkchen. Die Gattin eilte, für Ulrike einzuschenken und sie zum Frühstück aufzufordern.

Jean Paul hatte gegen seine Gewohnheit bisher sich noch nicht geäußert. Nun wandte er seine schönen Augen ganz Ulrike zu und sagte sanft:

»Ja, es ist Krieg, meine Verehrte. Und in Kriegszeiten darf das Menschliche in uns lauter sprechen. Vielleicht mag es gegen die Schicklichkeit sein, daß eine junge Dame an das Bett eines Kranken tritt, der nicht ihr angetrauter Mann ist. Gleichviel, es handelt sich um einen so begabten, liebenswerten Menschen, um Ihren Jugendfreund, wenn man so sagen darf. Die Blume der Freundschaft ist nicht nur ein schönes, sondern auch ein heilsames Gebilde der Menschlichkeit. Meine liebe Baronesse Ulrike, haben Sie Mut! Es ist Ihnen versagt, mit Vater und Bruder zu sprechen, die hochgräfliche Tante ist gar alt, sie zu beunruhigen wäre Frevel. Haben Sie nicht Bekannte oder Verwandte zwischen Bayreuth und Jena?«

»Doch«, antwortete Ulrike und nannte ein Rittergut in der Nähe von Münchberg.

»Herrlich, herrlich«, rief Jean Paul aufspringend und wandelte im Zimmer umher. »Meine Frau begleitet Sie, Baronesse. O bitte, keinen Widerspruch. Warum soll meine Frau nicht eine Reise machen?«

Jean Pauls Gesicht überflog ein listiger Ausdruck: »Wir haben nämlich Beziehungen in Münchberg – von diesem Augenblick an. Eine Weberei schuldet uns noch Ware. Ein Fuhrwerk habe ich bis morgen früh aufgetrieben. Sie werden der hochgräflichen Tante sagen, daß meine Frau in Münchberg zu tun hat, daß Sie mitfahren und sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen möchten, Ihre Freundin auf dem Rittergute zu besuchen. Die Freunde dort werden dann weiter Rat schaffen, nicht wahr?«

Ulrike dachte auf dem kurzen Heimweg, ob sie es denn annehmen dürfe, daß der verehrte Dichter mit seinen Kindern und einem französischen Unteroffizier im Quartier für Tage der Pflege der Magd allein überlassen würde? Aber er war so freudig bereit gewesen, ihr zu helfen – das zerstreute ihre Scheu.

Während Ulrike noch die Sätze überlegte, mit denen sie vor die Großtante treten und ihren Reiseplan durchsetzen wollte, stürmte ein wohlbekannter, rascher Schritt die Treppe herauf. Ulrike flog aus der Türe ihres Zimmers, sah vor sich ihren Bruder Alexander, fühlte seine Hände auf ihren Schultern.

»Ja, mein altes Mädchen, da bin ich«, rief er. »Wie siehst du aus? Hast du Kummer? Komm, laß eine Flasche Wein bringen. In einer Stunde muß ich wieder fort. Papa läßt grüßen. Der bayrische Kommissar Graf Thürheim will die Wälder um Ansbach kennenlernen, und Papa wurde ihm als der beste Führer genannt. So bleibt er noch über die großen Herbstjagden. Ich aber muß nach Weimar.«

Ulrikes Herz erbebte. Gab es solche Fügungen? In ihrer Not wurde ihr der Bruder zu Hilfe gesandt?

»Was sollst du denn in Weimar?«

»Ich habe den Rang eines Postillions.« Alexander von Egloff lachte bitter auf. »Der hiesige Befehlshaber hat mir das Aktenpaket über die Provinz Bayreuth schon ausgehändigt. Napoleon höchstselbst will es durchsehen! Treffe ich den Sieger von Jena nicht mehr in Weimar, so muß ich ihn in Erfurt suchen.«

Der alte Diener hatte den Wein gebracht. Alexander trank der Schwester zu und flüsterte: »Sind Lagienskis wieder hier?«

»Sie werden zurückerwartet, aber erst in Wochen.«

Alexander seufzte. Seine Finger trommelten nervös auf der Tischplatte.

»Du sahst Marya nicht wieder?«

»Nein, dein Brief liegt eingesiegelt bei der Frau Rollwenzel.«

Alexander erblaßte, sagte müde, daß er sich nun der Tante vorstellen wolle – es bliebe dann wohl noch eine Viertelstunde zum Plaudern vor seiner Abfahrt.

»Nimm mich mit!« bat Ulrike.

Alexander fragte nicht nach dem Warum. Es schien ihm auf der Hand zu liegen, daß die Schwester sich in dem besetzten Bayreuth nicht wohl fühlte. Egloffs kannten in Rudolstadt eine alte Dame von Holleben. Dort würde Unterkunft für Ulrike sein, denn als Kurier wollte oder konnte er nicht mit weiblicher Begleitung in Weimar auftreten.

Ulrike verpackte in fieberhafter Eile ihren kleinen Sparschatz, Lebensmittel und Kleider, schrieb eine Zeile an Jean Paul und Frau von der seltsamen Wendung und bat sie, Heinrich Hügels Großvater ein beruhigendes Wort über den Enkel zu sagen.

Gräfin Giech nahm die Abreise nicht schwer. Sie fand es richtig, daß Ulrike mitreiste und etwas von der Welt sah.

Und nun rollte die Kutsche des Kuriers durch das herbstliche Land. Ein Stafettenreiter eilte voraus, Pferdewechsel und Nachtquartiere zu bestellen. Sie fuhren und fuhren. Es ging vorüber an Sturzäckern, an Kartoffelfeuern. Sie passierten viele stille Dörfer, kamen in die Gegend um Hof, kamen hinein ins Reußische Land mit seinen goldenen Birkenalleen.

Alexander schien Ulrike sehr erregt. Seine Äußerungen wechselten zwischen verbissenen Zornesworten über die Lage in Franken, über das Unglück der Schlacht bei Jena und zwischen jäher persönlicher Aussprache.

Der Graf Lagienski und seine Tochter sollten in Weimar sein, hatte er erfahren. Der Graf kannte die Großfürstin Marie Paulowna, die junge Erbprinzessin von Weimar, und wollte ihr gewiß seine Tochter vorstellen. Vielleicht suchte er russische Dienste? Vielleicht wollte er sich auch bei Napoleon um eine erste Stelle in Bayreuth bemühen – man konnte nicht wissen.

Alexander reist gern nach Weimar, weil er Marya wiedersehen will, erriet die Schwester. Sie sann und sann, ob sie sich ihm anvertrauen dürfe.

»Wir kommen durch den Rodaer Grund nach Jena«, erklärte Alexander. »Dort werde ich im »Gasthof zum Bären« einen Wagen für dich nach Rudolstadt besorgen. Ich kenne den Bärenwirt von meiner Studienzeit her, er wird dich, wenn ich ihm ein gutes Wort gebe, selbst fahren und irgendein kleines Mädchen mitgeben, damit du nicht ohne Bedienung kommst. Du mußt zum mindesten auf fünf Tage in Rudolstadt rechnen. Wenn ich aber nach Erfurt muß, so dauert es vielleicht ein paar Wochen, bis mir eine Antwort ausgefertigt wird.«

Erneut überlegte Ulrike, ob sie dem Bruder nicht doch ihr Vertrauen schenken müsse. Wenn sie Heinrich Hügel schwer krank traf, bedurfte sie doch eines Beistandes, um für ihn zu sorgen.

»Deine weimarsche Adresse kannst du mir doch angeben?« fragte sie.

Er verneinte. Man wüßte doch nicht, wie es in der Stadt stünde. In einem Nachtquartier hatte man von der Plünderung in Weimar erzählt. Vielleicht waren alle Gasthöfe besetzt, und man fand nur irgendein Soldatenquartier.

»Ich komme selbst, oder ich schicke dir einen Boten nach Rudolstadt.«

Sie war erstaunt, daß der Bruder sie während des mehrtägigen Zusammenseins gar nicht fragte, warum sie denn durchaus die Reise mitmachen wollte? Schwieg er aus Diskretion?

Leiser, andauernder Regen fiel, ließ das Laub von den Bäumen sinken. Über den Gesichtern und Gebärden der Menschen lag Angst, je näher man durch den Rodaer Grund auf Jena zurückte. Oftmals sah man hagere, verwilderte Soldaten mit unsauberen Verbänden um Arme oder Beine, die sich rasch in einen Stall oder ein Gehöft zurückzogen, sobald sie die Reisekutsche wahrnahmen.

»Sieh nicht hin«, sagte Alexander von Egloff rauh. »Es sind versprengte Verwundete. Wir können nichts helfen. Die Dorfbewohner werden Mitleid mit ihnen haben. Vielleicht sind die Soldaten auch Thüringer und in ihren Heimstätten – Verdammt, wie schlecht sie sich geschlagen haben.«

»Die Übermacht«, stammelte Ulrike.

»Die Berliner Offiziere waren Lebemänner geworden, Trinker, Spieler. Der Alte Fritz hätte sie zum Teufel gejagt!«

»Nicht alle«, rief Ulrike.

Der Bruder sah sie scharf an. »So, nicht alle? Doch wer nicht gefallen ist, muß sich jetzt um den König scharen, damit dieser dem Bonaparte auf preußischem Boden nochmals eine Schlacht anbieten kann.«

Ulrike sah von neuem, sie mußte allein handeln.

Sie waren vom letzten Nachtquartier in noch dunkler Frühe aufgebrochen. Als sich das Saaletal öffnete, beglänzte ein schöner Morgen die Landschaft. In blauer Weite sah man die Höhenzüge um Jena und von Licht bestrahlt die Türme der Stadt.

Im »Gasthof zum Bären«, wo einst Luther gewohnt hatte, fanden sie außer den Wirtsleuten eine freundliche Großmutter und ein halbwüchsiges Verwandtenkind. Ulrike wandte sich an diese beiden, nachdem Alexander die Schwester der Fürsorge der Wirtsleute anempfohlen hatte. Sie dienerten hinter dem vormaligen Jenaer Studenten her, als er in großer Eile den Reisewagen wieder bestieg.

Es ist nicht nett von mir, daß ich Ulrike nach Rudolstadt schicke, dachte Alexander auf der Fahrt. Aber ich könnte mich in Weimar nicht um sie kümmern. Ich muß Marya finden.

Zunächst hatte er seine Pflicht zu erfüllen. Napoleon war nicht mehr in der aufgeregten Stadt Weimar. Doch es befand sich noch eine französische Besatzung da, deren Befehlshaber die Papiere zu übergeben waren. Mit dem Ablieferungsschein in der Tasche begab sich Alexander von Egloff ins Hotel und hörte dort an der Mittagstafel, an der sich jeder Fremde von Rang zu beteiligen hatte, Ereignisse, die noch nicht zu ihm gedrungen waren.

Schon am Tage nach der Schlacht bei Jena legte Kaiser Napoleon allen preußischen Provinzen eine Kontribution von fast 160 Millionen Franken auf. Eine Woche später erklärte er, die preußischen Provinzen links der Elbe für französisches Gebiet, auch die Territorien des Hauses Oranien-Nassau und der hessischen Kurlinie waren dem französischen Kaisertum angegliedert.

Alexander von Egloff glaubte, einen bösen Traum zu träumen. Doch er hörte die Sprechenden einander mit gewichtigen Titeln anreden und erinnerte sich, einige von ihnen zu kennen.

»Der Dresdner Hof ist zu Napoleon übergegangen.«

»In Polen bereitet sich eine Revolution vor, sie wollen die preußische Herrschaft abwerfen.«

Polen will die preußische Herrschaft abwerfen? Alexander von Egloff erschrak, beendete seine Mahlzeit und eilte hinaus auf den Markt von Weimar.

Es mußte doch eine Liste der Fremden geben, die sich in der Stadt aufhielten. Drüben lag das Rathaus, dort würde er Bescheid erhalten. Er fand zwei Schreiber vor, der eine war jung, der andere in vorgerückten Jahren; doch sie glichen einander in Devotion und Gedrücktheit. Sie erklärten, die Namen der vielen Herrschaften, die jetzt in der Stadt seien, könne man sich gar nicht merken. Auch verstünden sie nicht, warum man gerade eine geplünderte Stadt als angenehmen Aufenthalt wähle. Während sie in ihren Listen blätterten, erzählte der bejahrte Mann Geschichten: bei Geheimrat von Goethe seien wüste Kerle eingebrochen am Abend der Plünderung, und die Mamsell Vulpius, oder wie man jetzt sprechen müsse, die Frau Geheimrätin, habe tapfer ihren Mann gestanden und sei für ihren Mut und ihre Tatkraft sodann zum Traualtar geführt worden. Bei der Frau Oberstallmeisterin von Stein sei das Plündern so gründlich geschehen, daß die Frau Herzogin ihr habe Zeug für ein Kleid schicken müssen. Die Frau Herzogin selbst aber wäre, trotzdem sie doch so bleich und eigentlich wie ein Sterbeling aussehe, mit fürstlicher Kraft vor den Napoleon getreten und habe gesprochen: »Weimar kommt nicht in Ihre große Tasche, Herr Kaiser der Franzosen, das weimarsche Land bleibt egal weg weimarsch.«

Die Herzogin wird wohl andere Worte gewählt haben, dachte Alexander von Egloff. Er hörte weiter: der Witwe Lämmerhirt hatten die Franzosen die große Räucherkammer ausgeräumt, worin auch die Schinken und Speckseiten ihrer ganzen Nachbarschaft hingen. Die Rauchwaren wurden auf einen Sitz aufgefressen. Dann waren die Soldaten, von Durst gepeinigt, in das Gasthaus zur Armbrust eingebrochen und hatten sich mit den »Goschen« an die Spunde der Bierfässer gehangen. Daß die Franzosen die letzten Taler und Kreuzer in den Häusern der kleinen Bürger aufstöberten, verstünde sich von selbst.

Nun rechne man auf den durchlauchtigen Herrn Herzog, daß er Hilfe schaffe und eine Hungersnot abwende.

»Und doch sind fremde Gäste in der Stadt?«

»Nu da, sie bringen wenigstens Geld herein. Was heute noch schießen kann, ist auf der Hasenjagd, und Fischnetze durchziehen die Ilm, damit es in den Gasthöfen noch ein Essen gibt.«

Zu anderer Stunde hätten all diese Dinge Alexander von Egloff aufs lebhafteste interessiert. Nun aber fieberte er, eine Nachricht über Lagienskis zu bekommen. Papiere raschelten unter den Händen der Schreiber bei ihrem vergeblichen Suchen.

Ich muß in die Gasthöfe eilen, dachte Egloff. Oder sollte Graf Lagienski Unterkunft im Schloß gefunden haben?

Plötzlich betrat ein Beamter den Raum, vor dem sich die Schreiber tief verbeugten und ihn mit Herr Kommissär begrüßten. Dieser Herr hatte trotz allem Leid und Schrecken seine munteren Thüringer Blicke nicht eingebüßt, und als er das Anliegen vernahm, konnte er Auskunft geben:

»Der Herr Graf von Lagienski mit Komtesse Tochter hat in Belvedere Quartier gefunden. Die Frau Herzogin ließ ihm Schloßzimmer geben, das Essen besorgt der Gastwirt in Belvedere.« –

Alexanders Wagen rollte über die gewellte Straße hinauf nach Belvedere. Die Baumreihen hielten noch letztes Laub. Vor dem reizvollen Schloß des früheren Herzogs Ernst August standen zwei Schildwachen.

Jawohl, der Herr Graf sei zu Hause. Die Komtesse aber wäre in der Stadt eingeladen.

Das kurze Gespräch hatte den polnischen Grafen an ein Fenster gelockt. Und so blieb Egloff nichts übrig, als der winkenden Hand zu folgen und einzutreten. In unversehrter Eleganz trat ihm Maryas Vater entgegen. Wie spöttisch sein Lächeln war, übersah Alexander.

»Ah, so sieht man sich wieder, lieber Baron. Sie haben Geschäfte in Weimar?« Egloff bejahte, der Graf plauderte weiter: »Auch ich habe Geschäfte in Weimar. Beide müssen wir wohl über unsere Affären schweigen. Nur daß die preußischen Unternehmungen im weimarschen Land keine Fortune gehabt haben, ist aller Welt vor Augen getreten. Traurig, sehr traurig.«

Lagienski schnitt Alexander von Egloff ein Wort der Erwiderung ab, bot ihm einen Fauteuil an, befahl dem Diener, Kaffee zu bereiten. Ein listiger Ausdruck flog über sein Gesicht:

»Wir sind in Weimar, um den großen Dichter Goethe zu besuchen«, lächelte er. »Andere Gründe braucht es für einen Aufenthalt in dieser Stadt nicht.«

»Ihre Gräfin Tochter –«

Wieder beugte der Graf einer Aussprache vor. »Nun, natürlich besucht auch sie Herrn von Goethe, den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht. Herrn von Goethe kann man lesen. Aber Ihr guter Bayreuther Dichter Jean Paul ist doch schwer genießbar. Er bevorzugt die Kranken, Armen, vom Schicksal Vernachlässigten. Stets fließen Tränen bei ihm, und Abendröten löschen aus.«

So unruhig Alexander war, so sehr es ihn drängte, nach Weimar zurückzukommen und Marya zu treffen, er mußte doch eine Lanze für den abwesenden Dichter brechen:

»Immerhin hat Jean Paul den ›Titan‹ geschrieben, Herr Graf.«

»Ziehen Sie denn wirklich Ihren Landsmann Jean Paul dem großen Goethe vor, lieber Egloff?« fragte der Pole.

Alexander warf rasch hin: »Jean Pauls ganzes Leben gilt dem Volke. Den Armen und Bedrückten will er der Anwalt sein, der Tröster ihrer Herzensnöte, der Offenbarer, daß auch das kleinste Dasein Wert und Ethos hat. Er will sie in Zeiten des Unglücks erheben, er ist der Verklärer ihrer Freuden, der Erleuchter ihrer Vergangenheit, der Lockerer ihrer Fesseln. Er wendet seine Kräfte und Gaben an, dem einfachen Volke ein Führer zu sein.«

Graf Lagienski lächelte: »Wenn Sie sagen würden, Jean Paul zeigt den höheren Ständen das Leben der gedrückten Existenzen, würde ich Ihnen zustimmen. Doch haben Sie denn schon Kleinbürger und Bauern über der Lektüre Jean Paulscher Werke gesehen? Er mag ein Genie sein, aber er hat zu wenig Talent.«

Alexander von Egloff dachte, wäre ich nur fort aus diesem Raume. Ich muß Marya allein sprechen. Doch der Diener brachte jetzt Kaffee und leichtes Backwerk, der Graf erklärte, Freude an einer Plauderstunde zu haben. So mußte der Ungeduldige noch ausharren.

Schließlich aber sprang Alexander auf: »Meine Geschäfte zwingen mich, noch heute abend abzureisen. Ich darf mich wohl beurlauben, Herr Graf?«

Lagienski verbarg seine Freude über diese Nachricht unter geheucheltem Bedauern und versprach, die Grüße an seine Tochter ausrichten zu wollen. –

Alexanders Wagen hielt auf der Landstraße in nächster Nähe des Dorfes Oberweimar. Hier mußte Marya vorüberkommen. Alexander entstieg seinem Gefährt und hielt Ausschau. Es war noch Nachmittagshelle. Über der kleinen Ilmbrücke, hart am rauschenden Gewässer, lag ein alter Gasthof. Alexander beauftragte den Bedienten, ein ungestörtes Wirtszimmer zu bestellen.

Und dann wartete der unruhige Liebhaber. Sie mußte doch diesen Weg kommen. Vielleicht dauerte es noch lange, bis sie sich im Goethehaus trennen konnte. Wer weiß, wo sie noch Besuch machte. Vielleicht ging sie als Trösterin, und auch ein wenig als Neugierige in Häuser, die durch die Plünderung gelitten hatten. Vielleicht suchte sie auch kleine Leute auf, um Geldgaben zu bringen? Man wußte nie, wohin sie ihre Laune oder eine spontane Gutherzigkeit trieb.

Vereinzelte goldene Blätter taumelten von den Bäumen und umschwebten den Wartenden. Manchmal kamen Frauen mit einem Handwagen voll Rüben, die ihnen wohl mitleidige Bauern geschenkt hatten. Und endlich rollte auch das gräfliche Gefährt heran. Alexander kannte den Kutscher, den Bedienten. Sie aber kannten die Trinkgelder des jungen Baron Egloff. Und so hielt der Wagen.

Marya lächelte, als sie Alexander erblickte. Und er rief, während seine Augen um sie warben: »Ich habe eine dringliche Nachricht aus Bayreuth und muß weiterreisen. Nach Belvedere kann ich unmöglich noch einmal zurück – dort liegt ein Gasthof.«

Sie zauderte keinen Augenblick, den Befehl zum Hinüberfahren zu geben. Er ist doch mein Freund, dachte sie.

Im kleinen Honoratiorenzimmer des alten Gasthofs gab es ein Sofa. Es war ein wenig zerschlissen, und über ihm hing im verräucherten Rahmen das Bildnis des Herzogs Karl August.

Marya sah es an, lächelte: »Wir haben den Landesherrn als Beschützer – wie korrekt!« Und dann nahm sie auf dem ärmlichen Kanapee Platz. Sie ließ den leichten pelzverbrämten Mantel von den Schultern fallen, streifte die Handschuhe ab und saß so stolz und fremdartig in der Wirtsstube, als habe sie eine Königin im Exil vorzustellen.

Alexander küßte ihre Hände und war in größter Erregung. Sie strich ihm über das Blondhaar und flüsterte: »Contenance, mein Freund. Wir werden beobachtet. Es gibt Schlüssellöcher und Türritzen.«

Er stand dicht bei ihr und sprach in heftigen stoßweisen Worten von seiner großen Liebe. Marya lächelte:

»Es ist so schön, daß wir uns sehen, Alexander. Du warst bei Papa? Was hast du mit ihm gesprochen?« Spannung lag über ihren Zügen.

»Es beliebte dem Grafen, von Jean Paul und Goethe zu reden. Ich hielt an mich. Ich muß erst von dir wissen, ob der Augenblick da ist, daß ich ihm meine Werbung vortragen darf.«

Ihre Mundwinkel hoben sich, ihre Augen bekamen einen feuchten Blick. »Nicht jetzt, Alexander. Mein Vater befindet sich sozusagen in allen Zuständen. Ihn bedrängen Entscheidungen. Er würde auf jede Frage, ob ich ihn verlassen könne, in dieser Zeit mit Nein antworten.« Wieder ging ihre Stimme in ein Flüstern über: »Mein Vater weiß heute noch nicht, ob er nach Warschau, nach Berlin oder Paris fährt. Papa erträgt die Situation eines Privatmannes nicht länger. Er ist fünfzig Jahre alt, seine diplomatischen Fähigkeiten verlangen eine Mission.«

»Was hat das mit unserer Liebe zu tun, Marya?«

Sie nahm seine Hand. »Im Grunde nichts, und im Augenblick doch sehr viel. Ich vertraue dir an, mein Vater steht vor schwierigen Entscheidungen. Daß er Angebote und Chancen hat, wirst du begreifen. Bis er sich schlüssig geworden ist, müssen meine Wünsche schweigen.«

Alexander suchte ihre weichen, warmen Lippen.

Sie stieß ein kleines Lachen aus. »Du weißt, Philippsruh gehört meinem Vater. Ich verspreche dir, daß ich wieder dorthin komme. Dies ist das einzige, was ich dir heute sagen kann. Und nun leb wohl. Ich muß zurück. Ich war nicht bei Goethe, sondern bei der Schwester des Zaren, der Erbprinzessin. Papa wartet, welche Nachricht ich von ihr zu bringen habe.«

Alexander begriff: heute handelte es sich für einen ehrgeizigen Mann darum, ob er Dienste bei dem Zaren oder dem Kaiser Napoleon nehmen sollte.

Alexander fragte, wohin er Maruschka schreiben könne, und sie versprach, ihm Nachricht zu geben, sobald sie den Wohnort wechseln würden.

Könnte ich sie in meine Arme reißen, in meinen Wagen nehmen und mit ihr fort in die Heimat fahren, in die Dorfkirche von Egloffstein, durchzuckte es ihn. Aber er wußte zugleich, dann wäre die Gräfin Lagienska von ihren Standesgenossen, von Vater und Herkommen geschieden.

Er küßte sie, stammelte Liebesworte – hörte ihre weiche Stimme, die Flüsterworte des Abschieds sprach.

Dann war sie wieder in ihrem Wagen, winkte mit der Hand, und von seinen Lippen löste sich schwer und wie schicksalhaft ein letztes »à Dieu.« – –

*

Der Bärenwirt in Jena war nach der raschen Abfahrt Alexanders vor Ulrike hingetreten und hatte ihr gesagt, er könne sie heute nicht nach Rudolstadt fahren, da er auf den Abend ins Rathaus zu einer Sitzung befohlen sei.

Sie mühte sich um ein Lächeln. »Ich würde auch heute lieber einen kleinen Ausflug machen. Kann mich nicht jemand nach dem Dorf Vierzehnheiligen bringen?«

Der Wirt meinte, oben auf dem Schlachtfeld gäbe es doch noch manches zu sehen, das eine junge Dame nicht ertragen würde. Ob er es vor dem Herrn Baron verantworten dürfe, diese Fahrt mit der gnädigen Baronesse zu machen?

Ulrike beschwichtigte die Bedenken. Müßten die Frauen und Mädchen, die oben in den Dörfern des Plateaus wohnten, denn nicht auch den Anblick ertragen? Ein Verwandter, der verwundet in einem Bauernhaus läge, habe sie rufen lassen, wahrscheinlich besäße er kein Geld für seinen Transport in ein Krankenhaus. Nun willigte der Wirt ein und erklärte, er könne sie wohl nach Isserstedt bringen und sie dort am Abend wieder abholen lassen. Doch die Stunde Weg hinauf nach Vierzehnheiligen müsse man zu Fuß gehen.

Es machte nichts, daß nur ein alter, schwerhöriger Knecht sie fahren konnte. Im letzten Augenblick fuhr noch die Wirtin mit, eine stattliche Frau. Sie sprach, die gnädige Baronesse möge ihrem Manne nicht zürnen, er habe nur dieses eine Paar Pferde vor den Franzosen retten können. Doch wisse man, in Isserstedt seien keine Feinde mehr, in Vierzehnheiligen träfe man wohl noch Posten und Aufräumemannschaft, um die Waffen und Feldzeichen zu sammeln und abzuführen. Die Toten habe man begraben, es seien ja auch vierzehn Tage seit der mörderischen Schlacht vorüber.

Die Wirtin erzählte noch mehr, während der Wagen durch das schöne Mühltal mit seinen alten Bäumen fuhr. Hier sei immer die Botenfrau nach Weimar gewandert. Sie habe früher oft ein Briefchen von Herrn Hofrat Schiller an Herrn Geheimrat von Goethe befördert und Antwort zurückgebracht. Herr Hofrat Schiller hätte es auf der Brust gehabt, aber sie, die Bärenwirtin, trug auch ihr Leiden. Ja, sie habe ihre Achillesferse, wie die Herren Professoren es genannt hätten, einen Schaden am rechten Beine. Und darum könne sie wohl mitfahren, jedoch den Fußweg unmöglich leisten. Aber Deppe, der Knecht, würde ein kräftiger Schutz sein.

Ulrike nickte. Ihr Herz schlug so heftig. Wie würde sie Heinrich Hügel finden? War er sehr schwer verwundet? Konnte sie in dem Dorfe einen Wagen auftreiben, der ihn zu Tal brachte?

Ulrike schritt hinter ihrer Begleitung einen bebuschten Hohlweg hinan. Die Sonne durchleuchtete das letzte rote Laub an den Büschen, daß es wie Blutstropfen an den Zweigen hing.

Ulrike hastete weiter. Der Weg schien ihr endlos lang. Über ihr stand der Himmel in einem ersterbenden Blau. Wind raschelte im Buschwerk. Zuweilen schreckte ein wildes Kaninchen vor den Schritten auf und lief in seinen Bau zurück. In kahlen, wilden Rosensträuchern, die noch vereinzelte Hagebutten trugen, saßen Dompfaffen, aufgeplustert und behäbig wie kleine Bälle, grau und rosa gefärbt.

Über ein so friedliches, schönes Land ist die furchtbare Schlacht gegangen, dachte Ulrike, hat einer stolzen Armee den Untergang gebracht und den armen Dorfleuten hier Schrecken und Furcht. –

Die Höhe wurde erreicht. Sie sah den Kirchturm von Vierzehnheiligen aufragen, sah brandgeschwärzte Mauern, zertrümmerte Dächer. Am Wege zwischen Äckern schimmerte zuweilen eine verlorene Waffe, Uniformfetzen lagen noch verstreut umher.

Im Dorf war es ganz still. Über Ulrikes Herz kam Hoffnungslosigkeit. Sie suchte sie fortzuscheuchen. Gott würde doch Erbarmen haben, denn sind nicht alle unsere Wege ihm befohlen?

Sie sah, daß der alte Knecht in der Nähe eines stattlichen Hauses stehen blieb. »Da wohnt die Witwe Kunze«, meldete er.

Ulrike eilte über einen kleinen gepflasterten Weg. Ihre Hände zitterten, als sie nach der Klinke der Haustüre griffen. Sie war verschlossen. Eine Katze sprang herbei und rieb sich am Türbalken. Auch sie hoffte auf Einlaß.

Ulrike klopfte an ein Fenster, erst schüchtern, dann lauter, fordernder. Da sah sie endlich zwischen Geranienstöcken eine Frauenstirne und dunkle Augen. Ulrike hob bittend die Hände. Ein Schritt klang auf dem Flur. Die Türe wurde halb geöffnet – Ulrike schlüpfte ins Haus.

»Ich bin das Fräulein, dem Sie geschrieben haben, ich solle kommen.«

Die hübsche Frau in mittleren Jahren nickte, verriegelte sorgfältig die Hauspforte, öffnete die Türe zu einem niedrigen Raum, bot Ulrike einen Stuhl.

»Gute Frau Kunze, wo ist der Herr Leutnant?«

Die Frau blieb am Tische stehen. In ihren Zügen war Verlegenheit oder Kummer. Sie begann: »Er lag nur einige Tage, ohne viel von sich zu wissen. Ich habe ihn gut gepflegt, jo. Er hätte das nicht sollen tun, daß er hinaus in die frische Luft getreten ist. Wir haben ihn so gut versteckt, jo.«

»Wo ist er?« rief Ulrike voll Angst.

Die Frau hob die Hände: »Eine Streife. Bagagewagen und vier oder fünf französische Offiziere zu Pferd. Sie haben geschrien und gelacht. Prison, Prison, haben sie geschrien. Und wie der Herr Leutnant nach seinem Säbel greifen wollte, da merkte er erst, daß er ihn auf seinem Bette liegen gelassen, jo.

Da haben die Soldaten ihn überwältigt – haben in meiner Stube seine Sachen geholt, und haben ihn, weil sein Kopf und seine Schulter noch verbunden war, ins Stroh auf einen Bagagewagen gelegt. Mit den Armen hat er gefochten, mit den Fäusten hat er Hiebe ausgeteilt.

Da rief ihm ein Offizier etwas zu. Ich konnt' es nicht verstehn. Aber der Herr Pfarrer, der auf die Straße geeilt war, hat es gehört, und es soll geheißen haben: ›Ich lasse einen Wehrlosen nicht niederschießen. Kommen Sie zur Vernunft. Sie sind verwundet und kriegsgefangen.‹«

Die Frau schöpfte einen Augenblick Atem. »Ich war alleinig«, fuhr sie dann fort. »Ich konnte ihm nichts mehr tun, als einen Laib Brot in den Wagen werfen. Die Rösser zogen an, wie der Blitz war die Streife fort.«

»Und wohin, wohin wurde er gebracht?«

»Das weiß Gott alleine«, sagte die Bauerswitwe.

Ulrikes Gesicht sank in ihre Hände.

»Oh, weine Sie nur, junges Fräulein. Gott allein weiß, wohin der Herr Leutnant gebracht wurde. Aber ich weiß, daß er lebt.«

Die Frau ging und holte eine Erfrischung. Als aber Milch und Brot unberührt blieben, flüsterte sie wie ein Geheimnis die alten Lutherworte: »Ein' feste Burg ist unser Gott.«


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