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Nilwanderung

Unter all den Wanderungen, aus denen eigentlich mein ganzes Leben bestand, habe leb eine in Erinnerung, so schön und leuchtend wie in lauter Gold getaucht. Sie führte mich von Kairo nach Assuan, immer dem Nile entlang. Die Entfernung beträgt fast genau tausend Kilometer. Ich wollte neben den ungeheuren Trümmern der Kultur des alten auch die Bewohner des heutigen Ägyptens und ihr Leben kennen lernen. Dazu muß man einen anderen Weg als den gebräuchlichen mit Patentkoffer, Baedecker, Eisenbahn und Hotels wählen. Ich tat Anzüge, Oberhemden, Lackschuhe und den anderen Kulturplunder in einen Koffer, und schickte ihn voraus, nach einem Hotel in Luksor, in Mittelägypten. In den guten deutschen Rucksack kamen ein Hemd und ein Paar Strümpfe, ein Wandervogel-Kochgeschirr, die Taschenapotheke und die Kamera, an die Füße ein Paar vertrauenswürdig dicksohlige Schuhe und Ledergamaschen, über die Schulter die Feldflasche, auf den Buckel dann der Rucksack. So zog ich zu einem südlichen Tore Kairos hinaus und pfiff dabei: Ein lust'ger Musikante spazierte einst am Nil – trotzdem ich gar kein Musikante war. Karten brauchte ich nicht, ich hatte den zuverlässigsten Führer der Welt, den Nil.

Im Schatten von Feigenbäumen, Sykomoren und Dattelpalmen zog ich sechsundzwanzig Tage lang auf guten, sauberen Straßen südwärts. Immer obenauf, im buchstäblichen Sinne des Wortes, denn die Straßen Ägyptens führen auf hohen Dämmen hin, und die Dämme sind in der Zeit der alljährlichen Nilüberschwemmung das einzige, was aus dem großen, trübgelben See herausguckt, aus dem dann Ägypten besteht. Zur Rechten begleitete mich der in brennendes Gelb getauchte Rand der Wüste, um mich herum lag üppiggrün und fruchtbar, wie ein Garten Gottes, das Niltal über mir leuchtete in wunderbarer Bläue und Lichtfülle der Himmel, in mir die Freude am Wandern und Schauen.

Und zu schauen gab's genug. Da glitten Boote mit hohem, dreieckigem Segel träumerisch auf dem blitzenden Wasser des Stroms, der Gesang der Schiffer und Fischer scholl durch die sonnige Luft, schneeweiße Touristendampfer, die es immer und immer eilig hatten, schossen funkensprühend herauf und herunter. Warum sie stets so in Eile sind, weiß ich nicht, Ägypten ist doch immer da, es war schon vor 6000 Jahren da! –

Auf den Feldern arbeiteten die Fellachen, die ägyptischen Bauern; auch sie singen stets bei ihrer Arbeit, aber es sind Klagelieder. Sie haben auch Ursache dazu, ihr Leben ist armselig und mühsam, und hoffnungslos elend. Aus ihren Dörfern, mit den aus Nilschlamm zusammengepappten Hütten, heulten dauernd ein Schock ewig hungriger und ewig räudiger Hunde in den Himmel auf, schmetternd scholl ein Eselgeschrei dazwischen, die knarrenden Holzräder der Wasserschöpfwerke bildeten die Grundmelodie.

Auf der Straße selbst war's nie einsam, Esel- und Kamelreiter, zweiräderige Ochsenkarren, Schafherden, endlose Züge von hintereinandergebundenen Lastkamelen, auch Fußwanderer, den Kaftan hochgeschürzt, eine Zuckerrohrstange zum Stützen, aber auch Darankauen, in der Hand, armselige, verkrüppelte Bettler, fanatisch und düster blickende Derwische (Mönche) belebten stets den Weg. Im Schatten eines Feigenbaumes steht hier und da ein weißes Mauerwerk, ein Heiliger schläft darin den letzten Schlaf, fromme Hände haben fast bei allen eine kleine Zisterne eingebaut und füllen sie täglich mit frischem Wasser für den durstigen Wanderer. Hier und da hockt ein Feldarbeiter am Wege, sein Näpfchen mit Fuul, den ägyptischen Bohnen, zwischen den Knien, und hält seine Mahlzeit.

Diese Menschen, so arm sie sind, sind die Gastfreundschaft selbst, nicht ein einziger bat mich ohne Gruß und ohne die Einladung, mitzuessen, vorbeigehen lassen. In den größeren der Dörfer, die ich passierte, gab s manchmal einen armseligen Kramladen, der immerhin genug für meine bescheidenen Bedürfnisse feilbot: Brot, Schafkäse, Datteln, Apfelsinen, Halawa, das ist eine orientalische Süßigkeit, die aus Honig, Mandeln und Nüssen besteht und köstlich schmeckt, dann Kaffee und Zigaretten.

Waren irgendwelche alte Tempel, Gräber oder Pyramiden in der Nähe, so machte ich ihnen einen Besuch. Ich brauchte nirgends Eintrittsgeld zu zahlen, eine Karte vom »Direktor der Altertümer«, die ich als Zeitungsschreiber bekommen hatte, öffnete mir unentgeltlich alle Türen. Auf diese Weise lernte ich all die großartigen alten Kulturreste dieses seltsamsten aller Länder kennen und immer aufs neue ehrfürchtig bewundern, stieg auf die 5000 Jahre alten Stufenpyramiden am unteren Nil, kroch durch Gräber von Menschen und heiligen Tieren, stand in dem Säulenwalde des Ammon-Rah- und des Ptahtempels bei Karnak, durchschritt die Sphinxalleen, stieg zum Nilmesser im Horestempel bei Edfu hinab, lag zu Füßen der beiden, mit erloschenen Augen in die Jahrtausende starrenden Memnonskolosse, durchwanderte das in erhabenem Schweigen unter der flammenden Wüstensonne liegende Tal der Königsgräber bei Theben und schwamm am Ziele, in Assuan, angekommen, in kleinem Boote über die blaue Nilflut an die weißen Marmorbauten der Tempelinsel Philae, die der durch den neuen Damm aufgestaute Strom unter Wasser gesetzt hat.

Und für Abendbrot und Nachtlager sorgte in jedem Dorfe die orientalische Gastfreundschaft. Mit tiefen Bücklingen, unzähligen durch die Sitte vorgeschriebenen: »Willkommen, o Gast, du Geschenk Gottes« begrüßte mich der Omde (Dorfvorsteher), führte mich, gefolgt von allen männlichen Dorfbewohnern, in das größte Haus des Ortes, teilte rechts und links einmal einen Fußtritt oder Stockhieb an allzu zudringliche Menschen und Tiere aus, warf den Hausbesitzer ohne weiteres hinaus, sagte dazwischen zum hundertstenmal »Willkommen!« und fragte zum tausendstenmal nach meinem, meiner Eltern und Großeltern Befinden, hetzte seine Untertanen nach Teppichen und Kissen, Fußbad, Wasserpfeifen und Tabak, Kaffee und Süßigkeiten herum, ließ einen Hammel oder wenigstens ein Huhn für »das Geschenk Gottes« schlachten und zum Abendbrote bereiten, und fragte immer wieder: »Liegen deine Glieder gut? – Schmeckt dir der Tabak? – Ist dein Kopf frei von Sorgen? – Verzeihst du uns unsere Armut, o Fremdling?« Alles mit wirklicher, herzlicher Freundlichkeit.

Dann mußte ich erzählen; das ist die Gegenverpflichtung für die Gastfreundschaft. Ich schilderte ihnen die großen Städte, in die sie nie kommen, und die Bauten der früheren Bewohner ihres Landes, die sie als götzendienerisch verabscheuen, sprach von dem wundersamen fernen Europa und Amerika, von meiner Religion, meiner Familie und meinem Leben.

Schweigend und rauchwolkenpaffend saßen die braunen Gesichter unter den weißen Turbanen im Kreise, bei besonders Merkwürdigem scholl einmal ein staunendes »Ja salam!« (O Friede), an den Türen war ein ständiges Kommen von Gästen, die aus anderen Dörfern herbeigeeilt waren, den Europäer zu sehen, der die verachteten Fellachen als Gast beehrte, zu den Fenstern herein lugten verstohlen rotznäsige Kinder- und verhüllte Frauengesichter.

In später Nachtstunde war es dann stets das schwerste, das Publikum hinauszubringen, sie wurden nie müde, zuzuhören, und alles, was ich bei und an mir hatte, Stiefel, Strümpfe, Gamaschen, Hut und Rucksack und alles, was darin war, zu betasten und seinen Zweck zu erfragen. Die Gegenstände wanderten von Hand zu Hand, draußen bei denen, die nicht Platz im Hause gefunden hatten, in den Dorfgassen herum, aber nie kam auch nur das geringste weg. Dann half der Omde die Schlafteppiche glätten und mich fürsorglich, einhüllen und gab mir noch tausend Segenswünsche für die Nacht. Mit den zehntausend Flöhen und Wanzen, die auch ohne Segenswunsch immer da waren, wurde ich auf die einzig mögliche Art fertig, daß ich sie ignorierte.

Am andern Morgen gab's noch ein fettes Mahl und händevoll Zigaretten, manchmal photographierte ich die ganze Dorfbewohnerschaft, teilte einige Süßigkeiten an die Jugend aus, hielt tapfer die endlosen Abschiedsreden aus und bekam meist noch für ein Stück Wegs einen Reitesel oder wenigstens ein paar Jungen zum Rucksacktragen aufgenötigt.

So schloß sich ein Wandertag mit taufrischem, funkelndem Morgen, heißem Mittagssonnenschein und mildem, friedvoll in leuchtenden Farben verglühendem Abend an den anderen. In den größeren Städten erwartete mich mein Koffer und ein Hotel, Bad und Barbier, die Post und einige Schreib- und photographische Arbeit. Nach zwei, höchstens drei Tagen zog ich dann den Gentleman wieder aus, spedierte den Koffer weiter, schwang den Rucksack auf den Rücken, und wieder nahmen mich die Straßen und ihr buntes Leben auf. Für die auch im Wanderparadiese Ägypten vorhandenen kleinen Widerwärtigkeiten, wie gelegentliche Sandstürme, die unaufhörliche Belästigung durch Bettler, der Schmutz der Behausungen und einiges mehr, hatte ich mir die mohammedanische Zauberformel »Malisch« (macht nichts) fest und überzeugt zu eigen gemacht. Und sie hilft viel. Der Fellah gebraucht sie dauernd, ob er von seinem Herrn Prügel bekommt, ob ihm die Ernte verdorrt oder gepfändet wird, ob ihm ein Liebes oder ein Tier stirbt, oder ob er selbst verunglückt oder krank wird, »malisch, malisch!«, tröstet er gottergeben sich und andere, und diese Gelassenheit erleichtert ihm sein schweres, kümmerliches Leben.

Unvergeßlich bleibt mir eine Szene, wo ich dies Wort unter ganz seltsamen Umständen unzählige Male hörte.

Es war in Oberägypten, unweit Assuan, dem Ziele meiner Wanderung, in einer Gegend, die von einer Choleraepidemie heimgesucht war. Aus den Dörfern schrillte das Geheul der Klageweiber mit den Hundechören um die Wette; allerwärts wurden auf einem Esel gebundene Leichen in dem uns so merkwürdig anmutenden Trabe, der hier bei Begräbnissen üblich ist, nach den Friedhöfen transportiert. Am Spätnachmittag hatte ich ein Dorf erreicht und schon von weitem eine Gruppe Menschen mit einem Toten nach dem Friedhofe eilen gesehen. Ich wollte vorbei und weiter, als sich unter den Leidtragenden ein plötzliches wildes Geschrei erhob, das aber von einer Diskantstimme übertönt wurde, die mit wahnsinniger Geschwindigkeit den unendlichen Reichtum des Arabischen an Schimpfwörtern hervorsprudelte.

Ich trat näher und riß Mund und Augen auf! Aus dem Grabe guckte ein in Leinentücher gewickelter alter Mann heraus, fuchtelte in wilder Wut mit den Armen herum und schimpfte, daß ich dachte, es müsse alles in dieser Wortflut ersaufen. Und ein graubärtiger anderer Alter, ernst und würdig, wie es nur ein Omde sein kann, half der schimpfenden Leiche aus dem Grabe heraus, legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und sagte in tiefem, ruhigem Basse immer und immer wieder: »Malisch, malisch, malischmalischmalisch!« Und zuletzt löste sich das Entsetzen bei den Umstehenden und klang in das gleiche im Chore gesagte, tröstende »Malisch, malisch!« aus.

Ich fragte, was da geschehen war, und erhielt die Antwort, daß dem Alten, der schon immer an epileptischen Anfällen gelitten hatte, vor kurzem seine beiden Kinder an der Cholera gestorben waren, daß er heute früh von Nachbarn starr und leblos in seinem Hause gefunden worden, für tot gehalten und jetzt zu Grabe getragen worden war. Und hier sei er plötzlich wieder lebendig und sehr böse geworden! Ich konnte ihm nachfühlen, daß er böse darüber war, lebendig begraben zu werden.

Der Omde bewillkommnete mich und bat mich, über Nacht zu bleiben. Ich war einverstanden, und unser seltsamer Zug setzte sich nach dem Dorfe zu in Bewegung. Vornweg die beiden Helden des Tages, der wieder lebendig gewordene Tote und der europäische Gast, dazwischen ruhig und würdevoll der Omde, der bald einige Begrüßungsformeln an mich, bald sein stereotypes »Malisch, malisch« an den immer wieder losschimpfenden Alten herunterschnurrte.

Im Triumphe zogen wir im Dorfe ein, ein Hammel mußte sein Leben lassen, bis nach Mitternacht saßen wir plaudernd beieinander, und als ich dem Alten heim Gutenachtsagen mein Beileid zu dem ihm Widerfahrenen ausdrückte, hatte auch er die fatalistische Ruhe des Orientalen wiedergefunden und sagte mit leis wehmütigem Gesichte, still und ergeben: »Malisch, malisch!«


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