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Der kleine Däne

Er kam in Freemantle in Australien an Bord. Das erstemal sah ich ihn, als er in seiner Koje saß, eine merkwürdige kleine rote Pfeife rauchte und seine Sachen auspackte. Ich kam schwarz, schweißig und verdrossen von Wache und betrachtete ihn nur auf seine Qualitäten als Arbeitskollege. Seme Armmuskeln mochten angehen, aber die Hände waren reichlich zart. Nun, er war nicht von meiner Wache, also ging mich das nichts an; ich nahm Eimer und Seifennapf und rannte durch das Logis.

»Good morning!« grüßte er und sah mich an.

Nur eine Sekunde lang, aber es war seltsam, ich war sofort in Neapel. Da hatte ich an einem herrlichen Apriltag eine Bootfahrt gemacht, und der Ruderjunge hatte all das lachende Gold dieses Tages, das blaue Leuchten des Golfes und das lustigbunte, schimmernde Neapel in seinem Gesichte, den dunklen Augen und am meisten in seinem warmen, sonnigheiteren Lächeln gehabt. Neapel und das unbeschreibliche Lächeln auf dem rührend schönen Gesichte des kleinen Lazzarone waren in meinem Gehirn eine Erinnerung geworden. Und hier in dem düsteren, schmutzigen, muffigen Heizerlogis traf ich das Lächeln und Neapel wieder.

Das mußte auch ein kleiner Lazzarone sein.

»Buon giorno!« grüßte ich, denn man bringt gern seine Kenntnisse an.

Die dunklen Augen wurden ein ganz klein wenig größer, das Lächeln ein bißchen unruhig, er nickte ein paarmal freundlich mit dem Kopfe und packte weiter aus. Beim Waschen wunderte ich mich, wo er wohl her sein konnte; Italienisch konnte er also nicht. Als er mich beim Essen mit dem letzten nicht davongelaufenen Heizer der alten Mannschaft Deutsch sprechen hörte, rückte er näher. »Sie sind Deutske? Das freut mich sehr, ich kann Deutsk. Bin eine Däne, heiße Möller, Hans!« Es klang so eigenartig, fast lieblich, dieses »Deutsk«. Wir wurden schnell bekannt und sehr bald gute Freunde, und er erzählte. Man wurde nie müde, ihm zuzuhören, sein drolliges Deutsch paßte so gut zu dem lieben Lächeln auf dem weichen Munde, aus dem die weißen Zähne hervorschimmerten. Er war Kopenhagener, eines Maurers Kind. Er selbst war Maler, das heißt Hausmaler. Vier Jahre lang hatte er als Geselle pfeifend auf dem Gerüste gepinselt und die Welt, die Menschen und die seltene Sonne Dänemarks angelächelt. Zuletzt auch ein feines, schlankes, aschblondes Mädel. Daß es ihm kein abweisendes Gesicht gemacht hatte, glaubte jeder, der nur einmal das freundliche, hübsche Kerlchen gesehen hatte. Aber einmal hatte das Malerlein eine Falte in die Stirn gemacht, er machte sie beim Erzählen wieder – sie sah drollig aus, paßte gar nicht in das Gesicht – und war nachdenklich geworden. Da hatte ihm das praktische blonde Ding erklärt, sie habe ihn zwar lieb, sehr lieb, aber könne nicht eher seine Frau werden, als bis er eine etwas sicherere Existenz habe. Sicherer in zweierlei Hinsicht. Einmal sind die Gerüste hoch und sehr mit Rücksicht auf den Geldbeutel des Unternehmers gebaut; zweitens arbeitet und pfeift ein Maler im Sommer, während er im Winter gewöhnlich nur pfeift. Hänschen hatte einige Tage lang nachdenklich auf seinem Gerüste gepinselt. Existenz? Die Grundlage einer Existenz ist schließlich ein kleines Kapital. Aber beim Malen im Sommer und Pfeifen im Winter wird keines. Er hatte bekümmert auf den Hafen hinuntergesehen. Da fuhren Schiffe in die Welt hinaus. Ließ sich da draußen nicht irgendwo das ganze Jahr malen? Amerika, Afrika. Australien, halt, das war's, dort wurde Geld verdient und nicht gepfiffen! Dahin kostet's sechshundert Mark. Von einem Seemann erfuhr er, wie es gar nichts kostet. Da hatte das Malerchen die Lippen fest zugemacht, sie nicht lächeln, aber auch nicht zucken lassen, als er Abschied nahm von dem Blondkopfe, ihr von ihm gemaltes Bild unter dem Arme. Denn das konnte er auch, und soweit ich es beurteilen konnte, sehr gut.

Bei der Überfahrt nach Bremen lernte er Deutsch aus einem Polyglott-Kuntze-Hefte. Acht Tage später verschwand Hans im Kohlenbunker eines Schnelldampfers für New York. Er hielt es zwei Reisen aus, dann hatte er ein Seefahrtsbuch und war »befahrener« Mann. Er ließ seine zerfetzten Hände ein bißchen ausheilen und kam nach einem Monate doch auf einem Australboote an. – Zehn Wochen später lächelte er mit dem roten Pfeifchen im Munde und dem Bilde seiner Braut unter der zugeknöpften Jacke hoffnungsfroh das fremde Australien an und kam abhanden von Bord.

Der Empfehlungsbrief, den Mutter Natur ihm mit seinem freundlichen Gesichte gegeben hatte, hatte auch seine Wirkung auf die harten, nüchternen Australier nicht verfehlt. Er hatte in dem wilden neuen Lande allerlei getrieben und zuletzt auf einer Schiffswerft die Salonkabinen gemalt und Pfunde verdient. Trotzdem war das, was er mir glückstrahlend zeigte, für zweijährige Arbeit sehr viel. Da zeigte er mir mit stolzleuchtenden Augen ein kleines dänisches Buch, ich konnte nur den Namen Hindhede lesen und verstand. Nun reiste er billig wieder heim. Wenn er von dem Wiedersehen mit seinem Mädel sprach, wurde sein Lächeln noch einmal so sonnig, und die dunklen Augen in dem braunen Gesicht strahlten glücklich und sorglos nach Westen, als sähen sie schon die Liebste. Man wußte nicht, was man an dem Kerlchen mehr schätzen sollte, sein heiteres Wesen oder die eiserne, lebensvertrauende Tatkraft, mit der er sein Ziel verfolgt hatte.

Wir hatten die Mannschaft doch nicht ganz mit den paar Rüberarbeitern, die meisten von ihnen gefährliche Burschen, sogenannte Colt-Boys, vervollständigen können, und die Trimmer mußten furchtbar arbeiten. Aber auch die rauhen wilden Kerle aus dem australischen Busch waren Freunde des kleinen Dänen und schoben den Wagen mitsamt dem Trimmer vorwärts, wenn er es nicht mehr schaffen konnte. Nach der Arbeit las er sein Paket Liebesbriefe durch und rauchte das rote Pfeifchen. Es war von »ihr«.

Dann kam Colombo und mit der Post ein Brief mit dänischer Marke. Hans führte eine Art Buschmannstanz auf und sprach vor Eifer Dänisch, als er mir den Inhalt erzählte. Nahm dann sein Malzeug an Deck und malte all sein Glück und seine Sehnsucht in ein Bildchen vom Indischen Strand mit tiefblauem Meer und stillen, schlanken Kokospalmen. Die Colt-Boys standen qualmend um ihn herum, guckten auf das Bild und über Bord und sahen staunend zum erstenmal, daß das Meer wirklich so leuchtendblau war und die Palmen sich vom roten Abendhimmel so klar und goldrindig abhoben.

Eine Stunde, bevor wir in See gingen, kam ein alter weißbärtiger, bebrillter Passagier an Bord. Der lief sofort durchs ganze Schiff, besah alles und guckte einfach über den Bootsmann weg, der ihm erklärte, daß das Achterdeck für die Mannschaft sei. Er schmierte sich an den Heizern den Tropenanzug schwarz, als er sich durchdrängte, schob meinen Kopf beiseite und sah mit einem klugen, strengen Gesicht einen Augenblick auf das Bild.

Jetzt erst grüßte er und fragte kurz: »Mannschaft?«

»Ja!«

Dann sah er noch eine Minute das Bild, zwei den Maler an und ging wortlos weg. Die Colt-Boys machten blutige Bemerkungen.

Am nächsten Tage kam er wieder und fragte in das Logis hinein, ob hier der Maler wäre. Die Engländer und Franzosen zuckten die Achseln und holten mich. Ich sagte ihm, daß der Maler jetzt Wache habe, er sollte um eins wiederkommen. Er kam auch, besah das Bild und fragte, was es kostete. Ich drehte mich nach Hans um – der Kerl war verschwunden!

»Nun, ich gebe drei Pfund, ist's genug?« Ich konnte es nicht verkaufen, so versprach ich ihm, Maler und Bild eine Stunde später in seiner Kabine abzuliefern.

Ich hielt Wort und überredete meinen kleinen Freund zum Hingehen. Als er wiederkam, hatte er vier Pfund und sagte, daß ihn der alte Herr über alle seine Verhältnisse ausgefragt und gesagt hätte, er solle Kunstmaler werden. Er wollte ihm helfen. Ich riet ihm auch zu.

»Ja, aber erst heiraten!« sagte er unschuldig und holte seine Liebesbriefe hervor.

Dann kam das Rote Meer mit Windstille und unerhörter Hitze. Wir wurden unten vor den Feuern fast wahnsinnig vor Höllenglut. Die Australier, die nicht genug von dem Sonnenbrand der Buschsteppen erzählen konnten, fielen in den Bunkern um wie die Klötze. Aus allen Poren traten uns Ströme von Schweiß, nach der Arbeit krochen wir matt wie Fliegen an den Leitern hoch und wälzten uns stöhnend an Deck unter dem fortwährend bespritzten Sonnensegel.

Die Rüberarbeiter lagen fluchend und nach Luft schnappend da und zankten sich, wer Trinkwasser holen sollte, keiner wollte über Deck gehen. Die Sonne entzündete die Welt. Die See lag träge und schwer wie heißgemachtes Öl in dem Kessel der Felsen. Die Holzteile des Schiffes krachten in langen Rissen auseinander, eine Berührung des eisernen Decks machte Brandwunden. Wie Nebel schlug sich der Rauch aus dem Schornsteine auf das Schiff nieder, er war kälter als die siedende Luft. Wir kamen nicht mehr ins Logis, das Essen wanderte fast unberührt über Bord, und niemand brachte soviel Kraft auf, den Schwärmen von Haien zuzusehen, die ein Stück altes Segeltuch mit derselben heißhungrigen Gier verschlangen wie den letzten verendeten Hammel von Ceylon. Wir machten alle einmal schlapp und konnten mit Ach und Krach Dampf halten. Und das Wetterglas stieg noch immer!

Am 18. Juli lagen wir nachmittags wieder halbtot unter dem Segel. Ich hatte Angst um meinen kleinen Freund gehabt, er kam mit wackelnden Knien und bleich von seiner Wache, aber brachte es fertig, immer noch zu lächeln. Wenn man die Sonne in sich hat, mag einem die am Himmel nicht viel anhaben können.

Er kauerte sich still vor mir nieder und sog an seinem kalten Pfeifchen. Ein Engländer neben mir sah den ersten Ingenieur, ging plötzlich hin und erklärte ihm unter fürchterlichen Flüchen, daß ihn zehntausend Teufel nicht wieder in den Bunker brächten.

»Arbeitsverweigerung auf See? Well, lies mal die Seemannsordnung, die klärt dich über die Folgen auf,« sagte der ruhig.

Wir sahen der für Seeleute unerhörten Szene mit stumpfsinnigen Augen zu.

»Heut nacht haben wir Suez, dann wird's besser!« tröstete ich Hans.

»Ja, es ist ein biszen heiß!« sagte er, stand langsam auf und lehnte sich in dem Sonnenbrand an die Reeling.

Ein Holländer neben mir hob den Kopf und sah ihn an.

»Verdammter Narr!« knurrte er.

»Mann, setzen Sie wenigstens eine Mütze auf, wenn Sie durchaus ein Sonnenbad nehmen wollen!« rief ihm der Ingenieur aus dem Gange mittschiffs zu.

Der kleine Däne wendete ihm den Kopf zu und zeigte lächelnd auf die roten Felsen an der dunstumhüllten Küste.

Ich sah auch hin, es gab da nichts zu sehen, und – ja, war ich vor Hitze verrückt geworden? Hans war verschwunden! Eine Sekunde lang starrte ich blöd die weiße Reeling an, mein halbbetäubtes Gehirn begriff nichts. Dann fuhr ich hoch – »Mann über Bord!« heulte da die Stimme des Offiziers von der Brücke, ich hörte gleichzeitig den Signalapparat in der Maschine klingeln, der Kopf des Holländers stieß beim Aufspringen mit meinem zusammen.

In dem am Schiffe vorüberschießenden Wasser war natürlich nichts zu sehen, der Dampfer war in voller Fahrt gewesen und konnte nicht gleich stoppen. Die See glitzerte heiß und grau, weit hinten tanzten ein paar dunkle Punkte in den kleinen Wellen, am Schiffe war kein Hai zu sehen.

Auf dem Oberdeck gestikulierte der alte Herr aufgeregt, eine Frauenstimme kreischte hysterisch, die Rollen knarrten, als sie das Boot zu Wasser ließen und hastig davonruderten. Die Matrosen und Feuerleute an Deck lachten verächtlich. Der Dampfer fuhr in großem Bogen an die Stelle zurück.

Nach zehn Minuten holten sie das Boot wieder hoch, die Rudermannschaft zuckte die Achseln: »Kein Fetzen von ihm ist wieder hochgekommen.«

Die gute Augen hatten, wollten einen roten Fleck auf dem Wasser gesehen haben. Die Haie hatten gründliche Arbeit getan.

Dann kungelte der Maschinentelegraph, der Dampfer setzte seinen Weg fort, die Glocke schlug acht Glasen, ich mußte in den Heizraum hinunter.

Als ich heraufkam, blinkte das Feuer von Suez vor uns. Ich ging aufs Achterdeck und sah in das leuchtende Kielwasser. Mir war's, als wäre mein Bruder gestorben.

Der alte Herr kam und trat neben mich. »Er war Ihr Freund, nicht wahr?«

»Ja,« sagte ich heiser. Mich würgte etwas in der Kehle. »Dieser prächtige, liebe Mensch, der alle die Jahre so treu und tapfer für seine Liebe gekämpft, gearbeitet und gedarbt hatte, und jetzt auf der Heimfahrt, mit all seiner seligen Hoffnung im Herzen, kurz vorm Ziele – Haifischfutter! – Wie sinnlos ist das Leben!«

»Nun, junger Mann, Sie denken an sein persönliches Glück, aber das hat er! Er starb ja mit dieser seligen Hoffnung. Ein Sonnenstich vielleicht; im Wahnsinn, unbewußt, tauchte er unter, er dachte, er wäre zu Hause. Nur seine Liebste schmerzt's. Aber für die Menschheit ging ein großes, seltnes, unbezahlbares Talent verloren! Der Hai fraß es wie ein billiges Stück Speck und wurde auch nicht satter. In dieser Hinsicht stimmt's: wie sinnlos ist das Leben –«


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