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Blinde Passagiere

An den östlichen Abhängen des Alleghanygebirges donnerte in einer Winternacht ein Güterzug der Pennsylvania and Lehighvalley Railroad herab.

Wie eine einzige weiße, schimmernde Linie huschten die beschneiten Dächer der Waggons durch die sturmdurchheulte Nacht. Eine dicke Schneeschicht war auf die Scheibe des großen Scheinwerfers an der Lokomotive getrieben. Nur ein matter Schimmer glitt daraus vor der gewaltigen Maschine her und beleuchtete drei Schritt weit den schräg wie Regen herabwehenden Schnee.

Da glühte ein rotes Dreieck an der Strecke auf. Tief heulend pfiff die Maschine, die Bremsen kreischten, der Zug hielt. Ein Heizer sprang herab und schwang ein Rohr, das von einem turmartigen Gerüst neben den Gleisen herabhing, über den Tender.

Es war eine Wasserstation für die Lokomotive. Der Mann hatte den Hydranten eiligst aufgedreht, und während das Wasser rauschend in die Tanks strömte, bog er sich vornüber und spähte mit vorgehaltener Hand durch die heranpeitschenden grauen Schneewolken am Zuge entlang.

»Damn' these lazy fellows,« knurrte er, »die sitzen wieder alle wie die Ratten in ihren Löchern und haben Angst, daß ihnen der Sturm den Kopf abreißt, wenn sie herauskommen. Unterdessen können alle Tramps dieses gesegneten Staates aufsteigen und bis Pittsburg mitrutschen!«

Der Heizer biß sich ein Stück Plattentabak ab und kletterte dann vorn auf die Puffer, um die Scheinwerferscheiben abzuwischen.

Er war kaum vor der Maschine verschwunden, als zwei Gestalten wie Schatten aus dem Schneegestöber auftauchten und auf die Trittbretter eines leeren Kohlenwagens sprangen. Diese Wagen haben schräg aufsteigende Stirnwände, um mehr zu fassen; dadurch ist der Raum über den Puffern fast überdeckt.

Die beiden nächtlichen Gäste turnten hoch. Der erste fühlte auf der kleinen Plattform vor sich hin und traf einen Körper.

»Ist denn jemand hier?« flüsterte er.

»Yes, Sir, zwei Mann«, antwortete eine Stimme.

Zwei kleine, zusammengekauerte Männer rückten beiseite und machten bereitwilligst Platz.

»Tramps, he?« fragte der Neue und sah den beiden nahe ins Gesicht.

»Hallo, Karl,« sagte er auf deutsch zu seinem Begleiter, der sich den Schnee von den Kleidern klopfte, »es sind zwei Chinesen!«

»Hm, wenn die jetzt gleich einen vernünftigen Tee kochen könnten, wären's meine besten Freunde. Ich bin naß und friere wie ein junger Hund«, brummte der.

»Na, fallt nur drüben nicht heraus, alte Gelbhaut, wir haben schon Platz,« sagte der Erste lachend zu den scheuen Asiaten. Die vier blinden Passagiere rückten zusammen und saßen still.

Der mit Karl Angeredete hielt sich an dem Griffe an der Seite fest und lugte nach der Lokomotive.

»'s wird gleich fortgehen, Fred, sie sind fertig vorn«, sagte er.

»Hallo« – er zuckte zusammen, eine kalte, nasse Hand hatte von draußen die seine berührt.

»O Jäsus!« krächzte eine Schnapsstimme aus der Dunkelheit; ein säuerlicher, warmer Hauch traf das Gesicht des Deutschen, eine beschneite Hutkrempe tauchte vor ihm auf, und eine Hand krallte sich an seiner Jacke fest.

Er packte ohne weiteres zu, da ruckte der Zug an.

»O Jäsus«, klang's noch einmal kläglich draußen, doch der baumlange Deutsche riß den Besitzer der Stimme, der schon den Halt verloren hatte, herauf.

»Rückt noch ein bißchen zu, ihr himmlischen Söhne dahinten, hier kommt noch ein sehr nobler Gentleman mit Durchbillett bis Pittsburg« rief er den Chinesen zu; »der ist voll«, setzte er trocken auf deutsch hinzu.

»O Jäsus! Dutchmen?!« (Schimpfwort für Deutsche) schrie der Betrunkene.

»Höre mal, Paddy (Spitzname der Irländer in Amerika), wenn wir gute Freunde bleiben sollen, so schmeiß nicht mit Dutchmen um dich und schrei nicht so, sonst mußt du wieder heraus aus diesem verdammt feinen Pullmancoupé«, sagte Fred leise und drohend und stauchte den Irländer zwischen sich und die Chinesen nieder.

»Hier setz' dich her und sei manierlich!«

Der Trunkenbold glotzte erstaunt von einem zum andern. In seinen stierenden Augen flackerte etwas, was schon jenseits der Grenze des Normalen lag.

Mit zunehmender Geschwindigkeit rollte der Zug in die Nacht hinaus. Der Luftdruck peitschte den fünf Reisenden den Schnee ins Gesicht, auf den Sachen taute er auf und schuf eine feuchte Wärme zwischen ihnen.

Der Betrunkene schwankte bei den harten Stößen des Wagens auf und nieder. Wenn er sich zu bedenklich weit vorneigte, packte ihn Karl mit seinen gewaltigen Fäusten und riß ihn mit gutmütig spöttischen Redensarten wieder hoch.

Die Chinesen rührten sich nicht, sie saßen zusammengekrochen in ihrer Ecke und froren in ihren dünnen blauen Leinwandanzügen erbärmlich.

Draußen stob der Schnee in dicken Schwaden herab, und der Sturm pfiff seine wilden Melodien durch die Schluchten. Manchmal heulte die Pfeife der Lokomotive tief und gewaltig, da war ein Bahnübergang. Der Sturm riß den Ton mit sich fort, dann war wieder nichts zu hören als das monotone Rattern der Räder und das betrunkene Stammeln des Iren. Dann und wann nahm er eine Halbliterflasche aus der Tasche, trank und bot sie den Deutschen und Chinesen an.

Karl nahm einmal einen Schluck, Fred und die Chinesen lehnten ab. Der Ire schimpfte erbost vor sich hin.

Da ging's um eine Kurve. Es krachte etwas im Wagen gegen die Stirnwand. Die Tramps spannten aufmerksam.

Ein Scharren und Kratzen hinter ihnen, dann fragte plötzlich eine leise Stimme von oben.

»Haben die Gentlemen vielleicht etwas zu trinken? Ich bin fast tot vor Kälte!«

»Zu trinken? O Jäsus, noch genug, mein Goldkind!« schrie der Ire eifrig.

Oben sah ein schwarzes Gesicht mit großen, weiß schimmernden Augen über den Wagenrand.

Karl reichte dem Neger die Flasche herauf, der trank hastig einige Züge.

»Dank euch, Herren! Kommt denn nicht bald eine Station? Den Wasserposten hab' ich verschlafen. Ich glaub', ich halt's nicht mehr lange aus, ich bin schon neun Stunden hier drin. Wißt, ich bin aus Louisiana und kann die Kälte nicht vertragen.«

»O weh,« sagte Karl bedauernd, »das ist freilich ein kleiner Temperaturunterschied. Na, Kopf hoch, Boy, in zwei Stunden haben wir Blacksprings. Dort steig' mal aus und mach' dich ein bißchen warm. Hat schon einer revidiert?«

»No, Sir, noch nicht. O Golly, das wäre das Schlimmste! Die Beamten dieser Linie schießen jeder Mutter Kind tot, das sie im Zuge erwischen. Ich habe es gehört.«

Er nahm noch einen Schluck, Karl kletterte wieder auf seinen Sitz.

»Das ist das reine Völkermuseum hier. Weiß, schwarz, gelb; fehlt nur noch ein ehrenwerter Sohn des großen Geistes«, sagte er.

Die fünf Gestalten huschelten sich unter den eisigen Stößen des Windes zusammen. Drin im Wagen hörten sie den Neger verzweifelt auf und ab rennen. Der Ire hatte den Rest aus der Flasche getrunken und suchte Streit mit den Chinesen. Die sahen ihn scheu mit ihrem steinernen asiatischen Lächeln an und antworteten nicht.

»Seid ihr elenden gelben Nigger zu gut, mit einem weißen Manne zu trinken, was?« Damit stieß er dem einen die leere Flasche ins Gesicht.

Da faßte ihn Fred heim Genick und drückte ihn auf seinen Platz nieder.

»Du hältst jetzt Ruhe, altes Whiskyfaß, verstanden?!«

»Verdammter Dutchman!« grölte der Irländer wütend auf und fuhr mit der Hand in die Tasche.

»Laß das Eisen stecken, Boy!« sagte Karl mit seiner tiefen, ruhigen Stimme.

Der Betrunkene fluchte und stieß mit dem Fuße nach ihm. Klatsch, hatte er eine Ohrfeige von Fred weg.

»Noch eine Bewegung oder ein Wort, das mir nicht gefällt, und du fliegst herunter wie ein Sack Lumpen!«

Er sah dabei den Iren mit seinen finsteren Augen so wild und drohend an, daß sich der Trunkenbold wortlos zusammenduckte. Aber sein glasiges Auge streifte immer wieder das kalte, ruhige Gesicht des Deutschen.

Der Zug raste mit Achtzigkilometergeschwindigkeit talabwärts. Die Deutschen hörten zur linken Hand ein donnerndes Echo in ihrem Winkel dröhnen. Wahrscheinlich war da eine Felswand.

Karl bog sich rechts heraus.

»Hörst du's, wir fahren am Blackriver entlang«, sagte er zu seinem Gefährten.

Die beiden Chinesen stöhnten vor Kälte und klapperten mit den Zähnen.

Da plumpste etwas im Wagen hart auf! Die Fünf horchten schweigend. Einige vom Sturm abgerissene Worte schallten heraus.

Plötzlich durchschnitt eine helle, scharfe Stimme das Toben des Sturmes und das klingende Rattern der Räder:

»Spring herunter!«

Eine Minute herrschte Schweigen, dann ein angstvoller Ruf; die Augen der Tramps starrten zu dem schwarzen Wagenrand hinauf.

Da krachte ein Schuß, kurz und trocken, ein dumpfer Schlag folgte.

Geräuschlos standen die Chinesen auf, tasteten mit steifgefrorenen Beinen nach den Trittbrettern und verschwanden längsseits des Wagens.

»Ein Pinkerton!« Detektiv, nach dem Begründer der Privatdetektivgesellschaft, Nathan Pinkerton, so genannt. flüsterte Karl. Fred nickte stumm.

Der Ire begann plötzlich unsicher an der überhängenden Wand emporzuklettern.

»Bleibst du unten, du besoffenes Tier! Denkst du, ich will mich wegen dir auch erschießen lassen?« zischte Fred und hielt ihn fest.

Der Ire stieß schimpfend mit den Beinen nach ihm.

Karl stieg an der Ecke der Plattform auf den Handgriff, da fiel ein heller, weißer Schein seitwärts vom Wagen herab, Karl sah den Goldstreifen an der Mütze des Beamten blinken.

»Herunter mit euch, eins – zwei –«, zählte der oben, er hatte die Chinesen entdeckt.

Im nächsten Augenblick beförderte ein Stoß des Wagens den halb in der Luft schwebenden Irländer in den Wagen hinein und im selben Moment flog die Laterne des Beamten wie ein feuriger Streifen herunter.

»Fred, schnell, komm' herauf, ich habe ihn, nimm ihm das Schießeisen weg!« schrie Karl herunter.

Er hatte den Detektiv beim Halse gepackt, sie rollten ineinander verbissen in den Wagen hinab.

Fred klomm wie eine Katze hoch und hinein. Die drei bildeten ein Knäuel am Boden.

»Fred, fort!« keuchte Karl, er hatte den Revolver des Detektives in der Hand. Der Mann selbst rannte durch den Wagen, seine Signalpfeife schrillte; über dem Rande des nächsten Wagens blinkte die Laterne eines anderen Beamten.

Fred sprang blitzschnell an der Wand hoch, dann stand er draußen auf dem Trittbrett neben Karl.

Da bog der Zug um eine Kurve, hohl donnerte es unter ihnen, eine Brücke.

»Ins Wasser! – Falls es schief geht – leb wohl, Alfred!«

»Leb wohl, Karl!«

Die beiden sahen sich einen Augenblick an – sie waren Brüder.

Mit fest zusammengepreßten Lippen in seinem bleichen Gesicht spähte Fred unter sich in die grauen, wirbelnden Schneewolken hinab.

»Jetzt!« sagte er kurz und laut. Fast gleichzeitig sausten die beiden Körper über die geländerlose Brücke in das schwarze, aufspritzende Wasser hinab.

Eisigkalt, fast den Herzschlag lähmend, schlug es über ihnen zusammen. Fred stieß mit dem Kopfe heftig auf etwas Hartes und strebte hoch. Die Gewalt des vorwärtsschießenden Zuges hatte sie noch im Sprunge halb über den Fluß hinübergerissen.

Fred landete zuerst, Karl kam ein Stückchen unterhalb ans Ufer geklettert. Er rief laut. Fred lief hin, er fühlte ein eigentümliches Schwimmen im Kopfe und etwas wie einen warmen Hauch vor dem Gesicht. Keuchend und triefend, ohne Hüte und doch am ganzen Körper glühend standen die beiden Tramps im Schnee und sahen den verschwindenden roten Schlußlichtern des Zuges nach.

»Das war kurz und erbaulich! Wir sind wieder mal davongekommen. Aber der arme Nigger –« sagte Karl langsam.

»Dort sieh hin, ein leuchtendes Fenster! Aha, hörst du das Klappern, das ist ne Wassermühle. Komm, die lassen uns sicher nicht draußen! – Nanu, was –?«

Fred hatte langsam die Arme hochgehoben und fiel plötzlich schwer vornüber auf seinen Bruder.

»Fred, um Gottes willen, was ist denn?«

Er sah ihm in das blasse Gesicht, eine Blutwelle rann über Stirn und Augen. Mit zitternden Fingern befühlte der Riese den Kopf seines Bruders. Am Scheitel klaffte ein Riß, aber der Knochen war unversehrt. Ratlos sah er sich einen Moment im Kreise um, der Schnee fiel in dem windgeschützten Tale ruhig und dicht, um ihn sang das Schweigen der Winternacht, nur ganz schwach tönte das Klappern der Mühle am Wasser herauf.

Da nahm er seinen Bruder auf die Arme und stapfte mit schweren Schritten durch den Schnee dem winkenden Lichte zu.


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