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Sechzehntes Kapitel.
Schönheit und Schule.

Wer soll die Reform beginnen? – Militärtauglichkeit. – Vernachlässigung des wichtigeren Teils. – Mönchische Nachklänge. – Der Sport als Ethiker. – Fichte gegen ethischen Drill. – Falsche Koedukation. – Kurzstunde. – Jahn. – Boz-Dickens.


Eine ganze Reihe der Schönheit feindseliger Strömungen haben wir nun kennen gelernt. Woher soll der scharfe Anstoß kommen, um die Reform in Fluß zu bringen? Wo lebt der Herkules, der diese Berge von Vorurteilen und übeln Gewöhnungen schnell beseitigte? Als eines der Hauptmittel zur Sicherung frischer Lebenskraft für die Jugend haben wir im Vorstehenden stets die Rückkehr zu reizloser Kinderkost gefordert. Da merken wir plötzlich: diese Angelegenheit ist leider viel weniger Sache wissenschaftlicher Aufklärung als Gegenstand der Politik. Zwei mächtige Parteien dringen auf niedrige Preise zur Hebung des Fleischverbrauches und können auf Erfolg nur hoffen, wenn Fleischgenuß andauernd als kräftigend gepriesen, wenig Fleisch auf dem Tisch als ein Abgrund von Elend gemalt wird. In Berlin gehen jährlich für etwa dreißig Millionen Mark unausgenutzte Fettstoffe durch die Kanalisation hinweg; die Schmortöpfe, die Bratpfannen brodeln in den Küchen des sogenannten niederen Volkes durchaus nicht nur am Sonntag; die Kinder wollen ihre Würstchen haben statt Brot und Milch; die Bettler selbst – in Berlin vielfach ein Liebhabergewerbe – pappen einem hinterrücks, sobald man sich zurückgezogen hat, das hinausgereichte Butterbrot an die Tür, weil es nicht belegt war. Wie dagegen aufkommen? Die zweifelhafte Lehre von der »kräftigen Ernährung« herrscht, weil die politische Werbearbeit ein wirksames Schlagwort nicht verabschieden kann. Bis von Australien ließ man sich die gefrorenen Hämmel kommen, und immer noch mehr Fleisch mußte heran.

Wer eigentlich soll nun die Kleinen zu der straffen, dauernden Bewegung anhalten, damit sie so viel Fleisch verdauen und vertragen können? Die Eltern? In einem Lande, wo der Unfug der Kinderbälle herrscht, auf denen, wie es in einer öffentlichen Reklame hieß, »die hübschesten Mädchen- und Knaben kostüme prämiiert« werden? In Amerika ist im Frühjahr 1914 eine eugenische » baby-show«, also rein unter dem Gesichtspunkt wirklicher Wohlgeratenheit, veranstaltet worden. Wo sollen, solange in breiten Volkskreisen die Verpackung höher als die Ware, Kleider höher als der Menschenleib geschätzt werden, Prämien für Leibeszucht bei uns herkommen?

Da richten sich die Blicke einmal noch nach jener gewaltigen Erziehungseinrichtung, die wir uns mit so großer Mühe geschaffen haben. Wenn die Schule uns doch noch hülfe? Oder wenn sie letzten Endes trotz allem Flehen versagte? Welch einen furchtbaren, verhängnisvollen Ausschlag zum Übeln muß es geben, wenn über fünf Millionen Volksschülerinnen falsch angefaßt werden!

Hohe Militärtauglichkeit der Männer ist kein zwingender Beweis für die gesundheitliche Güte unserer Schulen. Männerkraft bildet den Gegenpol zur Schönheit der Frauen; doch enthebt hohe Militärtauglichkeit eines Volkes dessen Mädchen keinesfalls von der Verpflichtung, schön und vollsäftig zu sein. Vermochten wir im Weltkrieg Jahre hindurch einer Übermacht standzuhalten, so geschah es, weil diejenigen, die ihn ausfochten, zum allergrößten Teil vor zwanzig und mehr Jahren geboren wurden, also von Frauen, auf deren Konstitution das ganze Schwergewicht der heutigen Schule noch nicht gedrückt hatte. Nationen von Flaschenkindern haben die Widerstandskraft nicht, die wir in diesem Kampf um unser Dasein glücklicherweise noch zu bewähren imstande waren. Schätzen wir aber in Zeiten der Not unsere schier unerschöpflichen Streiterscharen als das Höchste, das Rettende, dann sollen wir uns hüten, die Schönheit zu untergraben, die die Frauen begehrt und fruchtbar macht. Die Kriegstüchtigkeit ist Folge, nicht Ursache der Gesundheit einer Rasse, da die Kinder nicht von gedienten Soldaten ausgetragen werden, sondern von deren Ehehälften. Auf die Frauen kommt es an, auf den tragenden Teil.

Jeder Blick in die Landwirtschaft beweist das Gleiche. Ein Saatroggen kann ganz vorzüglich sein; fällt er auf harten oder ausgesogenen Boden, so wächst aus ihm wenig oder nichts; wogegen ein saftiger Mutterboden auch mindere Aussaat zu reichem Ertrag bringt. Wir übersahen vor dem Kriege, daß, weil der tragende weibliche Teil, wie schon Hufeland wußte, für Kraft und Schönheit der kommenden Geschlechter wichtiger als der männliche ist, auf diesen wichtigeren Teil auch die doppelte Sorgfalt in Hinsicht aller Leibeszucht verwendet werden müßte. Wir haben es umgekehrt gemacht, haben für den minder wichtigen Teil, dem ohnehin wegen kräftigerer Konstitution eine gewisse Freudigkeit und Wildheit beim Austoben näher lag und auch durch die Sitte gestattet war, durch Turnen und Militärdienst gesorgt. Aber von allen Seiten wiederholt und bestätigt sich die Erfahrung, daß die Drillung des weiblichen Verstandes, außer wo hohe Begabung und leichte Fassungskraft ihr entgegenkommen, nur auf Kosten höherer Lebenswerte vor sich geht. Das heißt: wir, die wir die weibliche Leibeszucht nicht gleich dem Unterricht zu organisieren verstanden haben, sägen im Bildungstolz den Ast ab, auf dem wir sitzen.

Freilich müßte, bevor die Schule die Führung zur Umkehr an sich reißen kann, jene Sinnesrichtung unter uns ganz beseitigt sein, die sich einst nur in der bis zum äußersten durchgeführten Verneinung des Leibes genug tat, der als Knecht und Empörer keine Schonung verdienen sollte.

Auf solche Gedanken kommen die Menschen fast immer in Verfolgung allzu hochgegriffener Ideale, wegen Unterschätzung und Verkennung des tatsächlich Vorhandenen, in der Meinung, sich darüber hinaus etwas ganz besonders Gutes antun zu können. Aus dem Gedanken, daß die Natur durchweg unvernünftig sei; daß der Leib gewissermaßen einen Fehlgriff bedeute; daß er entstand, als ein falscher Geschmack herrschte oder die Allmacht sich hineinpfuschen ließ; aus diesem zwar niemals offen ausgesprochenen, doch praktisch betätigten Gedanken haben sich verschiedene physiologische Irrtümer von ganz gewaltiger Schlagkraft gegen Gesundheit und Schönheit des Menschengeschlechtes entwickelt und eingenistet. Kränzlein wenigstens, der Amerikaner, spottete über die in Deutschland übliche scharfe Trennung von Geist und Leib, als ob Schwachbrüstigkeit schon eine Gewähr für Geistesgröße sei und die Muskeln der Jugend wachsen könnten, ohne durch ihren Blutreichtum auch sämtliche anderen Organe, voran das Gehirn, zu stärken. Die moderne Biologie hält jedenfalls mit Kränzlein dafür, daß »der Geist« keinen treueren Freund und in seinen Lust- oder Unlustgefühlen auch keinen nützlicheren Berater als den Leib habe. Die gegenteilige Anschauung äußerte sich leider unlängst erst, ganz im Sinne mittelalterlicher Lebensverneinung, aus eines Fachmannes Mund also: »Ernste geistige Arbeit wird immer in etwas die körperliche Entwicklung beeinträchtigen, das erscheint uns natürlich.« Hier wird offen zugegeben: erstens, daß es unter uns gang und gäbe ist, unfertiger Jugend, die man doch schonen sollte, bereits die ernste Geistesarbeit Erwachsener zuzumuten; und zweitens, daß dieser Eifer notwendig zur Schädigung führen müsse. Was wir als gewaltsam, mitleidlos, unvernünftig, gesundheitswidrig empfinden, wird als »natürlich« hingestellt.

Bevor wir hoffen können, daß die Schule das Banner der Mädchenschönheit aufpflanzt und sich soweit modernisiert, wie es ein Teil des Publikums im Anschluß an die Jungdeutschlandbewegung schon getan hat, ist es daher angebracht, ein besonders hinderliches Vorurteil gegen den Sport zu beseitigen. Er gilt gar vielen deutschen Eltern, auch wo sie nicht umhin konnten, die jugendliche Freude an ihm allmählich zu bemerken, doch nur als unnütz, ohne jeden tieferen Sinn, als bloßer Verschlinger von Stunden, während deren die Kinder innen sitzen, stricken oder »lernen« oder sonst »etwas Nützliches« treiben könnten. Im Schwarzwald, wo das »Hopsen« – ein Springen über geschwungene Schnur in vielen munteren Abwechslungen, die Gewandtheit, Augenmaß, Geistesgegenwart erfordern – als einziger gymnastischer Ausgleich für die derberen Knabenspiele von den Mädchen betrieben wird, stürzen unhygienische Mütter oft genug aus den Türen und schreien: »Ihr mit euerm dummen Hopsen! Marsch in die Stube!« Vielleicht hören manche Eltern doch auf, den Sport zu hassen, und lernen höher von ihm denken, wenn wir auf ein Ruhmesblatt in seinem Kranz hinweisen, das vorerst nur von Eingeweihten ganz geschätzt wird. Der Sport ist nämlich einer der vorzüglichsten Ethiker.

Die Pflichtenlehre soll nach deutschem Gebrauch durch Worte dem Gedächtnis eingeprägt werden und mit Strafen bei Zuwiderhandlung »den Charakter bilden«, wozu kein Gedächtniskram, kein Verbot und keine Strafe fähig ist. Jeden echten Sport beseelt indessen und beherrscht eine Gesinnung, die sich am besten durch billige Denkart; Sachlichkeit; ein Gefühl für die Rechte des Gegners; eine Anwendung des Grundsatzes: »Was du nicht willst, daß man dir tu' …« ausdrücken läßt.

Sportlich erzogene Buben und Mädchen wissen aus früher Erfahrung, daß Unehrlichkeit beim Spiel die allgemeine Stimmung gegen sich hat, daß man sich also verächtlich macht, wenn man auf solche Weise der eigenen Partei Vorschub leisten will. Dagegen merken sie, daß es vorteilhaft ist, mit dem Gegner ehrlich zu verfahren, weil dann bei der nächsten Gelegenheit auch mit ihnen ehrlich verfahren wird.

Freilich ist es nur natürlich, wenn die großen Vorzüge, die der Drill für Massenwirkungen hat, gerade in Kriegszeiten hervortreten. Möchten wir uns doch hüten, diese Wirkungen sofort auch auf die Erziehung jedes Einzelnen im Frieden zu verallgemeinern! Die kühnen Leistungen unserer Flugzeugführer sind nicht auf dem Boden blinden Gehorsams, vielmehr auf dem des Sportes gediehen, der von seinen Bekennern Findigkeit, schnelles Urteil und Entschlußkraft fordert. Ebenso war, was der Schönheit unserer Mädchen fehlte, nicht Fügsamkeit und Ergebung; sie hatten äußerlich schon zuviel davon, bei stiller Hinterhältigkeit. Nur der Sport kann ihnen jene frische, selbständige Lebendigkeit, aber auch jene franke Ehrlichkeit beibringen, die man an ihnen so oft vermißt hat. Schien es doch manchmal, als ob das deutsche Volksgemüt folgendermaßen urteilte: »Weshalb auf ein bloßes Spiel so viel Ernst anwenden, weshalb hier schon alle tüchtigen Charaktereigenschaften bemühen wollen? Es handelt sich ja um nichts, und niemand kann geschädigt werden! Warum also nicht auch ein bißchen betrügen?« Umgekehrt urteilen echte Sportsleute: »Es ist ja nur Spiel, warum also nicht ehrlich und anständig dabei bleiben, da ja durch Betrug doch kein wirklicher Vorteil erzielt werden kann?« Deutsche Mütter sollten deshalb den Sport lieben, weil er ihre Töchter nicht nur frisch und kräftig erhält, sondern weil er ihnen, die eine leichte Hinneigung zum »Bemogeln« haben, eine tüchtigere Gesinnung beibringt. Weil aber Ethiker geneigt sind, nur wiederum vor Ethikern die Waffen zu strecken, so sei zum Schluß einer der allerobersten gegen sie angeführt. Es war Fichte, der dem Wahn, als ob Gesinnung durch Auswendiglernen frommer Lieder und sonstige Gedächtniskunst gefördert werden könnte, Folgendes entgegenhielt: etwas im Charakter Liegendes planmäßig durch direkten Unterricht erziehen zu wollen, »würde nur dazu dienen, Heuchler heranzubilden«. Ohne den Sport zu kennen, hat Fichte die indirekte, unwillkürliche Methode ehrlichen Spieles als die allein wirksame vorausgeahnt, und er würde, falls er sie gekannt hätte, schwerlich unterlassen haben, sie allen Müttern warm ans Herz zu legen.

Amerikaner unterscheiden scharf zwischen wirklicher Erziehung ( education), die sie der Selbstbehauptung im freien Wettspiel vorbehalten, und bloßem Unterricht ( instruction), der höchstens Kenntnisse vermitteln kann. Gleich der frohen Kunde von einer besseren Zukunft muß es begrüßt werden, daß das Verständnis dieses Unterschiedes in unserm Frauenlager zu dämmern begonnen hat. Nachdem Jahrzehnte hindurch von »Koedukation« in einem Sinn gesprochen worden war, den die Englisch redende Welt nicht kennt, tauchte eines Tages bei unseren Frauen das Wort » coinstruction« auf. Bei Briten und Amerikanern hatte » coeducation« bedeutet, daß die Mädchen gleich den Knaben dieselbe Willenserziehung durch Sport an freier Luft genössen; bei uns, daß sie mit den Knaben gemeinsam die gleichen Schulbänke drückten und lateinische Grammatik trieben. Das bloße Wort » coinstruction« läßt hoffen, daß man der deutschen Schule nicht länger nachrühmen wird, was sie niemals geleistet hat, und daß man endlich anfangen wird, auch bei uns das von ihr zu fordern, was sie in Amerika längst schon leistet.

Die Umkehr, wie gesagt, ist eingeleitet. Die Frauen haben angefangen, sich zu besinnen, und die Schule ebenfalls. Jetzt entschieden vorgegangen zur sogenannten »Kurzstunde«, dem ausschließlichen Vormittagsunterricht, damit alle Nachmittage für Wanderung, für Spiel und Sport im Freien oder in Hallen verfügbar werden, die häuslichen Aufgaben beseitigt, die Anforderungen für gewisse Berechtigungen herabgesetzt – und die schwerbedrängte deutsche Mädchenschönheit könnte noch einmal aufatmen, aufblühen.

Was Jahn einst forderte: keine Lehrstunden hinter Turnstunden, das müßte unbedingt wieder zur Nachachtung gebracht werden. Das Gehirn wie die Muskeln bedürfen der Ruhe zur Ausscheidung ihrer Ermüdungsprodukte nach Anstrengung. Es ist darum ebenso falsch, unmittelbar nach dem Unterricht eine volle Turnstunde zu halten, wie sie vor den Unterricht zu legen. Einer der Allerbesten und Größten, Charles Dickens, hat sich vorzeitig dadurch aufgerieben, daß er im Anschluß an seine anstrengende Morgenarbeit vier- bis fünfstündige Wanderungen unternahm. Wieviel angreifender ist solch eine falsche Einteilung für jugendliche Kräfte, die sich erst entwickeln sollen!

Leider spielt die Geldfrage stark hinein. Ein Hauptgrund für die fehlerhafte Haltung unserer Mädchen lautet: Es fehlt an Räumen, und es fehlt an Lehrern. Die Klassen sind überfüllt, die Lehrer überbürdet. Und in den Großstädten hat man den Boden verteilt, als ein Bedürfnis, für die Jugend leiblich zu sorgen, kaum schon empfunden wurde. Einen Fortschritt durch Selbsthilfe zeigen die Wandervögel (Tafel XVIII).


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