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Zweites Kapitel.
Reinheit und Kraft.

Brünhilt. – Eine Westfälin. – Schlaf der Sinne. – Kraft vor Schönheit.


Es ist oft bemerkt worden, wie das Hervortreten Brunhildens im Nibelungenliede darauf hindeute, daß der Phantasie unserer Urväter niemals nur die wollüstigen Formen weiblicher Üppigkeit als Wunschgestalt vorgeschwebt haben. Die Mädchen, die den gefallenen Helden nach Walhall hinauftragen sollten, um ihm das Methorn zu reichen und ihn zu beglücken, mußten selbst Kämpferinnen sein, mußten hoch zu Roß mit Helm und Speer anreiten, wie denn auch Brunhilde richtiger Brünhilt geschrieben würde, das heißt die im Ringpanzer (der Brünne) Streitende.

In ihr verkörperte die Dichtung das Volksideal jungfräulich abweisender Selbstbehauptung. Es ist verkehrt, Brünhilt ein Mannweib zu schelten. Wie die Sage sie schildert, war sie durchaus bereit, sich zu vermählen und in der Ehe untertan zu werden, nur – nicht ohne Kampf. Das war es, was germanische Männer an ihren Mädchen lobten, was die Sitte von den Enkelinnen der markigen Völkerschaften der »roten Erde« bis in die Neuzeit hinein gefordert hat.

Dafür gibt es ein packendes Zeugnis in den Lebenserinnerungen eines Mannes, der aus ganz besonders hellen Augen in die Welt sah: Otto v. Corvins. Im Spätherbst 1832 war er als junger Leutnant mit einem Kommando Garderekruten, das er von Düsseldorf nach Potsdam zu führen hatte, in ein westfälisches Quartier gekommen. Lächelnd beschreibt er uns das »wenigstens zehnschläfrige Himmelbett«, die unter den Spenden der Gastlichkeit fast brechende Tafel und fährt dann wörtlich fort: »Die gelbhaarige, blauäugige, weiß und rote Westfälin, die mir in ihrem Sonntagstaat aufwartete, war ein wahres Prachtexemplar des Stammes … Man sagt, wer den Minnesold einer solchen Westfälin gewinnen wolle, müsse mit ihr darum ringen wie Siegfried mit Brunhilde. Das nenne man da zu Lande schickliches, jüngferliches Sträuben.«

Dem Hygieniker wird wehmütig zu Sinn bei der Frage: »Wo gedeihen sie noch, diese Arme rund und fest wie Wachskerzen, wo blühen sie noch, jene lieben Gesichter von Milch und Blut?« Ehemals waren sie der Typ, gehörten sie zur weiblichen Ausstattung; heute muß man sie suchen und freut sich, falls man sie entdeckt, wie über eine kostbare Seltenheit. Die beizende Zivilisation ist überall hinter den Absenkern jenes herrlichen Urwuchses mit ihren Säuren dreingeschlichen; sie verhindert vor allem, was an den früheren deutschen Mädchen allein jene Herbigkeit, jene Blüte, jene Kraft entstehen ließ: den Schlaf der Sinne.

Shakespeare hat uns in seinen frischesten Mädchengestalten, einer Beatrice (in »Viel Lärm um Nichts«), einer Rosalinde (in »Wie es Euch gefällt«), einer Viola (in »Was Ihr wollt«), einer Porzia (im »Kaufmann von Venedig«), den Beweis erbracht, daß dieser Schlaf der Sinne mit einer völlig entwickelten Weltklugheit verbunden sein kann. Alle diese Mädchen sind schlagfertig, wissen gut Bescheid, schrecken auch vor Anspielungen auf mancherlei Eigenheiten des ehelichen Zusammenlebens durchaus nicht zurück, und gleichwohl behält man durchweg die Empfindung, daß noch niemals ein lockerer Wunsch das Herz dieser munteren Fräulein bestürmt, ihren aufrechten Willen gebeugt habe.

Mögen immerhin die Phantasielosen, Nüchternen, Kälteren weniger gefährdet sein: bei den Lebhaften, Warmherzigen, Geweckten ist jenes hohe Ziel nur zu erreichen, wenn man es ihnen planvoll erleichtert. Bei den herrlichen Geschöpfen, die Shakespeare als Urbilder seiner jungfräulichen, lächelnd an jeder Gefährdung vorüberschlüpfenden Heldinnen im elisabethanischen England zu belauschen Gelegenheit hatte, muß physiologisch etwas Ähnliches vorgegangen sein wie bei beherrschten Männern, die niemals heftig sind. Heftig werden die Leute, denen das Blut sofort in den Kopf schießt, deren Gehirn auf geringe Reizung hin sogleich wie ein Strohfeuer aufflackert. Anders, wer sich zu beherrschen gelernt hat. Er bewahrt seine Ruhe, nicht weil er duldsam gegen Unverschämtheit oder nur geringer Gemütswärme fähig wäre, sondern weil er von klein auf bei Rudern, Ball- und anderen Spielen darin geübt wurde, seinen Puls zu zügeln, und schließlich seinen Blutdruck in die Gewalt bekommen hat. Wer als Knabe schon sich gewöhnt hat, in der Bedrängnis des Wettspiels kalt Blut zu bewahren, wird als Mann nicht mit harten Worten erwidern, sobald man ihn aufgeregt anredet; darum bleibt er besonnen, wo andere sich »hinreißen« lassen.

Die Blutgefäße, deren steigenden Innendruck, deren Füllung wohlgezogene Frauen schon in früher Jugend lernen sollten, automatisch zu regeln, verlaufen in anderer Richtung als nach dem Hirn; nicht umsonst spricht man bei Mädchen, die jeder Versuchung erliegen, vom »warmen Schoß«. Natürlich gibt es manchen Anblick, manches Wort, manche Berührung, manchen wachen Traum, der jenes Pumpwerk in Bewegung setzen will und die Widerstandskraft herabsetzt. Aber wie der Schwimmer, der in einen Strudel gerät, weiß, daß es nur eine Rettung für ihn gibt: das Herz zu ruhigen Schlägen niederzuzwingen, falls er nicht sinken will, so haben reine Mädchen und kluge, die den Wert der Reinheit kennen, es durch Übung in ihrer Macht, den Blutdruck gewisser Partien am Ansteigen zu verhindern. Eine kurze Willensanstrengung, ein Aufatmen, und der Reiz ist verflogen, das Urteil bleibt kühl, der Wille fest.

Mit richtigem Gefühl hat unser Volksepos das Sträuben des Mädchens, das rein bleiben will, gegen den werbenden Mann in Brünhilt bis zum höchsten Pathos gesteigert. Denn die Berührung durch Männerhand, zumal in der Weiche, hat für das Weib eine magische Gewalt, so daß mancher die Knie zittern, das Herz flattert, die Augen brechen. Die höchste Kraft der Selbstbehauptung kann das reife Mädchen nur entfalten, bevor er, der Überwinder, sie »geschwächt« hat. Die Kräfte der Gattin, der Mutter sind von anderer Art. Von Brünhilts Stärke ist im Nibelungenlied nach der Brautnacht keine Rede mehr.

Wie wunderlich, daß dieser Urinstinkt germanischer Rasse: Kraft vor Schönheit zu setzen, unserer Gesittung so völlig verloren gehen konnte, daß man ihn aus der Geschichte erst wieder beweisen, daß der Hygieniker wie etwas Neues, auf dem Umweg über die biologische Wissenschaft, den grundlegenden Satz aufstellen muß:

Reinheit bei Mädchen ist erstes Erfordernis für Kraft; Kraft ist erstes Erfordernis für Schönheit.

Kein Übelstand jedoch von so vielen, mit denen die Hochzivilisation uns für die gesteigerten Genüsse straft, die wir ihr abverlangen, ist für Schönheit und Gesundheit so schädlich wie der verhinderte Schlaf der Sinne, das frühe Aufreizen sexueller Empfindung, bis Kinder von zehn oder acht Jahren schon mit verträumten Augen dasitzen und sich darin üben, auf einen Wink der früh verdorbenen Phantasie hin gewisse Blutgefäße strotzend anzufüllen, um sich schlüpfrige Situationen auszumalen, die von kraftvollen und reinen Mädchen mit einem Ruck des Ekels weggescheucht werden.

Der Weg zur Mädchenreinheit lag bei unseren Altvordern offen und unbehelligt da, weil es erstens keinerlei ungesunden Anreiz für die Phantasie gab, und weil zweitens die Germanen in der Hauptsache Pflanzenesser waren. Ihren Mädchen hat es jene ungewürzte Pflanzenkost ermöglicht, einen so hohen Wuchs, eine so staunenswerte Kraft zu erlangen, weil sie ihnen das Reinbleiben so sehr erleichterte. Daher der Glanz ihrer Haut, in der sich Wald und Himmel gerne spiegelten; daher diese Wunschlosigkeit, diese Unschuld, die zur makellosen Geschlechtsreife führten und von denen Julius Cäsar im 21. Kapitel des VI. Buches seines »Gallischen Krieges« Belege liefert, die unsere Zivilisation beschämen. »Umgang mit Weibern vor dem zwanzigsten Jahr,« so sagt er von den Germanen, »ist die größte Schande. Und doch macht man aus der Geschlechtsverschiedenheit kein Geheimnis, denn beide Geschlechter baden sich gemeinschaftlich in Flüssen und tragen unter den Fellen oder kleinen Decken von Renntierhäuten den Leib größtenteils bloß.«

Hiermit vergleiche man, wie gewisse Vertreter unserer Gesittung halbtoll zu werden glauben, sobald sie einen bloßen Mädchenarm oder auch nur einen fußfreien Rock sehen. Sie am wenigsten könnten freilich solche Sitten wieder nachahmen, weil eine überreichliche Fleischkost ihre Lüsternheit zu sehr aufgeregt und ihre Wünsche verschärft hat. Die jungen Germanen hegten nur einen Wunsch: einen möglichst hohen Grad von Kraft zu erreichen. Weil Reinheit sie dazu befähigte, wollten sie diese Kraft auch üben und stählen, wobei sie das Äugeln nach weiblichen Reizen als hinderlich verachteten. Die Mädchen liefen bei dieser Sachlage keine Gefahr, wenn sie sich der Gesellschaft der Jünglinge beim Baden aussetzten, da ihre Abneigung gegen eine vorzeitige Berührung die der jungen Männer womöglich noch überstieg. Sie würden bei jedem solchen Versuch gebissen und um sich geschlagen haben wie Brünhilt. Die Natur aber, die dankbar und freigebig ist, wenn man ihren Winken folgt, schmückte ihren Leib dafür mit einer Gliederpracht ohnegleichen.


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