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Also wäre eigentlich gar nichts mehr zu sagen, und das Leben aller verlief in schönster Gleichförmigkeit und schönster Eintracht. Es rollte sich so ruhig und glatt ab wie Garn von einer mechanischen Spule; und wenn Tante Rikchen sagte: Übernächsten Mittwoch, wenn Salomon kommt, werde ich noch mal Zunge mit Schoten nehmen, so kam genau zur angesetzten Stunde Salomon, und nur wenig später stand eine Zunge, eine schöne, große Räucherpökelzunge und eine ganze Schüssel voll dampfender junger Schoten auf dem Tisch. – Darauf konnte man das Abendmahl nehmen, so sicher war das. Und es gab kein böses Wort und keinen Zank und keine kleinen Reibereien wie sonst, und alle waren sie freundlich zueinander, und alle waren sie lustig, und der Onkel brachte jedesmal ein Dutzend neuer Witze aus der Stadt mit, mit denen er absichtslos ein belustigendes Mosaikspiel trieb, indem er die Köpfe und Spitzen der einen auf die Unterbauten der andern setzte und manchmal gar drei miteinander verschmolz. Und man machte Ausflüge, ging in die Gartenkonzerte, gab selbst Feste und italienische Abende, kurz, man mochte es sich gar nicht anders wünschen. Die Signaturen der Auslandskisten waren von S. G. C. 17 längst auf S. G. C. 109 und höher gerückt, und wenn die Wechsel wirklich lang statt kurz waren, dann renkte sich das in ein paar Tagen wieder ein, oder man diskontierte es geschickt über Rußland, so daß statt des Verlustes noch ein Verdienst herauskam. Kurz, es war bei Geberts, wie Hutten sagte, eine Lust zu leben.

Na ja, alles ist nie so ganz glatt. Mit Wolfgang ging das nicht sonderlich, aber man meinte, das läge wohl in seinem Alter und würde sich schon geben. Er hatte Jettchen in der Woche draußen in Charlottenburg – ohne daß er es wußte – über schwere Tage hinweggeholfen. Und Jettchen hatte ihn noch mehr als vordem liebgewonnen, weil er so still war und so dankbar für jedes freundliche Wort und jeden freundlichen Blick.

Und dann die Sache mit Jettchen selbst. Man sprach nicht darüber, ja, man dachte sogar ungern daran. Aber das würde sich wohl auch schon mit der Zeit geben, und sie würde als vernünftige Person schon darüber hinwegkommen. Das beste, man täte, als ob man nichts wüßte. Und man behandelte Jettchen so liebenswürdig – alle, Hannchen sowohl wie Ferdinand und Jason und Minchen – wie nur möglich. Der Onkel Salomon war fast zärtlich zu ihr, und die Tante tat, als ob Jettchen mit jeder Handreichung, die sie in der Wirtschaft verrichtete, ihr ein Geschenk mache, für das sie gar nicht dankbar genug sein könnte. Überhaupt war ja in der ganzen Sache kaum ein schlimmes Wort gefallen.

Und gerade das war es, was Jettchens stillen Widerstand gebrochen hatte; denn die schlimmste Tyrannei herrscht ja dort, wo es keine bösen Worte und keine Befehle gibt. Und es ist stets so leicht, seinen eigenen Kopf aufzusetzen, wenn die anderen unfreundlich und hart sind, wie es schwer ist, wenn sie weich und liebenswürdig sind; und es ist stets so leicht, seinen eigenen Willen durchzudrücken, wenn man Widerstand findet, wie es schwer ist, etwas widerspruchslos und ganz auf eigene Verantwortung zu tun. Denn so wie die anderen dir entgegentreten, scheinen sie die Verantwortung dir abzunehmen, die sonst ganz und mit voller Schwere nur auf deinen eigenen Schultern ruht.

Die ersten Wochen hatte Jettchen immer von Kößling anfangen wollen. Sie hatte sich fest vorgenommen, sie wolle mit dem Onkel über ihn noch einmal sprechen, – wenn er kam. Und dann kam der Onkel, stieg seelenvergnügt aus dem Wagen, küßte sie, umarmte seine Frau, brachte ihnen beiden Blumen oder Pralinés, blieb beim Mittag in einem Reden und war so ganz harmlos und unbefangen, streifte nirgends auch nur mit einer leisen Andeutung das Vorgefallene oder bot Jettchen in einer nachdenklichen Pause Gelegenheit, einzusetzen, daß Jettchen nur immer ganz still dabei saß und ihm zuhörte. Und wenn er dann am nächsten Morgen oder am Montag in aller Frühe wieder hineinfuhr, dann hatte sie noch nicht mit ihm gesprochen und nahm sich fest vor, das nächstemal – komme wie es wolle – den Onkel zu stellen. Aber wenn der Tag wieder herankam, wurde sie von neuem zag, und wenn er vorüber war, war sie eigentlich froh, daß sie die Aussprache doch noch auf das nächstemal verschoben hatte.

Und wenn auch Jettchens Nächte zuerst schlaflos waren und Jettchens Einsamkeit tränenreich, das Leben kam doch jeden Morgen wieder und forderte sein Recht; – es kam mit hundert Leuten, denen Jettchen Rede und Antwort stehen mußte; es kam mit der Mühe um den Haushalt, die nach wie vor ganz und ungeteilt auf Jettchen lastete; es kam mit Spaziergängen und Gartenkonzerten, zu denen sie die Tante begleiten mußte. Es kam mit Handarbeit für Geburtstage und mit Zeitungen und Neuigkeiten und Büchern. Zuerst hatte Jettchen über die Bücher fortgelesen und war eine Stunde bei einer Seite geblieben, und wenn sie fertig war, wußte sie nicht, was darauf stand; aber langsam nahmen die Bücher doch wieder die alte Stelle in ihrem Leben ein, und Jettchen freute sich, daß sie sie hatte.

Und was hätte sie denn dem Onkel sagen wollen? Da war jemand gekommen, sie hatten sich ein paarmal gesehen, hatten einander gesagt, daß sie sich lieb hätten, und dann war der andere wieder fortgegangen, und sie hatte nichts mehr von ihm gehört. Es war wie ein Traum, der vorbei ist, wenn man des Morgens die Augen aufschlägt, und dessen ganze Klarheit uns wohl noch in erhöhter Lebensfülle vor der Seele steht, während seine Einzelheiten uns doch schon langsam verschwimmen, sprunghaft einander folgen und schlecht begründet erscheinen. Er, der Traum selbst, seine Grundfarbe, seine Helligkeit strahlt immer über uns und verläßt uns nicht, wo wir auch gehen und stehen. So war es Jettchen.

Woche reihte sich an Woche, Jettchen benutzte jede Gelegenheit, um in die Stadt zu kommen, und sie machte sich eigens Wege und Einkäufe, verteilte sie so, daß sie niemals viel mitbrachte, vergaß absichtlich dies und jenes, um wieder nach Berlin hinein zu müssen – aber sie traf Kößling nie. Und wenn er ihr in der sonnigen, heißen Königstraße entgegenkam, von ganz weit her, und sie zitterte, daß ihr die Knie schwankten, es war immer wieder eine Enttäuschung, und irgend jemand ging an ihr gleichgültig vorüber, der auch nicht einen Zug von Kößling trug, nicht einmal im Gang ihm ähnlich war. Jettchen hatte schon oft an Kößling schreiben wollen, aber dann fiel ihr ein, daß sie gar nicht recht wußte, wo er wohnte, und das beschämte sie; und dann bäumte sich auch der Stolz in ihr auf: er könnte ja schreiben, wenn er etwas von ihr wünschte; aber gewiß wollte er nichts mehr von ihr wissen. Und trotzdem Jettchen fast nie darunter gelitten, daß sie Jüdin war – denn das schöne Mädchen hatte in ihrem ganzen Leben dank ihrer gewinnenden, stolzen Anmut, wo sie auch hinkam, nur immer freundliche Gesichter um sich gesehen –, trotzdem sie nie darunter gelitten, so hatte sich in ihr doch ein Mißtrauen festgesetzt, als ob vielleicht das der Grund wäre, der Kößling fernhielt. Und sie redete sich tagelang da hinein in immer neue Anklagen gegen Kößling, die mit Beteuerungen und Weinen wechselten, und mit Selbstpeinigungen und Vorwürfen. Und es gab wieder Tage, wo Jettchen Kößling ganz verstand, wo sie sich sagte, er wäre abschlägig beschieden worden, und er wäre nun wortlos von ihr gegangen, um es ihr und sich nicht noch schwerer zu machen. Und vielleicht wäre es das beste so. Aber dann schien es Jettchen wieder, als müsse sie selbst zu Kößling gehen und sagen, daß sie sein wäre und daß er ihr nichts damit raube, sondern sie nur reich mache, und daß sie immer und mit tausend Freuden an seiner Seite jede Entbehrung tragen würde; wenn er nur wolle, sie ginge morgen zu ihm, ganz gleich, was die Welt dazu sage; wenn er nur den Mut dazu hätte, sie würde ihn auch haben. Und dann redete sich wieder Jettchen da hinein, daß Kößling krank wäre und allein läge und daß sie zu ihm müsse, ihn pflegen; und tagelang beherrschte sie dieser Gedanke mit all seinen greifbar deutlichen Vorstellungen. Und auch jene Reihe von Empfindungen kam ihr stets von neuem wieder, daß sie Kößling zu gering und zu unbedeutend wäre, und daß er deswegen über sie fortgeschritten sei.

Und es verging kaum ein Tag, kaum eine Stunde, wo Jettchen nicht fruchtlos an dieser ewigen Kette von Gedanken und Trugschlüssen haspelte und ihren halb verwirrten Geist von neuem in den Schlingen verfing. Und aus dem einzigen, der Jettchen hierin hätte Rede und Antwort stehen können, aus Jason, konnte Jettchen nichts herausbringen.

Erst war Jason nach jenem Sonntag lange Wochen nicht nach Charlottenburg gekommen, und dann, als ihn Jettchen endlich wiedersah und in einem Augenblick, in dem sie beide nicht beobachtet waren, ihn nach Kößling gefragt hatte, da hatte er nur verlegen gelächelt und ihr die Backen geklopft und gesagt, er hätte nun auch lange nichts mehr von Kößling gehört. – Und dabei war es geblieben. Und wenn Jettchen später einmal, wenn an Sonntagen Jason und die anderen herauskamen – alle, und noch dieser und jener, den der Onkel mitbrachte, wenn Jettchen Jason da insgeheim nach Kößling fragte, so bekam sie immer ein freundliches Lächeln und einen mitleidigen Blick, aber kein Wort, das ihre Lage klärte. Und Jason selbst war innerlich stolz darauf, wie klug er sich benehme, weil er keine Hoffnungen in Jettchen wecke und auch keine zerstöre.

 


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