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Und während mit blitzenden, messerscharfen Äuglein der neue Vetter Julius – als würdiger Nachfolger Jasons – beim Whist dem alten, heute noch besonders unaufmerksamen Eli kunstgerecht das Fell über die Ohren zog, saß sein Vorgänger nun ganz in sich zusammengezogen im Torwagen, der schwerfällig mit seinen plumpen Gäulen in Staub, Lärm und Gewühl die Charlottenburger Chaussee entlangschwankte, ganz hinten auf das graue niedere Ziel am Ende zwischen den Baumreihen, – auf das Brandenburger Tor zu. Über den Bäumen lag ein glühender Himmel, und alles Laub hing schlaff und regte sich nicht. Auf den Rasenflächen am Weg hatten es sich Ausflügler vergnügt gemacht und spielten das Feldlager in Schlesien. Aber Jason, den das Treiben sonst gefesselt hätte, sah all das freudige Durcheinander heute nicht, er blickte nur gerade vor sich hin und tupfte sich unablässig mit einem roten Seidentuch die Schweißperlen von der Stirn.

Jason war erst zwar weggestürzt, um sofort, wie er ging und stand, Kößling aufzusuchen und ihm alles zu sagen, wie ganz schlecht und völlig aussichtslos es für ihn wäre. Aber schon im Wagen waren ihm Bedenken gekommen. Was sollte er dem armen Menschen seinen Sonntag zerstören; und das hätte wohl morgen noch Zeit. Und er fühlte sich auch so roh, daß er ihn aus allen seinen Himmeln mitten in eine hartherzige Wirklichkeit hineinstürzen sollte. Aber dann sagte Jason sich doch wieder, daß das vielleicht gar nicht so wäre, daß alles Glück einzig in Gedanken und Empfindungen läge und nicht im Besitz und in der Zukunft und daß Kößling eben in seiner Verehrung und Zuneigung für Jettchen etwas hätte, das unzerstörbar wäre – ein bleibendes Gut. Die Schönheit seiner Bilder, die Süße seiner Erinnerung und die Freudigkeit seiner Träume würden ja durch all das nicht berührt, das fiele außerhalb davon zu Boden. Und dann wäre auch die Art des Menschen so beschaffen, daß er ein Nein doch nie glaube oder ganz erfasse.

Und wie Jason dann noch einmal alle Stufen und Wendungen des Gesprächs von vorhin durcheilte, da schien es ihm selbst sogar, als ob das Nein von vorhin doch nicht ganz so schroff gewesen wäre, und er klammerte sich an ein paar Worte seines Bruders, die sagten, wenn das oder jenes anders wäre, gäbe es immerhin eine Möglichkeit. Und Jason simulierte und grübelte, rief sich diese oder jene Stelle des Gesprächs ins Gedächtnis, bis endlich der Kutscher fragte, ob denn der Herr Baron wieder mit zurückfahren wollte. Und wie Jason aufsah, da waren schon alle die anderen, die eben noch um ihn gewesen, ausgestiegen, und er saß ganz allein da im leeren Torwagen am Brandenburger Tor, und der Kutscher brüllte sein »Abfahren, abfahren, es fehlt nur noch eine lumpichte Person« mit aller Stimmkraft mitten in die Sonntagsspaziergänger hinein, die aber lieber zu Fuße gehen mochten.

Und Jason kletterte ganz verdutzt vom Wagen herab und ging durchs Tor, an den Wachtempeln vorbei in die Stadt. Erst ging er so schnell es ihm irgend möglich war, um ja recht bald zu Kößling zu kommen. Denn das wäre wohl – wie es ihm jetzt wieder schien – das Richtigste.

Aber der Nachmittag hatte keine Kühlung gebracht. Und das Laub, – draußen grün unter dem wolkenlosen Himmel, – hing hier tot und reglos in verstaubten Klumpen an den Bäumen. Alles trieb Jason entgegen, Wagen und Menschen in lärmendem Gewühl. Der breite Weg in der Mitte war, soweit man sehen konnte, dicht von Menschen besetzt, die sich bunt durcheinander schoben in großen Massen und zu zweien und dreien. Und alles war lärmend und unbändig. In ganzen Reihen zogen gemächlich Soldaten und Kaufleute, Arbeiter und Handwerker mit ihren lachenden Mädchen vors Tor. Und bald hemmte auch Jason Gebert seinen Schritt – weil es doch heiß war – und begann die Vorüberziehenden zu mustern. Und da die Frauen die Eigenheit haben, am Sonntag in ihrer sorgsamen und hellen Kleidung verlockender auszusehen als in den grauen Wochentage, – so kam Jason Gebert schnell auf recht andere Gedanken und schlenderte ganz gemächlich und ziellos die Linden hinunter. Und als er an der Ecke bei Kranzler war, da lag Charlottenburg und das, was sich da ereignet hatte, fast eine Meile hinter ihm, und Jason Gebert war jetzt wieder fest entschlossen, nicht zu Kößling zu gehen.

Es wäre falsch, wollte man ihm daraus einen Vorwurf machen; denn so ist doch nun einmal unser Wesen, daß wir nie lange in einer Stimmung gefangen bleiben können und immer das Bedrängende und Trübe wieder von uns fortzuschieben suchen, um unsere Augen dem holden Schein zuzuwenden.

Aber da bei Kranzler jedes Plätzchen draußen besetzt war und man heute doch nicht gern im Zimmer sitzen mochte, und da überhaupt Jason eigentlich keine Lust hatte, allein zu sein, sondern so ein unbestimmtes Sehnen nach einem fühlenden, tugendsamen Herzen ihn weitertrieb, – so zog er dahin in bester Stimmung und abenteuerfroh und eroberungslustig wie ein Wiking. Er wußte nicht so recht, was er mit dem Nachmittag und Abend beginnen sollte und wo ihn sein Glück hinführen würde. Mehr denn einmal war er schon drauf und dran, umzukehren und mit dem Strome zu schwimmen, ganz gleich, wohin, – vielleicht nach Moabit oder in die Zelten zum Feuerwerk. Aber in der angenehmen Schlenderlässigkeit, die ihn befallen hatte, wäre solch ein Entschluß zu gewaltsam gewesen. Auch hatte Jason Gebert gerade seinen blonden Tag – nicht seinen schwarzen oder braunen Tag –, sondern einen seiner blonden Tage, – und an denen ließ er sich immer gänzlich vom Zufall treiben, und es war ihm gleich, an welche Küste der ihn brachte; – er pflegte nicht dagegen anzukämpfen.

Nicht so an den schwarzen und braunen Tagen, da war Jason Gebert stets selbst mit eigener, kräftiger Hand der Schmied seines Glückes.

Und schon eine ganze Weile trieb so jetzt der Zufall Jason Gebert hinter einem goldenen Stern her – golden wie die Farbe reifer Ähren. – Und es waren ihm schon kurze, verheißungsvolle Gnadenblicke zugekommen, die ihn als Trabanten eng an jene Sternenbahn fesselten und immer näher und näher zogen. In seltsamen Zickzacklinien und Kurven ging diese Sternenbahn über die Schloßbrücke hin, an den alten Häusern entlang, am Schloß vorbei und quer über den belebten Schloßplatz fort, ließ die Stechbahn rechts, um endlich gerade unter dem ragenden Denkmal des Kurfürsten jäh nach links, nach der stillen Burgstraße, abzuirren; – und das letzte noch in verlangsamtem Zeitmaß, so daß hier in der Ruhe des Sonntagnachmittags Jason wohl seine Bahn mit jener hätte vereinen können.

Aber so seltsam spielt der Zufall. – (Wäre er berechenbar, so trüge er seinen Namen mit Unrecht.) – So seltsam spielt er doch wieder, daß in eben dem Augenblick, als auch Jason Gebert in kurzer Wendung nach links hinüberschwenken wollte, dem Jason Gebert jemand gegenüberstand, an den er seit gut einer Viertelstunde nicht mehr gedacht hatte, den er in seinem Hirn weit nach hinten zurückgeschoben hatte und er sich nun mit einem Male wieder vordrängte und sogar selbst in Erinnerung brachte.

»Ach, Herr Gebert, überall habe ich Sie schon die Zeit über gesucht!« sagte Kößling verlegen und rot, und man merkte dem Ton seiner Rede an, daß er Tage und Nächte in Aufregung verbracht hatte.

»Ja«, versetzte Jason zögernd und mißmutig darüber, daß der andere den Ernst und die Wichtigkeit der gegenwärtigen Lage nicht begriffe. »Was machen Sie heute abend noch?« Und dabei würdigte Jason Gebert Kößling keines Blickes, sondern folgte nur wie gebannt mit den Augen seinem schönen goldenen Stern, der nun ganz langsam schräg über den Damm sich entfernte und ihm noch zweimal zublitzte, ehe er sein Licht hinter einer schwer zufallenden Haustür verbarg.

Kößling stand die Zeit über schweigend vor Jason und zitterte in Erregung, denn er ahnte nur zu gut, wie er sich das veränderte Benehmen des anderen deuten sollte.

»So«, sagte Jason endlich erleichtert zu Kößling und schrieb sich dabei mit eisernem Griffel das Haus ins Gedächtnis. »So, – nun kommen Sie dran, lieber Freund. Was machen wir noch?« – Und damit schob er seinen Arm in den Kößlings.

»Ich habe nichts vor, – ich habe jetzt die Tage doch keine Ruhe zum Lesen oder Schreiben.«

»Aber warum, lieber Doktor?« Und Jason war fest entschlossen, ihm nichts zu sagen.

»Haben Sie denn schon mit Ihrem Bruder meinetwegen gesprochen?« fragte Kößling; er konnte nicht anders, er mußte mit der Tür ins Haus fallen.

Jason zog mit einem kurzen Ruck seinen Arm aus dem Kößlings und blieb erstaunt stehen.

»Aber hören Sie mal, lieber Doktor! Eben die Minute ist der Mann gekommen, da kann ich ihn doch nicht gleich damit überfallen, das wäre doch höchst unklug von mir.«

Und Jason war selbst erstaunt, wie ruhig er das herausbrachte.

»Ich glaubte, Sie würden heute hinausfahren«, meinte Kößling enttäuscht. »Und deswegen –«

»Nein«, sagte Jason, »das kann man doch noch nicht; und dann hat, glaube ich, meine Schwägerin Rikchen Migräne. Ich habe am Nachmittag draußen in den Zelten ein bißchen Musik gehört und will nun nach Hause.«

»Wann meinen Sie, Herr Gebert, daß ...?« sprang Kößling von neuem zurück.

»Na, sicher noch in dieser Woche«, sagte Jason und nahm wieder Kößlings Arm. Jetzt hatte er seine ganze Sicherheit wieder. »Aber nun kommen Sie mal heute zu mir mit. Sie sind mir sowieso einen Besuch schuldig.«

Kößling sträubte sich erst, aber eigentlich war er doch froh, daß ihn der andere aufforderte, denn er hatte nach den letzten, erregten Tagen die Sehnsucht nach Geselligkeit und nach dem Untertauchen in einem Geplauder, hatte die Sehnsucht, auf all diese Grübeleien, Hoffnungen, Pläne und Bilder wieder einmal an Männerworten sich zu erlaben, die über das Persönliche und Greifbare hinaus sich den Zusammenhängen und den fernen und letzten Dingen zuwenden.

Und als Kößling zugesagt hatte, gingen sie beide eine Weile schweigend nebeneinander her, und ihre beiden langen Schatten von der tiefen rötlichen Sonne, die ihnen gerade im Rücken stand, bewegten sich langsam vor ihnen auf dem Pflaster.

Jason sprach dann von der Ausstellung in der Akademie. Er könne an dem Professor Lessing nichts finden. Krüger, sonst vorzüglich, wäre mit seiner Lustgartenparade etwas nüchtern; aber Steinrücks Elfen wären für ihn von einer feinen und weichen Poesie, wie ein Lied von Schubert. Vor allem hätte ihn jedoch eine Gerichtsszene gefesselt; das wäre wie ein Ostade, und doch wäre es wieder von einem ganz neuen Farbengeschmack; und wie da so ein schmiedeeisernes, gewundenes Gitter, als Gerichtsschranke, gezeichnet wäre, – wie das gemacht wäre, kapriziös mit kleinen Pinselfleckchen hingetupft, – das hätte ihn interessiert. Er hätte auf den Künstler bisher nur als Zeichner geachtet; aber er wäre als Maler neuartig und wunderbar, man müsse ihn sich merken. Er wäre nebenbei ganz klein von Gestalt und hätte einen dicken Kopf wie ein Kobold. Man hätte ihn ihm auf der Straße gezeigt. Er heiße Menzel und verkehre auch beim Tapetenhändler Arnold; aber er, Jason Gebert, hätte ihn dort noch nicht getroffen. Aber es täte ihm eigentlich auch nicht leid; denn es sei meistens so, daß solche Leute so viel mit sich zu tun hätten und so viel in sich hineinlebten, daß sie höchst langweilig und alltäglich im Umgang wären; wenn sie nicht überhaupt unfähig wären, ein vernünftiges Wort zu sprechen, wie man ihm das von dem berühmten Thorwaldsen erzählt hätte.

Kößling ging nur lässig auf das Gespräch ein, denn er war mit seinen Gedanken ganz woanders, und eigentlich hatte er auch für Malerei nicht gar viel übrig und betrachtete sie einzig vom Standpunkt des Literaten aus, als einen Ausdruck von Gedanken und Empfindungen; während Jason, der für sich und im geheimen ein wenig dilettierte, ihr sinnlich näher kam. Auch steckte Jason Gebert vom Vater her eine Freude an schönen und aparten Farben und an minuziösen Dingen im Blut – und das war ihm so sehr zum Bedürfnis geworden, daß er oft für Stiche, Silberzeug und Porzellane oder für schöngedruckte Almanache und Erstausgaben mehr aufwandte, wie sein Finanzminister hätte verantworten können.

Kößling wollte wieder das Gespräch auf Jettchen hinüberspielen, aber Jason Gebert wich immer von neuem aus, und es war Kößling hierbei, als ob er in eine Nebelwand griffe.

Und doch spürte Kößling ganz deutlich, daß der andere ihm etwas verbarg und ihn nur mit seinem Geplauder einwiegen wollte. Denn Jason Gebert war jetzt sehr gesprächig und weitschweifig und sprang hin und her in seiner Rede wie ein Irrlicht, so daß die verhaltene Erregung, in der Kößling dahinschritt, von Augenblick zu Augenblick wuchs, und er jeden Moment fürchten mußte, daß sie sich irgendwie entladen würde.

Und Kößling wollte deshalb, als sie in die Klosterstraße einbogen, schon eben sein Versprechen von vorhin, mit zu Jason Gebert zu kommen, unter irgendeinem Vorwand zurückziehen, als Jason ihn mit in den breiten Torweg eines alten, vornehmen Hauses zog, der hellgetüncht und freundlich in dem rötlichen Abendlicht lag.

»So, hier wären wir, lieber Doktor! Ich gehe voran.« Und damit schloß Jason die mannshohe, durchbrochene, reich- und grobgeschnitzte Holztür, die wieder das geräumige und weite Treppenhaus vom Vorflur trennte, mit einem großen geschweiften Schlüssel auf, den er von oben, von dem Gesims genommen hatte.

»So brauche ich nicht zu klingeln«, sagte er.

Kößling, der ein solches Haus mit den schönen Holzgittern und Geländern und den grotesken Treppensäulen nicht hier erwartet hatte, war entzückt und sagte, daß ihn das ganz an Braunschweig erinnere, an die alten Häuser, die am Markt stehen.

»Ja«, sagte Jason, während sie die breiten, flachen Stufen, die von breiten Absätzen unterbrochen wurden, mühelos hinaufstiegen. »Hier bin ich groß geworden; hier hat mein Vater gewohnt. Aber dann ist das Haus verkauft worden, und ich bin eigentlich nie mehr hingekommen. Doch wie vor acht Jahren oben eine Wohnung frei wurde, habe ich sie gemietet, und nun denke ich manchmal, ich bin überhaupt nie hier fortgezogen. Sehen Sie, hier wohne ich. Warten Sie, – der Flur ist nicht hell.«

Damit stieß Jason Gebert die Tür auf, und ein altes Fräulein von Haushälterin huschte, in einem unmöglich geblümten Kleid, wie ein Käuzchen an ihnen vorbei und nach einem Hinterzimmer.

Jason führte Kößling zuerst nach vorn. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Hier ist eigentlich mein nächtliches Quartier. Aber hinten muß erst Fräulein Hörtel mal nach dem Rechten sehen.«

Kößling wußte nicht, wo er zuerst hinblicken sollte, so viel Geschmack und Vornehmheit sprach aus allem. Die Fenster waren ganz breit und tief, so daß eine gleichmäßige Helligkeit bis in die letzten Winkel des großen lichtgrünen Zimmers drang. Das Bett verbarg sich hinter einer grünen Gardine, und sonst gab es nur noch ganz wenige, sehr zierliche und kostbare Möbel. Um den runden Mahagonitisch mit den Elfenbeineinlagen auf der blitzenden, spiegelnden Platte standen ganz niedere Sessel mit dünnen grünen Polstern, und eine Mahagoni-Bergere, reich geschnitzt, mit großen Bronzerosetten, war schräg vor ihn gerückt. Ihre dünnen Kissen und Auflagen zeigten den gleichen grünen, gemusterten Damast. Die Wände aber waren sogar ganz mit heller mattgrüner Seide bespannt, und von der Wute hingen an dunkelgrünen Seidenkordeln in Augenhöhe – alle in den gleichen, schmalen Rähmchen mit Palisanderecken – alte farbige Pariser Modekupfer: gezierte Reifrockschöne, Damen im Kleid der Nacktheit und karikierte Stutzer aus der Zeit des ersten Konsuls. Doch zwischen all diesen groben Dingen träumten ein paar kindliche Grisettchen Gavarnis und ein paar süße und überzierliche Frauenköpfchen, wie sie Kößling aus dem Charivari kannte.

Aber das Überraschendste waren eben für Kößling diese beiden ganz gleichen Mahagoni-Servanten, mit Bronzekapitellen auf den Ecksäulen, drüben an der Wand, eine hier und eine dort, die ganz gefüllt waren mit alten Porzellanen, Gruppen, Figuren und Geschirren, weißen und farbigen in geschickter Wechselwirkung. Und sie machten eigentlich, daß Kößling den großen rotbraunen Schrank, zu dem Jason jetzt ging, noch gar nicht bemerkt hatte.

Kößling dachte an sein altes Gerumpel zu Haus, das nicht einmal ihm gehörte, und er hatte wieder das unangenehme Gefühl des Eindringlings. Am liebsten wäre er jetzt wieder gegangen und hätte Jason Gebert und alles, was Gebert hieß, nie wiedergesehen.

Jason merkte Kößling diese Mißstimmung an. »Für die grüne Seide kann ich nicht«, sagte er lachend. »Es sind nur ein paar schlecht gefärbte Coupons, die im Geschäft verramscht werden sollten, und da habe ich doch lieber schnell einmal die Wand mit bespannen lassen.« Damit nahm Jason die Kamelottjacke aus dem Schrank und hing seinen grünen Bratenrock säuberlich an den Riegel. Nicht ohne ihn vorher liebend zu betrachten und ermunternd und zärtlich zu klopfen und zu streicheln, während Kößling, mit dem Rücken ihm zugewandt, still die Porzellane betrachtete.

Kößling war zwar kein Kenner von Porzellanen, aber er empfand doch, daß das hier von einem Sammler von gutem Geschmack zusammengebracht war. Und besonders war es ein Figürchen, das es ihm antat; mit seinen schrägen Brauen und seinem aparten Lächeln. Es erinnerte Kößling an Jettchen, zwang ihm plötzlich die Vorstellung Jettchen vor die Seele. Am liebsten hätte er das Püppchen aus dem Schrank genommen und es geküßt, in Gedanken an jene. Ganz versunken und verloren war Kößling in seine Betrachtung.

»O ja«, sagte Jason und trat hinter ihn, »da sitze ich auch manche Stunde davor. Ich finde immer, man könnte auf jedes dieser Porzellane ein Gedicht schreiben. Sehen Sie mal da hinten auf diese Frankentaler Gruppe – Apollo und Venus –, und gleich wird Vulkan um sie sein Netz werfen. Das ist ein Sonett. Und auf das Meißener Figürchen hier.« Jason zeigte auf Kößlings Püppchen. »Es ist ein echter Kändler. – Ist das nicht wirklich eine neckische Siziliane? Und das hier, es ist mein Stolz, Doktor, dieses kleine Mädchen in Biskuitmasse, Sèvres, man sagt, es wäre von Houdon. Sehen Sie nur, wie weich und zart solch junger Körper ist, und wie fleischig dabei die stumpfe Masse wirkt. Das ist doch im Volksliedton. Ja, lieber Freund, die paar Porzellane hier sind wirklich meine einzige Freude. Wissen Sie, bevor ich mir ein neues Stück kaufe – wenn ich so Tage und Wochen erst drum herumgehe –, das ist mir jedesmal gerade, als ob ich eine neue Liebschaft beginnen will.«

Aber Kößling regte sich nicht, er empfand nur immer peinigender, daß eigentlich zwischen ihm und jenem eine Kluft wäre, so freundlich Jason Gebert auch zu ihm sein mochte. Ja, Kößling blickte an sich herunter, und trotzdem er kein Fleckchen an seinem Anzug entdecken konnte, kam er sich doch in dieser Umgebung wie ein Landstreicher vor. Und es schien ihm dagegen, als ob Jason Gebert hier in seinen vier Wänden ein ganz anderer wäre wie auf der Straße oder im Gasthaus oder damals bei seinem Bruder.

Alle die weichen und verschwommenen Linien seines Wesens wurden hier fest und bestimmt. Und Kößling bereute das Urteil, das er vor Jettchen über ihn gefällt hatte.

»Sie wundern sich gewiß«, sagte Jason, »warum ich das Zimmer nicht als Arbeitszimmer genommen habe. Aber das nach hinten ist tagsüber ruhiger wie das hier des Nachts, und ein einziger Lastwagen, der die Scheiben zittern läßt, genügt von je, um mich auf zwei Stunden für jede Tätigkeit unbrauchbar zu machen.«

So plauderte Jason, ging hin und her und erklärte Kößling die Stiche und Kupfer und warum er gerade die und keine anderen gewählt hätte. Er hatte jetzt eigentlich Kößling und sein Schicksal wieder ganz vergessen. Er hatte nur noch den kunstfreudigen Besuch vor sich und war glücklich, ihm seine Schätze zeigen zu können.

Aber Kößling zog es immer wieder zu dem Figürchen in der Servante, das schien ihm wahrhaftig mit den schwarzen kleinen Augen zu winken, wo er auch ging und stand.

»Kann ich das eine Püppchen da mir einmal näher ansehen?« bat er.

»Muß das sein?« fragte Jason ängstlich.

»Ich lass' es sicher nicht fallen«, bat Kößling wieder.

Und Jason schloß zögernd die Servante auf, faßte die Figur fest und sicher mit zwei Fingern um die dünne Taille, hob sie ruhig aus den anderen heraus und reichte sie vorsichtig Kößling hin, der das Dämchen in die Hand nahm und hin und her drehte, so daß die Lichter wechselnd auf allen Kanten und Vertiefungen aufblitzten. Und ehe noch Jason wußte, was geschah, hatte Kößling einen Kuß auf das kalte, neckische Köpfchen gedrückt.

»Aber Doktor, was ist Ihnen denn?« rief Jason.

Kößling war ganz verlegen. »Das hat mich an jemand erinnert«, sagte er endlich.

»Geben Sie's mal her«, sagte Jason und sperrte ebenso vorsichtig, wie er es daraus entnommen, das Figürchen wieder in seinen Glasschrank. »So – nun kommt es fort.« Aber im Augenblick, wie er das lächelnd sagte, standen doch von neuem die ganzen Erlebnisse vom Nachmittag vor Jason, und das machte ihn auch verwirrt und nahm ihm die Ruhe. Dieser arme Mensch tat ihm leid. Denn wenn immerhin im Leben Jasons wohl oft Leidenschaften, aber nie eine Leidenschaft geherrscht hatte, so konnte er doch nachfühlen, was sich jetzt in Kößling abspielte.

»Wollen wir hinübergehen?« meinte Jason und stieß die Tür auf, als ob er dächte, daß all das nun jetzt hier bei dem Porzellanpüppchen im Schrank bleiben würde.

Auf dem Flur huschte wieder ganz schnell in ihrem geblümten Kleid das kleine, alte Fräulein Hörtel an ihnen vorbei, lautlos, wie ein Käuzchen.

Das Zimmer nach hinten löste wirklich im ersten Augenblick in Kößling ganz andere Empfindungen aus. Fenster und Tür waren nach der breiten Galerie geöffnet, die mit ihrem geschnitzten Holzgitter draußen entlang lief, und man hatte einen Blick fort über ein Geschachtel alter, geröteter und gebräunter Dächer und über Baumgipfel, die irgendwo aus schmalen Höfen und engen, alten Gärtchen zum Licht emporquollen; und hinten hob sich der kantige Spitzturm der Nikolaikirche gegen die Sonne in den hellen, weißlichen, von Staub und Rauch ganz leis verschleierten Abendhimmel hinein. Das Zimmer selbst war von einem rötlichen Licht erfüllt und wirkte weit und fast leer. Denn Fräulein Hörtel hatte draußen auf der Galerie gedeckt und wohl Tische und Stühle dazu hinausgetragen.

»Bücher, Bücher, Bücher!« sagte Jason und zeigte auf die Bücherborde, die hoch und breit rechts und links und zwischen Tür und Fenster die Wände füllten, so daß sie kaum für ein paar hochlehnige Stühle dazwischen und kaum für ein paar Stiche und Bildnisse an der Wand Platz ließen.

In feinen Reihen standen neben den groben Pappbänden die zierlichen Lederbändchen, und ein letztes Blitzen von der rötlichen Sonne lief über die Goldbuchstaben auf den grünen Schriftplättchen und haftete in den goldenen Blümchen, mit denen die Rücken verziert waren.

Kößling vertiefte sich sogleich in die Buchtitel. Denn ganz gleich, wie ihm ums Herz war, das hätte er nie versäumt. Jeder Buchtitel gab ihm etwas, war für ihn eine ganz bestimmte Vorstellung von dem Inhalt; er war für Kößling wie der Name einer Speise, die er nie genossen und von der er doch glaubte, zu wissen, wie sie schmeckte. Jason ließ es sich nicht nehmen, den Führer zu spielen.

»Hier ist mein Laboratorium«, sagte er, »hier habe ich gelernt bescheiden zu sein, hier habe ich so manche Hoffnung eingesargt, und für manche Hoffnung, die mir draußen zerschlagen wurde, habe ich hier drinnen Ersatz gefunden. Ein rechter Bücherfreund – merken Sie sich das, lieber Doktor! – darf weder Frau noch Kind noch Familie haben. Die hier müssen ihm alles sein. Sehen Sie, lieber Freund; das sind meine Brüder, sage ich immer«, er wies auf das eine Regal, – »und das sind meine Väter«, und er wies auf das dritte, »und das endlich sind unsere Ahnen. Eigentlich sind sie mir die Liebsten, denn sie lebten noch in einer Zeit, von der Lichtenberg einmal sagt, daß in ihr noch Schreiben gleichbedeutend mit Gutschreiben war. Interessieren Sie sich für hübsche Ausgaben? Sehen Sie hier einmal die Genfer Voltaireausgabe von 1751 und die Montaigneübersetzung von Bode aus den neunziger Jahren. Oder hier die erste Londoner Edition Diderots. Kennen Sie von Diderot ›Les bijoux indiscrets‹?«

Kößling sann nach.

»Nein«, meinte Jason lachend, »das ist auch für Sie nicht nötig. Doch es gibt ebensogut diese Seite des Lebens. Und auch sie hat recht.«

Aber Kößling hörte kaum hin. Er war nicht von den Büchern fortzubringen; er reckte sich den Hals aus, um zu erkennen, was in den obersten Reihen stand, und er kniete nieder, um die unten zu entziffern.

Kößling erkannte sofort, daß ebenso wie bei den Porzellanen es nicht der Zufall war, der diese Bibliothek zusammengewürfelt hatte, sondern ein planmäßiges Vorgehen und ganz aparte Vorliebe des Sammlers. Geschichtswerke gab es wenig, aber viel Philosophen und viel antike Prosaisten. Von Indien handelten wohl fünfzig Bände, und es gab wieder ganze Reihen französischer Romanciers des achtzehnten Jahrhunderts in ihren zierlichen, kupfergeschmückten Bändchen. Heinse, Hamann, Theodor Amadeus Hoffmann, Jean Paul oder Goethe waren neben den Gesamtwerken noch fast völlig in Erstdrucken vorhanden; und Kößling wurde nicht satt zu schauen, denn selten war er einer Büchersammlung begegnet, die ein so gutes Zeugnis für den Geschmack ihres Besitzers ablegte und aus der mit ähnlicher Strenge und mit gleichem Takt alles Minderwertige und Gleichgültige ferngehalten war.

»Nun lassen Sie doch die Bücher«, sagte endlich Jason, der sich indes an seinem Arbeitstisch ärgerlich zu tun gemacht hatte, weil irgend etwas nicht so lag, wie es liegen sollte. »Man kann ja nichts recht mehr sehen.«

»Wissen Sie, ich denke oft darüber nach, ob eigentlich Bücher heilsam oder schlecht für uns sind. Manchmal kommen sie mir nur vor wie ein schlechter Kupferdruck, wie ein verwischter Abklatsch vom Leben, ganz malerisch, – aber man nimmt ihn doch nur, wenn man keinen anderen guten Druck bekommen kann. Und dann scheint es mir wieder, als ob die Bücher erst das Leben vertiefen und seinen Wahnsinn in Sinn verkehren; und als ob sich das Leben langsam nach den Büchern umformt. – Aber lassen wir die Bücher, Doktor. Kommen Sie, ich will Ihnen mal Stiche zeigen. Hier ist das Chodowieckiwerk, oder wollen Sie vielleicht lieber Schmetterlinge sehen? In den Spindchen habe ich noch einige Kästen. In meiner Jugend habe ich leidenschaftlich gesammelt; aber wie das so kommt, es ist dann ganz eingeschlafen. Und es wäre mir auch jetzt mit meinem Bein zu anstrengend.«

Kößling wollte die Schmetterlinge sehen.

Und Jason zog die glasgedeckten Kästen auf, einen nach dem anderen, in denen an langen Nadeln auf sauberen Korkstreifen die Schmetterlinge steckten, jeder mit einem sauber geschriebenen Zettelchen vor sich. Manche von ihnen waren schon ein wenig blaß und unfrisch in der Farbe, andere aber leuchteten, als wären sie noch heute vormittag in taumeligem Flug über die Wiesen hingezogen.

»Seltsam«, meinte Jason. »Die Namen sind mir doch schon meist entfallen; aber fast jeder der Schmetterlinge hier ist eine ganz bestimmte Erinnerung für mich. Ich weiß noch genau, wie ich zu ihm gekommen bin, und ich sehe heute eigentlich gar nicht mehr das kleine, vierflügelige, bunte Ding in ihm, sondern ich habe bei ihm wieder den langen Waldweg vor mir mit den blanken Klaftern von Buchenholz rechts und links, oder bei dem hier gehe ich ganz im ersten Frühjahr durch Brüche, und kleine weiße Birkenstämmchen mit roten, kahlen Zweigen stehen im gelben Schilfgras. Oder der ist für mich heute nur noch eine saftige Wiese mit ganz hohen, rotblauen Wicken.«

Kößling beugte sich ganz tief über den Kasten.

»Haben Sie mal gesammelt, Doktor?«

»Nein«, sagte Kößling, »aber ich sehe Schmetterlinge sehr gern.«

»Aber jetzt kommen Sie, bitte«, sagte Jason und trat auf die Galerie hinaus an den gedeckten Tisch.

Die Sonne war jetzt gesunken und blickte nur noch mit einer breiten, glühenden Kante aus dem veilchenfarbenen Dunst, und zwei scharf umzogene, gerade Purpurstreifen lagen quer über den Horizont fort, über den verdämmernden Dächern, einzig durchschnitten von dem spitzen, schwarzen Dreieck des Kirchturms, irgendwo stand ein Mann hoch oben, groß und dunkel auf dem Dach und winkte mit einer langen Stange einem kreisenden Taubenschwarm, heimzukommen; und der Abendrauch stieg leise wirbelnd kerzengerade aus allen Schornsteinen.

»Wie Sie es hier schön haben«, sagte Kößling und stellte sich an das Gitter.

»Lieber Freund, Sie sehen das vom Tisch aus ebensogut«, meinte Jason.

»Vielleicht«, sagte Kößling lachend und setzte sich Jason gegenüber, der ihm die Schüsseln mit kaltem Braten zuschob und ihm Wein eingoß.

Kößling nippte nur und aß wenig. Er könnte an warmen Tagen nichts essen, sagte er; während Jason meinte, daß ihn solche Äußerlichkeiten nie beeinflußten.

»Schade, daß Sie nie Schmetterlinge gesammelt haben«, begann Jason wieder langsam und betrachtete nachdenklich sein Gegenüber. Er wußte eigentlich nicht, was ihn so sehr zu diesem jungen Menschen zog. Und doch empfand er etwas für ihn. Vielleicht, weil nichts an ihm weich und sinnlich war und sich in jedem Zug so ein starker, hartgezeichneter Trotz des Geistes aussprach ... In den etwas hageren Wangen, der vorgebauten Stirn, selbst in dem kleinen Sattel von Sommersprossen über der gebogenen Nase und in dem Leuchten der klaren, graublauen Augen, die gleichsam die Dinge umfaßten; wenn sie von ihnen sprachen, und die sich ewig verfärbten von einem geheimen Unterstrom wechselnder Gedanken und Empfindungen.

»Wann, Herr Gebert, habe ich wohl in meinem Leben Schmetterlinge sammeln können?!« meinte Kößling bitter, und er verglich bei sich die Möglichkeit der Entwicklung, die jenem gegeben war, mit seiner eigenen Unfreiheit.

»Schade«, antwortete Jason und sah Kößling mit großen Augen an, »man lernt viel dabei. Ich mußte heute nachmittag immer daran denken, wie ich mal als Junge eine Raupe hatte, eine schöne, große grüne Raupe mit blauweißen Streifen, ein stolzes, rares Tier. Und ich freute mich schon so recht, was sie für einen schmucken Falter geben würde. Aber eines Tages wurde meine Raupe matt, und plötzlich fiel sie im Augenblick in sich zusammen wie ein leerer Schlauch. Kennen Sie den Vorgang? Die Sammler sagen dann, das Tier wäre gestochen. Es sind Schlupfwespen, die ihre Eier in die Raupe legen. Und wenn das Tier wäscht, wächst das Geschmeiß drin mit, und man merkt äußerlich gar nichts von ihm, und die Raupe scheint es auch kaum zu spüren, – aber ganz plötzlich bricht sie dann in sich zusammen, und die weißen Maden durchbohren die schlaffe Haut und spinnen sich auf ihr ein. – Und an diese grüne Raupe mußte ich heute nachmittag immer denken.«

»Heute nachmittag?« fragte Kößling, legte die Gabel hin und starrte Jason angstvoll an.

»Ja, heute nachmittag«, sagte Jason, »draußen bei meinem Bruder in Charlottenburg.«

»Sie waren doch in Charlottenburg«, rief Kößling und sprang vom Stuhl auf.

»Ja«, meinte Jason ganz ruhig. – »Aber setzen Sie sich wieder, lieber Doktor, wenn wir darüber reden wollen.«

Kößling umklammerte mit der einen Hand das Gitter und ließ sich dann wieder in den breiten Stuhl zurückfallen.

»Wir Geberts, meine ich«, sagte Jason immer noch sehr bedächtig, »wir Geberts gleichen ganz meiner grünen Raupe, aus der kein Schmetterling werden sollte – wie lange noch, dann wird doch das Geschmeiß uns völlig unterhaben.«

»Haben Sie, wie Sie wollten, meinetwegen gesprochen?« fragte Kößling. Und trotz der beginnenden Dämmerung sah Jason, daß sein Nachbar kreideweiß bis in die Haarwurzeln war; nur seine Augen flackerten.

Aber Jason zwang sich, ruhig zu bleiben. »Gewiß«, sagte er, »ich habe es getan. Ich hatte es Ihnen ja versprochen.« Damit schwieg Jason.

»Und?« meinte Kößling und würgte fast an dem einen kleinen Wort »und«.

Jason spielte mit dem Messer. »Ja«, sagte er kurz und zuckte die Achseln. »Ich bin eben dann fortgegangen.«

Kößling war aufgestanden, hatte mit beiden Händen wieder das Gitter gefaßt und stand groß und dunkel vor Jason gegen die abendliche Helligkeit. Aber Jason sah selbst vom Rücken aus, wie jenen ein Schluchzen schüttelte, und auch er verlor seine ganze Ruhe.

Kößling hatte nur einen dumpfen Schmerz, oben über den Augen, ähnlich, wie er ihn einmal empfunden hatte als Knabe in einer Prügelei mit den Klippschülern, als man ihn mit einer Bleikugel getroffen hatte. Er wußte sich im Augenblick an nichts zu erinnern, wußte auch gar nicht, was das bedeutete, was ihm Jason sagte, und was er damit verlöre; – er hatte nur diesen Schmerz im Kopf und das Würgen im Hals und die Tränen, die ihm über die Backen liefen.

»Ja«, sagte Jason nach einer ganzen Weile, »wirklich, lieber Freund, ich habe keinen sehr günstigen Bescheid bekommen. Und wenn ich es recht bedenke, so ist das vielleicht nicht einmal so schlimm, wie es Ihnen jetzt erscheinen mag. Ja, es ist vielleicht das Beste für Sie. Menschen wie Sie sollen allein sein. Im Alleinsein und in der Unbefriedigtheit liegen Ihre Wurzeln. Sie irren sich, Doktor, Menschen Ihres Schlages sind nicht für die Ehe geschaffen.«

Wie lästig das Kößling alles war! Als ob er überhaupt an Ehe gedacht hätte, als ob er überhaupt irgend etwas von dem, was ihn erfüllte, in Gedanken umgesetzt hätte. Und wie gleich ihm das war, was jener sprach! Er hörte kaum hin.

»Ein Jagdhund darf eben nicht satt sein, und er darf auch kein Fett ansetzen, dann ist es vorbei mit seiner guten Witterung. Und Sie, Kößling, sind so einer von den Jagdhunden, die das Wild jagen sollen, das den anderen zu leichtfüßig ist.«

Kößling horchte auf; dieser Vergleich hatte etwas Bestechendes. Aber was hatte er denn eigentlich damit zu tun. – Jason erfaßte die Stimmung, die Kößling beherrschte, ohne daß Kößling sich auch nur wandte oder gar entgegnete.

»Nun redet der, meinen Sie jetzt. Was weiß er denn von dem, was mich bewegt. – Lieber Doktor, glauben Sie mir das eine: die Welt hat einen Liebenden noch nie verstanden – und später werden Sie sich selbst kaum noch verstehen.«

Kößling wollte antworten, aber er stockte. Was sollte er denn hier noch sprechen?

»Lieber Doktor, ich weiß, was Sie sagen wollen. Wie oft habe ich schon mit dem Kopf durch die Wand gewollt und mir beinahe den Kopf eingestoßen, und die Welt hat doch nachher immer recht behalten.«

Jason schwieg, als erwarte er eine Antwort. Aber als der andere ganz still blieb, begann er wieder:

»Als ich zurückfuhr heute nachmittag, da dachte ich bei mir, daß eigentlich doch das Ja oder Nein für Sie bedeutungslos wäre.«

Kößling wandte sich plötzlich, als verstände er Jason nicht.

»Ja, denn ich sagte mir, daß dadurch nur Ihr äußeres, aber nie Ihr inneres Leben getroffen würde.«

»Wie –?« brachte Kößling langsam hervor, und es klang, als ob er aus dem Schlaf spräche.

»Ich meinte, daß das Maß Ihrer Verehrung dadurch keine Verringerung erführe, und daß Ihre Träume und Ihre Erinnerungen davon unberührt bleiben würden, und ich sagte mir, daß der beste Teil des Lebens – wenigstens unseres Lebens – aus Erinnerungen und Träumen bestände. Und ich glaube auch, daß so, wie es ist, es gut ist. Denn all das würde Ihnen nur Verantwortungen auferlegen, denen Sie nicht gewachsen sind.«

Kößling hörte nachdenklich zu. Das klang ihm alles im Augenblick so weich, verlockend und tröstsam, und trotzdem in ihm tausend Widersprüche dagegen lebendig waren, gab er sich doch dem in seelischer Feigheit ganz hin.

»Ja«, sagte Jason, »Sie müssen nicht glauben, daß ich mich so leicht mit einem abschlägigen Bescheid zufriedengegeben habe, ich habe für jeden Schritt Boden um Sie gekämpft. Und Sie haben auch noch einen Gönner in unserer Familie, der sehr kräftig für Sie eingetreten ist.«

Und Jason begann vom Nachmittag zu erzählen, ging noch einmal alle Phasen des Gesprächs in der Laube beim Whist durch, wie er ein paarmal geglaubt hätte, daß er schon beinahe seinen Bruder Salomon überzeugt hätte und wie der immer wieder Gegengründe gefunden und immer wieder den Kopf aus der Schlinge gezogen hätte.

Kößling stand währenddessen Jason gegenüber. Er hatte sich an das Geländer gelehnt, das er rückwärts mit seinen beiden Händen hielt, und er hatte den Kopf tief gesenkt, so daß Jason sein Gesicht nicht sehen konnte. Langsam breitete sich die beginnende Dunkelheit schwül und trübe über die Dächer und löschte die Fernen. Und neben der schwarzen Gestalt Kößlings tauchten am Himmel fein wie Nadelstiche ein paar Sterne auf und blinzelten ganz schüchtern und verstohlen durch die schwelende, warme Nacht. Kein Lüftchen ging über der Stadt, und Rauch und Dunst hingen tief darnieder, so daß man glaubte, den Himmel greifen zu können, wenn man sich nur ordentlich hochrecken würde.

Und Jason sprach sich immer mehr da hinein, und er drehte und wandte alles hin und her, so daß es ihm endlich selbst schien, und daß auch Kößling, der gespannt lauschte, den Eindruck bekam, als ob es doch noch nicht so ganz hoffnungslos wäre – ja, daß Kößling sogar schon fast aufatmete, weil doch eigentlich alles noch recht gut gewesen war.

Vor allem klammerte sich Jason daran, daß sein Bruder daran Anstoß genommen hätte, weil Kößling nichts wäre und in keiner Stellung säße, also mit keinem bestimmten Einkommen rechnen könnte. – Und daß dann, wenn das der Fall sein würde, alles sonst ein anderes Aussehen bekommen könnte, daß das dann Dinge wären, über die sich vielleicht reden ließe, das war ihm gewiß und sicher.

Und er selbst war eigentlich jetzt ganz frohgemut und zuversichtlich. Vielleicht wäre in dieser Sache doch noch nicht das letzte Wort gesprochen, und wenn Kößling mit großen Erfolgen käme oder sagen könnte: seht einmal, das bin ich und das werde ich, dann würde er wohl einen anderen Bescheid erhalten. Wenn sein Bruder auch täte, als ob er nur nach Geld und Einkommen sähe, so würde er doch Titel und Stellung ebenso hoch einschätzen. In seinen Kreisen begriffe man eben nicht, daß jemand Doktor sein könnte, ohne daraus Nutzen zu ziehen. Das wäre ein Vorurteil, gegen das nun einmal nicht anzukämpfen sei.

Er, Jason, hätte ja von vornherein nicht daran geglaubt, daß jetzt etwas zu erreichen wäre, aber vielleicht brauche man doch nicht alle Hoffnung aufzugeben.

»Und Jettchen?« meinte Kößling unvermittelt. Er war wohl mit seinen Gedanken auf anderen Wegen.

Jason fuhr zusammen. Er hörte diese vertrauliche Familienbezeichnung nicht gern aus dem Munde eines anderen. »Meine Nichte«, sagte er mit Betonung, »ich habe nicht mit meiner Nichte gesprochen, und ich wünsche es auch nicht. Sie verstehen mich wohl? Ich kann Sie öffentlich unterstützen und auch öffentlich für Sie eintreten – das habe ich getan. Heimlich kann ich es nicht und tue ich es auch nicht. Ich bitte, daß wir meine Nichte dabei ganz aus dem Spiel lassen.«

Aber im Augenblick tat es auch Jason leid, und er fuhr wieder freundlich fort: »Verstehen Sie mich recht, Doktor, ich möchte nicht, daß bei meiner Nichte irgendwelche Aussichten erweckt werden, die sich später nicht erfüllen würden. Wenn hier vielleicht irgend etwas schwer und hart zu tragen ist, so muß es eben von Ihnen allein getragen werden. Wenn Sie noch einmal wiederkommen, so ist es ja immer noch Zeit. Es mag Ihnen genug sein, daß Sie wissen, daß Ihre Neigung nicht unerwidert ist. Wenn Sie aber – und damit muß doch auch gerechnet werden – das, was Sie wollen, nicht erreichen oder trotzdem noch ein zweites Mal abschlägig beschieden werden, so wäre jetzt jedes Wort nicht einzig zu viel und falsch, es wäre sündhaft.«

Kößling begriff das nicht, und er war auch nicht in der Stimmung, irgendwelchen verschlungenen Gedankenwegen zu folgen.

»Es darf da nichts übereilt werden. Sie haben ja Zeit, aber es muß vorerst scheinen, als ob Sie sich mit dem abschlägigen Bescheid ein für allemal zufriedengeben. Das ist das Klügste, was Sie tun können.«

»Und Ihre Nichte Jettchen?« meinte Kößling.

»Meine Nichte!« verbesserte Jason, »ich denke, wenn sie Ihnen zugetan ist, wird sie warten, auch ohne daß ich mit ihr rede, und ohne daß Sie das Wort, das Sie mir gegeben haben, brechen. Und wenn nicht – dann gehören Sie eben nicht zusammen.«

Kößling schüttelte den Kopf.

»Aber verstehen Sie mich denn nicht, Doktor? – Sie können das doch nicht von mir verlangen, solange Sie nicht sicher wissen, wie der Hase läuft. Die Sache kommt sonst auf das heraus, was wir immer als Kinder gespielt haben: irgendeiner mußte in das andere Zimmer gehen, und wir sagten ihm, wenn wir dich rufen, kommst du durch die Wand, – richtig durch die Wand, nicht durch die Tür. Und er saß und saß da drin und saß und saß, – aber durch die Wand ist er nie gekommen. Wissen Sie, weswegen, Doktor? Weil wir nie gerufen haben. So etwas können Kinder spielen, weil sie eben noch Kinder sind; Große nicht, lieber Freund.«

»Ja, ja«, meinte Kößling, der kaum gefolgt war.

»Sehen Sie, es freut mich, daß Sie vernünftig sind und ein Einsehen haben. Es ist wirklich das Richtigste so, glauben Sie mir. Es tut mir leid, daß ich jetzt mit Ihnen so sprechen muß. Ich habe Sie gern – aber ich sagte es Ihnen ja schon einmal soeben: wenn irgend etwas hier schwer zu tragen ist, so muß es eben von Ihnen ganz allein getragen werden. Sie dürfen meiner Nichte nicht das Herz noch schwerer machen, als es ihr schon ist. Denn jede trübe Minute, die Sie ihr machen, ist doch Ihre Schuld.«

Das sah Kößling ein, und die Selbstzerfleischung der Vorwürfe war ihm eine geheime, aufreizende Lust in dem dumpfen Schmerzgefühl, das jede Entschließung gefesselt hielt.

Nun sprach Jason davon, was werden sollte und was denn Kößling für Aussichten hätte.

Er hätte drei Eisen im Feuer, zwei in Braunschweig; aber da er nicht gern nach Braunschweig zurückwolle, so hätte er sich auch jetzt hier bei der Bibliothek beworben, fürs erste als Hilfsarbeiter, – das wäre ganz gut, wenn das etwas würde. Er hätte nur bis drei Uhr zu tun und wäre dann sein eigener Herr und fände gewiß Anregungen in Hülle und Fülle. Er hätte Liebe dazu, weil ihn alles Bücherwerk interessiere. Diese ungeheuren Fluten, die immer wieder von neuem überspült wurden, diese Unermeßlichkeiten, von denen ein Menschenleben nur einen Winkel umspannen könnte, hätten sich von jeher bei ihm Grauen und Achtung ertrotzt.

»Ja«, sagte Jason, »es muß Ihnen aber doch ein leichtes sein, zu Hause etwas zu finden.«

Und sie sprachen hin und her.

Kößling wäre jetzt vor kurzem erst zu Hause gewesen und könne nicht gleich wieder zurück, schon weil er in der Zeit doch weniger verdient hätte. Jason wollte ihm mit ein paar Friedrichsdor aushelfen.

Das mochte Kößling nicht annehmen. Doch Jason stellte ihm vor, daß er es am Ende gar nicht Kößlings wegen täte und daß er dabei auch etwas an seine Nichte dächte, und daß Kößling sich also nicht zu besinnen brauche, es zu nehmen. Und über die Rückgabe brauche er sich keine Gedanken zu machen. Das hätte gar keine Eile. Kößling sähe daraus, daß er es wirklich gut mit ihm meine, wenn ihm auch das vorhin nicht ganz so geschienen hätte.

Und im langen Hin und Her besiegte Jason Kößlings Widerstand. – Aber Jettchen – das wäre Bedingung – dürfe von alldem nichts erfahren. Er dürfe sich ihr nicht wieder nähern oder sie in seine Pläne einweihen. Das wäre das einzige, was er verlange und mit gutem Grund von Kößling fordere. Er, Jason, müsse darauf bestehen, weil er nicht seinem Bruder gegenüber falsches Spiel treiben wollte, und weil er nicht verantworten könne, in Jettchen Hoffnungen zu wecken, die sich vielleicht nicht erfüllen würden. Sollten die beiden wirklich auseinandergerissen werden, womit man bei der Ungewißheit von Kößlings Zukunft doch auch rechnen müsse, so wäre es das beste, es geschehe schon jetzt. Die Fäden wieder zusammenzuknöpfen, das wäre nachher das Werk eines Augenblicks. Und dann wäre doch alles, was vorher war, vergessen. Er, Jason, wundere sich, daß er darüber so viel sprechen müsse. Es schien ihm fast, als hätte die Neigung in Kößling doch nicht so tiefe Wurzeln, weil er ihn doch erst darum ersuchen müsse, Jettchen Ungelegenheiten zu ersparen.

Dieser harten Schlußfolgerung verschloß sich Kößling nicht, und er versicherte ein über das andere Mal, daß sich Jason in ihm nicht täusche und daß er alles tun würde, um Jettchen – er sagte »Jettchen« – jede trübe Minute zu ersparen. Nur wäre ihm das jetzt so schwer, so furchtbar schwer im Augenblick, und der andere müsse doch dafür Verständnis haben.

Und beinahe hätte ihm Jason das gesagt, was ihm schon lange auf der Zunge schwebte, so daß er schon mehr denn einmal gefürchtet hatte, er würde es nicht mehr zurückhalten, daß ja das alles, was er hier vorbrächte, vielleicht sehr vernünftig klänge, aber dabei der bare Unsinn wäre, und daß er das alles in Gottes Namen mit Jettchen allein abmachen sollte. Und wenn die wolle, so wäre das übergenug. Und er würde ihm schon helfen, so gut er könne, und Eli vielleicht auch. Wenn sie beide nur den Mut dazu hätten. Jason hatte ja die ganze Zeit nur darauf gewartet, daß Kößling ihm widersprechen würde, und er wäre mit fliegenden Fahnen in das Lager des Gegners übergegangen. Aber Kößling ahnte nichts davon.

Und um das nicht sagen zu müssen – denn er war nun des langen, zierlichen Florettierens müde und sehnte sich nach gesunden und derben Worten –, ging Jason ganz schnell hinein und kramte in irgendeinem Fache seines Sekretärs, so daß Kößling, der draußen im Dunkeln war, es klingen und scheppern hörte. Und dann kam Jason wieder und sagte: das wäre wohl genug, und er stände ihm jederzeit mit der gleichen Summe noch einmal zur Verfügung.

Kößling stand immer noch, mit dem Rücken gegen das Geländer gelehnt, dunkel gegen den trüben, niederen Nachthimmel mit den paar rötlich blitzenden Sternen und hatte den Kopf tief gesenkt. Für ihn war all das so beschämend, und er empfand durch das Geld, das ihm jener gab, und das er doch nehmen mußte, nur noch brennender seine Unfreiheit und die tiefe Kluft, die ihn von allen Geberts trennte.

Der dumpfe Schmerz von vorhin war gewichen, und es war ihm nur eine Gelähmtheit geblieben, ein weichmütiges Bedauern seiner selbst. Er fragte sich immer, was denn eigentlich geschehen war, und was sich denn nun eigentlich für ihn verändert hätte. Und er fühlte an sich entlang und fand, daß er noch genau derselbe war wie ehedem.

Jason aber dachte, daß Kößling wenigstens Zeit gewonnen hätte, um darüber hinwegzukommen und daß in acht oder zwölf Wochen alles schon ein anderes Aussehen hätte. Und wer weiß, vielleicht würde es doch noch zum guten Ende kommen ...

Zur gleichen Stunde, wo jetzt in der grauen, warmen Nacht, die dunstverschleiert und schwer auf der Stadt lastete, Jason und Kößling nebeneinander auf der Galerie standen und nun wortlos hinab in die Dämmerung der Höfe starrten, aus der nur hier und da der breite Riesenrücken eines Dachfirstes sich hob oder das heimliche Lichtlein einer verschwiegenen Kammer blinkte – jeder von den beiden ganz verfangen in seinen Gedanken, ebenso wie damals, als sie an der Brücke lehnten –, zur gleichen Stunde saß Jettchen, den Kopf gestützt, am offenen Fenster draußen in Charlottenburg, kaum eine Meile davon, und sah in den Himmel, der hier als ein tiefblaues, seidenes Zeltdach über den dunklen Kronen der Linden stand.

Und mit Hunderten von blinkenden Saphiren war das seidene Zeltdach besetzt und bestickt ..., mit Saphiren, die Punktreihen und Linien, Dreiecke, Quadrate und seltsame Diagramme bildeten, und daneben mit Saphiren, die in ganzen Häufchen dicht beieinander aufgelegt waren, als hätte man da oben eine Handvoll blinkender Körner festgeheftet ... und endlich war wieder ein Teil dieses Zeltdachs geziert mit einzelnen, besonders kostbaren und leuchtenden Steinen, die vornehmer als die anderen waren und ganz allein und für sich in dem schweren, tiefblauen Seidentuch standen. Schier wie in einer Herbstnacht war der Himmel ausgestirnt.

Die Schwüle des Tages war gewichen, und die Linden atmeten Duft und Kühle aus, so daß Jettchen in der leichten Kleidung, in der sie am Fenster saß, fast fröstelte. Draußen aber war es für einen Sonntagabend merkwürdig still, und Jettchen hörte aus dem dunklen Zimmer hinter sich das Atmen Wolfgangs deutlich vom Sofa her.

Jettchen war vordem sogleich in ihre Stube gegangen und war da willenlos auf ihr Bett gefallen, schwer wie ein Stein. Sie hatte sich in die Kissen gewühlt und hatte lange gelegen, die aufgerissenen Augen zur weißen Decke, mit eingekrampftem Genick und mit zitternden, geschlossenen Fäusten. Und dann war ein Weinen über sie gekommen, das ihren ganzen Körper geschüttelt hatte. Sie wußte eigentlich nicht, weswegen sie weinte, sie hatte nur das Gefühl unsagbarer Traurigkeit und galligen Überdrusses. Sie dachte gar nicht daran, daß sie Kößling verlieren würde, denn sie hatte eigentlich nie recht geglaubt, daß sie ihn besitzen würde, sie würde ihm ja nur ein Stein im Wege sein, das fühlte sie. Aber daß das so kurz sein würde – für ihn wäre es ja das beste, denn was könnte sie ihm denn je werden? Aber für sie, die sie doch weiter gar nichts vom Leben hätte ... Und zwischen den Sätzen, die Jettchen halblaut hervorstieß, zwischen Träumen und Klagen, zwischen Versicherungen und zwischen den immer wiederkehrenden Fragen, warum sie denn das träfe, gerade sie, die doch wirklich in ihrem Leben keinem Menschen etwas zuleide getan hätte, – fesselte minutenlang das Schluchzen heiß und wild alle Klagen und alles Sinnen.

Aber endlich kamen die Tränen nur noch wie einzelne schwere letzte Tropfen, die von den Bäumen fallen, wenn das Unwetter selbst schon vorübergezogen ist und nur noch ganz hinten am Horizont als eine graue, sonnenbeschienene Wand steht, – und das Schluchzen schüttelte Jettchen nur wie der kurze Windstoß, der die Nässe von den Dächern auftrinkt. Und es kam das Gefühl weicher Trauer über sie, eine Hingabe an ihren Schmerz. Jettchen dachte nicht, sie grübelte nicht, sie machte sich gar keine Gedanken darüber, was und wie das nun am Nachmittag gewesen war, – sie fühlte nur, daß all ihre Hoffnungen in Scherben lagen. Sie sprach nur irgendeine Wendung vor sich hin – zehnmal – zwanzigmal –, daß sie wirklich immer zu allen freundlich und gut gewesen wäre, daß sie keinem Menschen übel wolle oder je Böses getan hätte und daß sie ja von je allein gewesen wäre und nicht Vater noch Mutter gekannt hätte.

Und dann war die Tante ganz leise an die Tür gekommen und hatte ganz leise angeklopft und Jettchen ganz leise gebeten, doch zum Abendessen hereinzugehen. Und man müsse auch Wolfgang für nachher unterbringen. Und Jettchen hatte sich erhoben, sie war wie zerschlagen an allen Gliedern, hatte sich die Falten im Rock glattgestrichen und sich die Augen gekühlt, denn es brauchte ja niemand zu sehen, daß sie geweint hatte.

Drinnen war es ungemütlich. Jenny war müde, und Ferdinand und Hannchen hätten sich vor kurzem beinahe Grobheiten gesagt. Der neue Vetter Julius hatte sich an Salomon attachiert, und sie sprachen über die Solvenz verschiedener Kunden aus Posen und Breslau. Der Spielverlust hatte Eli reizbar gemacht, und er ließ es Minchen entgelten. Rikchen hetzte die Leute, sie sollten schnell bedienen, damit die Pferde nicht so lange zu stehen brauchten, und Ferdinand selbst lief hinaus, um zu sehen, ob sie auch zugedeckt wären; aber Eli sagte, er begriffe Ferdinand nicht: denn steifer könnten seine alten, ostpreußischen Krippensetzer doch wirklich nicht mehr werden.

Jettchen tat das Licht an den Augen weh, und jeder Laut schnitt ihr ins Hirn. Aber sie saß da, hoch, blaß und aufrecht, nur beherrscht von dem einen Gedanken: wieder allein zu sein.

Ferdinand stand zuerst auf, noch mit dem letzten Bissen im Mund und versicherte, kauend und schmatzend, daß es ganz reizend gewesen wäre. Aber Eli ließ sich am meisten Zeit und sagte zu Jettchen: »Ohne mich werden se schon nicht wegfahren. Wo nicht, bleib' ich de Nacht hier draußen. Ich kann dir versichern, mein Kind, die Luft ist auf 'm Hohen Steinweg auch nich besser wie hier.«

Und als schon alle draußen polterten, stand er endlich auf und ging ganz langsam mit Jettchen, der einzigen, die ihm noch treu geblieben war, hinaus. Und da es halbdunkel war, und seine Augen, wie Eli sagte, doch nicht mehr so recht scharf waren, so bat er Jettchen, ihm den Arm zu reichen. Und wie sie beide heraus auf den kleinen Vorbau traten und da unten bei den eben entzündeten, flackernden Wagenlichtern alle geschäftig hin und her um die Gefährte eilen sahen, während Ferdinand den Tieren den Hals und Bug klopfte und das Riemenzeug prüfte, und der neue Vetter Julius sich schon breitspurig auf Jasons Rücksitz von ehedem gesetzt hatte, – als sie heraustraten, da blieb Eli mit Jettchen einen Augenblick oben stehen, als müsse er verschnaufen.

»Ich sag' dir nur das eine, liebes Jettchen«, sprach Eli langsam und mit Betonung, »in die Familie da unten wird nicht hineingeheiratet. Haste mich verstanden? – Das hab' ich dir nur sagen wollen.«

Und damit ließ er Jettchens Arm los und klapperte ganz munter mit seinen achtzigjährigen Beinen die Holzstufen hinab.

»Eli! Eli, woran liegt's denn?« rief Ferdinand.

»Nu, de werst wohl noch warten können!« gab Eli unwirsch zurück.

Und gleich zogen die Pferde an, und Wolfgang kam heraufgesprungen und umfaßte Jettchen, rieb mit seinem Kopf gegen ihre Arme und sagte, daß er sich so freue, daß er hierbleiben könne. Vor allem, weil er doch morgen nicht ins Pennal, ins »Kloster« brauche, sondern lange schlafen könnte.

Und Salomon und Rikchen sahen den Abfahrenden noch eine Weile nach, bis sich andere Wagen vorgeschoben hatten, und kamen dann Arm in Arm ganz langsam herein. Sie sagten, das wäre doch anstrengend, so den ganzen Tag Gäste haben, und sie machten jetzt gleich Schluß und gingen zu Bett. Ob Wolfgang in Jettchens Zimmer auf dem Sofa einmal schlafen könnte? Wenigstens heute: es wäre ja nur ein Junge! Sonst könnte ihm ja immer sein Bett im Eßzimmer aufgestellt werden. Und damit zogen sie ab, Arm in Arm, wie sie heraufgekommen waren, und sagten noch, die Lampen sollten ja vorsichtig gelöscht werden, daß kein Unglück damit passiere, wie man jetzt so viel höre und lese.

Und Jettchen war mit Wolfgang allein, der plötzlich ganz müde aus kleinen, verschleierten Augen blinzelte.

»Na, Wolfgang, wir werden uns schon vertragen«, sagte sie. Und sie gab etwas von ihrem eigenen Bett her und nahm Stücke aus dem einen Mädchenbett, das unbenutzt war, und richtete dem Jungen auf der harten, schlecht gepolsterten Bergere ein Lager her, so weich und angenehm, daß er sich ganz wohlig darin streckte und sagte, so schön hätte er es zu Hause gar nicht, und sich gleich nach der Wand drehte und einschlief.

Und nun war Jettchen wieder ganz allein mit sich, und sie warf im Halbdunkeln Zimmer das Kleid ab und nahm einen leichten Umhang über die Schultern. Schlafen konnte sie nicht, und so setzte sie sich still ans Fenster und sah in die Nacht. Eine kurze Weile hatten die drinnen gesprochen, aber dann hatte auch das aufgehört, und nur Wolfgangs Atemzüge kamen noch durch das stille, dunkle Zimmer zu ihr.

Und alle Gedanken von vorhin flogen wieder heran, und nicht einer fehlte. Jettchen sagte sich hundertmal, daß es für Kößling gut sei und daß er schon schnell darüber hinwegkommen würde und daß er weiter müsse, aber daß sie ihn trotzdem nie weniger liebhaben würde. Und sie beklagte ihr Schicksal, denn das hätte sie nicht verdient. Und die Tränen kamen ihr wieder, und wenn sie den Kopf senkte, so benetzten sie kühl ihre bloßen, heißen Arme. Und zwischen den Tränen und zwischen dem erstickten Schluchzen sprach Jettchen immer wieder halblaut und sinnlos vor sich hin, ein Wort, einen Satz, zehn-, zwanzigmal.. Sie rief Kößling beim Namen, sie wollte von ihm Abschied nehmen, nur noch ein letztes Mal. Sie wäre immer einsam auf der Welt gewesen, und wozu sie denn da wäre, und es wäre so ungerecht. Sie wäre immer zu allen freundlich gewesen, und sie hätte doch keinem je etwas Böses getan oder gewünscht.

Und dann hob sie ihren Kopf von den Armen und blickte mit weit aufgerissenen Augen in das Saphirengeflimmer auf dem tiefblauen, seidenen Grund. Ob denn da oben auch welche wären, die so trostlos und unglücklich seien wie sie. Und dann, wenn vor ihren tränenden Augen alles sprühend verschwamm, vergrub sie den Kopf wieder eine ganze Weile in die warme Dunkelheit ihrer bloßen, verschlungenen Arme.

Und je stiller es wurde, je seltener von draußen die Laute der Menschen, das Rollen der Wagen oder das Flüstern in den Bäumen kam, desto trüber und hoffnungsloser wurde Jettchen zu Sinn, und desto heißer brannte ihr die Einsamkeit in die Seele. Und immer verworrener wurden ihre Klagen und Beteuerungen.

Was wollte sie denn noch? Und wem würde sie fehlen, wenn sie von hier fortginge? – Die Tante würde deswegen nicht einmal schlechter kochen lassen, und der Onkel höchstens einen Vormittag dem Geschäft fernbleiben. Onkel Ferdinand würde am nächsten Tag wieder seine Whistpartie aufsuchen, und Onkel Jason säße schon nach drei Tagen wieder in der Konditorei und sähe, ob er die letzten Pariser Zeitungen erwischen könnte.

Und Jettchen redete sich immer mehr in ihr Elend hinein, wie überflüssig sie wäre, und wie sie kein Mensch auf der Welt lieb hätte. Und wenn sie sich in einer ruhigen Stunde all das noch einmal gesagt hätte, was sie hier halblaut in die stille, kühle Sternennacht hinaussprach, so hätte sie eingesehen, daß sie all den Ihrigen, die ihr ja auf ihre Art gewiß zugetan waren, hiermit bitter unrecht tat. Aber Jettchen hatte eben nicht ihre ruhige Stunde. Nein. Alles an ihr zitterte, und bald lief ihr prickelnde Hitze, bald saugende Kälte über die Glieder fort. Sie hatte das Gefühl, als wären ihr durch den ganzen Körper Drähte gezogen oder Darmsaiten, die unaufhörlich schwangen und summten.

Aber er? Was er wohl dazu sagen würde, wenn er hörte, daß sie tot sei? Daß sie seinetwegen gestorben sei? Er müßte fühlen, daß das schön ist, so geliebt zu werden. Das müßte ihn sein ganzes Leben nicht verlassen, und es müßte immer um ihn sein, es müßte eine Weihe allem geben, was er erlebe und erschaffe. Der Schmerz in seiner Schönheit würde sich wie ein Diadem für immer um sein Haupt schmiegen. Jettchen dachte an Charlotte Stieglitz und wie alle Welt ihre Tat gepriesen. Den Mut würde sie auch haben. Wenn sie nur wüßte, daß es zu seinem Besten wäre. Sie würde ihre lange Agraffe nehmen, die alte silberne, die ihr einmal Onkel Jason geschenkt hatte, und würde sich die feine, scharfe Nadel ganz langsam hier hineinstoßen, so ganz langsam, tief hinein in das weiße Fleisch unter ihrer linken Brust.

Jettchen fühlte den langgezogenen, stechenden, feinen Schmerz, einen Schmerz mit scharfer Spitze, und sah, wie das graue Silber der Nadel in das weiße Fleisch leise versank, sich darin eingrub, als würde es in ein Daunenkissen gebohrt. Die Tränen kamen ihr von neuem, und ihr Kopf sank wieder auf die verschränkten, bloßen, warmen Arme nieder, schwer und willenlos, wie so eine dickblättrige, dunkle Tulpe sich zu Boden neigt.

Da schien es Jettchen, als hörte sie Tritte, und es kam, platsch, platsch, mit bloßen Füßen über die Dielen hin. Aber sie hob nicht den Kopf.

»Jettchen«, sagte Wolfgang ganz schüchtern und legte seine warme Knabenhand ihr auf den Nacken, »du mußt nicht immer so weinen.«

»Ach, was weißt du denn!« sagte Jettchen gepreßt und immer noch unter Tränen.

Aber Wolfgang nickte nur altklug mit dem Kopf.

»Das ist nicht recht von dir, daß du immer so weinst. Sieh mal, ich habe dich auch lieb.«

»Ja, du!« schluchzte Jettchen.

Aber da hatte Wolfgang auch schon seine beiden Arme um ihren Hals gelegt. »Du mußt nicht weinen! Ich kann das nicht hören«, sagte er nur immer wieder.

Und Jettchen zog den Jungen, der im weißen, langen Hemd zitternd und leicht fröstelnd vor ihr stand, zu sich auf den Schoß und umfing ihn mit ihren Armen und küßte ihn auf die Stirn und den Mund. Und die Küsse von vordem mit ihrer heißen, saugenden Gewalt, ihrer Glut und Innigkeit, drängten sich wieder auf ihre Lippen. Aber der kleine Kerl im Hemdchen, der gar nicht wußte, wie ihm geschah, erwiderte mit geöffneten Lippen diese Liebkosungen, die eigentlich einem anderen galten. Und alle Traurigkeit war von Jettchen verflogen. Im Augenblick fiel sie von ihr ab, und neuer Lebensmut ging ihr warm durch die Adern. Dann nahm sie den Jungen hoch und trug ihn in das dunkle Zimmer hinein auf sein Lager.

»So, Wolfgang«, und sie wunderte sich selbst, sie lachte sogar, »jetzt wird weitergeschlafen.«

Und als sie das gesagt, ging Jettchen zu ihrem Bett hinüber und entkleidete sich ganz leise und schlüpfte unter die Decke. Und wie sie schon fest und traumlos – denn sie hatte den Tag über viel gearbeitet –, fest und traumlos schlief, lag immer noch Wolfgang da, mit heißen, offenen Augen, und fieberte und dichtete und lebte die Küsse und die Zärtlichkeiten wieder durch. Und wenn seine Lippen das Deckbett streiften, dann durchlief ihn ein Schauer, und er wähnte wieder Jettchens Wangen und ihre kühlen, weißen Schläfen und die Strähnen ihres Haares mit seinem Munde zu berühren ...

 


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