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Es kann sich wohl kaum noch einer erinnern, wie damals Jettchen Gebert die Königstraße entlang ging. Staubwolken blies der Wind vom Alexanderplatz in die Königstraße hinein; denn es war so der erste wirklich schöne blaue Frühlingstag im Jahre. Gerade zwischen den Puppen der Königskolonnaden oben auf dem Dach, zwischen den hastig bewegten Steinfiguren zogen am Himmel weiße Wölkchen hin. In der Neuen Friedrichstraße, in den Gärten hinter der Mauer, wurden eben die Bäume rot und braun; Kätzchen pendelten an den Pappeln, und Blütentupfen überzogen selbst die feinsten Ästchen der Ulmen. Die Fliederbüsche, die sich über den Zaun bogen, hatten sogar dicke grüne Knospen mit zackigen Spitzen, die morgen schon aufbrechen wollten. Um den Turm der Parochialkirche aber flogen, sich jagend und taumelnd wie schwarze verliebte Schmetterlinge, die Dohlen; und die ganze Klosterstraße herunter standen die Planwagen vom Gänsemarkt ... große braune Pilze unter der weißen Sonne.

Die schmalen Häuser jedoch, die unter den rotbraunen Kappen der Dächer, rosig und hell angestrichen, mit ihren schlichten Püppchen von Stuck in der Sonne lagen, mit den Kellerhälsen und den Steinbänken daneben, mit den vielen kleinen blanken Scheiben im weißen Rahmen, mit den Spionen an den Fenstern jedes Stockwerks – sie standen da wie zwei Reihen Grenadiere, die Spalier bildeten und präsentieren, weil die Schönheit kommt.

Und in der Mitte auf dem Fahrdamm, auf dem holprigen Pflaster mit den Steinen, wie Kinderköpfe, zwischen den tiefen überbrückten Rinnen, die den Damm vom Bürgersteig trennten, da zogen mit Halli die Postwagen ... manche alt und verstaubt, manche blank und sauber ... hoch bepackt in die Welt. Und schwere Lastfuhren, gezogen von schweren Pferden mit klingenden Gehängen, die in die Zöpfchen der Mähne eingeflochten waren, sie rollten zur Stadt hinaus. An der Neuen Friedrichstraße aber stand mit einer Hornbrille auf der Nase vor seinem Karren ein alter Lumpenmatz und prüfte seine Leinenrestchen, die ihm die Kinder brachten, wichtig und würdevoll, umzwitschert und umschrien von hellen fordernden Stimmchen. Ja die Passanten mußten sogar hier und da ganz nahe am Rinnstein entlang balancieren, so weit auf den Bürgersteig hinaus standen die Felder blauer und roter Hyazinthen in weißen Tontöpfen, wie die Blumenhändler sie verkaufen.

Es kann sich wohl keiner mehr erinnern, wie an diesem Apriltag 1839 Jettchen Gebert die Königstraße entlang ging. Aber die Leute blieben stehen ... damals, und ein Auskultator, der vom Stadtgericht kam, sah ihr lange nach und schrieb dann unter dem Pseudonym »Eginhard« ein Sonett »an die Holde, die vorüberschwebte«, das in der nächsten »Eleganten Welt« abgedruckt wurde und zu den seltsamsten Vermutungen Anlaß gab. Ein Weißwarenhändler aus der Fischerstraße antwortete ihm darauf gleichfalls in Sonettform und beklagte – wohl zu Unrecht – die schöne Seele des Jünglings, umnachtet vom Wahnsinn einer sträflichen Leidenschaft.

War das ein hübsches Mädchen! Wie sie trendelte und ging auf ihren kleinen Schuhen mit den breiten Schnallen, ganz in Silbergrau, wie ein Frühlingsabend. Die drei Reihen von Volants am weiten Rock glitten, rauschten und zitterten. Die breiten Bindebänder der Schute flatterten ordentlich ... breite silbergraue Seidenbänder mit Rosenknospen drauf; und die langen Fransen des indischen Schals, den sie um die vollen Schultern trug, tänzelten bei jedem Schritt. Sie trug mattblaue Handschuhe, hatte ein Fischnetz in der Hand, einen Sonnenknicker und ein Täschchen, das eine schwarze Lyra in schwarzen Perlen gestickt zeigte – eine Art von Pompadour.

Sie ging ganz steif und gerade, ohne nach rechts und links zu sehen, wie alle Geberts. Sie hatte etwas wundervoll Stolzes in Gang und in Bewegung. Sie rauschte daher in ihrem silbergrauen Taffetkleid wie ein Fünfmaster mit vollen Segeln. Sie wußte, daß die Leute stehenblieben und ihr nachsahen... aber es gehörte zu ihr. An ihr war alles von einer stolzen Schönheit: die große Figur, dieses lange und doch volle Antlitz mit der hohen und weißen Stirn und den schweren Lidern, und der feste, geschlossene Mund, mit jenem leichten Anflug von Flaum darüber wie ein Schatten. In je drei Puffen, sorgsam gedreht, blank und schwarz, legte sich das Haar in der großen Schute rechts und links an die Schläfen und die Wangen, – wie ein Palisanderrahmen um einen englischen Farbenstich sich schließt. Kraft, Lebensstärke und ein Hauch von Schwermut teilten sich in das brünette Gesicht.

Das waren wieder die dunklen Gebertschen Augen, mandelförmig vom bläulichen Weiß, die vom Großvater an alle Männer zu Schwerenötern und Mädchenjägern gemacht hatten. Sie verrieten Eigenschaften, diese dunklen Augen, über die wir grübeln wie über Rätsel und die wir nie ergründen, weil sich die Schönheit, der sie dienen, ihrer selbst nicht bewußt ist, ja, sie vielleicht nicht einmal besitzt. Diese Erscheinung und dieses Gesicht hatten eine gewisse Tragik in sich. Sie machten neugierig auf den Menschen und mußten dann Enttäuschung bringen, weil ein solcher Charme, eine solche Anmut und Gesundheit, eine solche Pfirsichweiche der Seele nur denen zu eigen ist, die wir nachts in unseren Träumen küssen.

Sie war nicht mehr jung, sah älter, voller, reifer aus, als sie war. Doch sie war schön. – Oh, was war sie schön, Jettchen Gebert.

Aber nicht allein nach ihr drehten sich die Leute um; auch nach einem alten, uralten Herrn – bartlos, verschrumpft das Gesicht –, der, wie ein Überbleibsel von ehemals, an der Ecke des Hohensteinwegs stand ... an ihm ging ebenso niemand vorbei, ohne ihn genauer zu betrachten und sich noch mal nach ihm umzuschauen, ob er nicht vielleicht doch heimlich unter dem Rockkragen einen Zopf trüge. Ein paar kleine Mädchen mit schottischen Röckchen, mit langen weißen gestärkten Spitzchen an den Hosenbeinen, starrten ihn sogar unverhohlen eine Weile an wie ein veritables Meerwunder. Nein, einen Zopf, den trug er nicht mehr. Aber er hatte einen Zylinder auf seiner weißgepuderten, starren, kurzgeschorenen Perücke, der oben bald doppelt so breit war wie unten, einen braunen, rauhen Filz, mit geschweifter Krempe, wie man sie Anno dazumal hatte, als der Franzose im Land war. Auch trug er noch hohe gelbe Stulpenstiefel und einen langen, ganz langen braunen Frack mit goldenen Knöpfen. An der zweireihigen Weste baumelten dicke Berloques, Siegelringe, silberne Pferdchen und Wägelchen; und im gefältelten Brusttuch sonnte als Busennadel sich ein großer gesprenkelter Karniol.

Er stand breitbeinig da, der alte Herr, und stützte sich mit beiden Händen auf sein Palmenrohr mit dem Goldknopf. Aufmerksam und unbewegt sah er auf ein paar Postpferde, die vorübertrabten, sah nach ihnen mit einem Gesicht wie ein Nußknacker, den Mund weit offen und die Augen weit vor. Jettchen erblickte ihn schon von weitem, lachte und winkte ihm mit dem Fischnetz. Aber er sah nur nach den Pferden, ernst mit der Miene des Kenners.

»Tag, Onkel Eli!«

»Na, Jettchen, so so, wo gehste hin, mein Kind?«

»Auf 'n Markt, Onkel, ich will 'n Fisch kaufen!«

»E Hecht?«

»Ja, Onkel!«

»Zu heut abend?«

»Ja, Onkel!«

»Nu, was preisen denn jetzt die Hechte?«

»Fünfzehn gute Groschen.«

»Fünfzehn gute Groschen! Zu meine Zeit, Jettchen«, er sprach sehr langsam und umständlich, er mimmelte, er kaute gleichsam die Worte durch, »zu meine Zeit hat man nicht fünf Groschen gezahlt – für so e Fisch; weißte, hier am Schwibbogen, wo an das Haus steht: Petrus kehrte einst bei einem Fischer ein, drum soll dies Haus gesegnet sein.«

»Sag mal, was macht denn Tante Mine, Onkel Eli?«

Onkel Eli hob bedächtig eine Hand vom Stockgriff, legte sie Jettchen auf den Rücken und sah sie ernst an.

»Ich sag' der, meine Tochter, was ist das menschliche Leben? Nu, was is es? Meine einzige Goldmine da oben.« Onkel zeigte mit dem Stock nach dem Hohensteinweg hinunter, hinten nach dem Turm der Marienkirche. »Meine Goldmine, da oben liegt se.«

»Um Himmels willen, aber was ist denn mit ihr, Onkel?«

»Se weiß sogar gar nicht, ob sie heute abend zu Salomen kommen kann.«

»Aber was fehlt ihr denn«, fragte Jettchen erleichtert, denn sie hatte schon gemeint, man müsse den Leichenbitter holen.

»Denke dir, denke dir, Baumbach hat doch gestern dreimal kommen müssen, sie schröpfen, solch einen Zustand hat sie gehabt. Am Donnerstag hat se ein Huhn vom Gendarmemarkt mitgebracht. Vier Stunden hat's gekocht. Nicht kaputtschlagen hat man's können. Ich habe gesagt: ›Minchen, eß nicht!‹ Deine Tante, se hat doch gegessen.«

»Meinst du, Onkel Eli, ob sie heute abend wieder –«

»Meine Mine, so is se. Se trinkt dabei 'ne Tasse Schokolade ... Weißt de, aus ihre feine Täßchen ... wenn Baumbach sie schröpft, als ob's gar nichts wär'.«

»Geht's denn Tante schon besser?«

»Ich weiß doch nicht, aber ich denk' schon. Se hat nämlich de Minna heute 'rauswerfen wollen.«

»Na, dann ist sie ja wieder auf 'm Posten!«

»Kommste hier mal 'n bißchen mit, mein Kind, ich will mal auf die Post 'runtergehn. Vor dem Prenzlauer Wagen kommen heute zwei neue ostpreußische Wallache. Nagler kennt mich doch schon. Er hat sich – wie ich höre – erkundigen lassen, wer ich bin, weil ich mir immer seine Gäule ansehe. Er hat gewiß gemeint, ich bin ä Demagoge, Jettchen«, er blieb stehen, »siehste, von de Menschen versteh' ich heutzutage nichts mehr. Se sind mir alle zu schief. Aber mit de Pferde, da kenn' ich mich noch aus. Ebenso wie der Herr Postmeister von Nagler. Das kannst de deinem alten Onkel glauben. Hörst de de Singuhr von de Parochialkirche? Üb – immer Treu –« Plötzlich stockte Onkel Eli und zog hastig seinen braunen Zylinder, daß aus der kurzen Perücke eine Puderwolke stäubte.

»Bon jour, Herr Viertelkommissarius, bon jour untertänigst!« Der Konstabler nickte und ging gelassen vorüber.

»Er kennt mich«, sagte Onkel Eli stolz. »Was lachste? Wenn de klug wärst, Jettchen, würdst de nicht über deinen alten Onkel lachen! Heutzutage, sage ich dir, heutzutage muß man mit 'm Spitz vom Nachtwächter gut Freund sein, denn man kann gar nicht wissen, wie er mit 'm Oberpräsidenten in Verbindung steht.«

Eli blieb wieder stehen.

»Siehste, Jettchen, kommt er nicht daher wie 'ne lahme Sandkrake, dein Onkel Jason? Und was hat er da schon wieder vor 'n lateinischen Schnorrer aufgegabelt? Wo er se nur immer herkriegt?«

Richtig, Onkel Jason! Er war der einzige, den Jettchen wirklich liebte, der jüngste, ein Hagestolz, ein bißchen Enfant terrible der Familie, derb, Durchgänger, aber von Takt und Bildung. Er hinkte ein wenig, seitdem man ihm bei Großbeeren eins aufgebrannt hatte, grad in die linke Hüfte hinein ... als er Estafette ritt für Bülow, dessen Sekretär er als Freiwilliger war, ehedem in seiner Jugend, da er noch Arndts und Körners Lieder sang. Heute sang er die von Béranger... Er hinkte ein wenig, aber sonst sah er gewiß nicht einer lahmen Sandkrake gleich. Groß, schlank, hager, ein guter Achtundvierziger, ein wenig angegraut, die Züge mit dem Grabstichel gezogen, scharf in das bartlose Gesicht hinein. Nur von den Ohren ging ein schmaler Streifen Bart zum Kinn hinunter. Er trug einen geradkrempigen Zylinder, einen flaschengrünen Rock mit enger Taille und breiten Schößen, lang, mit zwei Reihen von Knöpfen; und der Rockkragen war so breit und hoch, daß er die Hälfte vom Hinterkopf bedeckte. Und dazu nach der neuesten Mode ganz helle enge Beinkleider mit Sprungriemen. Aus dem Ausschnitt der rotseidenen Weste quoll ein schwarzer Schal hervor, breit und bauschig, zusammengehalten von einer Agraffe, einer goldenen Lyra mit silbernen Saiten. Und in die scharf gestärkten hohen Vatermörder hatte Jason fest und soldatisch das Kinn gezogen.

Er kam quer über den Damm, ein wenig gespreizt, vorsichtig den Pfützen ausweichend, und winkte einem Herrn, ihm zu folgen. Der zog zag, schüchtern, linkisch, hoch und blond hinter ihm her. Er war keineswegs Stutzer wie Jason, eher ein wenig nachlässig, trug einen weichen Schlapphut, eine gelbe Weste zu einem blauen Rock.

Jason blieb vor den beiden stehen, stocksteif, und zwinkerte lustig mit den Augen. Man merkte, der Schalk saß ihm im Nacken. »Bon jour, ma chère amie, bon jour, ma bien aimée«, sagte er und verbeugte sich vor Jettchen. Dann wandte er sich zu Onkel Eli.

»Na, du alter Nußknacker? Das gefällt dir wohl? Nicht?! Das ist was anderes wie deine Zossen, mit so 'nem hübschen Mädchen spazierengehen? Aber ich sage es doch Tante Mine! Heute abend sage ich es Tante Mine!«

»Jason, ich bitte dich«, Onkel Eli schüttelte bedenklich den Kopf, »wozu? Du weißt doch, se ist sowieso neuerdings so komisch. Se red't sich doch schon immer allerhand über mich ein, und ich bin trotzdem bei Gott wirklich ä solider Mann!«

»Das sagt er jetzt.« Jason blinzelte zu Jettchen hinüber. »Ich hab' ihn aber früher gekannt!« Der Herr stand immer noch einige Schritte davon, zögernd, ob er warten oder weitergehen sollte.

»Na, Kößling, kommen Sie heran. Sans gêne et sans souci! Doktor Friedrich Kößling – Herr Elias Gebert, der jeweilige Senior der Geberts, der Bruder meines Vaters; er hat noch jeden Mittwoch nachmittag mit dem alten Fritzen Franzefuß gespielt.«

Onkel Eli hob seinen braunen Zylinder, daß der Puder stäubte, zog dann eine schmale emaillierte Taschenuhr – ganz schmal, mit silbernem graviertem Zifferblatt – und hielt sie sich dicht vor die Augen.

»Se fahren mer sonst fort«, sagte er und ging ohne Abschied.

»Adieu, Onkel, also heute abend!« rief Jettchen ihm nach. Aber der drehte sich nicht um. Jason blickte vor sich hin.

»Wir sind mit neunundsiebzig nicht mehr so! Wissen Sie, da werfen sie mit meinen Gebeinen schon die Äpfel von den Bäumen, daß 's man so hagelt.«

»Neunundsiebzig Jahr! Der könnte erzählen, nicht wahr, Demoiselle?«

»Ach nein, Kößling, der hat nichts erlebt. Er ist 'n alter Pferdeknecht. Die Quadrupeden haben ihm immer mehr gesagt als die Bipeden. Den Geschmack kann ich übrigens begreifen. Der Mensch ist zwar nach Hegel ein mit Vernunft begabtes Wesen, aber die Pferde sind mir auch lieber. Aber, Kößling, kennen Sie denn schon meine Nichte, Jettchen Gebert? Sehen Sie, da haben Sie ja gleich die drei Generationen von uns beieinander gehabt. Den alten Nußknacker, mich und sie ... Doktor Friedrich Kößling. Ich gab dir neulich die Erzählung von ihm im Gesellschaften.«

Jettchen knickste. »Gewiß, ich kenne Sie schon! Schreiben Sie nicht auch für die ›Elegante Welt‹?«

»Ab und zu, Demoiselle!«

»Aber wir wollen doch hier nicht Wurzel schlagen!... Jettchen, wo gehst du noch hin?«

»Ich will noch einiges für heute abend kaufen.«

»Wir werden mitkommen.«

»Das wird aber vielleicht Demoiselle nicht recht sein.«

»Warum nicht – ich geh' auf den Markt!«

»Darf ich das Netz tragen, Demoiselle?«

Jettchen sah ihn an und lächelte. Der lange, blonde Mensch wurde rot wie ein Schulknabe.

»Das heißt, wenn's sich ziemt. Was lachen Sie über mich, Demoiselle?«

»Über Sie gar nicht. Aber die Weste da ist von uns, H.M.B.17.«

»Bei Ihrem Vater werden diese Westen gefertigt?«

Jettchen wurde ernst, kniff die Lippen ein und schwieg.

Kößling, der bemerkte, daß er hier eine wunde Stelle berührt hatte, zupfte verlegen an seinem Schaltuch.

»Ach nee, Kößling«, sprang Jason ein, der nebenher hinkte... Und seine Stimme verlor ihren spöttischen Klang, wurde ruhig und freundlich. »Das ist mein Bruder Salomon, der die Westen macht. Jettchens Vater hat längst das bessere Teil erwählt. Schade, ich hätt' es gern für ihn getan, denn ich hatte nichts zu verlieren, aber er ist damals gleich draußen geblieben, und ich bin wieder nach Hause gekommen. Er war der Beste von uns vieren. Das sehen Sie ja auch an dem Mädchen. Aber, Kößling, nun frage ich Sie: ist es nicht immer so? Der Schund bleibt übrig. Börne stirbt, aber die Pückler und Menzel leben, wachsen und gedeihen.« Er hatte sich in Wut geredet. »Für eine Sache, die nicht einen Dreier, nicht einen roten böhmischen Heller wert war, haben wir leichtsinnig unser Leben eingesetzt. Und wir hatten's dabei gar nicht nötig. Meinem armen Bruder ist ja die Angelegenheit schlecht genug bekommen. Und die hier«, er nahm Jettchens Hand, »und eine Silhouette, das ist alles, was ich von ihm noch habe. Aber die hier ist ähnlicher.«

Sie gingen eine Weile nebeneinander her, so in den hellen Tag hinein, jeder mit seinen eigenen Gedanken.

»Wissen Sie, Kößling, zwei große Dummheiten habe ich in meinem Leben begangen. Erstens 1813 – es ist uns allen viel wohler gewesen vordem, seien Sie versichert, die Welt ist seitdem rückwärts gerollt – und dann 1825 – da habe ich mir eingeredet, ich habe nicht genug zum Leben. Na, die Sache hat nicht lange gedauert. Das Tuchgeschäft aufmachen und liquidieren war eins. Und seitdem langt es wirklich nicht mehr hin und her. Sehen Sie, mein ältester Bruder, Salomon – das ist der einzige Mensch, den ich beneide. Der ißt, trinkt, schläft, spielt Whist und L'hombre, legt mit seiner Frau Patience, fabriziert Westen H. M. B. 17, Schalkragen, exportiert Umschlagetücher, führt italienisch, spanisch, neugriechisch doppelt und dreifach seine Bücher, und das einzige, was ihn aus seiner Ruhe bringen kann, ist, wenn eine Rimesse aus Sommerfeld kommt, oder die Wechsel auf England lang statt kurz sind.«

»Sie wohnen bei Ihrem Onkel, Demoiselle Jettchen?«

»Ja, so lange ich denken kann,... ich bin dort aufgewachsen.«

»Sie sind also so gut wie Eltern für Sie?«

Jason nahm ihr die Antwort ab.

»Ach nein, Kößling, das kann man nun gerade nicht behaupten. Meine Schwägerin hat nur einen Menschen auf der Welt lieb, und das ist sie selbst, in höchsteigener Person. Und mein Bruder, der ist eben mit den Jahren doppelte und dreifache Buchführung geworden.«

»Aber Onkel Jason, das ist doch nicht wahr.«

»Also comme yous voudrez, ma belle Henriette. Wissen Sie, Kößling, Sie kennen das ja. Man kommt in einen großen Kreis von Leuten hinein, in einen Tee, in eine Gesellschaft, in eine Familie, und man riecht da einen Verwandten heraus, den Bruder, die Schwester, unter Larven die fühlende Brust. So ist das mit uns beiden gegangen ... aber Eltern hat meine Nichte deswegen doch nicht.«

»Wir wollen hier die Spandauer Straße hinunter gehen, am Molkenmarkt sitzt eine Frau, die mit ihrer Ware sehr billig ist«, sagte Jettchen.

»Na, Doktor, Sie kommen wohl nicht früh genug zum Drucker?«

Der fuhr auf. Denn er hatte eben Jettchen Gebert ganz versunken und verloren angestarrt, ungefähr so, wie man ein schönes Bild betrachtet und sich ganz darin vergißt. Er hatte das Haar gestreichelt mit den Blicken, die weiche Haut an den Schläfen berührt mit den Blicken, ganz leise, er hatte das wie eine physische Berührung empfunden, wie einen Nervenreiz, den man in den Fingerspitzen fühlt. Er war fast über sich selbst erschrocken.

»Wollen wir denn noch zu Drucker? Ich möchte lieber bei Stehely ein paar Blätter lesen. Man erfährt ja gar nichts mehr.«

»Man kann ja das eine tun und braucht das andere deswegen nicht zu lassen. Aber erst wird der Fisch gekauft. Sie sollen mal sehen, Doktor, wie ich mit Hexen umzugehen weiß.«

Ein kleines zerlumptes Kind drängte sich an Kößling heran, ein Mädchen, barbeinig, zwölfjährig, blaß.

»Ach, Herr Jraf, koofen Se ma doch en Veilchensträußchen ab für Ihr Fräulein Braut. Mir hungert so, ick habe heute noch ken Handjeld verdient.«

Jettchen lachte. Kößling war rot geworden und legte dem kleinen, blassen schmutzigen Ding die Hand auf den Kopf.

»Na, mein Kind, was kostet's denn?«

»Man enen Sechser das Sträußchen.«

»Woran siehst du denn, daß die Dame die Braut vom Herrn Jrafen ist?« fragte Jason belustigt.

Die Kleine, die erkannte, daß hier aus dem Sechser vielleicht ein guter Groschen werden könnte, besann sich nicht lange.

»Na, das merkt man doch jleich. So 'n schönes Fräulein. Und er hat ihr doch immer so von der Seite angekiekt, der Herr Jraf.«

Jason schüttelte sich vor Lachen. Jettchen knabberte etwas unwillig an den mattblauen Handschuhfingern, und Kößling war rot wie ein Krebs. Er steckte dem Kind den Groschen zu und reichte das duftende violette Sträußchen Jettchen, sich tief vor ihr verneigend. Auch Jason nahm zwei Sträußchen, eines gab er Jettchen und küßte ihr die Hand.

»Sehen Sie, Kößling, ich als Onkel darf mir so etwas erlauben.«

Das andere Sträußchen drehte Jason zwischen seinen Fingern, und er trällerte im Weitergehen:

»Von blauen Veilchen war der Kranz,
Der Hannchens Locken schmückte,
Als ich zum erstenmal beim Tanz
Sie schüchtern an mich drückte.«

Er wußte schon, wem er's geben wollte. Er wußte das immer, wenn es auch nicht immer das gleiche Hannchen war.

»Haben Sie, Demoiselle Jettchen, schon die Hyazinthenfelder in der Fruchtstraße gesehen? Oh, wenn sie jetzt mehr in Blüte sind! So in acht bis vierzehn Tagen – da müssen Sie hinfahren. Es ist da eine hohe Tribüne, und von da schaut man über ein Meer von Farbe fort. Über eine große duftende Palette. Wir haben ja viel Grün hier und viel Blumen in Berlin, in den Kellern und auf den Märkten, aber das ist doch holländisch, das ist tropisch.«

»Wir wollten schon jedes Jahr jetzt hingehen, aber Tante hat immer nicht Zeit gefunden, und dann fährt sie ungern Droschke, sie fürchtet immer sie könnte damit umfallen.«

»Ich möchte es an Ihrer Stelle auch nicht wagen, Demoiselle, denken Sie nur, wenn man Ihnen wie jetzt in Wien der Taglioni einmal die Pferde ausspannt.« Es war ihm so entfahren, er war selbst erschrocken über seine Kühnheit.

»Doktor, Doktor, machen Sie mir die Kleine hier nicht noch eingebildeter. Geht sie nicht schon wie ein dreijähriger Traber vor der Landaulette?«

»Ach nein, die Pferde werden sie mir schon nicht ausspannen, das brauche ich nicht zu befürchten.«

»Vielleicht kommen Sie dieses Jahr zu den Hyazinthen, Herr Gebert, Sie müßten das einmal Ihrer Nichte zeigen.«

»Doktor, Doktor«, sagte Jason, nahm sein Knipsglas zwinkernd an die Augen und betrachtete den großen, blonden, linkischen Menschen.

»Ach ja, Onkel, du nimmst mich mit«, bat Jettchen.

»So als Schatzwächter nebenher humpeln. Weißt du, Jettchen, ich werde heute ernsthafte Worte an deine Tante zu richten haben.«

»Nun, wenn du meinst, es ziemt sich nicht – – –«

»Gewiß, Jettchen«, sagte darauf der Onkel, »ich nehme dich mal mit – sogar mit 'ner Henochschen Droschke mit 'nem Vorreiter.« Und dann auf etwas anderes übergehend. – »Doktor, Sie sprachen da eben von der Taglioni. Haben Sie in Berlin die Sonntag gehört, diesen kleinen Goldvogel? Was sind die Hopsereien der Taglioni dagegen? Was die Fanny Elßler? Wissen Sie, daß ich mich mit meinen armen hinkenden Beinen selbst vor ihren Wagen gespannt habe, hier, auf dem Alexanderplatz? Das sind vergangene Zeiten, Doktor... da hatte Berlin auch noch ein Theater.«

Sie standen auf dem Molkenmarkt. Jason zeigte nach der Hausvogtei und klopfte Kößling auf die Schulter.

»Da drüben zu Onkel Dambach werden wir auch noch hinkommen.«

»Das ist meine Freundin«, rief Jettchen und ging auf einen Koloß von einem Hökerweib zu, die in einem Mittelding zwischen einer Bude und einem Verschlag saß, den sie ganz ausfüllte. Sie saß neben einer Fischtiene. In der schlug es, plätscherte und platschte es von kleinen Rotflossen, breitschuppigen, schleimigen Karpfen, Schleien und Barsen, und reglos standen lange schmale grüne Hechte dazwischen. Ein wahrer Koloß war diese Frau. Mit bloßen Armen wie ein Schlächtergeselle, mit einem gelben geblümten Kattunkleid, einer Strohschute und einem Gesicht darunter, breit wie ein Eierkuchen und pockennarbig, als ob es unter ein Waffeleisen gekommen wäre.

»Na, wat wünschen Se denn, Fräuleinken, schöne Hechte, fünfzehn Jroschen heute de jroßen«, sang sie schrill und gleichtönig.

Jason hatte schnell in die Fischtiene gegriffen, einen Hecht am Schwanze gepackt und schwenkte das Tier hin und her, daß es nur so spritzte.

»Na, Frauchen, was kost' denn der Jklei?« fragte er mit Unschuldsmiene.

Aber da lief er schön an; denn die Hökerin, nachdem sie sich von ihrem ersten Staunen erholt hatte, stemmte die Hände in die Seiten, drückte die Ellenbogen nach außen und begann zu keifen.

»Wat, er will mir hier wohl aufzwicken? Er hinkebeiniger Lulatsch mit seinen steifen Jaromire an seine uffjeblasenen Kalbsbacken. Komm er mir nich zwischen de Finger!!«

»Aber Frauchen, wir woll'n ja den Hecht kaufen!«

»Schön, denn koofen Se 'n, aber meine Hechte werden nich an 'n Schwanz jekriegt. Wie möchte Ihnen denn det gefallen?«

Jason lenkte ein, denn er sah wohl, daß sonst hier noch Worte fallen könnten, die für keusche Ohren gerade kein Labsal sind. Jettchen feilschte indessen um einen Riesenkerl mit einem spitzen Kopf, geradezu um einen Briganten von einem Hecht, für den sie zwölfeinhalb geben wollte statt fünfzehn Groschen. Sie einigten sich auf dreizehneinhalb, nachdem ihr noch die Frau versichert hatte, daß sie ihn solcher Kundschaft für zwölfeinhalb einjepökelt nach Hause tragen würde.

Kößling ließ sich das Tier in das Netz werfen, in dessen Maschen es sich sofort schnappend und zappelnd verwickelte, und keine Macht der Erde, sagte er, könnte ihn bestimmen, zu dulden, daß Demoiselle Jettchen die Last trüge.

Jettchen bat um das Fischnetz, doch vergeblich, und wenn man ihn erschlüge, er würde es nicht dulden.

Jason sagte ihm, daß es wohl für ihn weniger passend sein würde, das Fischnetz zu tragen, als für seine Nichte. Aber Kößling blieb fest und sagte, daß, wenn man ihn für einen Diener halten möchte, er sich nur freuen würde, für ihren Diener gelten zu können. Jason bestand nun darauf, daß er wenigstens mit anfassen dürfte, am Bügel, aber auch hiervon wollte Kößling nichts wissen.

»Nun schön, Herr Doktor, wenn Sie mir helfen, den Fisch nach Hause zu bringen, müssen Sie uns auch helfen, ihn zu vertilgen.«

»Ja, Kößling – ich nehme Sie heute abend mit zu meinem Bruder. Mitgefangen, mitgehangen.«

Jetzt wurde dem großen linkischen Doktor, der gesellschaftlich ein Kind war, doch angst und bange. Nein, so hätte er es nicht gemeint. Er könne das gar nicht annehmen, und er wüßte auch gar nicht, ob es dem Onkel recht wäre. Sie könnten ihn doch nicht einladen zu eines anderen Mannes Tisch.

Oh, wohl könnte er das, sagte Jason, denn er sei noch mit zehn Prozent am Manufakturwarengeschäft des Bruders beteiligt und habe ergo Verfügungsrecht über ein Zehntel des Fisches. Dafür dürfe er immer einen Gast mitbringen. Mehr wie ein Stück Fisch dürfe der natürlich nicht verzehren, wenn er nicht sein – des Onkel Jason – Einkommen schmälern wollte.

Jettchen, die sich an der Verwirrung Kößlings belustigte, sagte, das wäre nicht so schlimm. Er brauche sich nicht zu fürchten. Sie würde ihm auch noch ein halbes Stück abgeben.

»Ja, wenn Sie mir ein halbes Stück abgeben wollen, dann komme ich«, sagte Kößling und blickte an sich hinunter, ob er auch noch derselbe wäre wie vorhin.

Jettchen mißfiel diese Huldigung nicht, denn ein Blick hatte sie belehrt, daß dieser Mensch in seiner linkischen Art gegen alle, die ihr schmeichelten, wie ein weißes, unbeschriebenes Blatt war gegen dicke Sündenregister.

»Na, kommen Sie nur heute zu meinem Bruder, ich hole Sie ab, Doktor. Da werden Sie Menschen kennenlernen, die Ihnen neu sind; sie sind nicht immer angenehm, aber sie haben auch ihr Gutes. Warum denn –, es muß doch nicht alles Literat sein!«

Sie schlenderten wieder die Spandauer Straße herauf, streckenweise mußte Onkel Jason hinterherhinken, da nicht drei nebeneinander gehen konnten auf dem schmalen höckerigen Streifen von Bürgersteig. Jason tat das fluchend und räsonierend, daß eigentlich Kößling hinterherlaufen müßte, da besagte Dame seine Nichte wäre und jenen gar nichts anginge. Aber Kößling meinte, daß der andere so lange Jahre schon den Vorzug genossen habe, neben ihr diesen Lebensweg zu gehen, daß man es ihm nicht verargen könne, wenn er nun auch der gleichen Vergünstigung teilhaftig werden möchte. Er proklamiere nach dem Preußischen Landrecht gleiche Nichten für alle.

Sie standen wieder an der Ecke der Königstraße.

»So, ich muß jetzt herüber, da drüben wohnen wir.«

»Ich werde den Hecht nicht eher aus den Händen lassen«, sagte Kößling, »ehe ich nicht sicher weiß, daß er in die Pfanne kommt. Außerdem muß ich das Haus sehen, damit ich es wiederfinde. Berlin ist so arm an Sehenswürdigkeiten – – –

– – – Also hier wohnen Sie. Hübsch, recht hübsch, hier müßte eigentlich ein Dichter wohnen wegen der Lorbeerkränzchen unter den Fenstern. Wie lange mag das Haus stehn? ... Vierzig Jahre vielleicht! Wo ist Ihr Fenster?«

»Bemühen Sie sich nicht mit 'nem Ständchen; Jettchen schläft nach hinten 'raus!« stichelte Jason.

»Sie müssen es mir nicht übelnehmen. Ich bin heute ganz außer Fasson. Es kann ja jeder nach der seinen selig werden, und ich bin das immer, wenn mir etwas Hübsches begegnet ist.«

»Selig oder außer Fasson?« fragte Jason mit Unschuldsmiene.

»Beides, Freund meines Herzens! Liebling der märkischen Musen.«

Eine ganze Weile standen sie noch an der zweiflügeligen breiten Tür, nahmen wohl fünfmal voneinander Abschied und konnten sich doch nicht voneinander trennen, bis oben am Fenster im ersten Stock eine große, weiße, puffige Tüllhaube sichtbar wurde und jemand nölig und langgezogen »Jettchen, Jettchen«, rief.

Jason schwenkte den Zylinder und deklamierte:

»Und alle lauschten ängstlich
Auf jeden Blick von ihm,
Auf jede der Gebärden
Wie auf ein Ungetüm. –

Wissen Sie, wer das singt? Unser Freund, unser Freund: Doktor Ludwig Liber, alias: Ludwig Lesser: ›Lieber wärst du uns geblieben, Lesser hätt'st du nicht geschrieben.‹«

»Also, Herr Doktor, Sie kommen heute abend?!«

»Ach nein, ich habe ja nur aus Scherz zugesagt.«

»Beruhige dich, Jettchen, ich werde ihn dir schon mitbringen.«

»Ja, ich werde es gleich der Tante sagen, daß Sie uns beehren.«

»Jettchen, Jettchen«, klang es wieder lang und hell von oben.

»Na, auf Wiedersehen!« Sie streckte ihren Begleitern die Hand hin, den Handschuh hatte sie abgezogen – eine schmale, aber fleischige Hand mit Grübchen, da wo die Finger ansetzten, rund, rosig, wie gedrechselt.

Kößling reichte das Netz und hielt dabei die Hand Jettchens etwas länger als gerade nötig. Dann erschrak er, wurde rot und zog sehr förmlich den Schlapphut tief und linkisch.

Jason pfiff und trällerte eins, nahm Kößling unter den Arm, und Jettchen huschte in den Torweg.

Im Torweg, dessen Bohlen gescheuert waren und von Sand knirschten, waren rechts und links zwei Gipsreliefs in die Wand gelassen, zwei weiße Platten im Halbrund, in die fein säuberlich und abgezirkelt die Figuren eingeschnitten waren. Das eine zeigte Amor und Psyche, das andere Baccchus bei der Erziehung des jungen Liebesgottes, Jettchen hatte seit Jahr und Tag nicht mehr auf sie geachtet. Heute aber ging sie ganz langsam zwischen ihnen hindurch, hob den Blick halb flüchtig, grüßte sie wie gute Bekannte und lächelte.

Rechts ging es gleich in den Laden. Die Buchhalter mit den Gänsekielen hinter den Ohren wiegten sich vor hohen Stehpulten auf den Beinen wie Pferde vor der Krippe. Jettchen sah durch die Glastür, deren helle Mittelscheibe von einem Rand von roten, grünen und gelben Glasstücken umrahmt war, und grüßte hinein. Der Onkel hatte diese Scheibe erst vor kurzem einsetzen lassen; früher war dort eine weiß lackierte Holztür gewesen mit allerhand Schnitzwerk und Schweifungen. Aber der Onkel hatte die Füllung herausbrechen und durch buntes Glas ersetzen lassen, weil ihm das vornehmer dünkte.

Die Treppe war sehr dunkel; tief, muldig und ausgetreten die Stufen. Vor den Fenstern mit den weißen bauschigen Mullgardinen zogen sich Galerien hin und nahmen der Treppe noch das bißchen Licht, das die Gardinen zu ihr lassen wollten. Aber Jettchen kannte den Weg. Sie fand im Dunkeln den gestickten Klingelzug, der in Perlen mit schönen, geschwungenen Buchstaben den Namen S. Gebert trug. Jettchen war wohl die einzige, die diese Worte je gelesen hatte, denn sie hatte sie Perle für Perle zusammengesetzt. Hier, wo der Klingelzug jetzt hing, war er nur durch den Tastsinn in Blindenschrift erkenntlich und lesbar. Die Glocke pinkerte lange und konnte sich gar nicht beruhigen. Immer wieder gluckste sie noch einmal hinterher.

Tante Rikchen öffnete. Sie hatte die bauschige Haube auf, schlürfte noch in Morgenschuhen und trug ein weites faltiges Kleid von einem grau- und weißgestreiften Seidenstoff, wie er vor vier Jahren modern war. Sie war billig dazu gekommen, denn sie hatte das alte Stück, das verramscht werden sollte, vom Lager genommen und sich einen Tag die Schneiderin hingesetzt, die ihr mit tausend Fältchen, Volants und Basteleien für ihre umfangreiche Person eine Hülle geschaffen hatte, die eine Art Mittelding zwischen einem Ballkleid und einem Morgenrock war.

Tante Rikchen war sehr klein, gedrungen und von beträchtlichen Fettmassen. Dabei war ihr Gesicht hübsch, fast kindlich, aber es zeigte auch eine kindliche Enge und Beschränktheit. Zwei schwarze Augen saßen darin wie zwei Korinthen in einer breiten Butterwecke.

»Jettchen, wo du so lange bleibst?« fragte sie indigniert. »Der Onkel wird gleich 'raufkommen, und du mußt noch mal nach 'm Kalbsbraten sehen. Das Mädchen versteht's nicht.«

Jettchen trat in den Vorflur, der sein Licht von zwei Seiten aus Glastüren empfing. Er war weißgetüncht, und ein paar alte geschweifte Stühlchen, die noch aus Großvaters guter Stube herstammten, fanden mit verschlissenen Überzügen und abpflasternder Vergoldung hier ihr Ende.

»Ich habe erst Onkel Eli getroffen. Hast du gehört, Tante Mine war nicht wohl?! Baumann hat kommen müssen. Aber heute abend wird sie schon erscheinen, das läßt sie sich doch nicht entgehen.«

»Sie wird gewiß wieder was gegessen haben, was ihr nicht bekommen ist.«

»Ja, das meinte Onkel auch: – und dann habe ich Onkel Jason getroffen.«

»Was macht der?«

»Er läßt dich schön grüßen, und er wird heute abend einen Freund zu dir mitbringen, einen Doktor Kößling!«

»Ich begreife das nicht – aber ich werde es Jason auch sagen. Seit wann hab' ich hier 'n Gasthaus?«

»Aber Tante, er hat doch schon öfter jemanden mitgebracht, und das ist wirklich ein netter Mensch.«

»Nu ja, ich hab' ja auch nichts dagegen. Aber er könnte sich doch auch mal revanchieren.« Sie nahm das Fischnetz und betastete den Hecht, der nur noch ganz schwache Zeichen von bewußter Zugehörigkeit zu diesem Weltganzen gab.

»Was kostet der?«

»Dreizehn und ein halb, Tante.«

»Ich hätt' ihn schon billiger gekriegt. Nu ja, wenn man eben den Narren zum Markte schickt, freuen sich die Krämer«, setzte sie spitzig hinzu.

Jettchen war es nicht gegeben, auf so etwas zu antworten. Es würgte ihr im Hals, das Wort blieb ihr in der Kehle stecken, und die Tränen traten ihr in die Augen.

»Hast de mir denn wenigstens bei Fernbach das Buch umgetauscht?«

Jettchen holte aus dem Pompadour ein kleines, abgegriffenes Bändchen mit einem marmorierten Umschlag.

»Ivanhoe?! – Ich weiß nicht, was der Fernbach heute für langweilige Bücher hat. Kannst du nicht mal was von Siede oder von Rambach bringen. Die Bücher habe ich immer gern gelesen. Oder was Neues von Sue! Aber immer wieder Scott und Dickens und Dickens und Scott und Sternberg und die Schopenhauer.«

»Na, das nächstemal will ich nach Siede fragen.«

»Nu, geh mal hinter, Jettchen, und sieh nach 'm Essen«, sagte die Tante und schob sich, das Buch in den dicken Fingern, nach der ›Guten Stube‹.

Jettchen ging in ihr Zimmer, das gleich am Vorflur lag. Es hatte ein Fenster mit kleinen Scheiben, und eine Tür führte nach dem Hof auf die Galerie hinaus. Es war ein kleines, stilles Zimmer. Das Licht sang nur darin, und es roch herb nach Pfefferminz; denn auf dem Fensterbord standen zwei Balsaminen in hohen, spitzen, weißen Porzellantöpfen mit goldenen Masken. In einer Ecke des Zimmers stand ein Bett unter einem Betthimmel von rotgeblümtem Kattun. Am Fenster selbst waren weißgemusterte Gazegardinen, und vor einem geschweiften Ledersofa mit langen Reihen weißer Knöpfe stand ein hellbirkener Tisch, klein, länglich mit hohen dünnen Beinen. Auf der bedruckten Ripsdecke lag da Jettchens Stammbuch, ein braunes Lederbüchelchen mit einem flammenden Herzen auf dem Altar der Liebe in Goldpressung darauf; lag gerade neben einem Goldfischglas mit bronziertem Tonfuß, an den sich eine Rokokoschäferin von klagender Liebestrauer lehnte. Und der dicke rote Goldfisch schwamm lässig in der Glaskrause hin und her, wurde hinter der bauchigen Glaswand unförmig und wieder schmal, je nachdem er sich wandte, und glotzte ab und zu mit blöden quellenden Augen auf das längliche Lederbändchen und die sentimentale Schäferin. Ein paar weiße Stühle mit geschwungenen Lehnen hielten still an der Wand Wache, rechts und links von einer Mahagoniservante mit allerhand Wunderlichkeiten hinter ihren blanken Scheiben.

Jettchen band sich eine große Schürze vor und ging draußen die Galerie entlang, streifte die Zweige des alten Nußbaums, der sich in dem engen Hof nach allen Seiten ausbreitete und Jettchen mit seinen schwarzen, pendelnden Blütentrauben und seinen klebrigen, scharf duftenden jungen Blättern beinahe berührte.

In der Küche war das neue Mädchen ratlos, und Jettchen drehte das Fleisch, begoß es, legte Feuerung zu, und als der Onkel kam, war der Braten gar und fertig.

Onkel Salomon trug im Hause einen langen Rock mit komplizierten Landkarten von Flecken und dazu stets ein gesticktes Käppchen von schwarzem Samt mit einer Eichenlaubgirlande in Kettelstich. Wenn er das vergaß, so war er am nächsten Tag erkältet, und dann war sogleich das ganze Haus verschnupft.

Solomon sah Jason ähnlich, war aber älter, schon ganz grau, dazu etwas gedunsen. Und die gleichen Züge, die bei Jason fein, scharf geschnitten und geistvoll erschienen, waren bei ihm mit den Jahren stumpf und grob geworden. Die Dezennien kleinlichen Kontorlebens, das Gezänk und Gefrett der Ehe, der Stumpfsinn dieses Zusammenlebens, das Jahrzehnte hindurch schon in den gleichen Bahnen verlief, ohne daß das Morgen sich vom Heute unterschied, all das hatte ihn mürbe und etwas mißtrauisch gemacht. Während er früher von dem berühmten drastischen Witz der Geberts seinen Teil hatte, waren jetzt nur noch ein paar Redensarten übriggeblieben und eine Anzahl von Witzen, die man nicht in jeder Gesellschaft erzählen kann. Auch waren in seinem Spielplan ein paar Scherzchen, die nicht gerade fein waren. So hielt er den ausgestreckten Finger hin, wenn jemand den Kopf wegwandte, rief ihn dann bei Namen und freute sich wie ein Schneekönig, sobald er dem anderen bei der Wendung in die Backe piekte. Tante Rikchen war jedesmal aufs neue darüber aufgebracht und empört. Aber er ließ es nicht. Es war das einzige noch, was er sich erlaubte. Sonst war er längst gewohnt, in allem, auch in allem seiner Frau nachzugeben. Aber das hielt er nun mal für sein verbrieftes und versiegeltes Reservatrecht.

Punkt ein Uhr saß Onkel Salomon schon an seinem Platz in seinem hohen Stuhl mit geschweifter Lehne am runden Mahagonitisch. Er hatte die Serviette vorgebunden und sie sorgfältig mit drei Nadeln an dem alten Rock befestigt. Er saß da, sagte kein Wort und piekte nur mit der Gabel taktmäßig in die Serviette, um damit seiner Ungeduld Ausdruck zu leihen, denn sein Leben war so auf die Minute geregelt, daß die Nachbarn nach ihm die Uhr zu stellen pflegten.

Das Zimmer war groß, hell und blau gestrichen. Um das Gesims lief ein breiter silberner Mäander. Dunkle Eichenstühle mit hoher geschweifter Lehne paradierten in langer Reihe an der Wand. Auf dem Büfett, einem braunen, hohen, glatten Kasten, standen rote, geschliffene Gläser, die blitzten und kleine Lichtscheine zur Decke warfen. Sie spiegelten sich lustig in einer blanken Sinumbralampe, solch einer zum Verstellen, und sie umringten die beiden porzellanenen Leuchter, steile dorische Säulen, mit den dicken gelben Talglichtern, von denen wieder jeder eine silberne Putzschere im Gefolge hatte. Unter dem Sofa mit dem blauen Damastbezug standen noch jetzt im April ganze Reihen von Töpfen voll eingemachter Früchte. Eine Schlummerrolle, die einen blauen Papageien in geschorener Arbeit zeigte, hing über einer Ecke des Sofas, und eine zweite mit schönen geschwungenen Schriftzügen über der anderen. Auf der Fußbank war in gleicher Art ein weißes Seidenhündchen auf blauem Grund mit schwarzen, krillerigen Perlenaugen zu sehen; und die Fensterkissen, die hoch und weich die beiden Fensterbänke deckten, zeigten Rosengirlanden in Kreuzstich. Rote Rosen an Onkels Fenster, unschuldsweiße an Tantens. Schlummerrolle, Fußbank- und Fensterkissen waren Jettchens Werke. Vor dem Fenster aber hingen an kleinen Kettchen weiße Biskuitbilder, die durch das durchscheinende Licht eine schöne Plastik der Figuren zeigten. Onkel hatte sie erst vor kurzem gekauft. »Abendgebet« und »Morgengruß« waren Pendants, und die »Mohrenwäsche« und »Der Krieger und sein Sohn«, meinte Onkel, könnten doch immer noch als Gegenstücke gelten.

Onkel Salomon saß immer noch ungeduldig allein und piekte mit der Gabel in das Tischtuch. Dann kam Rikchen und war ungehalten, daß das Essen noch nicht fertig wäre; Jettchen wäre aber so spät gekommen. Und endlich kam Jettchen, hochrot mit tränenden Augen – der Herd hatte geraucht –, und hinter ihr her tänzelte das neue Mädchen mit dem Tablett.

So saßen sie nun immer schon zusammen, die drei. Onkel und Tante waren alt geworden um diesen runden Tisch, in diesen Zimmern. Und auch Jettchen hatte nun schon bald ein Vierteljahrhundert an dem runden Tisch mit der Wachstuchplatte mit ihnen gegessen. Als sie in das Haus kam, hatte man ihr Kissen auf den Stuhl legen müssen, daß sie nur mit der Nase über die Tischkante sähe. Jetzt brauchte sie kein Kissen mehr.

Sie hätte sich wohl schon längst verheiraten können, wenn sie nicht eben aus angesehener Familie gewesen wäre. Der Vater hatte ihr zwar kein Vermögen hinterlassen, er hatte alles kleinbekommen; aber man müßte doch dafür sorgen, daß sie nun gleichfalls in eine gute Familie käme. Das hätte man eigentlich schon oft gekonnt, wenn der Onkel Salomon sein Geld nicht festgehalten hätte, und wenn es den beiden nicht bequemer und billiger gewesen wäre, Jettchen zur Unterstützung der Tante im Haus zu haben. Sie bekäme ja sowieso später genug und übergenug. Da brauche man sich doch nicht jetzt schon zu verausgaben; und sie würde schon noch einen Mann finden. Wenn es durchaus nötig, würde man ihr einen Mann suchen. Vorerst lägen die Dinge ganz gut so, wie sie wären. Und Jettchen wäre noch hübsch genug, um an jedem Finger zehn für einen zu kriegen. –

Der Onkel war mißgestimmt, denn er hatte aus guter Quelle von hintenherum erfahren, daß es dem König nicht gut gehe. Nicht, daß dieses etwa sein vaterländisches Gemüt erschüttert hätte, aber er sagte sich, wenn dem König etwas Menschliches zustieße, jetzt, gerade jetzt... und auch ein König ist ja vor solchen Zufällen – er selbst sprach ungern von dieser Endaussicht unseres Daseins – ja, er bekam den Schlucken, wenn er nur daran dachte – selbst ein König ist vor solchen Zufällen, sagte er sich, nicht sicher; ebenso wie ein Geheimer Hofrat sterben kann... Also, wenn sich dieses ereignete, so würde er – Salomon Gebert & Co. – sicherlich mit der Hälfte seines Lagers farbiger Westenstoffe sitzenbleiben... ganz zu schweigen von den Stücken, welche noch einkämen und im nächsten Jahr unmodern sein würden. Und er überlegte hin und her, ob es nicht ratsam wäre, um sich wenigstens etwas zu decken, das schwarze Lager, ebenso wie die schwarz in schwarz gemusterten Sachen zu komplettieren.

Tante meinte, das würde nicht so schlimm sein mit dem König. Er würde wohl noch einige Jahre am Leben bleiben, auch wünsche sie sich, gottlob, keinen anderen. Sie hatte nämlich so eine Art dunkler Empfindung, als ob sie mit dem preußischen Königshaus verwandt oder verschwägert wäre, weil ein preußischer Prinz einmal auf einem Bürgerball mit ihr getanzt hatte, damals, als sie noch hübsch, jung und weniger umfänglich war. Ihr Mann war auf diese Erinnerung, die sie ihm in etwas eigenartiger Beleuchtung auftischte, als ob es nur an der eisernen Widerstandskraft ihrer angeborenen Weiblichkeit gelegen hätte, daß ihre Schönheit nicht die Falle ihrer Tugend geworden wäre, nicht gerade stolz. Aber er sagte sich – und er hatte diese Erfahrung durch dreißig Jahre genugsam erprobt und bestätigt gefunden –, daß sich in dem kleinen Hirn seines Eheweibes die Dinge der Welt etwas anders spiegelten, als sie waren, und daß die Geschehnisse etwas anders darin haften blieben, als sie sich gerade ereignet hatten. So gut, wie sie die Toten und die Lebenden zusammenhetzte und Leuten Dinge nachsagte, die nicht gestoben und geflogen waren, würde wohl auch in diesem Punkt ihre üppige Phantasie ihr einen Streich gespielt haben.

Jettchen meinte, daß Onkels Nachricht wohl zu überlegen wäre. Aber Onkel sollte nur noch nichts unternehmen. Im Notfall würde er immer noch das Ausland als Abnehmer haben. Und ein absoluter Rückgang der farbigen Westen wäre mit Landestrauer wohl kaum verbunden. Jason, der sonst alles hörte, hätte heute vormittag noch nicht gewußt, daß es dem König schlecht erginge.

Mit der Erwähnung Jasons war Tante Rikchen aufgezogen wie ein Mühlenwehr; und ihr kurze Zeit gehemmter Redestrom floß frei und breit dahin.

Sie erging sich in Exkursen über Jasons Daseinsberechtigung und seinen moralischen Wandel und fügte hinzu, daß damit nicht genug, Jason noch einen seiner Spießgesellen heute abend zum Essen bei ihr einführen wollte. Sie begriff nicht, weswegen – schloß sie mit einem langen Seitenblick auf Jettchen.

Salomon aber ging darauf nicht ein, denn er liebte seinen Bruder Jason, weil er heimlich fühlte, daß vieles in jenem zur Reife gekommen war, was bei ihm verkümmerte. Und zudem wußte er nur zu gut, daß seine Frau nun seit dreißig Jahren einen steten Krieg führte gegen alles, was Gebert hieß, weil das höher, seelisch vornehmer und lebensstärker war als die kleinlich beschränkte Gehässigkeit, die die Ihrigen zierte. Trotz der Verschiedenheit jedoch hatte das Band der Gewohnheit dieses ungleiche Menschengespann eng zusammengekoppelt, und sie wollten es nicht anders haben, als nebeneinander herzugehen. Die Stürme der Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen wühlten den ehelichen Hafen nicht im Grunde auf. Ja, sie kräuselten kaum dessen Oberfläche, und der Onkel mochte eben noch seine Frau »Dickkopp« angebrüllt haben, nachher saßen sie doch beide wieder friedlich nebeneinander auf dem Sofa und machten ein Schläfchen; – entweder die Köpfe eng zueinander geschoben oder jeder in seiner Ecke, das Gesicht gegen die Schlummerrolle gepreßt, daß der Onkel noch die nächste halbe Stunde den Kopf des Papageien in Blinddruck und die Tante »Sanft« in Spiegelschrift auf der Backe trug, wenn sie aus dem Fenster sahen, gelehnt auf ihre Kissen von Rosenketten, purpurn und unschuldsweiß –, bis diese Zeichen ihres friedlichen Schlummers langsam verblaßten, um am nächsten Tage wieder zu erblühen.

Früher hatten sie beide ganz gut nebeneinander aus einem Fenster geblickt, aber in den letzten Jahren war das aus physiologischen Gründen unmöglich geworden, und so hatte nun jeder sein Fenster.

In diesem Kreislauf wickelten sich auch heute die Ereignisse ab. Im Laufe des nun folgenden angeregten Gesprächs über Onkel Jason verglich Onkel Salomon Tante Rikchen mit einer Pute. Ein Bild, das, wenn man das Gesamtgewicht ihres Körpers gegen die Menge ihres Hirns hielt, gar nicht so falsch war, und nannte Tante Rikchens Sippe ein »hinterlistiges Otterngezücht«. Bei der Bekräftigung dieses letzten Wortes löste sich ein alter Suppenteller aus englischem Steingut, der ein Muster von allerhand tiefblauen Wundervögeln trug – aber er hatte schon lang eine Niete –, in zwei ungleiche Hälften. Doch nach zehn Minuten saßen sie trotzdem wieder beide, Salomon und Rikchen, leise den Odem durch die Nasenlöcher ziehend und blasend, nebeneinander auf dem Sofa, entrückt dem irdischen Gezanke und Getriebe. Und nach einer guten Stunde blickten sie beide wieder hinaus in den schönen sonnigen Nachmittag, jeder aus seinem Fenster, und riefen einander über die Vorübergehenden Bemerkungen zu.

Onkel Salomon hatte eine große Fertigkeit darin, zu erraten, welchen Beruf diese Leute hatten. Er hatte sich das im Laufe der Jahrzehnte, da er jeden Nachmittag um die gleiche Zeit auf die Straße blickte ... im Sommer aus dem geöffneten Fenster, im Winter von seinem Fensterplatz mit Hilfe des Spions – hatte es sich so angeeignet; und seine Kenntnisse täuschten ihn nur selten. Die Tante machte ihm immer wieder das Vergnügen, ihn zu fragen, und sie spielten beide wie die Kinder.

»Sieh mal, Männchen, den da?« kam's von den weißen Rosen.

»Er wird gut Violine spielen«, klang's von den roten.

»Warum, Salomon?« fragten die weißen.

»Er hat's Kinn rechts und die Schulter links hängen«, gaben die roten zurück.

»Und der?«

»Das siehst du doch allein!« entgegnete er halb beleidigt, als wäre diese Frage doch zu leicht. »Nein?! ... Ein Schuster ist der Kerl. Merkst du denn nicht, wie er den Daumen hält ... als ob er Pechdraht zieht?«

Während sich aber so die beiden Alten auf ihre Art erlustierten und unterhielten und nur ihr Spiel unterbrachen, um über einen Nachbarn herzuziehen, dem sie über die Straße fort freundlich zunickten –, saß Jettchen in ihrem Zimmer vor dem weißen Birkentischchen, hatte ein kleines Büchelchen vor sich, ganz klein, zierlich und zart. Onkel Jason hatte es ihr geschenkt. Er hatte ihr selbst – er pusselte gern ein bißchen mit Blei, Tusche und Farbe herum – ein grünes Kränzchen hineingemalt und dahinein wieder in schwungvollen Zügen Kringelchen und Schnörkelchen, eine sinnvolle Zueignung geschrieben. Onkel Jason liebte dieses kleine Büchelchen, diese wenigen Seiten von Jean Paul vor allem, weil er Hagestolz war und sich nunmehr schon bedenklich jenen Jahren näherte, da wir nachzugrübeln pflegen über das »Immergrün unserer Gefühle«. Jettchen aber blickte heute in das Buch, ohne eigentlich zu wissen, was sie las. Und schon zum zwanzigsten Male hafteten ihre Blicke an dieser Stelle. »Und so liegt denn ein Goldschatz von Liebe wenig sichtbar als bis auf ein kleines Flämmchen in der Brust, bis ihn endlich ein Geisterwort hebt und der Mensch den alten Reichtum entdeckt.« Die Worte sprach Jettchen vor sich hin, und sie übten einen leichten, ermüdenden Zauber auf sie aus, ohne daß sie doch eigentlich ihren Sinn ganz offenbarten.

Die Fensterflügel standen jetzt halb offen, die Mullgardinen wehten und bauschten sich leise, und der bittere Duft der jungen Nußblätter vom Hof, der jetzt schon halb im Schatten lag, kam mit dem Luftzug ins Zimmer herein. Jettchen saß ganz still, kein Laut kam von draußen, und nur hin und wieder gluckste der Goldfisch im Wasser. Jettchen war unmutig. Nicht gerade mißgestimmt, aber sie wußte nicht so recht, wohin mit ihren Gedanken. Das tauchte auf und schwand wieder, ohne feste Formen anzunehmen. Sie fühlte etwas wie Verlassenheit, wie Unzufriedenheit, fühlte eine Einsamkeit und Fremdheit zu Haus und Menschen, mit denen sie nun schon über zwei Jahrzehnte hier verbunden war –, oder vielleicht immer? Sie erinnerte sich nur noch in Träumen, daß es einmal anders gewesen. Sie sah sich um. Nichts im Zimmer schien ihr freundlich gesinnt; weder das Bett noch das Sofa, noch die Stühle an der Wand. Jettchen hatte das Gefühl, als ob sie hier zu Gast wäre, auf Logierbesuch. Nur die kleine Servante da, die Sächelchen darin, die Porzellanpüppchen und die Tassen und die paar Töpfe am Fenster und die paar Bücher da unten – eine Freundesschar, die ihr langsam in den letzten Jahren Onkel Jason zugeführt hatte – da er nicht für ihr leibliches Wohl sorgen konnte, war er um ihr seelisches und geistiges doppelt bemüht ... Das gehörte ihr ganz, war ihr gegrüßt und vertraut. Und auf der niederen Servante das zierliche goldige Pappkästlein von kunstvoll durchbrochenen Wänden mit einem Spiegelchen als Boden und einem durchscheinenden Glasbildchen als Deckel... dies Kästchen, mit allerhand Andenken darin – dem Lorgnon und dem Siegelring vom Vater, einem launigen Glückwunsch von Jason, der Locke einer Mitschülerin, einer Nadelbüchse von der Mutter, einer Feder von ihrem selig verblichenen Kanarienvogel und hunderterlei bunten Krams, der sonst für niemand in der Welt Wert hatte –, das gehörte ihr. Und ihre Schönheit gehörte ihr, Gesicht, Haare, Gestalt, alles an ihr bis zur Frische ihrer Haut. Das war etwas, das sie allein besaß. Sie war nicht stolz auf ihre Schönheit, aber sie liebte sie wie eine gute Freundin, bei der uns Lob und Wohlgefallen, das sie einheimst, fast so berührt, als ob es uns selbst beträfe.

Plötzlich stand Jettchen auf, als ob ihr etwas einfiele, nahm vom Tisch die beiden Veilchensträuße, sah sie sich genau an, prüfte sie, band dann den einen auf, ging zur Servante, nahm das Kästchen herunter, stellte es vor sich hin und sah lange auf das Bildchen im Deckel. Das waren zwei Mädchen unter einem lichten Himmel. Eine in Rosa, eine in Hellblau, in einem Garten. Die in Hellblau kniete und brach große Zentifolien vom Strauch, und die in Rosa daneben warf sie in ihr Körbchen – von oben herab. Jettchen sah eine Weile auf das Bild, und dann öffnete sie den Deckel, der in Seidenbändern straff zurückfiel, hob den Arm hoch – wie das Mädchen in Rosa. – und ließ die Veilchen ganz langsam durch die Finger rieseln in das goldene Körbchen hinein. Sie spürte jedes einzeln zwischen den Fingerspitzen. Die violetten Blüten zwängten sich in Spalten und Ritzen und blieben hängen zwischen Lorgnon, Nadelbüchse, Briefen, Wunsch, Federn, Locken und Notizbüchlein. Ein paar jedoch fielen hindurch bis auf die Spiegelscheibe des Bodens – und da lagen sie nun und betrachteten ihre eigenen blauen Blättchen.

Jettchen schloß das Kästchen, still, leise lächelnd, nur ein Vorüberhuschen, ein Wetterleuchten von einem Lächeln war das, und stellte dann das Kistchen feierlich und langsam wieder oben auf die Servante, wo die Luft durch sein goldiges Gitter zog und den süßen Geruch der einzelnen lockeren Blüten, der jetzt stärker war, als sie ihn vordem im Sträußchen aushauchten, durch das Zimmer trug. Und dann zog Jettchen unten aus ihren Büchern ein kleines zerlesenes Heftchen heraus, in einem Umschlag von marmoriertem Papier: ihr Vogelbuch. Es handelte von der Aufzucht und der Pflege der Kanarienvögel nebst einem Anhang über Krankheiten und das sachgemäße Anlegen einer Hecke. Das Büchelchen war im merkwürdigsten Deutsch geschrieben, voller Sprachfehler. Im Dasein Jettchens jedoch hatte es eine seltsame Aufgabe zu erfüllen. Es war wie ein Amulett für sie, es feite, es spendete ihr Beruhigung, Trost; selbst wenn sie traurig war, vergaß sie es darüber. Und so schlug es auch Jettchen jetzt wieder auf und las vielleicht zum hundersten Male: »Acht Wochen nach der Begattung legt das Weibchen die bläulich zartschaligen Eier im Neste.« Und Jettchen ließ dabei ihre Gedanken, wer weiß wohin, wandern.

Dann kam Tante Rikchen herein und sagte, daß Jettchen für den Abend alles nur gut zurechtmachen sollte – sie solle ja nach dem Hecht sehen; sie selbst würde noch etwas ausgehen und einiges mitbringen, auch wolle sie bei Weise einen Apfelkuchen zum Nachtisch bestellen. »Trotzdem sie eigentlich nicht wüßte, für wen das vielleicht nötig wäre«, fügte sie hinzu, um mit dem »Letzten« ohne Wort und Widerschlag das Feld zu räumen: – aber nicht mehr im Morgenrock und Häubchen, sondern aufgetakelt und in vollem Staat. Zu der blauen Robe hatte Tante Rikchen einen gelben Türkenschal um die feisten Schultern gelegt, und dazu hatte sie ein ähnliches Tuch um den Kopf gebunden und in das Haar hineinfrisiert, das ihr mit einem flatternden Ende vorn über die eine Schulter hing. In jungen Tagen hatte ihr diese Mode wohl angestanden, aber heute schien es nur mehr eine Art Maskenscherz von ihr zu sein, sich so zu kleiden und wie die Madame Staël mit hohem Turban als echte Haremstürkin die Spandauer Straße und Königstraße zu durchziehen.

Jettchen stand auf, suchte im Spind unter ihren Kleidern und beschaute ein helles von allen Seiten, ehe sie es säuberlich auf dem Bett ausbreitete. Dann stellte sie ein Kästchen daneben und ging über den Flur in das gute Zimmer.

Das war noch verdunkelt, die Gardinen waren so dicht vorgezogen und zugesteckt, daß durch die Spalten nur dünne Lichtstrahlen rieselten, fein wie blonde Haarsträhnen. Ein paar weiße Überzüge leuchteten matt aus der grünen Dämmerung, und der orientalische Geruch von welken Rosenblättern, der aus den vier dickleibigen Chinatöpfen emporquoll, legte sich Jettchen auf die Brust. Jettchen schlug die Gardinen zurück, öffnete die drei Fenster, die nach außen kreischend aufschlugen, und der helle Nachmittag sah erstaunt in den langen Raum. Die Wände waren hier mit mattgrüner, leichter Seide bespannt, von der man das Licht fernhalten mußte, da sie schon ohnedies halb verblichen war. Um die weiße Decke zog sich eine schmale Goldleiste, und aus zwei gemalten Rosetten hingen Kronen aus Holzbronze mit je sechs Lichten, die schief und schräg in den Armen saßen wie die Bäume nach einem Windbruch.

Wenn Jettchen sich hochreckte, konnte sie gerade heranreichen, und sie richtete eine Kerze nach der anderen aus, bis sie alle ihrem innersten Wesen gemäß kerzengerade und gleichmäßig von den goldenen, gebogenen Armen emporstrebten. Dann streifte Jettchen vorsichtig die weißen Bezüge von den Möbeln und dem Sofa. – Sessel und Stühle schienen von der Hülle befreit sich zu dehnen, als ob sie vom Schlaf erwachten. Es waren weiße Möbel mit blitzenden Widerscheinen auf dem harten Lack. Sie spiegelten sich hell auf dem braunen, gebohnten Fußboden. Alle Formen an ihnen waren gerade, dünn und zierlich. Nur die Seitenlehnen an den Sesseln und an den beiden kleinen Bänken waren Schwanenhälsen nachgebildet ... der gebogene Hals weiß, der Kopf golden, stumpf golden wie die Überzüge der flachen harten Polster neben ihnen, stumpf golden wie das zarte Rohrgeflecht in den Lehnen. Stück für Stück stäubte Jettchen vorsichtig ab. Das Mädchen würde es doch nicht so gut gemacht haben. Sie säuberte auch alle Tassen und das Silberzeug in dem hohen Eckschrank.

Auf dem Konsoltischchen zwischen den beiden Fenstern stand unter dem Spiegel im Glasgehäuse eine Uhr, bewacht von einem bunten, schnurrbärtigen Porzellantürken in Pluderhosen zwischen zwei Chinatöpfen. Der widmete sich Jettchen mit besonderem Eifer. Und die andere Uhr am zweiten Pfeiler auf einem gleichen Tischchen unter einem gleichen Spiegel zwischen den gleichen Töpfen, eine Uhr aus Goldbronze, über der Amor seinen Pfeil schärfte, um sie mühte sich Jettchen mit fast noch größerer Sorgfalt. An einer Stelle rieb sie fünf Minuten lang den blank gebohnten Fußboden, weil er ihr gerade da nicht blank genug erschien. Nur ein geschärfter Sinn konnte hier einen Unterschied zur Spiegelglätte der Umgebung wahrnehmen. Sie gab den Gummibäumen und den Palmen auf dem Blumentisch Wasser, putzte jede Taste des braunen Tafelklaviers – es war eine Freude, sie so herumhantieren zu sehen –, und bei alledem sang sie mit kleiner, angenehmer Stimme:

»O du mein schönes Bauernkind,
Komm mit mir auf mein Schloß!
Schokolade, Limonade
Sollst du stets haben auf meinem Schloß!«

Und sie erwiderte auf diese Werbung halb schmollend, halb belustigt:

»Will hei mich wohl gehen laaten!
Ich bin ihm ja viel tau schlecht.
Geh hei ruhig siene Straten
Hei, oller Burenknecht!
Up det Dorf, da bin ick her.
Weit er denn nich, wer ick wär?
Ich muß fort nach Hause gehn,
Nach Huuuuuse gehn!«

Dann schüttelte sie das Tuch aus dem Fenster, sah auf die Straße, wo die Menschen spazierten, lachte und fing ihren Singsang wieder von vorn an ...

Onkel Eli und Tante Minchen kamen zuerst. Es war noch kaum dunkel; Jettchen war gerade in der schönsten Arbeit, Tante Rikchen noch nicht zurück, – und Salomon unterzeichnete noch die Post auf dem Kontor.

Tante Minchen war sehr klein, sehr alt und etwas hochschultrig. Sie hatte ein dunkelviolettes Kleid an, einen schwarzen Kantenschal um, einen Marabutock im Haar, und zudem hatte sie die vielen Teile eines ausgiebigen Malachitschmucks über ihre alte Person gestreut. Tante Minchen war vermurkelt wie eine Backbirne, und ihr alter zitternder Mund, der ein bißchen verquer im Gesicht saß, machte den Eindruck eines ausgerissenen Knopfloches. Dabei war sie mit ihren fünfundsiebzig Jahren noch sehr gut beieinander, und ihr verqueres Mundwerk arbeitete im Essen und Reden mit Schnelligkeit und Sicherheit. Trotzdem wußte die kleine Tante Minchen aber von nichts Bösem, und auch die Eifersucht auf ihren Gatten war, da er sich nur hippologischen Interessen hingab, unbegründet.

Onkel Eli hatte seinen braunen Frack vom Vormittag mit einem besseren Exemplar der gleichen Gattung vertauscht; nur mußte es das Unglück gewollt haben, daß ihm unterwegs vielleicht wieder ein Herr Viertelswachmann begegnet war, denn auf den Schultern seines Fracks lag der Puder dick wie Mehlstaub. Gegen Tante Minchen war Onkel Eli die Zuvorkommenheit selbst.

»Minchen, nimm nicht das Kantentuch ab, du mögst dich verkühlen«, sagte er. »Nachher mögst de es vielleicht abtun, und Jettchen gibt dir, wenn es später kalt sein sollte, 'ne Enveloppe von sich mit.«

Daß die kleine Tante Minchen in einer von Jettchens Enveloppen hätte sacklaufen müssen, das bedachte Onkel Eli nicht. Aber ich kann schon vorher sagen, es wurde nicht kühl, und Tante Minchen konnte ruhig, ohne ihre Gesundheit zu gefährden, im Kantentuch, wie sie gekommen, wieder nach Hause gehen ... es war ja auch nur zwei Straßenecken weit.

Jettchen führte die beiden Alten in die Eßstube und wollte die Sinumbralampe anzünden, aber da fiel ihr Minchen in den Arm: wozu das nötig wäre! Für sie, für sie doch nicht! Sie hätten ihr Lebtag bei Lichtern gesessen, täten das noch heutzutage, und sie wollten nicht, daß so eine Verschwendung ihretwegen getrieben würde. Nachher, wenn die anderen kämen, könnte Jettchen die neue Lampe vorführen.

Die zwei roten Höfe der Lichter blitzten auf in dem dämmerigen Raum. Draußen wurde plötzlich der abendliche Frühlingshimmel und drüben die Nachbarhäuser tiefblau hinter den Mullgardinen; und über das seltsame Paar, den nachdenklichen alten Nußknacker und Tante Minchen, die nebeneinander wie zwei Vögel auf der Stange hockten, – floß ein Goldschimmer aus dem Kerzenlicht. Sie sprachen fast gar nichts, die beiden Alten. Wenn man sich so lange kennt und so viel miteinander gesehen und erlitten hat, vier Kinder hat wegsterben sehen, Nachbarshäuser niederreißen, Könige und Herrscher, Russen und Franzosen kommen und schwinden, da sind Worte im Verkehr eine sehr übrige Sache geworden. Aber es wußte wohl jeder, was der andere dachte. Denn sobald einer eine kurze Frage hinwarf, antwortete der andere sogleich; und wenn nach einer Weile der fragte und jener zustimmte, so merkte man daraus, daß sie beide an den gleichen Gedankenfäden weitergesponnen hatten.

Jettchen hantierte indessen im Zimmer umher. Aus dem großen eichenen Schrank hinten im Alkoven – ein ganzes Haus von einem Schrank mit einem richtigen Giebel – holte sie die schweren Damasttücher, sie brachte die Anschieber an den Tisch, breitete die Tischdecke aus, sie stellte blaugemusterte Teller mannigfaltiger Form hin; blanke Leuchter und rote geschliffene Glasschalen, die von getriebenen silbernen Delphinen getragen wurden. Dem Salzlecker zwischen den beiden Fäßchen, der in keiner guten Familie fehlen durfte, und den durchbrochenen Brotkörben gab sie ihren Platz. Die beiden Alten verfolgten vom Sofa her bedeutsam schweigend jedes Stück. Und sie tauschten darüber Blicke aus, die für einen objektiven Gerichtshof voll genügt hätten, um gegen Onkel Salomon das Entmündigungsverfahren wegen Verschwendung in die Wege zu leiten. Diese Blicke hinderten jedoch Tante Minchen nicht, eine Stunde später wahre Breschen in die Berge von eingemachten Hagebutten, Quitten und Reineclauden zu legen, die Jettchen jetzt aus den Steintöpfen auf die Schüssel schüttelte.

Dann kam Tante Rikchen, schwer beladen und keuchend und ihr folgend, als Trabant, Weises Hausdiener mit einer Kuchenschachtel.

Rikchen begrüßte Onkel Eli und Tante Mine nicht gerade freundlich, aber die schienen das nicht zu bemerken. Mine machte sich gleich über sie her und ließ sie gar nicht erst verschnaufen, denn sie war hocherfreut, für ihre letzten Erlebnisse mit dem Dienstmädchen einen Abnehmer zu finden.

»Denke dir, Rikchen, ich sage, de Wärmflasche soll sie für Eli bringen. Se bringt nicht. – Ich rufe, sie bringt nicht. Geh ich selbst 'raus, steht da das Stück von ä Mädchen doch halb nackt in meine Küche und wascht sich.«

Rikchen war über diesen bisher bei Minchens Minna unbeobachteten und auch vollends unerwarteten Reinlichkeitsdrang mit Recht empört. Aber sie fand nicht Zeit, dieser seelischen Erschütterung wörtlichen Ausdruck zu verleihen, denn die Schelle schlug laut und zeternd an. Und da Jettchen in der Küche war oder gar schon in ihrem Zimmer, um sich umzukleiden, so mußte Tante Rikchen selbst öffnen. Aber schlimmer noch, Tante Minchen mußte die Fortsetzung ihrer Schilderungen der Verworfenheit dieses Geschöpfes – das halbnackt in der Küche steht und sich wascht – bis nachher aufschieben. Sie nahm sich dafür vor, auf dieses Thema, das sie seit gestern bis zum Zerspringen ausfüllte, bei vollzähliger Versammlung zurückzukommen, und zudem noch jeden einzeln darüber auszuforschen, wie er wohl in ihrem Fall da gehandelt hätte.

Fünf Mann hoch kamen sie die Treppe herauf, unter dem flackernden Tranlämpchen, Max und Wolfgang zuerst, dann Jenny, dann Onkel Ferdinand und ganz zuletzt Tante Hannchen, keuchend wie ein asthmatischer Mops.

Tante Rikchen lehnte sich über die Brüstung und sah herunter in das Halbdunkel nach dem Hausflur. Von unten hörte sie Salomons Stimme zwischen dem schweren Rattern vom Handkarren des Rollkutschers, der die Auslandkisten abholte, »Salomon, Salomon, es sind schon Leutchen da!« rief sie hell und hoch.

»S. G. C. 14.«

»Salomon, Salomon, 's sind schon Leutchen da!«

»Was gehen mich die Leutchen an«, brüllte Salomon – »S. G. C. 15.«

Indes war auch Tante Hannchen bis hinauf gelangt. Sie war die Schwester Tante Rikchens (zwei Brüder hatten zwei Schwestern genommen), gute zehn Jahre jünger wie Tante Rikchen, aber ebenso klein und umfänglich. Sie war wie breitgehämmert. Ihre Augen saßen ebenfalls wie zwei schwarze Rosinen in einem blonden Eierkuchen, und der Mund war ganz winzig und kraus wie eine Pompadourschnure.

Tante Hannchen trug ein silbergraues Taffetkleid mit einem Kranz von Heckenrosen um den Rocksaum. Der feiste, speckige Hals und der Rücken waren frei, und sie blickten mit hundert leichtgeröteten Augen durch die Muster eines Kantenschals, der über die Schultern gezogen war. Die schwarzen, glänzenden Haare trug Tante Hannchen in einem Filetnetz wie ein Fischbeutel.

In allem war sie der Schwester ähnlich, nur daß sie ihre Herzensgüte nicht einzig auf die eigene Person beschränkte, sondern daß sie ihre drei Kinder, Max, Wolfgang und Jenny, noch daran teilnehmen ließ, und wenn sie bei Salomon und Rikchen zu Besuch waren, in sie hineinstopfte, bis sie kaum noch vom Platz aufkonnten, und sie immer wieder ermunterte, doch zuzugreifen und sich nicht zu genieren: Rikchen gäbe es gern. In ihrem eigenen Hause war Tante Hannchen keineswegs derart auf das leibliche Wohl ihrer Kinder bedacht und schickte sie manchmal mit einer simpeln Butterstulle zu Bett. Ihren Mann hatte sie wirklich auf dem Gewissen. Denn wenn Salomon und Rikchen sich auch häkelten, so hingen sie doch aneinander wie die Kletten; während Hannchen und Ferdinand wirklich wie Hund und Katz' lebten, und Ferdinand schon lange gewohnt war, alles, aber auch alles außer dem Hause zu suchen, was zu den Annehmlichkeiten des Ehestandes gehört.

Ferdinand stand in allem zwischen Jason und Salomon; im Alter, in der Größe und in der Wohlhabenheit. Er war nicht so intelligent wie Jason und nicht so philiströs wie Salomon. Er feierte die Feste, wie sie fielen. Er war nicht so adrett wie Jason und trug sich doch im Hause eigener als Salomon. Er verkaufte und verlieh Fuhrwerke, Phaethons, Landaulettes, Balards, und er hatte wie Onkel Eli einen Pferdeverstand; trotzdem einer das vor dem anderen nicht wahrhaben wollte, und Neffe wie Onkel von der Unkenntnis des anderen Sachverständigen auf diesem Wissensgebiet überzeugt waren.

Max war im Geschäft des Vaters, liebte es, den Grandseigneur und zukünftigen Chef zu spielen. Er war in einem schlimmen Alter, schlacksig, blaß, käsig und verpickelt. Auch sah er der Mutter ähnlich, mit seinen schwammigen, unklaren Zügen und hatte nichts von jener schönen, schlanken Rassigkeit, die bei allen Geberts in Kopf, Haltung und Gang steckte.

Wolfgang wollte das Griechisch auf dem »Kloster« nicht in den Kopf kriegen. Er war ein kleines, grünlichschlappes Kerlchen von vierzehn Jahren, gedrückt und verprügelt. Denn alle, Vater, Mutter und Max, die Lehrer in der Klasse, die Kameraden auf dem Schulweg, hatten sich über ihn das Züchtigungsrecht angemaßt. Der Junge war nicht schlecht von Wesen und Gemütsart. Wenig begabt, scheu und innerlich verzweifelt. Er fühlte sich nicht zugehörig zum Haus, zur Familie, zur Schule, zu den Stallungen, – einfach zu nichts fühlte er sich zugehörig. Nirgends glaubte er sich bodenständig oder heimatberechtigt.

Nur Jenny, die war wieder eine richtige Gebert. Dreizehnjährig, über ihre Jahre hinaus – geistig und körperlich. Sie hatte den Gebertschen Familienschnitt des Gesichts, das längliche Oval, die gerade Nase mit dem langen, an den Seiten scharf modellierten Rücken und die großen, mandelförmigen Augen mit den schweren Lidern. Auch hatte sie das starke, glanzschwarze Haar wie Atlas. Sie war schon ganz als Dame gekleidet, in rosa Gingang – freilich halblang. Sie fragte gleich, wo Jettchen wäre, denn sie liebte Jettchen mit jener verliebten Zuneigung, mit der sich kleine Mädchen an eine schöne Lehrerin zu hängen pflegen. Sie bewunderte sie; Jettchen erschien ihr als ein höheres Wesen, und sie bewahrte sich entwendete Bändchen und Haarnadeln ihrer Angebeteten auf, mit denen sie einen geheimen Kult trieb.

Als sie hereinkam, war Tante Rikchen plötzlich erstaunt und entsetzt, warum nur die Lichter angezündet waren. Vorher freilich hatte sie auf diesen Umstand kein Gewicht gelegt. Was das von Jettchen wohl bedeuten sollte, Gäste bei Talglichtern zu empfangen! Aber Jettchen war nicht da, um sich zu verteidigen, und Tante Minchen schwieg wohlweislich.

Die zwei Kinder krochen in die Fensterwinkel und drückten die Gesichter an die Scheiben. Jenny zupfte im Vorübergehen noch schnell und gewandt eine Hagebutte aus dem ziegelroten Berg, und nachdem sie sie eine Weile unauffällig in der geballten Hand gehalten hatte, warf sie sie geschickt mit einem Klaps vor ihr Kinn in den Mund. Ferdinand, Hannchen und Max nahmen auf den Stühlen, die an der Wand standen, Platz und saßen nebeneinander wie drei Pagoden. Ferdinand war ungehalten, daß es noch nichts zu essen gäbe, denn dazu und zum Whist wäre er hergekommen. Hannchen hatte viel Stoff zu Mitteilungen, ein neues Mädchen, Anschaffungen in Kleidern, rotem Glas und Porzellan, die Fragen, Schöneberg oder Charlottenburg für den Sommer. In Schöneberg wäre die Luft besser, während man von Charlottenburg doch leichter einmal hereinkäme.

Dann erschien Salomon. Er war über den Hinteraufgang heraufgegangen und hatte sich noch schnell umgezogen. Er hatte eine neue silbergraue Samtweste und eine Halsbinde aus schwarzem Atlas von dem Geschäft mit heraufgenommen und blendend weiße Vatermörder umgelegt. Er hatte jetzt etwas wie ein alter, ausgedienter Offizier: eine steife, ernste Liebenswürdigkeit, eine Art, sich zu geben, die man dem Männchen von vorhin mit dem Samtkäppchen und den Landkarten von Flecken im Rock nicht, zugetraut hätte.

Salomon hatte noch einen Geschäftsfreund gebeten, einen Einkäufer aus Stockholm, einen blonden, hageren Menschen, der wenig Deutsch verstand und zu allem, wonach man ihn immer fragen oder ansprechen mochte, »tak« sagte. Der kam noch und irgendeine Verwandte von Rikchen und Hannchen, ein sehr kleines, altes Fräulein mit drei Pudellöckchen an jeder Seite; – vertrocknet und spitz, unzertrennlich von ihrem Strickzeug, das sie in einem Beutel um den Leib trug und das sie seitwärts an der linken Hüfte hielt, wenn sie die Nadeln umeinanderlaufen ließ. Für wen sie all die Strümpfe strickte, war unergründlich. Sie versah ihren ganzen Umkreis damit. Und wenn ihr die Strümpfe für Wolfgang zu klein geraten waren, so fand sich immer noch ein Paar Beine in ihrer Bekanntschaft, dem sie paßten. Sie liebte Kinder über alles, küßte sie, wo sie sie antraf – was diese peinlich berührte –, und erntete als Dank für ihre Kinderliebe, daß die Gegenstände ihrer zärtlichen Huldigungen sich über sie lustig machten und, nachdem sie die Bonbons mit Behagen aufgelutscht hatten, irgendeinen lächerlichen oder schmerzhaften Schabernack für sie ersannen. Auch jetzt stürzte sie sich auf Wolfgang und Jenny, die entsetzt in eine Ecke flüchteten. Aber wie sie sich auch sträubten, sie entgingen ihrem Schicksal nicht.

Ferdinand, der sich das Hausrecht angemaßt hatte, war sehr ungehalten, wo wieder Jason bliebe und warum Jettchen noch nicht käme. Aber da hörte man schon draußen sprechen; und Jettchen in einem hellen Linonkleid, das mit goldenen Ähren bestickt war und zu dem sie ein Büschel goldene trockene Ähren im Haar trug – Jettchen, Jason und Doktor Kößling kamen. Ferdinand machte erstaunte Augen, wer dieses fremde Gesicht wäre; doch Salomon ging sofort auf Doktor Kößling zu, der befangen vor diesen Lichtern und Menschen fast noch in der Tür stehengeblieben war, und bat Jason, ihn vorzustellen.

Es freue ihn sehr, Doktor Kößling kennenzulernen, und er hoffe, es würde ihm in seinem Hause gefallen. Es ginge ganz einfach zu; geistige Genüsse könne er ihm nicht bieten, das sage er ihm gleich, – aber er hätte gewiß genug von dieser Ware und verzichte gern einmal darauf. Früher wären alle möglichen Literaten und Theaterleute gern in sein Haus gekommen. Saphir und Glasbrenner, drüben sein Nachbar der Angeli, die Wolffs, Rellstab und Liber. Aber jetzt sei es ganz still geworden. »Fragen Sie nur meine Schwägerin da, die wird Ihnen schon Bescheid sagen«, setzte er augenzwinkernd hinzu, auf ein fern zurückliegendes Vorkommnis anspielend.

Jetzt kam auch Tante Rikchen und musterte Doktor Kößling mit einem Blick, den nur Frauen haben, und der sich über tausend Dinge zugleich informiert, tausend Fragen verfänglicher Natur stellt und beantwortet.

»Willst du mich nicht auch mit dem Herrn Doktor bekannt machen, Salomon?« sagte sie ziemlich obenhin, und in dem Ton lag ihr festes und abgeschlossenes Endergebnis über Doktor Kößling, der schon angeklagt, verhört und verurteilt war, ehe er ein Wort zu seiner Verteidigung beigebracht hatte.

Indes war Ferdinand auf Jettchen zugetreten, hatte sie umgefaßt und ihr zwei Küsse gegeben, rechts und links auf jede Backe einen. Jason küßte Jettchen nie. Ferdinand tat es stets. Er küßte Jettchen, wo er ihrer ansichtig wurde, zum guten Tag und zum Abschied, beim Mahlzeitsagen und zwischendurch. Er hielt das für sein onkelhaftes Recht und ließ es sich nicht verkümmern. Daß dem Recht auch irgendwelche Pflichten gegenüberstanden, daß es erworben werden muß, davon gab es bei ihm nichts. Er erzählte zwar Jettchen immer, wie sehr er ihren Vater, seinen Bruder, geliebt hätte, aber daß er einmal, gerade das eine Mal, wo es darauf ankam, diese Zuneigung zu beweisen, die Achseln gezuckt und die Hand auf die Tasche gehalten, davon schwieg er. Aber er hätte Jettchen damit auch keine Neuigkeit erzählt.

Tante Minchen trat hinzu.

»Jettchen, – laß dich mal ansehen! Gott, was haste dich fein gemacht! Was kost' der Linon? – Und von wo kaufste den?«

»Bei Salomon Gebert & Co., Tante. Hier gleich unten parterre links.«

»Schelmchen! Ich glaube aber, für mich wär' das nichts mehr. Es ist doch zu jugendlich für mich. Vor zehn Jahren hätt' ich noch so gehen können, aber heute bin ich doch nu 'ne alte Frau geworden. Aber du, Jettchen, du siehst hübsch drin aus, – wirklich schön! Es ist 'ne Freude, dich so anzusehen. Ganz einfach. Du brauchst dir nicht tausenderlei umzuhängen wie deine dicke Tante Hannchen. Einen hübschen Menschen mißkleidet eben nichts. – Haste schon von Minna gehört? Hab' ich dir schon erzählt? ... Komm ich doch gestern 'raus, steht doch das Stück von e Mädchen halbnackt in meine Küche und wascht sich!«

Da trat Jason zu Jettchen.

»Gott, Mädel, du siehst ja aus wie die Schönheit vom Lande beim Erntekranz ... mit deinen goldenen Ähren!

Die Städterin droht euch Dirnen den Krieg,
Und doppelte Reize behaupten den Sieg.«

Stichelte er lustig.

Tante Hannchen trat zu ihnen.

»Tag, Jettchen, ist das das Neue?« Aber sie kam nicht weiter in der Unterhaltung, denn sogleich belegte sie Tante Minchen mit Beschlag.

»Hab' ich dir schon erzählt von Minna? – Ja, also, komm ich gestern 'raus, steht doch das Stück halbnackt ...«

Und hier fand Tante Minchen die erste geduldige Zuhörerin.

Kößling war immer noch bei Salomon, der auf ihn einredete. Kößling blickte verstohlen und verwirrt zu Jettchen hinüber, die er halb vom Rücken sah, mit den weißen Schultern, mit dem schlanken Hals und der hohen Frisur. Gerade noch so sah er sie, daß er einen Teil von Kinn, Wange, Augen und Stirn umfassen konnte, an denen der Kerzenschimmer vorbeischoß und sie mit dünnen, goldenen Linien umzog. Schön und breit kamen die beiden Schultern aus dem Ausschnitt des Kleides, überspannt von zwei weißen, goldbestickten Achselbändern. Kößling war verwirrt und nicht so recht bei der Sache. Er hörte nur halb hin, wie Salomon von Boucher erzählte, dem Sokrates der Violinisten, wie man ihn nannte. Er hätte ihn noch gehört. Es wäre göttlich gewesen. Boucher hätte die Geige sogar auf dem Rücken gehalten und die Air von Bach gespielt. Mancher kann das nicht so, wenn er die Geige vorn hält. Er wisse nicht, was sie jetzt mit Liszt hermachten; ganz verdreht seien die Leute. Und nun die Frauen erst! Liszt wäre gewiß begnadet, aber er für sein Teil zöge Thalberg vor. Er wäre noch aus der Mozartzeit, und wenn er den Don Juan auch nicht so gut wie Bluhme gesungen hätte, er hätte eine ganz nette Stimme gehabt in seiner Jugend, und nur dadurch hätte er auch seine Frau kennengelernt und bekommen.

All das ging Doktor Kößling hier hinein und da hinaus. Kößling fühlte sich in seiner Umgebung nicht recht wohl, denn er erkannte sofort, daß es zwei Welten seien, seine und jene, und daß es nichts gäbe, worin sie sich berührten. Die hier hatten sich eben mit dem Leben als Tatsache abgefunden – wo und in welcher Gestalt es ihnen immer entgegentrat. Sie waren so beleidigend zufrieden alle. Was fehlte ihnen auch? Sie hatten genug, und sie wollten nicht mehr. Essen, Trinken, Musik, Literatur, alles reichte für das Haus hin. Die Unzufriedenheit, die Lebensangst, die ihn trieb, Glück und Stachel zugleich, war jenen fremd. Warum nur war er hierhergekommen?

Da zupfte Tante Rikchen Onkel Salomon, er möchte einmal kommen. Der entschuldigte sich, und Kößling stand allein da.

Auf Jettchen hatten sich Jenny und Wolfgang geworfen, die sich wie zwei Kletten rechts und links an sie gehängt hatten; und das sehr kleine, alte Fräulein mit dem Strickzeug und den Pudellöckchen versperrte ihr schnabbernd den Weg.

Jettchen stand lächelnd zwischen den dreien, die sie hoch überragte, und sah zu Kößling herüber, als ob sie ihn um Befreiung bäte.

Onkel Eli war indes auf dem Sofa leise eingenickt und saß, mit dem Kopf pendelnd, mit offenem Mund – während Tante Minchen still und treu seinen Schlummer behütete.

Der Schwede sprach mit Ferdinand, der so viel Schwedisch konnte wie jener Deutsch; und jedem entgingen die Spitzen und Feinheiten in der Rede des anderen. Sie bemerkten das nicht. Denn man pflegt doch nur gern sich selbst zuzuhören.

Jason wurde durch Tante Hannchen festgehalten; aber er machte sich los, als er Kößling allein sah.

»Na, Kößling, wie gefällt's Ihnen hier? Nicht wahr – ganz nette Leute? Nur einen Fehler haben sie: sie nehmen sich selbst und untereinander so furchtbar wichtig und ernst. Sie legen all ihren Angelegenheiten eine hochpolitische Bedeutung bei. Sehen Sie da, meine Schwägerin da drüben, die Frau von meinem Bruder Ferdinand. Sitzt sie nicht da in ihrem Stuhl – wie Exzellenz bei Boucher? Und dabei hat sie nichts, gar nichts weiter in die Ehe gebracht wie einen Magenkrampf ins Schnupftuch gebunden. Und selbst das Schnupftuch war schon ein bißchen geflickt.«

Kößling lachte.

»Ein Berliner Witz ist doch mehr wert als 'ne schöne Gegend, sagt schon Hegel.«

»Sehen Sie da drüben meinen Bruder Ferdinand? Der da. Na, wir sehen ja alle gleich aus. Nicht wahr, das leibhafte Philistertum meinen Sie! Dabei, Doktor, der ist noch heute ein Durchgänger wie nur einer. Hören Sie, Kößling, wie wir zusammen bei Pinchen in der Klosterstraße wohnten, hat er, wenn er abends nach Hause kam, schon immer im Dunkeln auf seinem Schreibtisch getastet, ob nicht wieder die langen Briefe mit den Alimentenklagen daliegen. So einer ist mein Bruder Ferdinand gewesen.«

»Hören Sie mal, Herr Jason Gebert, Protektor der Musen und Grazien, ich schätze Sie sonst sehr, aber ich glaube, daß hier doch nicht der rechte Ort ist, um mich in alle Ihre Familienintimitäten einzuweihen. Ihre Nichte Jettchen guckt nämlich schon zu uns herüber.«

»Mädchen, komm her, mein Liebling!« rief Jason.

Jettchen kam zu ihm herüber aus ihrer Sofaecke, in die sie die drei gedrängt hatten. Die beiden Kinder zog sie mit, und jedes, Wolfgang und Jenny, muschelten sich mit schrägem Kopf an eine Seite zwischen Arm und Mieder hinein.

»Na, siehst du, Jettchen, ich habe ihn doch noch mitgeschleift; er wollte nämlich nicht. Sehen Sie, Kößling, das sind die Kinder von Ferdinand ... Junge, gibt man dir denn auch ordentlich zu essen? Wie siehst du denn aus«, sagte Jason und legte Wolfgang die Hand auf den Kopf. »Du mußt mal 'raus hier. Den ganzen Sommer. Na, – und was macht denn die Schule? Εστητι Εστητι Εστητι«

Das blasse Gesichtchen von Wolfgang wurde noch einen Grad ernster.

»Na, lassen wir das«, lenkte Jason ein. »Wozu immer vom Geschäft sprechen! Weißt du, wenn du mal nächstens zu mir kommst, kriegst du ein paar hübsche Bücher. Ich gebe dir, ›Hinkel, Gockel und Gackeleia‹. Also hol's dir mal.«

»Wann kann ich kommen?« sagte der blasse kleine Kerl und seine Augen leuchteten. Denn wie alle, die sich hier in dieser Welt nicht zurechtfinden können, lebte er in einer anderen, schöneren, in der es keine Prügel gab, keine unregelmäßigen Verben auf μι, ja, nicht einmal regelmäßige; und die Bücher, die er heimlich las, trugen ihm Bausteine zu dieser zweiten Welt zusammen, in der er Kulissen und Soffitten nach Wunsch und Willen verstellen konnte.

»Nun, Mademoiselle Jettchen, darf ich fragen, wie Sie die Stunden bis jetzt verbracht haben?«

»Ich war fleißig und habe auch ein bißchen gelesen.«

»Was? Wenn ich fragen darf.«

»Jean Paul, ›Aus dem Immergrün unserer Gefühle‹. Kennen Sie es?«

»Gewiß, ich kenne meinen Jean Paul schon.«

»Lieben Sie ihn?«

»Gewiß, er ist einer der Feinsten von allen. Altmodisch, umständlich, unmodern, aber welch ein Geist! Er klebt mehr am Boden als die anderen, und doch ragt er dabei höher in die Wolken.«

»Und Wilhelm Meister?« warf Jason ein.

»Nein, ich ziehe mir Jean Paul vor. Hier, das, was da ganz tief in uns drin sitzt, hat mehr davon. Jean Paul ist auch etwas für die, die verneinen, Goethe nur für die, die bejahen.«

Jettchen sah ihn erstaunt an. »Verneinen Sie?«

Kößling lachte. »Das ist nicht im Augenblick zu beantworten. Voll verneinen tut wohl niemand. Dadurch, daß wir anwesend sind, – bewußt anwesend an dieser zweifelhaften Stelle, bejahen wir schon. Aber wenn ich voll bejahen würde, dann gehörte ich eben nicht zum Federvieh, – dann würde ich Matrose sein oder Gärtner oder Seidenwarenhändler.«

Das letzte Wort war ihm so entfahren.

Jettchen wurde rot, und Kößling wollte sich entschuldigen, fand aber nicht das Rechte.

Da kam Tante Rikchen und bat, man möchte Platz nehmen.

Onkel Eli fuhr bei der plötzlichen Bewegung, die in die Gäste kam, von seinem Schlummerplatz auf, daß ihm beinahe die Perücke vom Kopf fiel, die er sich schnell mit einer kurzen Handbewegung wieder zurechtrückte.

»Kößling soll Jettchen führen«, sagte Tante Rikchen. – Und so setzten sie sich alle um den langen Tisch; Jason, Jettchen, Kößling kamen nebeneinander, geradeüber von Rikchen und Salomon, Ferdinand neben den Schweden, und das Fräulein mit den Pudellöckchen zu den Kindern, mit denen sie einen Schlachtplan schmiedete: sie würde sich recht viel Kompott nehmen und den Kindern davon heimlich etwas zuschieben, das würde keiner sehen.

Ferdinand mußte raten, was der Hecht gekostet hätte. Er war darin Kenner und riet selten zwei und einen halben Groschen zu hoch oder zu tief. Er traf den Nagel auf den Kopf. Zum Lohn dafür legte er sich auch sehr, ja allzu wacker vor, daß Tante Rikchen bis in die Haarwurzeln erbleichte, weil sie fürchtete, es möchte nicht langen.

»Sst! Ferdinand!« rief Jason über den Tisch, »du weißt, du kannst es nicht vertragen!«

Ferdinand quälte sich immer ein bißchen mit Leber und Galle herum.

»Nachher stehst du wieder am Brandenburger Tor an die Säule gelehnt, wie Licinius, und dann singe ich: ›Hier an Vestas Tempel treff' ich, Licinius, dich, früh eh' der Morgen graut!‹ Und du antwortest mir dann: ›Wirst du loslassen? – Nein, ich will nicht!‹« Das letzte sang Jason zum Gaudium des Kindertisches in dem Ton einer Arie aus dem Don Juan. »Und morgen, morgen liegst du dann wieder da, wie die Plötze auf der Aufschwemme!«

Ferdinand fühlte sich unter dieser Anzapfung nicht wohl. Aber augenblicklich hatte er zu viel damit zu tun, die Gräten zu vermeiden, um sich auf Rede und Gegenrede irgendwie einlassen zu können.

»Höre mal, Jason, hast du etwas über das Befinden unseres Königs gehört? Du bist doch sonst der wandernde ›Beobachter an der Spree‹!« unterbrach Salomon die Gesangssoli seines Bruders.

»Ich weiß nichts Neues.«

»Es soll ihm aber nicht gut gehen.«

»Na, er ist doch nu alt genug. Mal werden wir eben alle mit 'nem offenen Mund daliegen«, versetzte Jason gleichgültig.

»Ich halte das nicht für heilsam für uns«, orakelte Ferdinand und fischte nach einer Gräte.

»Warum?« fragte Jason.

»Na, wer weiß, was wir dann für einen kriegen!«

»Ich glaube, daß der Kronprinz noch unsere einzige Hoffnung ist«, warf bescheiden, aber bestimmt Kößling ein. »Er weiß, was die Zeit will und was ihr fehlt.«

»Jawohl«, sagte Ferdinand spöttisch und machte hierzu die Handbewegung des Glashebens.

»Aber was willst du denn, Ferdinand?« rief Jason lustig, »wenn du den Weinkeller hättest, torkeltest du schon des Morgens beim Zähneputzen!«

Man lachte. Das brachte Stimmung in die Gesellschaft.

Tante Rikchen aber war empört und sagte, sie wolle so etwas gar nicht hören, – das wäre ja demokratisch.

»Na, Schwägerin«, rief Jason, »du glaubst wohl, auch noch, daß die Monarchie die normale, von Gott gewollte Form des Staates ist?«

Die Kinder kicherten und quiekten am Tafelende und bedrängten das Fräulein mit den Pudellöckchen, daß es beinahe vom Stuhl fiel. Sie riefen Johann laut und vertraut zu, der Lohnkutscher bei Ferdinand war und hier heute mit bediente. Er hatte eine grüne Livree an, roch nach Stall und balancierte in den weißbehandschuhten Pranken eine Riesenschüssel so geschickt, daß er mit beiden dicken Daumen in die Soße stippte.

»Einen Witz habe ich heute gehört –«, begann Salomon, »großartig! Mein Lebtag werde ich ihn nicht vergessen!«

Alles schwieg und lauschte.

Onkel Salomon aber war auch ganz still geworden.

»Na?« sagte Jason erwartungsvoll, denn er war stets williger Abnehmer dieser Ware.

Salomon knabberte an der Unterlippe: »Herrgott noch mal, Rikchen, wie war es doch gleich?«

»Aber Salomon, den kannste doch hier gar nicht erzählen«, entgegnete Rikchen.

»Ach, Schäfchen, den meine ich ja gar nicht, ich meine doch den anderen.«

»Aber den haste doch gar nicht erzählt, Salomon!«

Hier quiekte Jenny ungebührlich, und Vater Ferdinand fuhr auf, um Beweise seiner väterlichen Macht zu geben.

Jenny sollte nicht weiter bei Tisch essen, wenn sie sich nicht danach betragen könnte. Johann sollte sie entfernen. – Aber dagegen erhoben die anderen Einspruch, und Jenny blieb, vergnügt kichernd unter den strafenden Blicken ihrer Eltern.

»Aber der Prinz Wilhelm soll recht krank sein«, nahm nach einer Pause Ferdinand das Gespräch von vorhin auf.

»Ich glaube, um Gans wäre es mehr schade, der wird wohl dran glauben müssen. Prinzen haben wir eigentlich nachgerade genug.«

Darauf bemerkte Rikchen, daß sie solche Reden in ihrem Hause nicht dulden könnte. Aber Salomon meinte, daß Jason ganz recht hätte. Gans wäre auch ein besonderer Mensch – trotzdem er sich hätte taufen lassen. Und Ferdinand erzählte, wie die Mutter zu Gans gesagt hätte, kurz nachdem er übergetreten wäre: Eli, wackel nicht immer so mit 'n Stuhl, du megst hinfallen, und du weißt, dein ›Kreuz‹ is noch schwach.

Kößling kannte den Witz nicht und lachte sehr. Er fühlte sich jetzt behaglich. Er saß so dicht neben Jettchen, die mütterlich auf sein leibliches Wohl bedacht war. Auch sprachen sie heimlich und leise zusammen. Jason, Jettchen und Kößling. Sie schienen einen geheimen Dreibund hier gebildet zu haben, und wenn einer den anderen ansah, so sagte eigentlich schon der Blick: wir verstehen uns. Und Kößling sah Jettchen viel an. Offen und frei – und heimlich, verstohlen und unbemerkt, wie er meinte, von der Seite.

»Du willst nach Karlsbad, Salomon?« fragte Ferdinand.

»Ja, vielleicht schon nächste Woche. Der Geheimrat sagt, es wäre nötig. Ich will bloß erst noch für Rikchen 'ne Wohnung in Charlottenburg mieten.«

»Höre mal, ich hätte da einen sehr guten Landauer für dich – er muß nur noch einmal überlackiert werden. Ich lasse ihn dir für die Zeit für fünfundzwanzig Taler, – unter Brüdern kostet er sonst fünfzig.«

»Damit erkennst du also Salomon nur als deinen Halbbruder an«, mischte sich Jason in den Handel.

»Weißt du, Ferdinand, ich wollte gerade mal 'n Stück mit der Eisenbahn fahren.«

»Ich begreife dich nicht«, rief Ferdinand, »wenn Jason das täte, der doch nach niemand zu fragen hat, – aber du als verheirateter Mann... Bisher bist du doch ganz gut so gereist, – und da willst du dich mit einmal auf deine alten Tage auf solche Sachen einlassen?«

»Ja«, warf Onkel Eli ein, »de Sach mit de Eisenbahn is doch, wie ich dir sage, e aufgedeckte Pleite!«

»Laß nur, Ferdinand«, beschwichtigte Rikchen, »er sagt das nur so; ich weiß, er tut's schon meinetwegen nicht.«

»Warum?« fragte Salomon ziemlich brüsk.

Aber Rikchen kam nicht dazu, zu antworten, denn plötzlich sprang Minchen mit ihrem ganzen Körper in die Bresche des Gesprächs.

»Denke dir, Rikchen, ich wollte doch noch vorhin von meine Minna erzählen. Da bin ich schön angekommen! Komm ich doch neulich 'raus, steht das Stück von e Mädchen halbnackt in meine Küche und wascht sich.«

»Nu – und warum werde ich zu so was nicht zugezogen?!« rief Ferdinand.

»On ne parle pas en présence de la servante«, sagte Rikchen mit Augenblinzeln und unter Zuhilfenahme des letzten Restes ihrer französischen Kenntnisse.

»Aber seit wann sprichst du denn Kolonie-Französisch?« warf Jason belustigt ein. Und Rikchen entgegnete ihm dafür mit einem Blick, der wie eine bittere Pille eine Zuckerhülse hatte.

Doch sei es nun, daß Tante Minchen dieses Französisch wirklich nicht verstand und ebenso für die Augensprache bei ihren vorgeschrittenen Jahren schon unzugänglich war, – sie ließ sich nicht einschüchtern und begann die Erlebnisse mit Minna in allen Einzelheiten zu schildern, zur großen Freude von Wolfgang und Jenny, die sich darob in den väterlichen Zorn geschwisterlich zu teilen hatten.

Diese Rede Tante Minchens erinnerte Tante Rikchen, daß auch sie einiges auf dem Herzen hätte, und sie machte es wie ein Kind, dem eine Sandburg zerstört wird. Sie hüpfte selbst jubelnd mit beiden Füßen in das Gespräch und wartete hierzu nur auf den Augenblick, da ihre Minna das Feld geräumt hatte. Dann setzte sie auseinander, warum das mit der auch nichts auf die Dauer wäre. Sie wäre so ungeschickt, daß sie das, was sie mit den Händen machte, sicherlich mit den Füßen wieder umstieße. Und neulich sei sie mit der Butter gegen die Wand gerannt; da sähe man noch den Fleck neben der Tür. Und außerdem wäre sie nichts Geringeres wie eine Kanaille. Denn als sie, Tante Rikchen, letzthin in der Küche gewesen wäre, hätte der Schlächtergeselle von unten Erbsen gegen die Scheiben geworfen. Und eine Wäsche hätte sie gewaschen, – als ob sie im Rinnstein geschlemmt und im Schornstein getrocknet worden wäre. Das also wäre wohl nichts für ihren Haushalt.

Hannchen wartete nur darauf, daß Rikchen einmal Atem schöpfte, dann sprang sie ein.

»Oh, ich bin sehr zufrieden. Ich habe jetzt ein entzückendes Mädchen, – von der kann man wirklich was lernen. Ich sehe nur immer zu, wie sie Eierkuchen bäckt. Ferdinand sagt, er hätte noch nie solche Eierkuchen gegessen, nicht einmal im ›Schwan‹.«

»Entschuldige, Hannchen, die vorgestern waren galstrig!« rief Ferdinand empört. Aber Hannchen achtete den Einwurf nicht.

»Und es ist ein so anständiges Mädchen. Ihr Onkel ist sogar Schornsteinfegermeister in Landsberg an der Warthe. Und denke dir, Rikchen, sie ist noch nie im Tiergarten gewesen!«

Jason war der Zusammenhang zwischen der Tugend des Mädchens und dem Tiergarten unerfindlich, und er äußerte sich dahin zu seinem Nachbar.

Aber Tante Hannchen sollte sich nicht lange ihres Sieges freuen. Denn Ferdinand sagte, sie möchte die Leute mit ihrem Geschwätz nicht aufhalten, und begann eine sehr interessante Geschichte von Hanne Böhm, dem Sohn vom Fuhrherrn Böhm, der so vorzüglich kutschierte, daß, während er durch den langen, dunklen Hausgang führe, er die Zügel in die Linke nähme und sich noch mit der Rechten die Stiefel anzöge. Er hätte das selbst gesehen. Darauf erzählte er, wie er einmal Estafette geritten wäre, sechs und eine halbe Meile in nicht zwei Stunden.

Das war Wasser auf die Mühle von Onkel Eli, und er berichtete Stückchen aus seiner Jugend, Reiterscherze eines Seydlitz; und sogleich waren Ferdinand und Eli aneinandergeraten, und jeder versicherte dem anderen, daß er nichts von Pferden und Reiten verstände.

Der alte Onkel Eli kollerte wie ein Puter, und Jettchen und Jason waren sehr belustigt ob seines Zornes.

Da aber das Zwiegespräch zwischen Onkel und Neffe recht persönliche Wendung nehmen wollte und auch die Frauen für und wider Partei ergriffen, beschloß Jason die Unterhaltung in etwas andere Bahnen zu lenken und sagte so ganz freundlich und obenhin zu Hannchen: »Na, Schwägerin, wie geht's Euch denn? Ich brauch' Euch ja gar nicht zu fragen, – Ihr geht ja auf wie 'n Hefekloß. Aber sagt mir bloß das eine, Hannchen, was gebt Ihr denn nur den Jungens zu essen? Die sehen ja wirklich und wahrhaftig aus wie Braunbier mit Spucke.« Das sagte er mit ganz verbindlichem Lächeln.

Es war Tusch. Hannchen bat Ferdinand, sie doch gegen derartiges in Schutz zu nehmen, und appellierte an Rikchen, sie möchte doch dafür sorgen, daß sie in ihrem Hause nicht beleidigt würde.

Aber Jason saß da, vergnügt und lächelnd, und sagte, er habe niemand zu beleidigen die Absicht gehabt, und er wäre der erste, der sich freue, wenn er keinen Grund zu der Frage hätte. Es wäre aber wirklich ein Jammer, wie die Jungen aussähen, gerade als ob sie nicht satt zu essen kriegten.

Darauf versicherte Hannchen, daß sie keine Rabenmutter, vielmehr eine echte und rechte Pelikanmutter wäre, wozu sie auch nach ihrer Figur sich mehr zu eignen schien, das heißt, sie sagte das nicht wörtlich, aber wenn man den Inhalt ihrer drei Minuten währenden Verteidigung nahm, so ließ er sich auf diese einfache Formel zurückführen.

Da nun auch dieses Thema drohte, brandig zu werden, so begann Salomon mit einem »Kinder, red't nicht so viel, de Gräten!« von der neuen Kunst des Daguerre zu sprechen, und ob das wohl Aussichten hätte oder nur eine Spielerei wäre, ebenso wie Riddles Universalfederhalter, der auch sehr hübsch aussähe, aber für das Geschäft sich als absolut unbrauchbar erwiesen hätte.

Darauf meinte Kößling, daß er glaubte, die Sache, welche an sich ja höchst wunderbar sei, würde bei einiger Vervollkommnung sicherlich eine Zukunft haben, wenn man erst dahin käme, Menschen damit aufzunehmen. Graf Pückler hätte ja ein österreichisches Bauernmädchen photographiert, und die Ärmste hätte eine halbe Stunde still gesessen, dafür wäre es aber auch sehr naturgetreu geworden. Man könne noch gar nicht absehen, was diese neue Erfindung bringen möchte; – jedenfalls könnten wir doch jetzt erfahren, wie die Dinge eigentlich aussehen.

Ferdinand sagte, er hätte bei Dörfell ein Bild vom Geländer der Puppenbrücke gesehen, die Sache wäre blitzblau gewesen, und man hätte kaum etwas darauf erkennen können. Die Sache wäre ein Schwindel wie alles, was aus Frankreich käme.

Jason kam Kößling zu Hilfe: »Ob die Erfindung Daguerres etwas taugt, muß die Zukunft lehren, ich meine aber eher ja wie nein. Daß die Möglichkeit gegeben ist, durch das Licht selbst ein Bild zu schaffen, ist schon Erfolg genug. Was du da aber gegen Frankreich sagst, ist doch wohl gegen deine Überzeugung. Wo kriegst du denn die Modelle zu deinen Chaisen her, he? Und Salomon seine Seidenstoffe und Muster?« Er war ordentlich rot geworden, ganz gegen seine Art.

Wer weiß, welchen Sturm noch die Zukunft von Daguerres hochbedeutsamer Erfindung heraufbeschworen hätte, wenn nicht der Braten eine willkommene Unterbrechung der Rede gegeben hätte, denn, man mochte gegen Rikchen sagen, was man wollte: sie gab gut. Das mußte selbst Jason zugestehen. Ihre Braten waren weit berühmt und ihre Mürbekuchen und die gezuckerten Früchte nicht minder. Es war nicht bei ihr wie bei Hannchen, wo man sich fürchtete, zuzugreifen, weil die anderen doch auch noch etwas haben wollten, sondern man fragte sich erstaunt, in welchem Lande es denn Kälber gäbe mit Keulen des Kalibers, – und was die Mädchen herausbekamen, war noch so viel, daß jede von ihnen all ihre vereinigten Bräutigams hätte zu Gast laden können.

Jason sollte tranchieren, sagte aber, das würde er nicht tun: es wäre doch hier nicht wie in England, wo der Hausherr die Keule am Knochen fasse, sie fünfmal unter Geheul um seinen Kopf schwenke und dann jeden einmal abbeißen ließe.

Hannchen fragte erstaunt: »Ist das wirklich so?«

Ferdinand mußte wieder raten, wieviel der Braten wog, und Rikchen wurde fast doppelt so breit vor Stolz und Freude, als er ihn noch um zwei Pfund zu niedrig abschätzte.

Von jetzt an war die Stimmung weniger kriegerisch, denn eine gute Scheibe Braten pflegt weit beruhigender als ein Stück Fisch auf das Gemüt eines jeden Cholerikers zu wirken – und es waren hiervon zufällig einige beieinander.

Man sprach vom Theater, und Ferdinand sagte zu Kößling, er würde wieder ins Königsstädter gehen, den Tag, wo sie da kein Stück aus dem Französischen aufführten, und mit dem Schauspielhaus wäre es doch auch nichts mehr. Immer, wenn man denkt, sie werden »Nathan den Weisen« spielen, spielen sie ausgerechnet »Er requiriert« von Ludwig Schneider. Das einzige, was ihm gefiele, wäre das Theater in Steglitz, da könne man wenigstens ruhig rauchen. Und die Oper wäre jetzt nur noch ein permanenter Lärm; ohne Pauken und Trompeten und Elefantengetrampel ginge es gar nicht mehr. Gluck hätte das nicht gebraucht, und die Iphigenie wäre trotzdem ganz gute Musik. – »Oder ist vielleicht Mozart schlecht?«

Ferdinand sagte das in einem Ton, als ob Kößling selbst Nurmahal und Olympia geschaffen oder zum mindesten Spontini hierzu inspiriert hätte, während Kößling versicherte, hieran kinderunschuldig zu sein, da er als Verehrer Beethovens auf einem anderen Boden stehe.

Trotzdem Ferdinand auch hiermit nicht einverstanden war, so mußte er doch vorerst seine Einwendungen etwas zurückdrängen, weil zwischen Jenny und Wolfgang eine Meinungsverschiedenheit sich ausbreitete, die über dem Tisch mit bösen Blicken und unter dem Tisch mit Fußtritten sich kundtat. Denn Wolfgang behauptete, und nicht zu Unrecht, daß Jenny sich in die Gunst des Fräuleins mit den Pudellöckchen geschlichen und sie so bewogen hätte, ihn mit dem Kompott zu benachteiligen. Und es wäre doch keine Kleinigkeit, wenn man statt der eingemachten Mohrrüben, die man zu Hause bekäme, hier in gezuckerten Erdbeeren, schwarzen Nüssen und säuerlichen Quitten sich baden könne. Aber, wie das so geht, die höhere väterliche Instanz gab Wolfgang unrecht, ohne erst den Sachverhalt lange zu prüfen, und wollte den Frevler mit einem Katzenkopf vom Tische schicken. Nur dem mannhaften Eintreten Jasons gelang es, daß ihm wenigstens der Rest seiner Strafe erlassen wurde. Den Katzenkopf aber hatte er, und keine Gewalt der Erde hätte ihn ungeschehen gemacht. Aber Wolfgang war auch schon mit diesem Erfolg zufrieden.

Max hatte sich während der Tafel sehr zurückhaltend gezeigt und am Gespräch kaum teilgenommen. Nur, sobald von Literatur die Rede war, hatte er mitleidig gelächelt, denn er hielt sich für den kommenden Mann. Diese seelische Zurückgezogenheit war einzig einer erhöhten Anteilnahme gewichen beim Anblick des Hausmädchens, das mit bloßen rosigen Armen die Schüsseln herumtrug. Und seine ernsten, weltschmerzlichen Züge erhellten sich jedesmal, sowie sie wieder in das Zimmer trat.

Nun bemerkte Jason, daß er nicht mehr länger sitzen könne; man möchte in Rücksicht auf sein lahmes Bein und auf Ferdinands Magen die Session etwas abkürzen. Auch müßte Ferdinand sonst aus seinem Betrieb den Hebebaum herumholen lassen. Und Salomon sagte, Rikchen möchte Gnade vor Recht ergehen lassen und Kuchen, Obst und Speise und was sie sonst noch im Hinterhalt hätte, bis nachher versparen. Man würde es auch im guten Zimmer essen und sich bemühen, es nicht auf den frisch gehöhnten Fußboden zu werfen.

Und man ging herum und schüttelte sich die Hände und wünschte einander gesegnete Mahlzeit und noch sonst alles Gute, geradeso, als ob man etwas Besonderes getan hätte; und Ferdinand versäumte nicht, Jettchen auf natürliche Art den Mund zu wischen, was ja gar nicht nötig war, da sie es schon vorher mit der Serviette besorgt hatte. Jettchen aber ließ diese Prozedur über sich ergehen, so ungefähr, wie ein vernünftiger Mensch sich ruhig vom Zahnarzt behandeln läßt. Jedoch als Jenny an ihr hochsprang und nach einem Kuß haschte, war sie schon weniger spröde und drückte und herzte sich mit dem Kinde herum, daß es eine Freude war, es zu sehen.

Kößling hielt sich in der Nähe von Jettchen. Jason, der erst seine Schwägerin Hannchen beruhigen mußte und sie seines unverbrüchlichen Wohlwollens versicherte – denn es ist immer besser, man steht sich mit den Frauen gut, als man hat sie zu Feinden –, kam dann zu Kößling, der schon wieder allein war. Jettchen und Jenny waren nämlich in die gute Stube gegangen, die Lichter anzuzünden.

»Na, lieber Freund«, rief er, »wie fühlen Sie sich hier? Wenn die Menschen so gut wären wie das Essen – nicht wahr? Aber es ist nichts mehr; mit den Geberts geht's 'runter! Von uns ist schon keiner mehr das, was der Vater war. Es hat auch keiner mehr das Ansehen in Berlin; sie haben sich eben verplempert – meine Herren Brüder. Das sehen Sie ja an den Jungens. Was ist denn das für 'ne Gesellschaft? – Wie Braunbier und – –«

»Ich weiß schon, Herr Gebert, ich weiß schon!« fiel Kößling ein, da Jason wieder dabei war, seine Stimme zu heben. Aber der ließ sich nicht einschüchtern. »Keine Rasse mehr, gar keine Rasse mehr!« rief er. »Und alles nur durch diese verfluchten kleinen litauschen Pferdchen da.«

Da kam Tante Rikchen und fragte Kößling, ob er auch satt geworden wäre. Es gäbe nicht mehr viel. In ihrem Hause müßte sich jeder selbst bedienen. Sie hoffe, daß Kößling das getan habe, sonst wäre es eben diesmal sein eigener Schade.

Kößling versicherte, daß Madame Gebert keinen Grund hätte, zu befürchten, daß er den virtuosen Proben ihrer Kochkunst zu wenig Ehre angetan hätte. Da aber stieß Jettchen die Tür weit auf, stellte sich auf die Schwelle, so daß der Schein von den Kronen und von den Lampen hell an ihr vorbei in das Eßzimmer drang, und bat, man möchte doch hereinkommen.

Das tat man. Allen voran Onkel Eli. Auf dem Fußboden glänzten hundert Lichter, und die weißen Möbel spiegelten sich in dieser Glätte. Der weite, hellgrüne Raum mit seinen seidenbespannten Wänden war ganz von Kerzengold erfüllt, und alles sah schön blank, hübsch und freundlich aus. Die Uhren mit dem Pfeil schleifenden Amor und dem sentimentalen Türken tickerten geschäftig, und auf dem braunen Tafelklavier sammelte sich aller Schimmer und alles Blitzen. In der einen Ecke stand jetzt ein breiter Spieltisch, während auf dem Eßtisch und den Konsolen an der Wand umher die Tassen, die feinen zerbrechlichen Teetäßchen aufgestellt waren neben den Obstkörben von durchbrochenem, blätterüberranktem Porzellanwerk, und bei den silbernen Kuchenschalen mit stolzen Pyramiden aus Mürbekuchen.

Onkel Eli ging sofort auf die Kuchenschalen los, faßte bei ihnen Posto und nahm ein gelbbraunes Blättchen mit spitzen Fingern, dem er in gemessenen Zwischenräumen weitere folgen ließ.

»Ich esse gern Kuchchen«, sagte er zu Kößling, der an ihm vorüberging, um mit Jettchen zu plaudern – denn Onkel Eli fühlte sich genötigt, den Gast auch einmal ein wenig zu unterhalten. – »Wirklich, Herr Doktor, ich esse gern Kuchchen. Erstens bekommen se mir gut, ich kann sie noch am späten Abend essen. Zweitens schmecken sie mir gut – nicht alle zwar... aber die hier! – Und drittens sind sie billig. – Die hier zum Beispiel kosten mir gar nichts – nehmen Sie doch auch ein Kuchchen, Herr Doktor!«

Kößling sah erstaunt und belustigt dem Dauerlauf Onkel Elis zu. »Na, Herr Gebert! – hier hieß alles Herr Gebert –, »wenn sie Ihnen nur bekommen werden.«

»Wissen Sie, lieber Herr Doktor. Mürbekuchen kann man noch essen, wenn der Leichenwagen schon vor der Tür steht. – Und, wenn wirklich nicht«, setzte der Alte bedächtig hinzu, »schön – es soll mir also nicht bekommen! Dann habe ich eben noch mal Kuchen gegessen!«

Kößling war mit dieser Philosophie einverstanden. Es hätte sogar wenig gefehlt, so hätte er dem Alten auf die Schulter geklopft und ihm gesagt, daß in dieser Erkenntnis eigentlich die Quintessenz des irdischen Wohlbehagens läge; aber er besann sich und tat es nicht.

 


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