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Erst ganz spät am Vormittag wachte Jettchen auf. Sie wußte gar nicht recht, wo sie war, und dann kam es langsam über sie, all das vom gestrigen Abend und von der Nacht.

Aber kaum, daß sie sich ganz den Schlaf aus den Augen gerieben, und kaum, daß sie sich alles wieder genau ins Gedächtnis gerufen, da war auch eigentlich schon alles zunichte, vorbei und verflossen. Und der eigenwillige Strom war von neuem in das alte Bett geleitet worden.

In triefendem Regen kam die Tante schon wieder aus Berlin zurück; denn gegen Morgen hatte es sich bezogen von Spandau her, und bald hatte ein leiser Schauer eingesetzt, und jetzt sah es gerade aus, als ob das Wasser, das in breiten, klatschenden Güssen vom schrägen Dach schüttete, niemals mehr versiegen wollte und so bis zum Jüngsten Tage fortwirtschaften wollte. Und die Tante war naß geworden, trotzdem im Torwagen die Leder herabgelassen waren, und sie war, ganz gegen ihre Art, recht bedrückt und schweigsam. Sonst schnurrte sie ab wie eine Repetieruhr, aber heute bekam sie nicht die Zähne auseinander. Nun ja, ganz still war sie ja nicht; denn, wenn die Tante wenig sprach, nahm sie es immer noch mit jedem Mennonitenprediger auf; aber man fühlte, sie sprach nicht wie sonst aus Redebedürfnis, sondern eher, um ihr Schweigen weniger empfindlich zu machen. Von gestern abend jedoch erwähnte sie kein Wort.

Und Jettchen saß ihr gegenüber, hinten in dem kahlen Eßzimmer, dessen grüne Dunkelheit ihr noch nie so beängstigend erschienen war, und während sie fragte und antwortete, so unbefangen sie es vermochte, fühlte sie, daß in der Zwischenzeit sich irgend etwas Schlimmes für sie ereignet hatte, etwas Unabwendbares, etwas, das sie ganz und für immer aus ihrer Bahn stoßen würde. Und den ganzen Nachmittag schrieb Tante Rikchen an Salomon nach Leipzig einen langen Brief, während Jettchen mit einer Handarbeit still dabei saß. Und nachher, als Jettchen mit anschreiben wollte, sagte die Tante, daß leider gar kein Platz mehr wäre und daß der Brief sehr schnell fort müsse. Und sie ging selbst – trotz des Regens – und brachte ihn zur nächsten Poststelle.

Jettchen hätte zu gern der Tante von dem Ihrigen gesprochen. Sie sehnte sich danach, jemand zu haben, dem sie ihr Herz ausschütten könnte – aber wie sie sich so gegenübersaßen, fand sie nicht den Mut und nicht den Anfang. Mehr als einmal war ihr das Wort schon auf den Lippen, aber es blieb immer erstarrt und gefroren, und wenn sie der Tante ins Gesicht sah, das in seinem besorgten Ernst mit den kleinen schwarzen Rosinenaugen gar zu komisch sich ausnahm, dann dachte sie wieder traurigen Sinnes daran, daß sie doch jetzt schweigen müßte und daß es besser wäre, zu warten, bis der Onkel käme, und dem alles zu gestehen. – Der würde schon für sie beide eintreten, das wußte Jettchen...

Die gute Frau Könnecke hatte nämlich gestern – wie zu erwarten – die Tante sofort empfangen und gesagt, Fräulein Jettchen wäre mit einem Herrn weggegangen und würde wohl nicht so bald wiederkommen. Wenn sie auch gemeint hätte, daß sie zum Abend da wäre, das hätte jar nicht so ausjesehen. Aber Frau Könnecke hatte auch hinzugefügt, daß sie ja fast immer zu Hause wäre und daß sie den Herrn, der ein freundlicher blonder Mann wäre – denn sie hätte mit ihm gesprochen –, noch nie hier draußen gesehen hätte. Ob aber Fräulein Jettchen vormittags – wenn sie immer nach dem Park ginge – mit ihm nich da Treffpunkt hätte, das wüßte sie natürlich nich.

Und die Tante hatte darauf fast geweint, daß sie sich über Jettchen von fremden Leuten so etwas sagen lassen mußte – und die halbe Nacht hatte sie nicht geschlafen vor Sorge, und hundertmal hatte sie gewünscht, daß ihr Salomon doch da sein möchte, um Jettchen einmal ordentlich den Kopf zurechtzusetzen. Denn das ginge doch nicht, daß sie sich mit fremden Männern umhertriebe... was sich Jettchen denn dächte, daraus könnte doch nie etwas werden... davon könne doch wirklich gar keine Rede sein. Und in aller Herrgottsfrühe war die Tante dann wieder aufgestanden und war gleich – ohne etwas zu nehmen, denn sie konnte ja bei Bolzani ebensogut Kaffee trinken – zu Jason ins Geschäft gefahren. Hatte der den Menschen zu ihnen gebracht, so konnte er auch sorgen, wie sie ihn wieder los wurden.

Aber Tante Rikchens Geduld wurde da auf eine harte Probe gestellt, dem Herr Jason pflegte, wie der Hausdiener Gustav sagte, vor halb elf überhaupt nie ins Geschäft zu kommen, und in der Stunde bis dahin verbrodelte so manches von dem, was die Tante gegen Jason und über Jettchen und Kößling auf dem Herzen hatte, und die Unterhaltung zwischen Jason und Rikchen fiel bei weitem ruhiger im äußeren Kleid und bei weitem leiser im Ton aus, als man es zuerst erwarten mochte. Denn als Jason endlich kam – noch eine Viertelstunde später als sonst, geschniegelt und gebügelt, lustig und pfeifend war die Tante, die schon vor Ungeduld nicht mehr sitzen konnte und quecksilbrig im Privatkontor ihres Mannes hin und her trendelte, am Rand ihrer Kräfte und von einer schon mehr gottseligen Weichmütigkeit.

»Tag, Rikchen, was führt dich denn her?« fragte Jason halb ängstlich, halb verwundert.

Aber Tante Rikchen ließ Jason gar nicht Zeit, sich von seinem Staunen zu erholen. »Jason«, begann sie, nach Luft schnappend, »Jason – denk' dir, der Mensch, den du uns da mitgebracht hast, der ist doch gestern draußen in Charlottenburg gewesen.«

»Nun«, sagte Jason, – und jetzt ging er auf und ab. »Nun«, sagte er zwischen zwei Trillern aus der Ouvertüre zu Zampa. »Ich wüßte doch nicht, daß Geberts Charlottenburg gepachtet haben. Nach dem preußischen Landrecht kann man es keinem Menschen verbieten, daß er nach Charlottenburg geht; selbst dann nicht einmal, wenn ich den Menschen zu dir mitgebracht habe.«

»Ja«, sagte Tante Rikchen traurig und langsam, » meinetwegen kann er ja nach Charlottenburg kommen, so viel er will; aber der Mensch ist den ganzen Nachmittag mit Jettchen spazierengegangen bis spät in die Nacht hinein. – Ich hab' Jettchen gar nicht mehr kommen hören.«

Diese kleine Unwahrheit glaubte sich Tante Rikchen doch schuldig zu sein, um ihren Worten mehr Gewicht zu geben.

Jason blieb stehen und machte ein sehr nachdenkliches Gesicht und pfiff die Melodie, die er erst mit gespitzten Lippen getrillert, nun ganz leise und scharf durch die Zähne. »Soo«, sagte er, »so! Ist das denn das erstemal, daß Doktor Kößling draußen bei euch war?«

»Das weiß ich doch nicht.«

»Ja, was hat dir denn Jettchen davon gesagt?«

»Aber Jason, ich werde doch nicht mit Jettchen darüber sprechen! Und meinst du denn, sie wird mir was sagen? Da wäre sie ja schön dumm.«

»Ja«, meinte Jason und knabberte an seiner dünnen Oberlippe. »Liebe Schwägerin, da rede doch zuerst einmal mit Jettchen darüber – was soll ich denn eigentlich dabei tun?«

»Nun denke dir, wenn Salomon jetzt kommt – du weißt doch selbst, wie er an Jettchen hängt –, was soll ich da sagen?« meinte Rikchen ganz verstört und mit einer Miene, als ob sie schon morgen von Jettchen aus Großtante werden sollte. – – – Das brachte Jason außer Fassung.

»Glaubst du denn wirklich, daß da – ich meine –, daß da – verstehst du – irgendwie Grund zur Besorgnis ist? Sieh mal, ich kenne Jettchen, und ich kenne den Doktor Kößling, und da will mir das doch sehr fraglich erscheinen. Es ist ja möglich, Rikchen, daß sie aneinander Gefallen finden – aber mehr glaube ich...«

»Möglich!! – Er sagt möglich«, versetzte Tante Rikchen in einem Ton, als habe sie einen Geistesgestörten vor sich – »meinste vielleicht, ich habe das nicht schon lange kommen sehen?«

»Aber du kannst dich auch mal täuschen, liebe Schwägerin!«

Jetzt war es an Tante Rikchen, aufzuspringen.

»Ich mich täuschen? Habe ich mich in solchen Sachen je getäuscht? Ich weiß gar nicht, wie du dazu kommst, Jason, so was von mir zu sagen.«

Damit hatte sie Jason Gebert, dem die Lage anfing, peinlich zu werden – denn er sagte sich, daß er sich hier eine böse Suppe eingebrockt hätte –, den Humor wiedergegeben, und mit ihm hatte er auch sogleich seine alte Art wiedergewonnen, die Dinge nicht an sich herankommen zu lassen, sondern sie von oben herab zu behandeln.

»Du weißt, Gemahlin meines Bruders Salomon Gebert«, sagte er und stellte sich lustig und breitbeinig, beide Hände in die Taschen geschoben, vor die kleine, schnaufende Tante Rikchen, »du weißt, von je verehre ich deinen weiblichen Scharfsinn, der gerade in solchen delikaten Dingen, wie diese es sind, derenthalben du dich hierher bemüht hast, sogar schon oft eine wunderbare divinatorische Gabe gezeigt hat, indem er das sah, was noch nicht vorhanden war, aber immerhin werden konnte. Und was meinst du nun, liebe Freundin, soll dagegen getan werden, daß dieses Mal deine Prophezeiungen sich nicht erfüllen?«

»Er redet immer von Prophezeiungen! Mir ist die Sache leider, leider blutig ernst, und er tut, als ob es gar nichts auf sich hätte. Erst bringt er mir den Menschen ins Haus, und nachher, wie's Unglück geschehen ist, steht er einfach da mit de Hände in de Hosentaschen.«

Wenn Tante Rikchen erregt war, brachen bei ihr die Klänge ihrer Heimat durch, die sie sonst so gut zu verleugnen wußte.

Jason lachte, denn die kleine, dicke Tante Rikchen da unten sah in ihrer Verzweiflung, die ihr so gar nicht zu dem runden Eierkuchengesicht stehen wollte, wirklich sehr lustig aus.

»Nun, und was soll ich denn eigentlich dabei tun, schöne Frau?«

»Er fragt?! Du mußt zu dem Menschen gehen und sagen, er soll nicht mehr kommen. Das ist jetzt deine heilige Pflicht, Jason, – das bist du uns schuldig.«

»So, und wenn du dich nun doch –?«

»Schön, lieber Jason, wenn du nicht willst, dann werde ich gehen«, sagte Tante Rikchen mit einer Bestimmtheit, als ob sie solche Wege alle Tage unternähme und längst wüßte, wo denn der Delinquent im Straßennetz Berlins aufzufinden sei.

»Höre mal, Rikchen, Doktor Kößling, glaube ich, empfängt – soweit ich ihn kenne, keine ihn kompromittierenden Damenbesuche ... aber lasse mich mal reden – – –«

»Nein, bitte, laß mir mal reden.«

»Höre mal, liebes Rikchen, wenn du dich der Rednerliste nicht fügen willst, so werde ich Schluß der Debatte beantragen und zur Tagesordnung übergehen.«

Aber Tante Rikchen war zu aufgebracht, um sich an parlamentarische Formen, Grammatik, Hochdeutsch oder sonst etwas von der Welt zu halten, und sie hatte sich auch jetzt schon viel zu gut von ihrer Wartezeit erholt, um zu allem zu schweigen. – Und was also auch Jason ihr entgegenhalten mochte, sie kodderte unbekümmert dazwischen.

»Schön«, meinte Jason endlich, »ich bin zwar der Ansicht, es ist übrig. Aber wenn du es durchaus willst, werde ich – schon, um dich zu beruhigen – einmal zu Kößling gehen und ihm ganz leise auf den Zahn fühlen – den Gefallen will ich dir tun –. Aber entschuldige mich jetzt, ich muß wirklich die Post durchsehen.«

Und damit geleitete er – ohne sich auf weitere Unterhandlungen einzulassen – Tante Rikchen zur Tür, und Tante Rikchens Redestrom floß noch immer weiter, als sie schon halb auf der Straße war und Jason schon längst bei der Korrespondenz über die Remisse von Bauke & Tulpenthal aus Frankfurt saß, die behaupteten, ein gelbes Sergedessin mit roten Tupfen und keinen moosgrünen Atlas mit gelben Kreuzchen bestellt zu haben.

Und während die Tante noch bei Bolzani war, um – jetzt schon wieder recht guter Dinge (denn sie war entlastet) – ihren voll verdienten Morgenimbiß nachzuholen, machte sich Jason auf den Weg zu Doktor Kößling, beklommen und unerfreut. Er glaubte ja nicht, daß sich zwischen Jettchen und Kößling irgend etwas angesponnen hätte, aber er gab es sich doch zu, daß das immerhin im Bereich der Möglichkeit läge, – da diese beiden Menschen in ihrer ganzen Art eigentlich nicht übel zueinander paßten. Denn das etwas stille und verträumte, leicht passive Wesen, das Jettchen von den anderen Geberts mit ihren ständigen Temperamentsäußerungen trennte und das einen Einschlag mütterlichen Blutes darstellte, mußte sie eigentlich Kößling innerlich näherbringen, als er glaubte, ihm je gekommen zu sein.

Das sagte sich Jason, und er überlegte im Gehen hin und her, wie er jedes weitere Zusammentreffen der beiden hintertreiben könne, ohne gerade unhöflich zu sein. Denn, wenn sie es wirklich miteinander hätten – um Himmels willen, was sollte daraus werden! Jason wurde ganz heiß bei dem Gedanken; und mit seinen funkelnagelneuen Gamaschen, und trotz des Regens, und trotz der Pfützen überall zwischen den Steinen, und trotz des Wassers, das in den Rinnen schoß wie ein kleiner Wildbach, daß man kaum noch mit einem Schritt herüber konnte, humpelte Jason drei-, viermal vor Kößlings Haus auf und nieder und traute sich nicht nach oben – wie ein Kind, das Schelte bekommen soll. Und er hätte etwas darum gegeben, Kößling nicht zu treffen. – Aber endlich mußte er doch hinaufgehen.–

Kößling wohnte in der Neuen Friedrichstraße, in einem kleinen Häuschen, irgendwo nach hinten heraus, nach dem Königsgraben zu. Unweit von seinem Fenster standen Rüstern und Pappeln, unter denen das schmale, schwarze Wasser träge vorbeizog und über die hinfort die grauen Steinpüppchen von den Kolonnaden sahen. Aber erst war da noch so ein kleines seltsames Gärtchen unten zwischen den Häusern und Höfen eingeklemmt, mit ein paar verwachsenen Wegen und ein paar spätgrünenden Büschen, die sich frühzeitiger als sonst irgendwelche im ganzen Land wieder entlaubten, und mit breiten Blättern von Kletten und Huflattich, statt des Rasens von ehedem. Das rostige Gitter war immer verschlossen, und nie kam da ein Mensch hinein. Nur einmal hatte Kößling eine alte Frau unten auf einem Lehnstuhl sitzen sehen, die so krank war, daß sie nicht mehr gehen konnte – aber das war schon einige Zeit her; und da sie Kößling nicht wieder sah, und da das wirre Gärtchen immer gleich still und gleich verwüstet lag, so nahm er an, daß die alte Frau schon einen besseren Platz gefunden hatte.

Das Beste an Kößlings Zimmer war nun eigentlich die Aussicht ins Grüne oder im Winter in das Maschennetz der Zweige hinein. Deswegen hatte er es auch gemietet. Innere Vorzüge besaß es nicht. Es war nur ein längliches Viereck mit hellgetünchten Wänden und mit Dielen so alt und morsch, daß sie weit klafften. Es hatte nur ganz wenige Möbel von altfränkischer Schwere. Ein Bett in der Ecke – mit einem Überbau und dichten Vorhängen –, in dem man einen Zug Grenadiere hätte verstecken können; einen Lehnstuhl in der Mitte, unverrückbar wie ein Felsblock, mit schwarzem Leder und weißen Knopfreihen – Thron und nachmittägliche Schlafgelegenheit in eins, – und eine Festung von Tisch am Fenster, auf dem Bücherstöße Wälle mit Schießscharten nach Vaubanschem System bauten, und der so gestellt war, daß die Schreibhand keinen störenden Schatten auf das Papier warf.

An dem Tisch arbeitete Kößling mit dem Blick ins Grüne, und an ihm schlang er seine stillen und freudlosen Mahlzeiten hinein, bei denen er das Buch weit ab in der Mitte der Tischplatte gegen ein Tintenfaß lehnte und mit gierigen Blicken die Zeilen überflog.

Die paar Holzstühle mit dünnen hohen Ziegenbeinen und zierlichem Stabwerk der Lehnen kamen gegen die Vorsintflutler nicht an. Wie Kinder, die man in die Schmollwinkel verbannt, standen sie in den Ecken; und sogar die Lithographien an der Wand in gemaserten Birkenrähmchen – Blume als Don Juan und die Sonntag von Dondorf als Selika im Oberen –, sie wagten ebensowenig zu mucksen wie die vier kleinen Schattenbilder von Studienfreunden in den schmalen Goldrändchen, die ihnen gegenüber hingen.

Bett, Lehnstuhl und Tisch teilten sich allein und unumschränkt in die Herrschaft in dem weißen Zimmer mit den morschen Dielen und den dünnen, flatternden Mullvorhängen.

Kößling liebte diese paar Stücke nicht, denn sie hatten unangenehme Umgangsformen. Sie taten, als bemerkten sie ihn gar nicht, oder behandelten ihn nur so ganz von oben herab. Und, – wenn nicht draußen die grünen Bäume gewesen wären und unten das verwilderte Gärtchen, Kößling wäre schon längst hier fortgezogen, aber die versöhnten ihn immer wieder, wenn es einmal mit Tisch, Bett und Lehnstuhl eine Meinungsverschiedenheit gegeben hatte.

Jason Gebert traf Kößling zu Hause ... Denn als es zu regnen begonnen hatte, hatte sich Kößling wohl oder übel bequemen müssen, endlich seine Wohnung aufzusuchen. Bis dahin, die ganze Nacht hindurch, war er umhergeirrt, – weiß Gott wo, nicht Herr seiner Sinne. Er war im Tiergarten gegen die Bäume gelaufen, hatte sie umklammert und zu ihnen gesprochen; und dann war er wohl eine halbe Stunde irgendeinem Mann gefolgt, bis der endlich Furcht bekam; er hatte lange, lange nachher Unter den Linden vor Jagor gestanden und verächtlich über das Pack gelacht, das noch hineinging und herauskam – stolz, weil niemand von all denen, die singend an ihm vorüberschwankten, wußte, daß er gegen sie alle, die hier in einer Nacht mehr Friedrichsdors fortwarfen, als er in einem Monat verausgabte, ein König sei. Und alle die Zärtlichkeit, deren seine Seele fähig war, hatte sich in Worte gelöst, und er hatte sie alle um den Namen Jettchen gegossen. Er hatte immer wieder versucht, Jettchen sich vorzustellen; – wie sie im Obstgarten an der Hecke lehnte, wie sie vor ihm über den Hof schritt, wie sie im Park ihm entlief, wie sie im Weidenweg hintereinander gingen, ganz dicht hintereinander; wie Jettchen am Wasser den Kopf neigte, – und wie sie dann endlich das Treppchen hinaufhuschte – während er draußen in der Dunkelheit den Kopf gegen einen Baum preßte.

Manchmal war es ihm, als spüre er noch deutlich die Wärme ihres Atems an seiner Wange, und er sah zur Seite, ob sie nicht neben ihm ginge.

Und dann wieder träumte er lange von der Zukunft, und er malte sich ein gemeinsames Leben aus mit allen Traulichkeiten und mit einem weißen gedeckten Kaffeetisch in der Frühe und mit Jettchen ihm gegenüber im hellen Morgenkleid. Und er sah dabei ganz deutlich eine geschliffene Kristallschale mit goldgelbem Honig vor sich stehen. Honig zum Kaffee war von je der höchste und letzte seiner noch unerreichten Wünsche gewesen. Und er lachte nun selbst darüber, als er sich jetzt dabei ertappte.

Dann wiederum ergriff ihn doch Zagnis und Bedrängtheit, und er zergrübelte sich, was er alles tun könne, um Jettchen zu erringen: Er würde sie mit sich nehmen, nach Haus, wie sie ging und stand; er würde als reicher Mann kommen mit einem berühmten Namen und allen Widerstand brechen; er würde Lustspiele schreiben, kleine Sachen, die man überall geben müsse, – das brächte Geld. Und er baute in Gedanken schon kleine Nichtigkeiten auf. Dann war er einmal der Meinung, daß Jettchen ihn nie wiedersehen wolle, weil er doch für sie zu gering wäre – und er mußte dieser Meinung recht geben. – Und es war kein Gedanke des Unwillens in ihm, und einzig Dankbarkeit für das kurze Geschenk ihrer Schönheit.

Endlich kam er – wie er in immer entlegenere und fremdere Straßen hinausirrte – auch in ganz krause und entlegene Gänge seines Geistes, und er wußte zum Schluß, hier wie dort, in der äußeren wie in der inneren Welt, nicht mehr, wo er sich überhaupt befand.

Als es aber zu regnen begann, suchte er sich heim. Aber wie sich Kößling nun endlich nach oben getappt hatte, da war in seinem Zimmer schon grauer Tag, und Kößling mochte jetzt nicht mehr in das Bett gehen. Er machte es sich nur etwas leicht, setzte sich auf den Lehnstuhl, drückte die Backe gegen das schwarze, kalte Leder und schlief ein – ein paar kurze Stunden, hell und fast traumlos. Und als er sich dann den Schlummer wieder aus den Augen gerieben, da war er gleich munter, und die durchwachte und durchgrübelte Nacht lag weit hinter ihm. Denn Kößling gehörte zu den Menschen, die nie müde werden. Alles Körperliche kam bei ihm zu zweit. Ob er satt zu essen hatte oder hungern mußte, ob er Gold in der Tasche hatte oder kaum Kupfermünzen, – das traf ihn nicht im Kern, und es tat ihm nichts an.

Irgendeinen schweren Beruf hätte er haben müssen, von morgens bis abends hinter dem Pflug, am Amboß oder auf dem Pferderücken, – das hätte ihm zugesagt, dazu war er geschaffen. Aber so war er stets nur einem Dolch in der Scheide vergleichbar. All sein Wollen und Tun, es waren Entladungen ungenützter Kraft. Und das machte ihn oft mürrisch und verdrossen, ratlos und vergrübelt.

Jetzt an diesem Morgen lastet es doppelt schwer auf ihm. Denn solange es nur um ihn allein ging, war er ja niemandem Rechenschaft schuldig gewesen – was war auch an ihm gelegen! – Aber plötzlich hatte sich all das gedreht, und nun spürte er das erstemal die schwere Verantwortung verlorener Jahre wie einen bösen, harten Schlagschatten, den sein junges Glück in der frühen Sonne warf.

So traf ihn Jason Gebert.

Sie waren beide gleich verlegen, als sie sich gegenübertraten. Denn Kößling und Jason hatten sich bisher nur am dritten Ort getroffen, und Kößling ahnte, um was es sich bei diesem Besuch drehte.

Kößling erhob sich langsam vom Tisch, auf dem noch kaum berührt sein Morgenimbiß stand, schob ihn und die Bücher und das Papier ein wenig zur Seite, als müßte er für den Gast Ordnung machen, und ging Jason Gebert entgegen. »Es ist nett von Ihnen, Herr Gebert, daß Sie es einmal wahr machen und mich aufsuchen; wollen Sie sich in den Lehnstuhl setzen? – Ja ... es freut mich wirklich –«

»Nein, ich setze mich hier ein bißchen zu Ihnen, mein Freund. Arbeiten Sie ruhig weiter, ich wollte nur mal sehen, was Sie eigentlich treiben. Sie sind doch jetzt ganz verschollen... Aber Sie wohnen wirklich hübsch hier. Mit dem Blick ins Grüne kann man gut arbeiten. Das ist einem, als ob die Gedanken aus den Bäumen kommen oder vom Himmel herunter, ich weiß das.«

Und damit hatte Jason, ohne daß es Kößling hindern konnte, sich eines von den ziegenbeinigen Stühlchen aus dem Winkel geholt, ihn mit einer Hand gehoben und an den Tisch gebracht, vor die Bücher, das Papier und den Morgenimbiß.

»So«, sagte er, während er sich hinsetzte mit jenem kleinen Ruck im Kreuz wie alle Lahmen. »So – das ist für mich und das«, er schob das Tablett wieder Kößling zu, »jetzt für Sie. Und nun lassen Sie einmal ein bißchen von sich hören. Warum sind Sie mir eigentlich untreu geworden?«

»Ich war zu Hause die Zeit über«, sagte Kößling und sah dabei nachdenklich in den Regen, beobachtete ganz genau drüben einen alten ruppigen Spatzen, der verklatscht mit triefendem Gefieder auf einem Mauervorsprung saß, – »ein paar Wochen war ich zu Hause.«

»Nun – und –?« sagte Jason und zog seine Frage lang, wie der Zuckerbäcker eine Malzstange.

»Nein«, sagte Kößling, »ich denke nicht. Was soll es auch. Ich werde auch mit jedemmal fremder da – ich kann nicht mehr zurück. Ich glaube nicht, daß es etwas wird – und ich bin nun zu alt nächstens.«

Jason sah ernst vor sich hin.

»Vielleicht tun Sie recht daran, was sollte es auch für Sie.«

Und damit nahm er eines der Bücher und blätterte darin. »Nun, und was treiben Sie sonst? ... Aber ich will Sie nicht fragen. Wir segeln ja immer unter ungünstigem Wind. Und wir können immer nur kreuzen und die kleinen Segel aufspannen an unserm Fünfmaster, während für unser großes und schönes Hauptsegel, das nur wir allein kennen, der Wind nie stark genug ist.«

»Nein«, sagte Kößling, »der Wind ist jetzt schon stark genug«, und brach dann ab und wurde rot.

Jason verstand es, aber ging noch nicht auf sein Ziel zu, denn ihm war seine Mission schwer und drückend, und er fand nicht den Mut und schob absichtlich den Augenblick, von Jettchen zu beginnen, immer weiter hinaus. Er nahm die Bücher vom Tisch, eines nach dem andern, sprach von Zeitungen und Ministern, vom König, von den Bildern in der Akademie, von Hengstenberg und Eichhorn.

Aber Kößling blieb wortkarg und bedrängt. Er wußte genau, daß jener Jettchens wegen kam, und es zwang ihn, von ihr zu sprechen. Ihr Name schwebte ihm immer wieder bei allen möglichen Dingen, in die ihn Jason verwickelte, auf den Lippen, – aber er blieb immer wieder ungenannt.

Und als endlich das Gespräch nur noch tropfte – ebenso wie draußen der Regen, der gerade nachgelassen hatte und dessen feine und ganz zarte Mückenmusik jetzt nur ab und zu von roheren, gluckernden Tönen aus der Regenröhre unterbrochen wurde, – und als sie sich beide plötzlich in Fremdheit gegenübersaßen, da konnte Kößling nicht anders, und er mußte von Jettchen beginnen.

Erst ganz zaghaft und verschämt und stockend, aber dann immer beredter und siegreicher. Und alles, was er an Freudigkeit in sich hatte, brach hervor und leuchtete aus seinen Worten. Und, was die nicht sagten, verriet seine Erregung und der Klang seiner Stimme. Und als Kößling dann schwieg, da war es für Jason nicht mehr nötig, ihn um etwas zu fragen.

Jason hatte ihn nicht unterbrochen. Er hatte stumm und steif im Stuhl gesessen und nur ein merkwürdiges Zucken um den Mund gehabt, von dem Kößling nicht wußte, wie er es deuten sollte, ob Spott oder Unmut, Mitleid oder Freude.

Und wenn man Jason Gebert gefragt hätte, er hätte es selbst nicht beantworten können. Es war wohl von allem etwas darin. Mitleid mit der Aussichtslosigkeit, Unmut darüber, daß Kößling die Kluft nicht bemerkte, die sie trennte, Spott, ein Anflug von Spott, – den der Ruhige und Nüchterne dem Träumer gegenüber empfindet, und doch auch Führung und Freude über das Schauspiel einer jungen Leidenschaft, dem Jason beigewohnt hatte, – denn es war Jason gewesen, als stiege Jettchen leibhaftig aus Kößlings Worten auf.

Kößling sah Jason Gebert angstvoll nach dem Mund, als erwarte er von ihm einen Urteilsspruch. Aber Jason Gebert kniff die Lippen fest ein, als sollte niemals ein Wort darüber kommen. Dann stand er auf und hinkte hin und her, hin und her, hin und her – immer auf einer klaffenden Dielenfuge entlang –, von Tür zu Fenster, von Fenster zur Tür. Kößling lehnte sich an den Tisch und sah in den grauen Regenhimmel. Und er klammerte sich ganz fest an die Tischkante, um nicht zu schwanken, denn er war mit einem Male sehr mutlos.

Hätte der andere nur gesprochen! Ja oder nein, – er hätte ihm innerlich geantwortet oder zugestimmt. Aber dieses Schweigen, dieses Schweigen und dieses Klapp Klapp auf der Diele immer hin und her, zermürbte ihn, brach seinen Widerspruch – und immer hinkte noch Jason Gebert auf der Dielenfuge von Tür zu Fenster, von Fenster zur Tür.

Kößling stand ihm mit dem Rücken zugekehrt und sah in den grauen Regenhimmel über die Baumkronen, über die Steinfigürchen fort unverwandt in die graue Wolkenwand hinein, und er fühlte, wie ihm langsam zwei dicke, heiße Tränen die Backen herunterzogen.

Aber da blieb Jason Gebert endlich bei ihm stehen. – Doch Kößling sah immer noch vor sich hin, sah vor sich hin, bis Jason Gebert geendet – und der sprach lange.

Er sprach davon, daß er ihm nicht so einfach die Hand schütteln könnte und Glück wünschen, daß er doch immerhin schon älter wäre und die Dinge anders sähe. Er freue sich mit Kößling; gewiß, das täte er – ganz und aufrichtig; und er könne verstehen, daß ihn das voll erfülle, daß es ein Leitstern für sein Leben geworden sei, etwas, dessen Glanz sich nie wieder verlieren könne. Ja, er fände hierin schon ein solches Übermaß von Glück, daß es nichts gäbe, das erschüttern könne; und daß alles andere, was noch hinzukäme, doch nur darin versänke, als ob ein Stein ins Meer fiele. Er wäre nicht roh genug, das nicht zu begreifen und zu achten und um nicht davon gerührt zu werden.

Aber er müsse einmal anders mit ihm sprechen. Kößling würde das hart und nüchtern vorkommen, und doch müsse es gesagt werden. Er nähme an, daß Kößling seiner Nichte wirklich und aufrichtig zugetan wäre und sie ebenso verehre wie achte, darüber wäre ja kein Wort zu verlieren. Und gerade deshalb hoffe er, daß er ihm recht geben würde ... »Jettchen Gebert ist kein Mädchen, mit dem man herumliebelt. Nicht wahr? Das müssen Sie mir aufs Wort zugeben! Und bei uns, lieber Doktor, kennt man das auch nicht. Wirklich, Sie würden mir und meinem Bruder recht schlecht damit lohnen. Das kann also wohl nie in Ihrer Absicht gelegen haben!

Mir persönlich sind Sie ja von heut an nicht weniger lieb, und offen gestanden, ich würde Sie ganz gern als Mann von Jettchen sehen; und das will etwas heißen, denn ich wüßte keinen sonst, dem ich sie gönnen sollte. Aber ich habe ja hier nicht zu entscheiden.

Doch nehmen wir einmal, lieber Doktor, die Dinge ganz trivial, wie sie sind. Nennen wir das Kind ruhig beim Namen. Sie sind ein vielversprechender junger Literat – nicht wahr? –, der einfach und bedürfnislos dahinlebt. Eigentlich sehr fern und sehr fremd der Welt, die Sie schildern und beurteilen. Sie sind in das Haus meines Bruders gekommen; Sie haben meine Nichte kennengelernt; und Sie haben beide aneinander Gefallen gefunden. – Das sind die schlichten Tatsachen. Und doch gehören Sie im letzten Grunde nicht zusammen. Sie gehören nicht ins Bürgertum hinein, und Jettchen kann man nicht daraus herausreißen, sie hat alle ihre Wurzeln da.

Sie waren doch erst gestern im Schloßpark! Haben Sie da vielleicht die schöne alte Hortensie am Schloß gesehen mit der großen violetten Blütenkugel, – ja?«

Kößling blickte immer noch starr hinaus, und nur eine ganz leichte Senkung des Kopfes zeigte, daß er die Frage beantwortete. Kößling war es jetzt, als müsse er sich schämen; er kam sich Jason Gebert gegenüber vor wie ein Verbrecher oder wie der Mann, von dem er kürzlich gelesen, der einen anderen um ein Nachtlager angesprochen und dann am nächsten Morgen ihm Uhr und Geldbeutel gestohlen hatte; – so verächtlich kam sich Kößling vor.

»Nicht wahr«, fuhr Jason Gebert fort, »sie ist Ihnen auch durch ihre ganz ungewöhnliche Schönheit aufgefallen! Würden Sie die – die bei jedem Luftzug wieder ins Treibhaus kommt – in den Wald verpflanzen? Und glauben Sie, daß sie da weiter käme?«

Kößling schüttelte.

»Sehen Sie, so ungefähr ist das auch mit Jettchen, und was Sie ihr geben können, ist doch nur Waldboden, hart und steinig. Sie haben da in das Haus meines Bruders hineingeblickt, – genug vielleicht, um eine Novelle darüber zu schreiben, – aber Sie haben doch nichts gesehen. Glauben Sie mir nur, Jettchen verbraucht mehr für Kleider und Handschuhe im Jahr – ohne daß ein Wort darüber fällt, als ganz selbstverständlich –, mehr, als Sie mit vieler Mühe für sich zusammenkriegen. Es gehört einfach zu ihr, und all das, was Sie jetzt an ihr bezaubert, würde verblassen, wenn sie in Ärmlichkeit und Sorgen untertauchen müßte. Ich glaube, das haben Sie sich nicht gesagt – wenn Sie sich überhaupt etwas gesagt haben.

Wenn Sie – wie ich Ihnen aufs Wort glaube – meine Nichte Jettchen wirklich lieben, dann, gerade dann können Sie diese Verantwortung nicht übernehmen.«

Hier schwieg Jason, als erwarte er eine Gegenrede, und es schien auch, als ob Kößling zu sprechen beginnen wollte, als ob er ansetzte, aber er brachte keinen Laut hervor.

»Ja, und wenn Sie nun, sobald mein Bruder zurückkommt, zu ihm gehen und mit ihm sprechen werden, so kann ich Ihnen leider schon jetzt seinen Bescheid geben; denn zu allen Gründen sonst wird noch der kommen, daß Sie Christ sind.«

Kößling zuckte zusammen.

»Sie meinen, daß wir doch tolerant genug wären, um diese äußerliche Zufälligkeit zu übersehen. – Vielleicht! Aber Sie vergessen dabei einen gewissen Stolz, den unsere Familie hat, daß wir eben als Juden hier angesehen und geachtet sind. Wenn mein Vater sich und uns hätte taufen lassen wollen, wie ihm öfter als einmal nahegelegt worden ist, wir hießen vielleicht heute von Gebert und wären Offiziere und Räte bei der Regierung. Und daß wir das nicht getan haben und nicht zu Kreuze gekrochen sind und in keiner Weise unsere Gesinnung verkauft haben – nicht so und nicht so, – das ist unser Stolz, und wir wollen auch für die Zukunft nicht gern, daß es in unserer Familie aufgegeben wird. Nicht? Das begreifen Sie?«

Kößling nickte sehr ernst und sehr langsam.

»Und, Kößling, trotzdem ich Ihnen so wenig Mut machen kann, seien Sie versichert, daß ich Ihnen wohl will und daß ich das Meine tun werde, um Ihnen und Jettchen zu helfen. Denn es dreht sich ja nicht mehr um Sie allein. Sie können mir glauben: Ich kenne meine Leute besser wie Sie, und wenn überhaupt einer Ihnen nützen kann, dann bin ich es.

Aber eines müssen Sie mir erst versprechen, hier in die Hand hinein versprechen, Kößling, auf Manneswort. So lange, bis die Entscheidung für Sie gefallen ist, dürfen Sie keine weitere Annäherung an Jettchen wagen, weder mündlich noch schriftlich. Versprechen Sie mir das, dann verspreche ich Ihnen dagegen, daß ich für Sie reden will und alles tun, was in meinen Kräften steht.

Gelingt es uns – so wird ja die kurze Trennung schon verschmerzt werden, gelingt es uns nicht, so wird es für Sie und Jettchen leichter sein; denn jedes Wort und jede Stunde weiter wären dann eine Sünde an Jettchen.

Sie sehen mich so an, Kößling! – Aber wenn Sie ruhig darüber nachdenken werden, so müssen Sie mir recht geben.

In ein paar Tagen, – spätestens in einer Woche – ist mein Bruder wieder da. Und bei der ersten Gelegenheit, wo wir ruhig miteinander reden können, spreche ich für Sie und Jettchen.«

Jason hatte das alles gesagt, sehr ruhig, sehr langsam, sehr bedächtig und väterlich – er hatte acht darauf gegeben, die Worte recht zu setzen und sie so zu wählen, daß sie den anderen ja nicht verletzen könnten.

Eigentlich hatte Jason ja das nicht erwartet; zum mindesten hatte er nicht geglaubt, daß es zwischen Kößling und Jettchen schon zur Aussprache gekommen war; und nun stand er dem innerlich doch recht rat- und hilflos gegenüber – so ruhig und überlegen er sich auch geben mochte. Und er war auch keineswegs so hoffnungsreich, wie er sich jetzt vor Kößling zeigte, ja, er wollte es sich nur nicht gestehen, daß ihn diese Liebessache zwischen Jettchen und Kößling, denen er beiden das Beste auf dieser Welt gönnte, recht traurig stimmte.

Er wunderte sich selbst, wie onkelhaft im Familiensinne und würdig er gesprochen hatte, – denn ganz tief da unten in ihm redete eine Stimme recht andere Worte, die weit weniger verklausuliert und weit weniger vernunftmäßig klangen, und die immer sagten: Wenn ihr euch nur lieb habt – wenn ihr euch nur lieb habt – – –.

»Ich nehme Ihr Versprechen mit fort, Herr Doktor«, meinte Jason, als Kößling immer noch nicht antwortete.

»Wollen Sie das tun, Herr Gebert, wirklich, – wirklich – und meinen Sie – meinen Sie, daß es–«, brachte Kößling hervor.

Jason zuckte die Achseln. »Sie haben doch mein Wort, Kößling; was an mir liegt, geschieht. Aber wer kann das vorher wissen, lieber Freund! Und nun denken Sie auch daran, was Sie mir versprochen haben.«

Kößling sah ihn bittend an: »Lieber Herr Gebert, muß denn das wirklich sein?«

»Ich denke wohl, wenn Sie nicht alle Aussichten, die Sie vielleicht haben, sich verderben wollen. Es wäre schon einfach eine Sache der Klugheit; wenn es nicht eine Notwendigkeit der Taktik wäre.«

Und er hielt Kößling die Hand hin, der zaghaft einschlug.

Ach Gott, er wäre am liebsten Jason um den Hals gefallen und hätte geweint, so war ihm zumute. Trotzdem er nun Wochen und Monate nur darüber nachgegrübelt hatte, spürte er mit einem Male, daß er doch eigentlich hierbei an gar nichts gedacht hatte, daß ihm all das, was ihm Jason gesagt hatte, neu und fremd war. Kößling hatte das nie in dem Lichte gesehen.

Und Jason sprach noch eine Weile in ihn hinein, ja er wurde ganz wider seine Art fast vertraulich zu Kößling, wenn er daran dachte, daß vielleicht doch alles ein gutes Ende nehmen könnte. Und er wurde im Augenblick kühl und förmlich, wenn wieder die andere Meinung in ihm die Oberhand gewann.

Er sagte Kößling, daß er sich nicht mehr vor ihm verkriechen dürfte, daß sie sich öfter wiedersehen müßten, und er schlug ihm eine bestimmte Zeit vor, wann sie sich stets treffen könnten: Bei Kranzler, bei Steheli, bei Bolzani, bei Drucker – wo Kößling nur wolle. Jetzt würde er wieder mehr Muße haben, – und es sei doch unrecht, daß zwei Menschen, die so zusammenstimmten, sich so selten fänden.

Man merkte der Hast und der Lustigkeit seiner Rede an, daß Jason Kößling auf andere Gedanken bringen wollte; aber der schnurrte nur immer wieder zurück auf das eine: Jettchen. Hundert Dinge wollte er von Jason über sie hören – doch Jason wich der Antwort stets aus, denn er sagte sich, daß er es nicht mit seiner Stellung als Onkel vereinbaren könnte, einer vorerst noch nicht familienmäßig sanktionierten Leidenschaft neue Nahrung zuzuführen.

Und endlich verabschiedete er sich, indem er zu verstehen gab, daß in seiner Abwesenheit bei Salomon Gebert & Co. alles drunter und drüber ginge und daß es die höchste Zeit für ihn sein würde, daß er, wie weiland Odysseus unter die Freier, mit klirrendem Bogen unter die Übermütigen trete.

Und während Jason die dunkle schmale Treppe heruntertappte, schossen ihm plötzlich die Worte des Hohenpriesters Aron durch den Kopf: Ii onauchi ki adabair: Wer bin ich, daß ich reden soll! – Und recht schweren Herzens, – denn das Gespräch hatte ihn arg mitgenommen, – (keineswegs pfeifend und trillernd wie am Morgen, sondern tief nachdenklich, die Blicke auf dem Pflaster) hinkte er an den Häusern entlang zu Louis Drucker.

Und hier mitten im Lärm der lachenden Gäste – denn Drucker hatte seinen guten Tag und hielt eine lange Rede über sein letztes Hunderennen in seinem Garten auf dem Tornow bei Potsdam, bei dem er Joel Jakobis gesammelte Werke, in Schweinsleder gebunden, dem Oberhund um den Hals gehangen hatte – mitten im Lärm kritzelte Jason bei einer Flasche Chambertin mit seinem silbernen Crayon ein Billett an Rikchen und teilte seiner Schwägerin mit, daß sie dieses Mal ihr Prophetinnengeist auf den falschen Weg geführt hätte und daß er sich infolgedessen von nun an nicht mehr von ihr die Karten legen lassen werde. Denn Jason sagte sich, daß jedenfalls Rikchen ihren Gatten eher zu einem längeren Gespräch unter vier Augen haben würde als er selbst, – und es lag ihm daran, daß Salomon von vornherein nicht dagegen eingenommen würde.

Oben aber saß Kößling, hatte die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt und die Fäuste an die Schläfen gepreßt und sah starr auf die paar Blätter des Briefes, den er nun nicht an Jettchen absenden würde. Und er sollte ihr doch so viel sagen, was er vergessen hatte, und wozu er meinte, gestern keine Zeit gefunden zu haben.

Hoffnung und Hoffnungslosigkeit schwankten in ihm wie Hitze und Kälte bei einem Fiebrigen. Es schien Kößling, als ob mit einem Male alles anders geworden; das, was sein ureigenstes Eigentum gewesen, war plötzlich ein Fangball in aller Händen und entweiht und beschmutzt von Leuten, die es doch eigentlich gar nichts anging und die ihm gleichgültig, wenn nicht unangenehm waren. Und das schlimmste, er fühlte, wie unter dieser Einmischung das Bild Jettchens selbst verlor, wie sie ihm langsam entglitt und zu jenen zurückkehrte. Aber das war nur auf Minuten, dann war es ihm, als müsse er diese Gotteslästerung auf Knien abbitten, und er trieb wieder seinen Kult mit dem Wort: Jettchen.

Gegen Abend machte er sich auf und ging nach der Spandauer Straße und wartete dort vor Gebert & Co. auf Jason, um ihn zu fragen, ob denn sein Bruder nun noch nicht mit ihm gesprochen hätte. Zugleich, ob er noch nicht von der Reise zurückgekommen wäre; und wollte er Jason bitten, ihn seines Versprechens zu entbinden. Doch er wartete und wartete: Buchhalter, Lehrjungen, Kommis und Hausdiener kamen, – aber nicht Jason Gebert; und einer, den Kößling fragte, sagte, daß Herr Jason am Nachmittag nie ins Geschäft käme: »Na, das würde wohl alles wieder anders werden, wenn Ende nächster Woche der Alte da sei.«

 


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