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Als aber am vierten Tage Kößling noch nicht in seine Wohnung zurückgekehrt war, da nahm Jason Gebert den Brief, der dort lag, nahm ihn an sich, damit er nicht in unbefugte Hände käme. Denn Jason Gebert kannte wohl die Hand, die ihn geschrieben hatte.

Wie Jason Gebert dann mit dem Brief nach Hause gehinkt war, da mochte er, trotzdem die Dämmerung eben hereinbrach – und es war ein regenschwerer Oktobertag –, nicht Licht anzünden. Er stellte sich an das Fenster und begann zu lesen. Jason Gebert fürchtete nicht mehr, daß er damit ein Unrecht beginge; denn es gab nichts mehr in der Welt, was er fürchtete. Ach Gott, er wußte ja nur zu gut, daß der andere nicht mehr kommen und diesen Brief von ihm fordern würde.

»Lieber Fritz«, las Jason Gebert da mühsam bei dem verdämmernden Licht. »Lieber Fritz! Du wirst diese Zeilen vielleicht schwer verstehen, und doch wirst Du an sie glauben müssen, armer Junge. Und ich verstehe sie selbst kaum, da ich sie nun schreibe; aber ich höre sie im Ohr, und ich glaube, hinter mir steht eine dunkle Gestalt, nach der ich mich nicht umzusehen wage, und die flüstert sie mir zu – und ich muß sie nachschreiben. Wir sterben ja alle mit geschlossenem Munde, aber ich will nun reden, bis sich mir die Hand um die Kehle legt. Denn ich weiß, daß ich vielleicht in einer Stunde nicht mehr reden werde. Die Leute haben mir oft gesagt, daß ich sehr schön wäre, so oft, daß ich es selbst glaubte – aber es hat mir nie ein Mensch gesagt, daß ich glücklich wäre, und vielleicht ist es nicht bestimmt, daß Schönheit und Glück zusammen wohnen. Ich träumte heute früh, wie Du von mir fortgegangen warst, ich ginge einen langen, schmalen Weidenweg entlang, und rechts und links, so weit der Blick reichte, war Wasser – schwarzes, tiefes Wasser. Aber plötzlich war der Weg vor mir fortgebrochen, und die Wellen netzten mir den Schuh. Und als ich erschrocken mich umwandte, um wieder zum festen Land zurückzuflüchten, da sah ich, wie auch hinter mir es fortbrach, wie die Bäume auseinanderfielen gleich gemähten Grashalmen und wie sie klatschend in die Fluten schlugen, wie sie sich drehten und zäh und schwer mit einer unsichtbaren Strömung fortgezogen wurden. Eine wahnsinnige Angst packte mich, ich schlug die Arme breit auseinander und schrie auf, während das Wasser um mich emporspritzte – schrie auf, daß ich erwachte.

Und da, wie ich mich im Bett hochsetzte, da wußte ich mit einemmal, daß ich nie die Deine werden würde, trotzdem ich doch schon die Deine gewesen bin. Damals hätten wir uns beide nehmen müssen, als wir vielleicht noch beide jung genug waren, um uns zu finden. Jetzt ist aber ein anderer stärker. Ihm gehörte ich, ohne es zu wissen, solange ich denken kann, und ihm werde ich gehören, jetzt, da ich es weiß, in alle Ewigkeit. Verzeih mir, daß ich Dir weh tue – aber für jeden von uns kommt einmal die Stunde, wo er nicht mehr danach fragen kann, ob er dem andern, dem er doch im Innersten vielleicht noch gut ist, weh tun muß. Ja, ich liebte Dich, weil Du jung warst – und doch weiß ich es jetzt, wir hätten uns unser Lebtag gequält und fremde Worte gesprochen. Denn ich gehöre zu einem andern, und der ist nicht mehr jung – und vielleicht liebte ich in Dir nur seine Welt. Ich glaube, er hat ganz graues Haar. Man hat es mir gesagt; ich weiß es nicht. Für mich ist er der gleiche geblieben, solange ich denken kann. Man sagt, sein Gang ist schwer und langsam; aber ich hätte nie schneller gehen mögen. Man kann meinen, daß er heute alt und müde ist und daß wir beide doch zusammengehörten. Aber die Liebe fragt nicht nach Jahren. Und ich würde heute zu ihm gehen, zu dem andern – und diese Zeilen würden auch so unser Abschied sein, wenn ich mit unbefleckten Erinnerungen zu ihm gehen könnte, wie sie eben jetzt meinen Abschied für das Leben bedeuten. Ich wußte es nicht vordem, ob ich ihm je gehören würde; was wissen wir denn von uns selbst? – Aber das eine wußte ich, daß, wenn ich ihm gehörte, ich nie vorher einem andern gehört haben könnte. Und nun will ich ihm gehören. Du würdest das nicht verstehen, und Du würdest mich beschwören, Dich zu vergessen, und Du würdest mich freigeben, wie man einem schönen Vogel, den man einmal gefangen hat, schweren Herzens die Freiheit wiedergibt, wenn er sich nicht an das Bauer gewöhnen will. Aber was soll mir jetzt noch die Freiheit? Ich weiß, Du wirst all das nicht verstehen; aber Frauen denken über solche Dinge anders als Männer.

Du mußt nicht glauben, daß ich diese Zeilen in großer Erregung niederschreibe. Ich bin nie ruhiger gewesen als jetzt, da ich weiß, was ich zu tun habe. Aber vorher – die ganze Zeit vorher –, da habe ich furchtbar gelitten. Ich habe nie geglaubt, daß ein Mensch so viel leiden kann. Ich wollte immer andere Wege gehen als die anderen, und nun habe ich mich verirrt. Wenn ich als Kind Seifenblasen gemacht habe, so habe ich schon damals immer darüber geweint, daß die buntesten Seifenblasen am ehesten zersprangen, während die farblosen in der Sonne hochstiegen, bis weit über das Dach hinaus. Und jetzt beginne ich auch zu weinen, weil meine buntesten Seifenblasen am ehesten zerspringen mußten.

Armer Junge! Ich will jetzt an Dich denken. Was habe ich aus Deinem Leben gemacht! Wir glaubten, daß es der Zufall gut mit uns meinte, als er uns, zwei fremde Menschen aus anderen Welten, von weit her zusammenführte, daß er unser Glück wollte – und er wollte unser Elend. Ich fürchte, ich bringe viel Kummer über Dich; aber Du sollst nicht böse von mir denken. Denke auch, daß ich in meinen Händen, die Du immer so schön fandest und so liebtest, für Dich Glück gebracht habe. Vergiß das nicht, armer Junge, denn ich möchte doch gern, da ich jetzt so vielen Schmerz bereiten muß, daß einer von ihnen sich auch erinnert, daß ich ihm einmal Freude bereitet habe.

Zeige diesen Brief niemandem und rede auch nicht zu Jason von ihm – versprich mir das –, denn er hat mich im Leben immer so sehr geliebt, und ich möchte nicht, daß er mich noch im Tode verachten müßte.

Lebe wohl, Fritz – draußen beginnt es hell zu werden –, lebe wohl.

Henriette«

 

Als Jason Gebert die letzten Worte nur noch mühsam entziffert hatte, war auch der letzte Schein von Licht draußen erloschen.

Jason Gebert stand allein tief im Dunkel.


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