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Und alles kam, wie es kommen mußte in diesem jungen Jahr 1840.

Der Regen hörte auf, als er den letzten Rest von Schnee von den Straßen beseitigt hatte; ohne sich nun gerade noch darauf zu versteifen, daß auch die allerletzten paar grauen Flecke schwänden, die hinter Gartenmauern im Winkel auf dem welken Laub oder unten an der Böschung des Königsgrabens, allwo einstmals die Veilchen gestanden hatten, ihr bescheidenes Leben fristeten. Es gab fürder eine weichere Luft und milde Abende mit sanft verschleierten Himmeln, die den Mond wie in zarte, gelbe Seidentücher hüllten. Und die Tage mit ihrer flüchtigen Sonne waren so lind, daß man fast schon an den Frühling glauben konnte, der doch so fern war. Vor allem aber gegen Abend, wenn die Dämmerung einsetzte und der Himmel immer noch grün leuchtete, während unten schon die Häuserreihen in Dunkelheit lagen und die Dächer mit ihren Figuren und die Kirchtürme aussahen, als wären ihre Umrisse mit scharfer Schere aus schwarzem Glanzpapier geschnitten – vor allem dann spürte Jettchen, die am Fenster lehnte, ganz deutlich so etwas wie den sehnsüchtigen Gruß des Frühlings, der doch so fern war.

Eines Vormittags aber sagte Jason Gebert – und Jettchen erschrak darüber –, Jettchen solle sich fein machen, sie wollten zusammen zu Onkel Salomon ins Kontor gehen und mit ihm reden. Man müsse sich nun endlich entscheiden. Jettchen zog klopfenden Herzens die pelzverbrämte Samtjacke über und nahm den großen Muff, den ihr Onkel Jason geschenkt hatte; und der musterte sie von Kopf bis Fuß und sorgte noch dafür, daß sie ihre schwedischen Handschuhe anzog. Er müsse Ehre mit ihr einlegen; er müsse zeigen und beweisen, daß Jettchen sich bei ihm wohl befinde. Sie müsse gute Figur machen; heute vor allem. Er wolle stolz auf sie sein.

Und Jason Gebert selbst zog sich an wie ein Bräutigam, band mit besonderer Sorgfalt seine Krawatte und nahm aus dem Schränkchen »Sibirien« eine Busennadel, ein spitziges Blumenkörbchen aus Goldgerank mit einem Bukett von farbigen Blüten in Diamanten, Rubinen, Saphiren; die hatte schon sein Vater getragen. Und er bürstete und glättete seinen Zylinder mit verdoppelter Zärtlichkeit, gerade so, wie man auf ein Kind, das einem geblieben ist, auch noch die Liebe überträgt, mit der man einst die umschloß, die man verloren hat.

Das erstemal seit langen, langen Wochen und Monaten gingen Jettchen und Onkel Jason nun zusammen an den weißen Türen vorbei, die Treppe hinunter, die sie in jener Novembernacht langsam und lautlos heraufgegangen waren, während die Dunkelheit mit kalten Sternen durch die hohen, vielfenstrigen Flurfenster blickte, durch die gleichen, durch die jetzt ein weißblauer Himmel hineinsah, besetzt mit ganz zarten grauen Wölkchen wie mit einem Reiherflaum; durch die gleichen, durch die jetzt eine weiße Helligkeit hereinbrach, die alles sauber und vornehm erscheinen ließ – die breiten Stufen, die alten, geschnitzten und geschweiften Gitter und Geländer, die Messinggriffe an den weißen Türen und die Stuckengel, die über die Decke flatterten.

Jason tat ganz würdig, wie er mit Jettchen auf die blanke Straße trat, in den klaren, milden Wintertag hinaus. Sie selbst gingen im Schatten, aber die Häuser drüben lagen mit vielen blitzenden Scheiben in der weißen Sonne, und die Bäume hinten mit ihren feinen Zweigen waren ganz erfüllt vom Lärm der Spatzen. Die ganze Königstraße herunter, die im Licht der schrägen weißen Winterstrahlen sich dehnte, schoben sich die Menschen, und Jason hinkte ganz stolz zwischen all denen neben Jettchen her. Und er schwankte nur, ob er ihr nicht den Arm bieten sollte. Der und jener, der Jason kannte, grüßte tief; und die und jene, die Jettchen kannte, beeilte sich, so freundlich den Kopf zu neigen, wie sie es nur vermochte, und verbindlich zu lächeln, als wollte sie damit sagen: Ich bin ja immer auf deiner Seite gewesen. Denn da natürlich die Kunde davon durchgesickert war, daß Julius Jacoby an der Börse – und hatte vielleicht ein Lederhändler etwas an der Börse zu suchen! – schieflag, so schieflag, daß es fraglich war, ob er je wieder auf die Beine käme, selbst wenn ihm Salomon Gebert stützend unter die Arme griff, da war nun mit einemmal dieser Julius Jacoby ein ganz verworfenes und lästerliches Geschöpf geworden. Und Jettchen Gebert, die ihn ja vorher kannte, hätte eben schon guten Grund gehabt, von ihm fortzulaufen. Alles, was der Klatsch Jettchen noch vor wenigen Wochen nachgesagt und angehängt hatte, hatte er ebenso schnell wieder vergessen. Ohne daß Jettchen es selbst wußte, waren ihr plötzlich alle Herzen zugeflogen, und es fehlte nur wenig, daß wie ehedem wieder irgendein zartsinniger Auskultator in der »Eleganten Welt« um sie und ihr Schicksal einen Sonettenkranz flocht.

Drüben an der Ecke des Hohen Steinwegs stand aber, mitten in der Sonne, Onkel Eli. Er stand breitbeinig da und stützte sich mit beiden Händen auf sein Palmenrohr mit dem Goldknopf. Jetzt war es Onkel Eli noch zu kühl für seinen blauen Frack, und er trug deshalb einen langen zimtbraunen Überrock mit zwei Reihen silberner Knöpfe. Aber den hatte er offen, damit man seine Berlocken sah, die kleinen Pferdchen und Wägelchen, und damit man die Busennadel oben sah im gefalteten Brusttuch, den großen, gesprenkelten Karneol. Andere als gelbe Stulpenstiefel hätte Onkel Eli nie angezogen, und wenn es Fensterladen geregnet hätte. Aufmerksam und unbewegt stand Onkel Eli also am Straßenrand; auf die Menschen um sich achtete er nicht, aber die Pferde sah er sich an, und er folgte mit großem Interesse zwei ostpreußischen Wallachen vor dem Prenzlauer Wagen, die beinahe seinen Beifall gefunden hätten, »wenn se nich eben doch ä bißchen zu stark in de Fesseln gewesen wären«.

Jettchen und Jason sahen Onkel Eli und kamen über den Damm zu ihm herüber, ihn zu begrüßen. Jettchen war verlegen, denn sie hatte Onkel Eli seit jener Novembernacht nicht gesehen, und es fiel ihr im Augenblick ein – und sie mußte darüber lächeln –, daß sie sich ja nicht einmal für sein Geschenk bedankt hatte und daß sie es bis heute nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte.

»Nu«, rief Eli schon von weitem, »das is wohl so was für dich, Jason, mit so ä hibsche junge Frau hier in de Königstraße spazierengehen!«

»Ja«, sagte Onkel Jason und lachte, »siehst du, wenn ich wie du verheiratet wäre, dürfte ich eben das nicht.«

»Weshalb?« meinte Onkel Eli und schüttelte den Kopf, daß der Puder stäubte. »Alle Frauen sind doch nicht so komisch wie ausgerechnet gerade meine Mine. Und hat se bei mir vielleicht Grund?«

»Jetzt soll ich ›nein‹ sagen«, versetzte Jason Gebert und wandte sich zu Jettchen.

»Nu, mei Tochter«, meinte der alte Onkel Eli und reichte Jettchen die Hand, »wir haben uns beide doch so lange nicht gesehen. Du hast der doch damals bei deine Hochzeit so französisch gedrickt – ohne mer adieu zu sagen. Nu ja, ich verstehe, du hast es eilig gehabt; aber warum biste nich inzwischen mal zu mer gekommen? Ich wohn' immer noch auf'n Hohen Steinweg. Wir sind doch früher beide mitenander nich so förmlich gewesen. Un wie lange meinste denn, daß de deinen alten Onkel noch wirst besuchen können? Eines schönen Tages zuppt der da oben doch mal an de Strippe.«

»Ja«, meinte Jettchen verlegen, »ich wußte nicht, ob es euch gerade ...«

»Unsinn!« unterbrach Eli sie und stieß mit dem Stock aufs Pflaster. »Meinste vielleicht, Dummchen, ich hab' dir je unrecht gegeben? Wenn meine Goldmine ä andere Meinung darüber gehabt hat, da bin ich nich dran schuld. Davor is se ä Frauenzimmer.«

»Wie geht's denn Tante Minchen?« fragte Jettchen.

»Se is sehr komisch, deine Tante«, versetzte Eli und schüttelte ernsthaft den Kopf. »Se werd sogar immer komischer. Jetzt verlegt se immer alle möglichen Dinge und setzt denn das ganze Haus in Aufruhr, se sind ihr gestohlen worden.«

»Und was machst du, Onkel?« fragte Jason. »Du warst doch ein paar Tage nicht ganz wohl, wie mir Ferdinand sagte.«

»Na, soweit geht's mer ja schon wieder. Aber mit de Beine will's nicht recht mehr weiter. Hörste, ich muß mer wirklich mal ä paar neue anschaffen.«

»Wenn du die Adresse weißt, bist du wohl so freundlich, sie mir mitzuteilen«, sagte Jason. » Eins würde ich dann auch von dort beziehen.«

»Ich würd's an deiner Stelle nich tun«, versetzte Eli, und der Schalk saß ihm im Nacken. »Das macht dich doch gerade interessant. De Lavallière hat auch 'n bißchen gehunken, und der große englische Dichter Byron, hab' ich mer sagen lassen, der soll doch sogar ä Gang gehabt haben wie ä Schaukelpferd, und er hat doch so verschiedene Erfolge zu verzeichnen gehabt. Hab' ich nich recht mit dem, was ich da sage, Jettchen?«

»Ja«, sagte Jettchen und sah ihren Nachbar an. »Ich wünsche mir Onkel Jason gar nicht anders.«

Jettchen war soeben fast erstaunt gewesen, als sie an Onkel Jasons schlechten und steifen Gang erinnert worden war. Denn jetzt, da sie Monate mit Onkel Jason und nur mit ihm zusammen gelebt hatte, hatte sie das ganz vergessen. Und noch erstaunter wäre Jettchen gewesen, wenn man ihr etwa gesagt hätte, daß das Haar Onkel Jasons nicht mehr braun, sondern fast grau war und daß es den Schläfen sogar schon rein weiß schimmerte. Für sie hatte sich Onkel Jason nicht verändert.

»De sollst wirklich bedankt sein«, rief Onkel Eli, »so ä Onkel sollste der noch mal suchen, wie Jason is. E anderer Herr wie sein Bruder Ferdinand.«

»Was hast du denn mit einemmal gegen Ferdinand?« fragte Jason lachend.

»Ich hab' mich schon den ganzen Morgen über ihn geärgert«, knurrte Eli und bekam einen roten Kopf.

»Aber warum denn, Onkel?« fragte Jettchen sanft und beschwichtigend.

»Warum? Haste nich gehört? Dein Onkel Ferdinand is doch Kommissionsrat geworden!«

»Ach«, rief Jason, »Ferdinand – Kommissionsrat? Sieh mal an, Jettchen. Na, das ist doch sehr gut für ihn. Nächstens, meine ich«, Jason kniff das eine Auge ein, »wird er noch einen Orden bekommen.«

»Ma wird nich Kommissionsrat!« schrie Eli und stieß wieder seinen Stock aufs Pflaster. »Dein Vater, Jason, war ä anderer Mann wie Ferdinand. Der is nich bei Hofe rumgekrochen, er hat auch keinen Titel gekriegt. Kennste die Geschichte? Wie se'n rausgerufen haben nach Charlottenburg, er soll der Königin Luise Ringe und Tabatieren vorlegen, hat se doch in so ä kleinen Spiegelsaal bei Tische gesessen; und er hat draußen warten müssen. Da hat der Haushofmeister gesagt, wer wollen uns doch mal mit'n Juden Gebert ä Scherzchen machen. Ich nehme hier ä Stückchen Brot und wickel es in Kantenpapier un geb's ihm und sage: ›Hier, Herr Gebert, schickt Ihnen Majestät ä Bonbon von de Königlichen Tafel.‹ Und de Königin is auch auf den Scherz eingegangen. Aber dein Vater, Jason, hat doch durch de Spiegel von draußen alles gesehen, und wie der Haushofmeister rausgekommen is, hat er ihm des Papierchen abgenommen, hat's vor seine Augen aufgebrochen, hat's Brot rausgenommen und hat zum Haushofmeister ganz laut gesagt: ›Ich danke Ihnen, Herr von Tresckow, das ist auch das erstemal, daß Sie einem Bürgerlichen ä Stückchen Brot zukommen lassen.‹ De Königin war doch ä gute und ä kluge Frau und hat sehr gelacht. Aber ... aber se haben ihm von da an nich recht mehr was abgekauft, und geworden is er schon gar nischt. Ferdinand natürlich, Ferdinand – der muß ja Kommissionsrat werden!«

Jettchen und Jason mußten über den Zorn des alten Onkel Eli lachen, und Jason versuchte Eli zu überzeugen, daß ein Kommissionsrat, was man auch gegen ihn haben möge, doch auch ein Mensch wäre. Aber Eli wollte keinen von Jasons lustigen Beweisen gelten lassen und rief nur ein Mal über das andere, »daß so ä Schande wirklich in seine Familie ihm noch nich vorgekommen sei«.

Jason bat Eli, er solle sie ein Stück begleiten. Eli dürfe auch die Vergünstigung beanspruchen, auf der rechten Seite von Jettchen zu gehen. Denn es lag Jason Gebert daran, daß sie alle drei zusammen gesehen würden. Aber Eli sagte, er bliebe hier noch ein bißchen stehen und humple dann nach Hause. Das viele Gehen strenge ihn an. Und da Jettchen und Jason ja zu Salomon wollten, so verabschiedeten sie sich lachend von dem Alten, trugen ihm Grüße an Minchen auf, und als sie ein ganzes Stück von ihm fort waren, drehten sie sich noch einmal nach ihm um und winkten ihm zu.

Aber da stand der alte Onkel Eli schon wieder, beide Hände auf dem goldenen Stockknopf vereint, steif und starr, den Mund halb offen und die Augen weit vor, ganz in den Anblick eines englischen Traberhengstes versunken, der vor einem Kabriolett einhertänzelte, Kopf zurück, Schweif hoch. »Das war mal e Pferdche! Was anderes wie Nagler seine Wallache. Fast so scheen wie das vom Prinzen Karl.«

Jettchen war doch seltsam beklommen zumute, daß sie das Haus, Onkel Salomon und Tante Rikchen und alles nun wiedersehen sollte, und mit jedem Schritt, den sie der Spandauer Straße näher kam, wurde ihr das Herz schwerer und bedrückter.

Jason aber schien nichts von Jettchens Stimmung zu merken – oder er wollte nichts merken; er ging ganz heiter neben Jettchen her, durch die Frische des hellen Wintertages, und sprach unbefangen auf sie ein.

Und da war es wieder, das graue Haus mit den Kränzchen unter den Fenstern; und auf den beiden Spionen auf dem Tante Rikchens und dem Onkel Salomons, denn sie hatten sich immer um den Vorrang gestritten, solange es nur einen Fensterspiegel gab, und deshalb hatte Onkel Salomon eines schönen Tages seine Frau mit einem zweiten überrascht –, auf den beiden Spionen blitzte die Sonne. Der Türflügel ging nicht leichter auf als früher, und im Hausflur auf den zwei Gipsreliefs hielten sich immer noch Amor und Psyche bräutlich umschlungen, und Bacchus erteilte immer noch dem jungen Liebesgott seine Unterweisungen.

Jettchen dachte an das letztemal, als sie zwischen ihnen durchgeschritten war, verängstigt und verzweifelt, kaum noch ihrer Sinne mächtig; und ganz noch in diese Erinnerungen verfangen, öffnete sie die Tür, sah wieder die langen Regale mit den Seidenkupons; die langen Tische mit den farbigen Stapeln; mit den Gänsekielen hinter den Ohren die Buchhalter, die sich an ihren Stehpulten in den Fensterecken auf den Füßen wiegten wie Pferde vor den Krippen.

Keiner grüßte sie. Keiner schien sie zu beachten. Kaum daß einer nach ihr den Kopf von seiner Kladde wegwandte. Wie oft hatte Jettchen durch Jahre und Jahre denen da das Essen an den Winterabenden heruntergebracht, war beim Onkel Fürsprecherin für ihre Wünsche geworden. Der wollte eine Uhr, der einen guten Anzug und der ein schwarzseidenes Kleid für seine Frau. Und nun wandte keiner von ihnen den Kopf. Nur weil keiner wußte, wie sie der Chef aufnehmen würde.

»Siehst du«, flüsterte Jason, der das bemerkte, Jettchen zu, »siehst du, Jettchen, der Mensch ist doch schlechter als das Tier. Wenn die Viehmagd, die man weggejagt hat, später wieder durch den Stall geht, dann sieht sich doch wenigstens das Rindvieh, dem sie früher immer das Futter vorgeworfen hat, nach ihr um.«

Jettchen nickte.

Aber da kam schon Onkel Salomon aus dem Glasverschlag seines Privatkontors. Er schien Jettchen erwartet zu haben, denn er hatte nicht seinen gewöhnlichen Haus- und Arbeitsrock mit den komplizierten Landkarten von Flecken an, sondern Salomon trug einen neuen braunen Gehrock und eine ganz neue Seidenweste vom Lager dazu – so neu, daß Jettchen nicht einmal das Muster kannte. Onkel Salomon hatte seine Kontorfarbe, sah blaß aus, aber sein graues Haar war scharf an den Seiten zurückgebürstet, und auf seinem glatten Gesicht lag noch der Hauch des Reispuders vom Rasieren her, und das ließ ihn jünger erscheinen, als er war.

Jettchen klopfte doch sehr das Herz. Oh, sie hatte sich eine so schöne Rede zurechtgelegt – und nun war das alles wie weggeblasen. Hätte Onkel Salomon ihr jetzt ein böses Wort gegeben, sie hätte keine Silbe der Entgegnung gefunden.

»Na, Jettchen«, sagte Onkel Salomon, und man hörte seiner Stimme die Freude an, Jettchen wiederzusehen, »na, hast du endlich einmal den Weg hergefunden, mein Kind? Wie geht's dir denn nun eigentlich bei deinem neuen Pflegevater?«

Jettchen war über und über rot, und es stach ihr in den Augenwinkeln. Sie kam sich so undankbar und schlecht vor. Sie empfand die ernste Güte Onkel Salomons wie einen Vorwurf, und sie vermochte kaum zu antworten vor Erregung. Onkel Salomon bot Jettchen auf dem ganz verdrückten alten Polsterstuhl einen Platz an, während Jason stehen blieb und, die Hände auf dem Rücken, sich gegen den offenen Sekretär lehnte.

»Wir hätten das eben nicht tun sollen, mein Kind«, sagte Salomon, »dann wären dir und mir viel Ungelegenheiten erspart worden.«

»Nein, nein, Onkel, ich hätte vorher zu dir kommen müssen – nicht wahr? Du warst ja immer so gut zu mir. Aber ich wußte ja nicht mehr, was ich tun sollte. Ich dachte immer, du würdest mich fragen. Aber dann ... wie ich plötzlich erkannte, daß es nun zu spät war, da konnte ich nicht anders, da bin ich fortgelaufen.«

Onkel Salomon ging zu Jettchen hin und streichelte ihr die Wangen.

»Nun, nun, Jettchen«, sagte er beschwichtigend, denn er liebte keinen Gefühlsüberschwang, »es scheint ja wirklich, als ob du damit nicht unrecht gehabt hast. Ich glaube schon, ich hab' diesmal einen Fehler gemacht, Jettchen. Eigentlich kann einem das ja auch mal passieren. Früher, als du noch bei uns warst, weißt du ja selbst, habe ich nie einen großen Abschluß gemacht, ohne ihn vorher mit dir besprochen zu haben. Das erstemal, da ich es nicht getan habe, verlieren wir wirklich unser Geld dabei.«

Onkel Salomon meinte es gewiß nicht schlecht, aber da er gewohnt war, als alter Kaufmann das Leben in all seinen Lagen und Äußerungen zuerst einmal als ein rentables oder ein unrentables Geschäft aufzufassen, so wählte er eben diese etwas befremdende Ausdrucksweise.

»Na«, klang es vom Sekretär her, »endlich stand bei der Sache doch etwas anderes auf dem Spiel als nur Geld, und wir hätten um ein Haar dabei mehr verlieren können als nur Geld. Was sich mit Geld noch gutmachen läßt, lieber Salomon, ist nie das schlimmste.«

»Das weiß ich, Jason. Aber soweit meine Erfahrung reicht, habe ich gefunden, daß das Geld die Grundlage für alles andere bildet, und ich bemühe mich deshalb, immer in allen Dingen zuerst ein glattes Konto zu haben; das andere kommt dann von selbst.«

Jetzt fand Jettchen die Worte. Sie sagte, daß sie Onkel Salomon ja so sehr danke und daß sie wohl fühle, daß er gut an ihr handle; sie wäre aber doch so bedrückt, und sie wollte so gern aus ihrer unglücklichen Lage endlich befreit sein.

Salomon unterbrach sie. »Du brauchst dich gar nicht mehr zu verteidigen, Jettchen. Du hast hier«, er wies auf Jason, »einen so eifrigen Fürsprecher gehabt, daß ich nun wirklich ganz und gar auf deiner Seite bin. Aber sieh einmal, Jettchen, wir können heute noch nicht die nötigen Schritte einleiten. Es geht nicht. Da sind – das weißt du nicht – hundert Dinge geschäftlich zu erledigen, ehe wir das so machen können, wie ich das gern haben möchte.«

»Aber warum, Salomon?« klang es wieder vom Sekretär her. »Das Gesetz würde uns doch Handhaben genug geben.«

»Du verstehst das nicht, Jettchen«, fuhr Salomon unbeirrt fort. »Vielleicht brauchst du die Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Ich hoffe es sogar – aber du kennst unsere Gerichte nicht. Wenn heute jemand von mir behauptete, ich hätte ihm silberne Löffel gestohlen, und ich käme vor das Kammergericht, dann würde man mich nur freisprechen, nicht weil ich keine silbernen Löffel gestohlen habe, sondern weil man mir nicht nachweisen kann, daß ich silberne Löffel gestohlen habe. Und, Jettchen, genauso wird es mit dir sein. Und das wirst du mir doch nicht antun, wo du zwanzig Jahre in meinem Haus gelebt hast.«

Jettchen hatte die Tränen in den Augen, und Jason hatte seinen Platz am Sekretär verlassen und humpelte erregt auf und nieder.

»Jettchen«, sagte Onkel Salomon und nahm Jettchens Kopf zwischen die Hände, so daß sie den breiten Reif seines Siegelrings an ihrer Schläfe spürte, »sieh mich mal an – du brauchst ja nicht zu weinen –, hier vor Jason verspreche ich dir, daß wir alles gut ordnen werden, so, wie du es willst. Aber du mußt dich eben noch gedulden. Vielleicht acht Tage, vielleicht zwei Monate ... das läßt sich jetzt noch gar nicht absehen und vorherbestimmen. Sei versichert, Jettchen, ich lasse dich dann nicht einen Tag mehr warten. Hier hast du die Hand drauf, mein Kind.«

Jettchen hörte das alles, und doch rannen ihr immer noch die Tränen über die Backen. Sie wollte Onkel Salomon danken, aber sie vermochte es nicht.

Jason hielt in seiner Wanderung an.

»Weißt du, Jettchen«, sagte er, »Salomon hat eigentlich mit allem recht. Ich sehe das jetzt auch ein. Und wenn wir so lange gewartet haben, werden wir auch noch ein paar Wochen länger warten können. Die Hauptsache ist doch nun, daß du selbst einmal hörst, wie Salomon darüber denkt und daß er auf deiner Seite ist.«

»Siehst du, Jettchen, nun gehörst du wieder ganz zu uns«, sagte Salomon, beugte sich nieder und küßte Jettchen auf die Stirn.

Und Jason Gebert ergriff Salomons Hand und schüttelte sie, als ob er ihn beglückwünsche.

»Höre mal, Salomon«, rief er dann, »wir haben doch noch gar nicht über unseren hochgestiegenen Bruder Ferdinand gesprochen. Was sagst du denn dazu?«

»Was soll denn mit Ferdinand sein?« fragte Salomon erstaunt und nahm eine Seidenprobe, zerrte rechts und links an ihr und hielt sie dann gegen das Licht.

»Er ist doch Kommissionsrat geworden!«

»Kommissionsrat?« fragte Salomon und zog das Wort etwas lang.

»Ja«, sagte Jason. »Dachtest du vielleicht, unser Bruder Ferdinand würde Geheimer Hofrat werden?«

Da kam Tante Rikchen hereingestürzt. Kam, so schnell sie ihre Füße trugen, kam, so schnell es ihre umfängliche Breite, die in einem violetten Kaschmirmorgenrock sich verdoppelt hatte, nur zuließ.

»Haste gehört, Salomon, von Ferdinand? Haste gehört?« rief sie, fast noch draußen, mit dem Knopf der Tür in der Hand. »Eben schickt doch Hannchen das Mädchen 'rum! Dein Bruder hat doch 'n Titel gekriegt!«

Jettchen, die sich erhoben hatte, zitterten die Knie, als sie Tante Rikchens Stimme hörte. Aber auch Tante Rikchen fuhr im ersten Augenblick zurück. Dann jedoch warf sie sich in ihrer ganzen Breite, wie eine Ringerin, auf Jettchen und küßte sie rechts und links und auf den Mund, ohne viele Worte zu machen. Denn Frauen haben unter sich eine andere Sprache als Männer.

Es war nun durchaus keine Komödie von Tante Rikchen, sondern sie freute sich wirklich von Herzen, Jettchen wiederzusehen, denn sie hatte ihr in den Monaten recht sehr gefehlt. Auch war in der Zeit ihre scheinbar unerschütterliche Zuneigung zu dem einzigen Sohne ihres verstorbenen Bruders Nero, zum Vetter Julius, arg ins Schwanken geraten. Denn einen schlechten Kursstand verzeiht man endlich selbst dem liebsten und nächsten Anverwandten nicht. So hatte Tante Rikchen nun mit einemmal gegen Jettchen gar nichts mehr einzuwenden.

Auch Jettchen ging es seltsam. Kaum daß sie noch ein paar Worte gesprochen hatten, so war all ihre Befangenheit von ihr gewichen, nichts war ihr mehr fremd; sie atmete wieder ihre Luft, jedes Stück war ihr vertraut, und im Laufe des Gesprächs wischte sie ganz heimlich mit einem Tuch den Staub von der roten, geschliffenen Wasserkanne, die auf dem kleinen braunen Tischchen stand. Wer machte jetzt bloß hier rein?

Man sprach über Ferdinand, daß ihm der Titel sicher nützen werde, und von Wolfgang, daß der Winter doch noch so lang wäre. Wenn er sich nur erholen wollte! Jetzt solle es ihm ja nun Gott sei Dank ein bißchen besser gehen.

Aber mit Eli ... er sei doch eben sehr alt. Salomon könne »unberufen« in keiner Weise klagen, er fange jetzt schon an, Frühjahrsneuheiten zu versenden.

Jason sagte – und sein Ton war noch verschleierter und deutungsreicher denn sonst –, daß er gleich zu Ferdinand gehen wolle, ihm zu der Ehre Glück zu wünschen. Und Jettchen meinte, sie wolle ihn begleiten, weil sie auch Wolfgang einen Krankenbesuch machen wollte.

Salomon und Rikchen aber brachten ihren Besuch beide höchst feierlich durch die langen Geschäftsräume, führten ihn durch die grauen Regale mit den Seidenkupons hindurch und zwischen den Tischen hindurch, auf denen die farbigen Stoffballen hoch aufgeschichtet lagen. Tante Rikchen küßte Jettchen noch zum Abschied, und Onkel Salomon sagte, daß sie nun wieder ganz zu ihnen gehöre.

Und alle Buchhalter und Lagerverwalter und Expedienten, die wie Pferde vor den Krippen sich vor ihren hohen Stehpulten in den Fensterecken auf den Füßen wiegten, hörten mit der Arbeit auf, legten die Gänsekiele hin, wandten sich um und grüßten Jettchen. Und der alte Demcke kam sogar auf Jettchen zu und gab ihr die Hand. Wie es denn der Madame eigentlich so jinge? Der Hausdiener Gustav aber, der in seinem Kellerverschlag Kisten packte, kam hervor wie ein Dachs aus seinem Bau, kam mit hochgestreiften Ärmeln und wischte sich die mächtige Hand verlegen an seiner blauen Schürze, ehe er sie Jettchen reichte.

Und Jason lächelte und tuschelte Jettchen im Hinausgehen zu: »Siehst du, mein Kind, so sind die Menschen!«

Draußen aber war immer noch der helle, klare Wintertag mit seiner weißen, milden Sonne über den Häusern. Und Jettchen ging neben Onkel Jason her, und sie war froh, daß nun alles wieder im alten Geleise war. Denn die Entfremdung von Onkel Salomon und Tante Rikchen und all den andern hatte ihr doch weh getan, und sie hatte sich vereinsamt und ausgestoßen gefühlt. Die Leute sahen wieder auf sie, und die Bekannten beeilten sich zu grüßen, selbst die, mit denen sie früher gar nicht auf dem Grüßfuß gestanden hatte, sondern die sie nur so vom Sehen kannte.

Die Ecke vom Hohen Steinweg war leer. Der alte Onkel Eli war schon nach Hause gegangen. Er mußte doch wirklich nicht gut dran sein, denn sonst war er um diese Zeit immer noch auf seinem Posten. Er ging stets erst sieben Minuten nach drei Viertel eins nach Hause, weil um ein Uhr Mittag gegessen wurde.

Und da waren sie auch schon bei Onkel Ferdinand in dem breiten und dunklen Torweg, der sich nach den langen Höfen mit seinen grauen Remisen öffnete. Man merkte, daß hier Hunderte von Wagen hindurchgefahren waren, denn die Dielen zeigten tiefe Furchen und waren ganz zerrissen und splitterig.

Hinten auf dem Hof liefen weiße Tauben in der Sonne, zwischen den holprigen Steinen, gurrten und pickten in den Fugen nach verwehten Haferkörnern. Und ganz nahe am Haus rutschten scheu und schnuppernd mit schlaffen Ohren ein paar große Königshasen entlang, diese ewigen bescheidenen Stallgenossen von Vieh und Pferden. Ein paar unbeleuchtete Stufen, auch am Tage stockdunkel, führten hinan zur Wohnung; man merkte oben die Tür erst, wenn man mit dem Kopf gegen sie stieß, und sobald man etwa auf der falschen Seite nach dem Klingelzug tappte, war man verraten und verkauft und bekam nie Einlaß.

Aber Jason kannte das und tastete nach der rechten Seite, faßte die Perlenschnur, fand den Handgriff, die Klingel schlug an, und alsbald öffnete sich die Finsternis.

Ob der Herr Rat zu Hause wäre, fragte Jason.

Der Herr Rat, sagte das Mädchen – und man hörte es ihrem Ton an, daß sie sich dadurch gehoben fühlte, das sagen zu können –, werde gleich vorkommen. Der Herr Gebert möchte nur solange in die jute Stube jehn. Und damit öffnete das Mädchen die Tür und machte ganz wider ihre sonstige Art eine runde, einladende Handbewegung, denn sie empfand, daß sie jetzt in einem vornehmen Hause war.

Ferdinand Geberts Putzstube war nun nicht so schön wie die seines Bruders Salomon mit den weißen Lackmöbeln und der mattgrünen Seide an den Wänden oder etwa die Jasons, in der alles von schwerem Mahagoni und hellen Porzellanen glänzte, sondern sie war gar einfach mit ihren geschnitzten Stühlen aus hellem Apfelholz, mit ihren Schlummersesseln und ihren Kommoden aus Birke, die von schwarzen Strichen umrahmt waren, und ihrem flammigen Eckschrank mit den Goldtassen »Wandle auf Rosen«, »Aus Freundschaft« und »Den guten Eltern«. Aber überall standen in Goldrahmen gestickte Paravents umher, auf denen der Rhein in grünen und blauen Wellen dahinfloß und ein heldenhafter Harfner und eine melancholische Schloßdame in winzigem Nachen sich ihrer Liebe versicherten. Überall lagen gestickte Kissen und Rollen: auf den Sesseln und der flach gepolsterten Sitzbank, auf der Erde und an den Fensterborden. Und an Antimakassars war ein Überfluß, daß man einen Ausverkauf hätte machen können. Auf dem Sofa, auf den Sesseln, an den Stuhllehnen, auf den Hockern lagen ihre breiten, schweren Häkelmuster, hier winzig wie ein Taschenspiegel und da umfänglich wie ein Wagenrad. Aber all das machte das Zimmer nicht unbehaglich; und dadurch, daß von draußen die Sonne hereinkam und es in dem weißen Porzellanofen dabei friedsam sprühte und knisterte, erschien Ferdinand Geberts Putzstube bei all ihrem kleinbürgerlichen Ungeschmack doch warm, licht und freundlich.

Noch in der Tür wollte Ferdinand Gebert den Ärmel seines blauen Gehrocks anziehen, aber vor Erstaunen, als er Jettchen sah, fand er nicht die rechte Stelle und schob und schlenkerte den Arm hin und her. »Herrgott«, rief er, »das ist aber hoher Besuch!«

»Ja«, sagte Jettchen, »ich wollte doch unter deinen Gratulanten nicht fehlen.«

»Na, es freut mich, daß du überhaupt mal kommst«, sagte Ferdinand Gebert, ging auf Jettchen zu und küßte sie höchst resolut trotz ihres Lachens und Sträubens. Denn das war von je sein onkelhaftes Vorrecht gewesen, das er sich nicht rauben und verkümmern ließ. Und sei es nun, daß Jettchen wirklich noch schöner geworden war oder daß es ihm nur so erschien, weil er sie so lange nicht gesehen hatte – sie gefiel ihm ganz ausnehmend; und sein altes verliebtes Herz war zudem heute in einer Verfassung, daß er alle Welt umarmen mochte. Und was befahl ihm, sich Zwang aufzuerlegen?

Endlich trat Ferdinand Gebert zurück und rieb sich die Hände.

»Na«, sagte er, »das eine freut mich nu doch, Jettchen, daß du klüger gewesen bist wie wir alle zusammen. Du hast gleich gesehen, daß an dem Herrn Vetter aus Bentschen nichts dran war; wir sind de Dummen gewesen. Ich sage ja immer: Beim Heiraten und beim Pferdekaufen kann man nicht vorsichtig genug sein, und am Ende ist man doch immer und ewig angeschmiert.«

»Na, Herr Rat«, unterbrach Jason, der bisher stumm dabeigestanden hatte, Ferdinand, um ihn auf einen anderen Gesprächsstoff zu bringen, »na, Herr Rat, wie ist dir denn nun zumute?«

»Gott, wie soll einem denn zumute sein«, antwortete Ferdinand und strahlte über das ganze Gesicht, »mau! Meinste, ich bin ein anderer, als ich gestern war? Ich mache mir ja gar nichts draus. Ich selbst lege auf den Titel gar keinen Wert. Aber fürs Geschäft ist's gut. Früher sind de Leute gekommen: ›Herr Gebert‹, und es ist eine Liebenswürdigkeit gewesen, wenn sie mir was abgekauft haben. Jetzt werden sie eben ›Herr Rat‹ sagen und tun, als ob es eine Liebenswürdigkeit von mir wäre, wenn ich ihnen was verkaufe. Und verstehste, Jason, billiger werde ich auch nich mehr.«

Und dabei ging Ferdinand mit großen Schritten zwischen all seinen Paravents auf und nieder und rieb sich die Hände.

»Wie geht's denn Wolfgang?« sagte Jettchen, und die Frage fiel ihr schwer.

»Ach«, sagte Ferdinand, »es geht ihm gottlob jetzt besser. Ich hab' nun nachgrade genug von de Doktors. Die bringen ihn ja noch ganz 'runter. Ich geb' jetzt dem Jungen nur noch Liebertschen Tee, und da sollt ihr mal sehen, wie er mir wieder auf die Beine kommt. Und denn, wißt ihr, lasse ich ihn so sechs, acht Wochen ruhig im Stall stehen, ehe ich ihn wieder auf de Straße schicke. Und in der Schule, meine ich, wird er es nachher schon besser haben. Denn als Sohn vom Königlichen Kommissionsrat Gebert nimmt er doch eine ganz andere Stellung ein wie einfach als der Sohn vom Fabrikanten Gebert.«

»Mir scheint, das wird ihm doch wohl wenig nützen«, warf Jason skeptisch ein.

»Man kann nich wissen. Er wenigstens erzählt doch immer, daß die und die Jungens vorgezogen werden, ob sie was wissen oder nicht – nur weil ihr Vater einen Titel hat. Das is nu überall in der Welt gleich; und im Grauen Kloster is das eben auch nich anders.«

Damit mochte ja Ferdinand Gebert gar nicht unrecht haben. Unrecht hatte er nur darin, daß er die Tragweite und Machtsphäre gerade seines Titels überschätzte. Und endlich war ja auch das gleichgültig. Denn die Frage wurde gar nicht weiter zum Austrag gebracht, und der kleine Wolfgang kam eben nie mehr in die Lage, die geheimnisreich wirkende Fürsprache des väterlichen Titels in Anspruch zu nehmen.

Da rappelte es im Nebenzimmer, und Hannchen rauschte herein mit ihrem schweren Moirékleid, knatternd wie eine Fahne auf halbmast. Und die kleinen Jacobyschen Jettaugen waren vor Glück und Wohlgefallen ganz in dem breiten Kindergesicht verschwunden. Aber als sie Jettchen erblickten, weiteten sie sich plötzlich zu bedeutsamem Staunen. Doch das war nur der Schatten eines Augenblicks. Dann zogen sie sich schon wieder zusammen und blitzten vor Freude und schimmerten vor Liebenswürdigkeit. Und Hannchen zog Jettchen an sich und preßte sie zärtlich gegen ihren weiten und bewegten Busen.

Denn wenn es Tante Hannchen auch wohl nicht ganz so ums Herz war, wie sie sich Jettchen gegenüber gab, so beugte sie sich doch vor der Beweiskraft der Tatsachen und war von Natur schon immer auf der Seite der Mehrheit. Deshalb war es ihr jetzt nicht schwer angekommen, ihren Neffen fallenzulassen; vor allem, da man behauptete, daß Julius auch mit der »roten Person« viel Geld durchgebracht habe. Und in allem, was Moral anbetraf, dachte Tante Hannchen unerbittlich streng.

Wir aber, die wir hier authentisch sind, müssen in dieser Hinsicht Julius Jacoby durchaus in Schutz nehmen und können versichern, daß es ein völlig unbegründetes Gerücht war. Im Gegenteil. Der Vetter Julius gab für die rote Person nicht einen Taler mehr aus, als unbedingt nötig war, um sich ihre Freundschaft und Zuneigung zu erhalten. Leichtsinnig war er nicht.

Jettchen gratulierte Hannchen, und die wiegte wohlgefällig den Kopf und erzählte, wie das gekommen sei. Wie sie zuerst gedacht hätte, es wäre etwas vom Gericht, wegen des Siegels. Und wie Ferdinand sie zu sich gerufen hätte, er hätte sein Knipsglas verlegt, und sie solle ihm deshalb vorlesen. Aber das sei nur eine Finte von Ferdinand gewesen, denn er habe schon genau gewußt, was darin stand.

Und Ferdinand sagte, daß er gerade einen bezaubernden Char à bancs hinten in der Remise stehen habe, den sich Jason einmal ansehen sollte, wenn er etwas Vornehmes und Fürstliches sehen wollte. Und Jason Gebert, der gleichsam als Familienerbteil auch die Liebe zu schönem Fuhrwerk und schönen Pferden hatte, war gleich dabei.

Da steckte das Mädchen den Kopf durch die Türspalte.

Die Frau Rätin, sagte sie verlegen, möchte doch einmal persönlich hinterkommen und die Zitronenspeise abkosten.

Was denn Wolfgang jetzt mache, warf Jettchen zaghaft ein. Sie hätte ihn doch gern einmal gesehen.

Das könnte sie ruhig, sagte Hannchen. Er wäre schon seit einigen Tagen wieder auf. Nur aus dem Zimmer möchte sie ihn nicht lassen, damit er sich nicht von neuem erkälte. Denn man müsse ihn doch immer noch sehr in acht nehmen.

»Na«, sagte Jason, »dann hole ich dich nachher ab, Jettchen.«

»Wollt ihr nicht heute bei uns essen?« fragte Ferdinand, der mit seinem neuen Titel auch einen neuen Menschen angezogen hatte und gastfrei geworden war. Vordem hatte er es immer bequemer und billiger gefunden, bei anderen zu essen, als selbst Gäste bei sich zu sehen. »Es kommt mir auf einen Teller Suppe gar nicht an.«

»Ach nein«, sagte Jason mit leichter Verbeugung, »wir haben gerade blaue Karpfen, und die schmecken gewärmt nicht. Aber wir kommen ein anderes Mal sehr gern, Herr Rat.«

»Ich halte dich aber bestimmt beim Wort, Jason«, sagte Ferdinand würdig, und er war fest überzeugt, daß er es nicht tun würde.

»Hör mal«, sagte Hannchen, während sie voranrauschte durch den langen Hinterkorridor und die eine Schulter vorschob, um zwischen den Spinden hindurchzukommen. »Hör mal, Jettchen, wie gefällt's dir nu bei Jason? Er is schon 'n Mensch, in den man sich verlieben kann.«

Wenn man Tante Hannchen hörte, so klang das ja sehr unschuldig und harmlos, treu und sorgend, aber Jettchen hätte ihre liebe Tante nicht kennen müssen, um nicht herauszufühlen, daß auf dem Grunde dieser Frage ein schweres Mißtrauen schlummerte. Und das verstimmte Jettchen.

»Oh«, sagte sie und bemühte sich, es unbefangen zu sagen, »wir kommen ja sehr gut miteinander aus.«

Da aber erkannte Wolfgang in seinem Zimmer Jettchens Stimme und rief ganz laut: »Jettchen! Jettchen! Du sollst zu mir hereinkommen!«

Und Tante Hannchen rauschte den Gang weiter hinab nach der Küche, zu ihrer Zitronenspeise, während Jettchen in Wolfgangs Zimmer trat. Das lag nach dem Hofe hinaus, den Ställen gegenüber, war nicht hell und sehr klein; nicht viel größer als eine Kuchenschachtel war es eigentlich, und Sonne bekam es wohl nie. Höchstens ein paar Wochen im Jahr, ganz früh am Morgen, in einem schmalen Streifen von der Seite.

Wolfgang aber saß in einen tiefen braunen Lehnstuhl vergraben und verloren und war von Kopf bis Fuß in einen großmächtigen bunten Kaschmirschal gehüllt. Er sah nicht auf. Er war vollauf erfüllt und beschäftigt. Er hatte vor sich ein Leimtiegelchen stehen, und daneben hatte er allerhand gepreßte Goldpapiere liegen, allerlei scheckige Marmorpapiere und hundert kleine Oblaten von Figuren, Rosetten und Postamenten mit Inschriften. Und aus dieser papiernen Herrlichkeit klebte Wolfgang nun einen goldstrahlenden Tempel mit Marmorsäulen zusammen, mitten hinein in eine zartgestrichelte Landschaft, die von vielen Rosenbüschen leuchtete. Und da Wolfgang gerade dabei war, mit seinen dünnen Kinderhänden eine der letzten Marmorsäulen fein säuberlich aufzukleben, so durfte er nicht einmal aufsehen, als Jettchen eintrat. Aber eigentlich war dieser ganze Eifer Wolfgangs nur geheuchelt, damit Jettchen ja nicht etwa merkte, wie erregt er über ihren Besuch war und wie ihm das Herz klopfte.

»Wolfgang«, sagte Jettchen, und ihr war es, als ob ihr da innen etwas zerrisse, »nun laß dich mal ansehen. Wie geht's dir denn?«

Wolfgang wandte die Augen von der Arbeit und sah Jettchen groß an.

»Oh«, sagte er, und ein überlegenes Lächeln kam auf sein hageres, verfiebertes Knabengesicht, »es ist ja ganz nett, mal ein bißchen krank sein. Du weißt ja auch, daß sie früher hier immer alle mich schlecht behandelt haben. Jetzt sind sie alle gut zu mir. In die Schule brauche ich auch nicht mehr zu gehen; ich kann also jetzt den ganzen Tag tun und arbeiten, was ich nur will. Und am ersten schönen Mittag, das hat mir Vater fest versprochen, läßt er für mich anspannen, und dann fahren wir nach dem Tiergarten.«

So sprach Wolfgang. Nicht mehr mit seiner Knabenstimme von einst, sondern so ernst, tief und altklug, daß es zu seinem dürftigen Körper gar nicht recht passen mochte. Auf dem Grunde seiner Augen aber – Jettchen sah von dem ganzen Gesicht nur sie, denn die Krankheit ließ sie hervortreten und größer denn ehedem erscheinen –, auf dem Grunde seiner Augen lag dabei eine wunschlose Müdigkeit, lag die ganze seelische Überlegenheit, die eben der kranke Mensch immer vor dem gesunden hat. Da draußen, sagten diese Augen, da liegt das Licht über der Stadt, da zieht und rauscht das Leben dahin; da spielen die Jungen auf der Straße, und sie kämpfen in der Schule darum, einen Platz hinauf- und nicht herunterzukommen. Und die Welt der Großen geht ebenso ihren Gang weiter, und jeder kämpft um seine Stelle an der Sonne. Alle wollen und wünschen sie etwas: die Ehre und jene Reichtum und diese Liebe; sie wollen die ersten und nicht die letzten sein, sie verzehren sich in Sehnsucht und möchten immer für das Heute das Morgen eintauschen. Aber ich sitze hier, und ich will nichts mehr als meine spielerische, müßige Arbeit. Und wenn es eben sein muß, so werde ich auch die still beiseite legen und ins Dunkel gehen.

»Bist du denn nun nicht stolz auf deinen Vater, Wolfgang?« fragte Jettchen.

»Ach ja, ich freue mich schon«, meinte Wolfgang. Und in dem Ton klang etwas, als spräche er von Dingen, die ganz fernab lägen. »Aber weißt du, Jettchen, ich denke jetzt immer, Vater wäre vielleicht ganz anders geworden, wenn ihn Mutter verstanden hätte. Vielleicht so wie Onkel Jason. Jetzt, wo er öfter einmal eine Stunde hier bei mir ist, weiß ich überhaupt erst, wer er ist. Vordem habe ich ihn nicht gekannt.«

Jettchen vergaß ganz, daß sie doch noch ein halbes Kind vor sich hatte. »Sieh mal, Wolfgang«, sagte sie und streichelte den Jungen, »so mußt du nicht von deinen Eltern sprechen und denken. Sie haben dich doch beide sehr lieb. Und wenn sie nur beide euch liebhaben, dich, Max und Jenny, so haben sie sich damit untereinander eben auch schon lieb.«

»Aber warum bist du denn nicht zu Julius gegangen?« fragte Wolfgang ganz schroff und unvermittelt, fragte es statt jeder Antwort. Und er zitterte vor Erregung. Denn in seinem kleinen Hirn malte sich das gar seltsam; und in langen Fiebernächten hatte Wolfgang jetzt immer davon geträumt, daß es eben seinetwegen und nur seinetwegen geschehen wäre. Und er hatte sich mit aller Inbrunst seiner kleinen und unbefleckten Seele an diesen Gedanken geklammert und ihn zu keinem Menschen geäußert, ihn in sich bewahrt wie ein Geheimnis, das nur ihm gehörte.

»Das verstehst du nicht, Wolfgang«, sagte Jettchen, »auch wenn ich es dir anvertrauen würde. Aber wenn du mal groß bist, dann wirst du wissen, warum ich es getan habe.«

Wolfgang lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schloß halb die Augen. Das Glück betäubte ihn fast.

»Ich weiß«, sagte er dann und lächelte still vor sich hin. »Ich bin gar nicht mehr so klein, Jettchen. Und im nächsten Sommer, wenn du wieder nach Charlottenburg ziehst, dann darf ich doch wieder bei dir draußen wohnen, die ganze Zeit – nicht wahr? Und, Jettchen, noch eins – es darf keiner hier hören –: Sieh mal, sie sagen hier alle, ich wäre nur dadurch krank geworden, daß ich ohne Hut und Mantel fortgelaufen bin und dich suchen wollte. Es ist nicht wahr. Du mußt das nicht glauben. Du weißt es ja selbst, ich habe vorher auch schon immer so viel gehustet. Du mußt mir versprechen, Jettchen, daß du das nie glaubst, wenn das mal einer zu dir sagt. Und sieh mal, weißt du, ich werde ja auch bald wieder ganz gesund werden.«

»Aber Wolfgang«, sagte Jettchen und lachte, während sich ihr Herz vor Gram zusammenzog, und beugte sich nieder und küßte ihn – und der Junge vereinte seine dünnen Arme um ihren Hals. »Aber Wolfgang, du bist doch nun schon wieder fast gesund. Und den ganzen nächsten Sommer sind wir auch beide zusammen in Charlottenburg.«

Da hörte man draußen auf dem Flur Jason und Ferdinand. Jason machte die Tür auf und rief ins Zimmer: »Na, junger Herr, darf sich Euer untertänigster Diener die Frage gestatten, was Euer Gnaden zu Eurem demnächstigen Namensfeste befehlen?«

»Also, Wolfgang«, rief Ferdinand, »nu wünsch dir mal recht was Ordentliches von Onkel Jason. Wenig fordern ist maulfaul.«

Da kam Hannchen herein, und das kleine Zimmer war ganz voll von Menschen.

»Wolfgang«, sagte sie, »könnte einen hübschen Biberkragen ganz gut gebrauchen. Aber das wird dir wohl doch zuviel sein, Jason.«

Aber Wolfgang saß ganz still und lächelte.

»Ach, Onkel«, sagte er endlich, »schenke mir bitte Heines ›Buch der Lieder‹.«

»Nu sieh den Jungen«, meinte Ferdinand lachend. »Heines ›Buch der Lieder‹! Hast du gehört, Frau Rätin? Er wünscht sich Heines ›Buch der Lieder‹! Nein, dazu warte man noch ein paar Jährchen, mein Sohn.« Und damit strich Ferdinand Wolfgang über die Haare. »Ich sage dir, mein Sohn, heute gibt es bei Geberts einen Kalbsbraten – nicht wahr, Frau Rätin? Einen Kalbsbraten gibt es, der ist viel schöner und viel besser für dich als alle Gedichte, die Heinrich Heine je gemacht hat und noch machen wird.«

Wolfgang sah Jettchen mit einem Blick an, als wollte er seine Eltern vor ihr entschuldigen. Sie wären doch eben nur einfache Leute ohne Bildung.

»Gewiß«, rief Jason, »Heines Gedichte. Also – ein Mann, ein Wort.« Und dann nahm er den Karton vom Tisch, auf den Wolfgang das Tempelchen mit seinen goldenen Säulen und Marmorfriesen geklebt hatte. »Hast du das allein gemacht? Auch die Landschaft dazu? Wirklich? Na siehst du, Ferdinand, da weißt du doch gleich, was Wolfgang einmal werden kann. Der muß wieder Graveur werden, wie es Vater von Haus her war. Was glaubst du, Ferdinand, wär' mir heute wohl, wenn ich das auch geworden wäre.«

»Ja«, sagte Wolfgang und sah ganz behaglich dabei vor sich hin; denn es schmeichelte ihm doch, daß so viel Menschen sich mit ihm beschäftigten und daß er hier der Mittelpunkt war. »Ja, Jettchen. Willst du dir das nachher mitnehmen? Ich hab's wirklich für dich gemacht.« Und damit zog er das Blatt heran und schrieb mit spitzen, sauberen Lettern unten an die Stufen des Tempels: »Zum Andenken an Wolfgang Gebert.«

»Nun, nimm's dir schon!« rief Ferdinand. »Aber dann, Jettchen, wollen wir alle nach vorn gehen. Denn wenn der Junge so viel spricht, muß er nur wieder die Nacht husten. Kommen Sie, Frau Rätin.«

Und damit bot Ferdinand seiner Frau den Arm und führte sie zur Tür.

Jettchen nahm den Karton, den sie geschenkt bekommen hatte, beugte sich zum Dank noch einmal über Wolfgang und küßte ihn. Und Onkel Jason reichte dem Jungen die Hand und schüttelte sie derb. Er solle bald einmal zu ihnen kommen.

Aber draußen auf dem Flur zog Jason Gebert sein Batisttuch, und indem er tat, als ob er sich die Nase riebe, wischte er sich verstohlen über die Augen.

Gerade aber, als Jettchen und Jason sich verabschiedeten, gerade als Hannchen ihnen sagte, nun müßten sie beide auch einmal »gemütlich« zum Abend kommen, erschien – es war eigentlich schon spät – Jenny mit ihrer Rückenmappe. Sie ging zur Rätin Dietrich in die Schule, hinten am Krögel. Aber da sie Begleitung liebte, brauchte sie immer gut eine halbe Stunde, bis sie von dort nach Haus kam. Jenny sah frisch und gesund aus wie das Leben selbst; und sie wurde ganz rot und verlegen, als sie Jettchen sah, denn sie wußte nicht, wie sie sich ihr gegenüber geben sollte. Aber sie fand schnell heraus, daß man es ihr nicht verargen würde, wenn sie sich wie einst rechts und links mit dem Kopf an sie kuschelte. Und das tat sie und blickte ebenso verliebt zu Jettchen empor wie nur je ehedem.

Und Ferdinand ließ es sich keineswegs nehmen, seinen Besuch selbst die paar Stufen hinabzubringen, und er klopfte noch im Torweg Jettchen auf die Schulter und sagte, daß sie beide nun wieder ganz die alten wären und von jetzt an es auch immer bleiben müßten.

Draußen lag immer noch unverändert der helle Wintertag mit seinem durchsichtigen, lichten Himmel und mit seiner milden weißen Sonne über den Straßen; und alles sah nach der grauen Zeit nun doppelt blank und sauber und freudig aus. Die Geschäfte hielten jetzt Mittagspause, und die Königstraße war ganz erfüllt Von den Reihen von jungen Leuten, die in hastigen Schritten nach Hause eilten, und von anderen Reihen, die schon wieder zurückströmten, weniger hastig, denn man kommt doch eben lieber zum Geschäft als zum Essen zu spät.

Jettchen und Jason gingen in dem Gewühl ziemlich stumm nebeneinanderher, denn ihre Gedanken waren bei Wolfgang, und keiner wagte dem andern von ihm zu sprechen. Jettchen dachte auch an Kößling, und es fiel ihr ein, daß sie doch zu Onkel Salomon von ihm und für ihn hatte sprechen wollen und daß sie sich hatte verteidigen wollen und daß sie den Onkel für sich hatte gewinnen wollen. Und sie hatte nicht ein Wort gesprochen. Ja, sie hatte die ganze Zeit nicht einmal mit einem Gedanken an Kößling sich erinnert. Sie hatte all das wiedergesehen, ihre Menschen, hatte wieder ihre Luft geatmet, und währenddessen hatte Kößling weit da draußen gestanden, irgendwo fern unten, und sie hatte sich nicht nach ihm gesehnt und ihn nicht gesucht.

»Ja, Jettchen«, sagte Jason Gebert, »nun bin ich doch froh, daß alles wieder beim alten ist und daß du dich wieder ganz zu uns rechnest. Weißt du, man mag reden, was man will, Jettchen – eigentlich ist das doch das einzige, was uns Halt gibt im Leben. Es ist mit der Familie wie mit dem Ofen: Solange Sommer ist, wollen wir nichts von ihm wissen, und jedesmal, wenn wir durchs Zimmer gehen, stoßen wir uns dran, und wenn wir ihn anfassen, ist er hundekalt. Aber sowie es Winter ist, da merken wir erst, was er uns bedeutet und was wir ohne ihn überhaupt wären.«

 


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