Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zum Abend jedoch wollte es nur widerwillig dunkel werden. Der Himmel strahlte, als ob er sich auf den kommenden Tag freute. Drüben die Götter auf der Balustrade standen schwarz und bewegt wie die Figuren eines Schattenspiels gegen den lichten, goldenen Grund. Und unten von den Straßen, in denen schon im Halbdunkel Kolonnen von Menschen und Wagen und Pferden sich bewegten, stieg es wie ein warmer Dunst auf. Der Abend hatte nämlich nicht mehr die Straßen entvölkert, wie er das noch wenige Tage vorher getan hatte, sondern er schien alle Welt hervorgelockt zu haben, und niemand hatte es eilig heimzukommen. Während in den kalten Tagen jeder dahinstürmte in seiner eigenen Bahn und der Mensch nur Einzelwesen zu sein schien, ging jetzt keine Seele allein. Jeder hatte eine Begleitung. Die kleinen Mädchen gingen zu zweien und dreien, und die Gymnasiasten folgten ihnen in geringen Abständen. Eltern hatten die Kinder an der Hand, und den Handwerker hatte seine Liebste im bunten Umschlagtuch und mit bloßem Kopf von der Arbeit geholt. Die große Zusammengehörigkeit alles Lebens wurde plötzlich wieder verkündet.

Jettchen aber saß oben am Fenster in Jasons grünem Zimmer, das noch ganz vom Gold des Abends erfüllt war, und sah über die Dächer fort und in die Straßen hinein, die in ihrem unklaren und lebhaften Durcheinander von Menschen und Fuhrwerken schon halb in der Dämmerung lagen. Licht mochte sie noch nicht anzünden, und zum Lesen oder zu einer Handarbeit war es doch nicht mehr hell genug. Jettchen hatte beides am Nachmittag versucht, und trotzdem das Buch sie gefangennahm – es war ein Buch über Charlotte Stieglitz, das sie sich aus Jasons Bibliothek genommen hatte –, vermochte sie doch nicht dabeizubleiben, und sie wechselte es mit den kleinen Platten einer Petitspoints-Arbeit, welche die Deckelseite zu einem Notizbüchlein bilden sollte.

Aber ehe sie sich recht besann, da hatte sie schon den Vergißmeinnicht rote und den Rosen blaue Blüten gegeben, weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Und sie kehrte unwillig zu ihrem Buch zurück, nur um auch das bald auf die Seite zu legen und in den weißen Himmel zu blicken, der sich langsam rötlich und dann golden färbte.

Kößling war nicht gekommen, trotzdem Jettchen ihn erwartet hatte, trotzdem Jettchen fühlte, daß sie gerade heute mit ihm sprechen müsse. Es lag immer so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen, und er war wieder so seltsam gewesen, so unberührt von allem, was ihre Welt war. Sie wäre ja gern gefolgt, wenn er sie geführt hätte; aber er lebte sein Leben ganz für sich, und in all den Monaten jetzt waren sie sich kaum nähergekommen. Sie hatte schon oft zu ihm davon sprechen wollen – und sie hätte es heute sicher getan –, sie sehnte sich nach einem guten Wort von Kößling, und sie sehnte sich nach einem freundlichen Gesicht von ihm. Sie hätte so gern an ihn geglaubt, und es wurde ihr so furchtbar schwer gemacht. Es gab ganze Stunden am Tage, in denen ihre Gedanken nicht bei ihm waren, und Jettchen erinnerte sich nicht mehr der Zeit, da ihnen ein Nachmittag ohne Gegensätze vergangen wäre und daß ihr Abschied heiterer und glücklicher gewesen wäre als ihre Begrüßung. Sie fühlte gewiß auch den Ernst des Lebens und die tausend Beschränkungen; sie war nicht mehr jung genug und nicht unklug genug, um in den Tag hinein zu leben und alles auf die leichte Achsel zu nehmen. Ihr Leben vordem im Hause Onkel Salomons war ja auch einsam und freudlos genug gewesen, sie hatte mit diesen beiden alternden Menschen, die ihre Jugend nicht begriffen, immer das lachende Draußen wie durch Wolken und Schleier gesehen; und nun, da sie das erstemal es gepackt hatte, da sie sich mit einem Ruck frei gemacht hatte – da konnte sie sich nicht zum Lachen zwingen. Und das Glück, das sie sich schaffen wollte, hatte mehr Zweifel und geheime Tränen als ihre verträumte Lässigkeit von ehedem. Wo wäre sie wohl jetzt hingekommen, wie wäre sie umhergestoßen worden, wenn sie nicht an Onkel Jason einen Halt gefunden hätte. Er breitete ihr Teppiche unter jeden Schritt, er sorgte dafür, daß sie nichts hart stieße, er war das einzige Wesen, in dem sie immer wieder Ruhe fand; fern und ihr doch vertraut; kühl und skeptisch – und ihr doch voll Glauben; stolz und spöttisch, zurückhaltend und verschlossen – und für sie ein offenes Buch mit schönen, klaren Lettern.

So schossen Jettchens Gedanken hin und her, kamen von Jason Gebert immer wieder zu Kößling, zurückkehrend wie das Schiffchen des Webers, das über die Kette fliegt, von rechts nach links, von links nach rechts und wieder nach links. Und mit der Dämmerung wuchs Jettchens Ungeduld und das Gefühl des Unbefriedigtseins – und Jettchen merkte erst, daß sie weinte, als ihr die Tränen auf die Hand tropften.

Und da wollte es der Zufall, daß Jason Gebert, der hinten so lange in seiner Bibliothek Stiche geordnet hatte und nun auch nicht mehr recht etwas sehen konnte, zu Jettchen ins Zimmer kam und daß ihn Jettchen nicht eher bemerkte, als bis er hinter sie getreten war.

»Sieh an, Jettchen«, begann er, »ich dachte, du hättest Gesellschaft?«

Jettchen sah mit nassen Augen zu Onkel Jason auf. Das Weiße der Augen erschien ganz golden von dem Widerschein des Himmels. Sie wollte lächeln, aber es gelang ihr nicht, und ihre Tränen flossen nur stärker.

»Nun«, sagte Jason und strich Jettchen verwundert und mitfühlend über das Haar. »Nun? Freudvoll und leidvoll? – Ihr seid doch beide den ganzen Vormittag beisammen gewesen, da ist es doch wahrlich nicht so schlimm, wenn man einmal Nachmittag nicht kommt.«

»Nein, das ist auch nicht so schlimm – wenn wir nur vormittags beisammen gewesen wären. Aber wir haben uns ja nur gesehen und haben uns ja nur gesprochen; gesagt haben wir uns nichts – gesagt! Wann sagen wir uns überhaupt etwas?«

»Aber Jettchen«, meinte Onkel Jason und zog sich einen Stuhl heran. »Aber Jettchen, du bist vielleicht ungerecht. Weißt du denn, was in einem Menschen vorgeht? Es ist sehr schwer, etwas zu sein, wenn man mit allen Fasern danach ringt, etwas zu werden.«

»Ach nein, Onkel Jason«, rief Jettchen plötzlich, und es war, als ob ein Wehr aufgezogen würde, so drängte alles hervor. »Warum bist du etwas? Warum kann ich mit dir sprechen? Warum fühle ich bei jedem Wort von dir, wie du es meinst? Warum weiß ich, wie du über eine Sache denkst, wenn ich dich nur ansehe, Onkel? Warum habe ich Ruhe, wenn du nur bei mir bist? Ich würde ja all das gar nicht vermissen, wenn du nicht wärst, der es mich anders gelehrt hat. Du hast mich ja immer behütet und behandelt, Onkel, als ob ich ein Juwel wäre. Und wenn ich auf mich selbst etwas halte und halten will, dann danke ich das dir, Onkel. Vielleicht wenn ich all das nicht wüßte und all das nicht kennen würde, dann würde ich glauben, das muß so sein, wie es zwischen uns ist. Aber durch dich weiß ich, daß sich Menschen näherkommen können.«

Jason Gebert war tief erschrocken. Er hörte gar nicht, was Jettchen noch alles sprach, wie sich das mit Tränen von ihrer Seele löste und fortgespült wurde in langen, heißen Sätzen. Daß sie zweifle und immer wieder zweifle, ob sie beide füreinander bestimmt seien, daß sie sich Kößling gegenüber oft jetzt schon so fremd fühle – und so fern – und daß sie fürchte, daß sie ein ganzes Leben so im Innersten fremd nebeneinander gehen würden. Gewiß, sie liebe ihn trotzdem und freue sich, wenn sie ihn nur erblicke. Aber er, er hätte ihr so hohe Anschauungen von der Gemeinsamkeit zweier Wesen gegeben, daß ihr das bißchen Wohlgefallen aneinander, daß ihr das für ein ganzes Leben nicht genüge ...

Jason Gebert war tief erschrocken. Und er hörte gar nicht mehr, was Jettchen sagte. Er fühlte nur in allen Nerven den seltsamen Schauder des Pygmalion, den freudigen Schrecken und das schmerzvolle Grausen, daß diese schöne Statue, an die er die ganze Arbeit seines Lebens gesetzt und die er tausendmal insgeheim um Beseelung und Erhörung angefleht hatte – daß sie nun plötzlich das unerhoffte Geschenk des Lebens erhielt, daß sie zu sprechen begann und daß sie sich zu ihm neigte, Fleisch und Blut wie er, wunschvoll und sehnend wie er. Er fühlte, daß er nur ein Wort zu sagen brauchte, und sie würde ihm alles hingeben, was sie besaß; er fühlte, daß er nur ein Wort zu sagen brauchte, und sie würde den andern aus ihrer Seele löschen. Und die unerfüllte Qual von Jahren, all seine geheimsten Gedanken bekamen Macht über ihn. Was hatte er denn mit all denen draußen zu tun? Warum sollte er denn nach ihnen fragen? Warum sollte er denn vom Glück nicht das kurze Gnadengeschenk nehmen, ohne zu forschen, woher es käme – ohne zu forschen, ob er es verdiene, mit seinen Haaren, die schon grau wurden, und seinen Zügen, die schon scharf wurden, und seinem Herzen, das so müde und zerrieben war durch die tötenden Enttäuschungen von Jahrzehnten.

All das strömte im Augenblick auf Jason Gebert ein. Aber dann sah er auf das junge, volle Leben vor sich, kommend und aufsteigend mit der Maßlosigkeit der Wünsche und der Kraft des Sehnens, wie es nur die Jugend kennt, dachte an ihren Weg zur Höhe und an seinen mühseligen Abstieg zur Tiefe. Und da fühlte er seinen Mut und seine Hoffnung dahinschwinden. Es kam eine Scham über ihn, als ob er ein Vertrauen mißbrauche; er kam sich wie ein Verbrecher vor in dem Gedanken, daß er Jugend von Jugend reißen wollte. Und doch war dieses Sehnen so ungestüm in ihm, daß er es nicht niederkämpfen konnte und daß es unter seinen Worten hervorzitterte, die sich mühten, es nicht zu verraten.

Jason Gebert sprach davon, daß sie beide doch nun schon so lange sich kennen, gleichsam so lange aufeinander eingelebt wären, daß sie ja einander errieten und daß hundert Fäden vom einen zum andern gingen; und so etwas wäre eben ohne die Zeit und ohne die Jahre unmöglich. Das solle Jettchen auch Kößling gegenüber bedenken, wenn sie ihn lieb hätte. Menschen wären spröde Ware, voll von Ecken und Kanten, und man drücke sich die Hände, wo man sie auch angriffe. Jettchen müsse beherzigen, daß Kößling jetzt gerade steuerlos dahintriebe, von all seinen Zielen abgedrängt, über seine Zukunft ungewiß. Seine Stelle hätte er verloren, einen neuen Wirkungskreis hätte er sich noch nicht erschließen können, ihretwegen sei er gewiß auch voller Bangen und Zweifel, und da wäre es sehr schwer, einen Menschen zu erkennen, wenn er gerade so unter widrigen Winden stände. Wenn ihm das Glück in die Segel bliese, dann zeige, dann entfalte er sich erst. So wäre es nun einmal immer. Er kenne keine Ausnahme.

Aber Jettchen fiel Jason ins Wort und sagte, daß sie eine kenne, daß er doch nicht so wäre und daß er sein Wesen immer klar gebe und es nie verleugne. Hundertmal hätte ihr ja Onkel Eli erzählt, wie die ganzen Monate Untersuchungshaft ihm nichts hätten anhaben können. Und jetzt, kaum daß er die schwere Krankheit hinter sich gehabt hätte – wie wäre er da für sie eingetreten, wie wäre er da zu ihr gewesen. Und sie sähe das immer vor sich, und es fordere immer wieder den Vergleich heraus. Ja, wenn sie nicht wüßte, was Gemeinsamkeit zweier Menschen bedeute! Aber durch ihn hätte sie es ja erfahren.

So sprach Jettchen in einer verhaltenen Erregung, und diese Erregung hatte plötzlich ihre Tränen getrocknet und ihre Augen strahlend gemacht, hatte ihrem Gesicht Farbe gegeben und ihrem Körper neues Leben, und in ihrem ganzen Wesen sprachen sich, sonderbar vereint, Trotz und Sehnsucht aus.

Jason fühlte, daß, wenn er jetzt zu ihr spräche, zu ihr spräche von all den Jahren, in denen er heimlich ihre Schönheit mit seinen Blicken begleitet, in denen er immer Neues ersonnen, was er ihr bringen konnte, nur um sie wiederzusehen, in denen er hundertmal mit ihr hatte reden wollen, ob in ihr nicht auch mehr für ihn lebe als nur ein bißchen Freundschaft – Jason fühlte, daß, wenn er jetzt von allem spräche, sie sich zu ihm neigen würde und daß sie noch heute den andern aus ihrem Herzen reißen würde.

Die Dämmerung hatte schon draußen die Fernen gelöscht, war näher und näher gerückt – das Gold des Himmels war verblaßt, war langsam abgeblättert, und der lichte Grund war wieder hindurchgebrochen in mattem Blaugrün, aus dem, wie von Wein gerötet, die halbe Scheibe des Mondes sich emporschob. Eine braune Nacht lag tief unten in den Straßen, und das Zimmer begann nun auch schon im Dunkel hinzuschwinden; selbst die Servanten mit ihren weißen Porzellanen tauchten langsam in die Finsternis hinein, und nur über ihren Scheiben schwamm noch ein mattes Glänzen und ein verstohlenes Blinzeln.

Und all das, was Jason sagen wollte, das formte sich doch nicht zu Worten, und er zwang sich, es tief unten in seiner Seele zu verschließen, zwang sich, es in ihr Meer hinabzusenken wie die bösen Geister, die in dem eisernen Topf eingeschlossen waren. Aber sie waren stärker als er, und sie sprengten den Deckel, und sie sprachen aus seinen Küssen, mit denen er plötzlich Jettchens Hand liebkoste, diese schöne, volle, fleischige Hand mit den schlanken, rosigen Fingern, die er so heiß zwischen den seinen fühlte. Jettchen verstand, was diese stummen Huldigungen, diese langen, innigen Berührungen sprachen, daß aus ihnen eine wortlose, jahrelang zurückgedrängte Zuneigung emporloderte, und auch sie wurde überwältigt von der gleichen Sehnsucht. Sie legte ihren Arm Onkel Jason um den Nacken, brachte ihre Wange der seinen ganz nahe und berührte mit den schweren dunklen Flechten sein starres graues Haar. Und auch Jettchen bezwang sich, kein Wort zu sprechen, nichts von dem Ausdruck zu verleihen, was in ihr war, gerade als ob ihr Geist von alldem nichts wüßte, solange ihr Mund nichts spräche, und als ob jedes Wort die Schleier zerreißen müßte, die Dunkelheit und Sehnen um die beiden spannte.

Dann – damit ihr Mund nicht das unbedachte Wort spräche – senkte ihn Jettchen auf Onkel Jasons hernieder, und sie wußte nicht, wie lange sie so bleiben, ganz eng aneinandergeschmiegt in dem warmen Dunkel. Sie bemühten sich, sich keine Rechenschaft zu geben, sie wollten nicht nach Gründen suchen, ihr Mund sollte nichts von dem ausplaudern, was ihre Herzen dachten.

Sie rissen sich erst erschreckt voneinander und fuhren auf im Dunkel, das nur durch einen grünen Schimmer des frühen Mondes gelichtet war, fuhren erst auf, als die Glocke draußen heftig anschlug. Und Jettchen machte Licht mit zitternden Händen, während Jason hinaushinkte, um zu öffnen. Denn Fräulein Hörtel war auf Einkäufen. Aber während der erste gelbe Schein ihr ins Gesicht schlug, als sie die Glocke hob, legte Jettchen sich die Worte zurecht, mit denen sie Kößling entgegentreten wollte, um ihm zu sagen, daß ihre Gedanken immer bei Onkel Jason sein würden und daß sie erst jetzt sich selbst gefunden hätte.

Und alles kam, wie es kommen mußte – gerade so, wie es kommen mußte.

Onkel Salomon trat in das Zimmer, im Spenzer, den Hut auf dem Kopf, sehr ernst, mit langen Schritten. Und Jettchen erschrak; denn in der ganzen Zeit war Onkel Salomon nie heraufgekommen, und sie fürchtete schon, irgend etwas Peinliches über Julius oder über ihre Scheidung zu vernehmen. Aber Salomon sagte, daß er nicht ablegen wollte, sie möchten mit zu Onkel Eli kommen, dem ginge es nicht gut. Vielleicht hätte er einen Schlaganfall gehabt. Man wüßte es nicht recht, und die brave Tante Minchen fände sich gar nicht mit ihm zurecht, denn seit vielen Jahrzehnten wäre ihr Mann nie einen Tag im Bett geblieben. Einen Krankenpfleger wage man nicht zu nehmen, weil ihn Onkel Eli doch hinauswerfen würde; und sie wüßten nun gar nicht, was sie tun und anfangen sollten. Ferdinand wollte er jetzt nicht damit behelligen, denn der hätte ja eben genug Trauriges durchgemacht – und deswegen käme er also hierher.

Jason aber hatte während der Worte Onkel Salomons schon seine Sachen aus dem Schrank genommen und striegelte wie vor jedem Ausgang sorgfältig den Zylinder. Das vergaß Jason Gebert nie, und wenn man ihm gesagt hätte, daß es zum Schafott ginge.

Jettchen sagte, man könne über sie vollkommen verfügen. Salomon aber lachte, als sie nun auch an den Schrank ging und ihren Umhang und ihre Schute herausnahm, und er fragte, ob sie beide in allem in so schöner Eintracht und guter Gemeinschaft lebten wie mit diesem Schrank. Das sähe ja fast aus, als ob sie verheiratet wären.

Auf der Treppe erzählte Salomon, daß Stosch über Onkel Eli gesagt hätte, er könne noch Jahre leben, denn er wäre an allen Organen gesund. Aber er wäre doch sehr alt, und man könne nie wissen, was morgen sein werde. Und dann hätte Stosch sich eine ganze Weile mit Tante Minchen unterhalten und Salomon zum Schluß beiseite genommen und den Kopf geschüttelt: Tante Minchen gefiele ihm eigentlich viel weniger als ihr Mann.

An der Ecke des Hohen Steinwegs sagte Salomon, daß man ihn entschuldigen müsse, aber er hätte heute abend einen Einkäufer aus Amsterdam zu Tische. Und er ging mit langen Schritten nach der Spandauer Straße und ließ die beiden allein. Doch ehe sie das Wort aneinander richteten, lag schon das kleine Haus mit seinen wenigen hohen Fenstern – es war kaum viel breiter als ein preußischer Grenadier – vor ihnen, und über sein eichenes, geschnitztes Türchen und über die blanken Schlüsselschilder und den blanken Messinggriff huschte der flackernde Schein der Laterne, die an langem Arm drüben von der andern Seite vom Haus winkte.

Jason schellte, und Minchen steckte, bevor sie ganz öffnete, ihren alten, mit der Haube geschmückten Kopf durch die Türspalte.

»Tag, Jason, Tag, Jettchen; es ist nett, daß ihr mal kommt. Aber wißt ihr, es ist doch ein bißchen naß draußen – geht nicht gleich in die gute Stube.«

Nun hätte das brave Minchen ebensogut behaupten können, daß es schneite. Es war gar nicht naß, es war geradezu knochentrocken auf allen Wegen. Aber Jason und Jettchen widersprachen ihr nicht mit einer Silbe.

»Sei unbesorgt, Tante«, sagte Jason, »wir wollten nur mal sehen, was dein Mann macht.«

»Er liegt doch zu Bette«, versetzte Minchen, »haste nich gehört? Grade jetzt muß er sich hinlegen, und übermorgen wollte ich mit Großreinemachen anfangen lassen. Aber ich mein' schon, es kommt nur alles von dem Knubbel, den er da auf'm Kopf hat.«

»Meinst du?« sagte Jason. »Da wollen wir doch mal sehen, wie es Onkel geht.«

Elis Zimmer lag oben im ersten Stock, gerade über dem Zimmer mit den vielen goldenen Stühlen, an dessen Fenstern die beiden Alten sonst immer Wache hielten, hüben und drüben. Der alte Eli selbst lag in einem schönen braunen Bett, dessen Kopf und dessen Fußende reich und schwer geschnitzt waren und dessen tiefe Farbe seltsam und blank unter dem Schein der hohen weißen Kerzen flimmerte, die auf ihren gedrehten Zinnleuchtern steckten und vom Tisch herüber das ganze Zimmer mit einem dämmrigen Gold erfüllten.

Und wer nun da meinte, daß der alte Eli einen besonders leidenden Ausdruck gehabt hätte, der wäre in einem Irrtum befangen gewesen. Nein, halb saß er, halb lag er, noch ganz stattlich in seiner breiten Gestalt, zwischen einem mächtigen Lager von weißen Daunenkissen und Daunendecken, eine weiße Zipfelmütze auf dem Kopf und ein Hemd über der Brust mit sehr reichen, gekrausten Besätzen. Sein Kopf war rot, als hätte Onkel Eli Wein getrunken, und seine hellbraunen Augen, die vom Alter seltsam graue Ringe bekommen hatten, blinzelten ganz munter.

»Na«, sagte er – er sprach ein wenig, aber nur ein ganz klein wenig schwer –, »da seid ihr doch. Ich seh' schon, je später der Tag, je schöner die Gäste. Hast du so was schon erlebt, Jason? Heute früh will ich aufstehn – achtzig Jahre bin ich jeden lieben Morgen aufgestanden –, mit einmal geht's nicht mehr.«

»Morgen wirst du gewiß schon wieder aufstehn können«, sagte Jettchen und reichte dem alten Herrn die Hand.

Eli schüttelte sehr bedächtig. »Ich werde dir was sagen, mei Tochter, man kann nie wissen. Mit dem Sterben ist die Sache geradeso wie mit de Post: e Billet kriegt ein jeder; und wenn einem die Schnellpost nicht mitnimmt und die Extrapost auch nicht – de Fahrpost muß einen mitnehmen. Wer kann das wissen, vielleicht hält sie bei mir schon unten vor de Tür.«

»Unsinn, Onkel«, rief Jason und bemühte sich zu lachen, »wir kommen doch eben 'rauf! Ich kann dir versichern, sie war nicht da.«

»So sagt ihr«, meinte Onkel Eli, »wer weiß, was der da oben zu de Sache sagt. Aber entschuldige mal – wie heißt es doch? Man soll im Hause von e Gehängten nicht vom Strick reden. Gib mir mal de Mürbekuchchen 'rüber, Jettchen!«

Und richtig, da stand zwischen den Lichtern ein Meißner Teller mit einem ganzen Stapel von Mürbekuchen. Jettchen hatte ihn noch gar nicht bemerkt.

»Na«, rief Jason, und jetzt lachte er wirklich, »an dem Mürbekuchen sehe ich, daß dir nichts fehlt, Onkel Eli.«

»Nu, der Stosch hat mir eben anbefohlen, ich soll nur leichte Sachen essen. Und sind denn Mürbekuchen etwa schwer?«

Jetzt kam auch das alte Tante Minchen von unten herauf und machte sich mit der Putzschere an den Lichten zu schaffen. Und Jettchen zog Minchen in den Winkel und sagte ihr, daß doch des Nachts jemand zur Bedienung dasein müsse und daß ihr das doch nicht soviel ausmache wie Tante Minchen und daß sie ganz gern dableiben würde.

Tante Minchen tat, als ob sie Jettchen eine Gnade erwiese, wenn sie ihr gestattete, bei ihnen zu bleiben. Aber Eli, der vom Bett aus den Handel gehört hatte, trotzdem er recht leise geführt wurde, rief, daß er sich sehr freuen würde, wenn Jettchen seiner Goldmine ein bißchen zur Hand ginge. Denn man möge nun reden, was man wolle, e Jüngling wäre se doch nicht mehr.

Jason sagte, daß so auch seine Meinung wäre; ja, daß, wenn er Tante Minchen betrachte, er daran zweifle, ob sie jemals ein Jüngling gewesen sei.

Und Minchen zeterte mit ihrem schiefen Mund, Stosch hätte gesagt, Eli dürfe nicht reden. Aber Eli wollte davon nichts hören. Er ließe sich nich von de Doktors den Mund verbieten ... und man red't, solange man reden kann.

Und Eli tat sich etwas darauf zugute, daß er recht gehabt hätte. Er hätte immer gesagt, daß Ledder e gute Branche wäre. Das litauische Pferdchen hätte er zwar von Anfang an nicht besehen können, aber die Militärlieferungen hätte es jetzt doch bekommen. Er hätte es von Ferdinand heute gehört.

Und Minchens Minna machte Jettchen ein kleines Zimmerchen zurecht, das nicht nach der Straße hinausging, sondern nach dem Hof, und das ganz eng und schmal war und voll von dunklen, altmodischen Möbeln und in dessen Mitte ein vielfach bestoßenes, vielfach geschwärztes, einst vergoldetes Bett stand, mit Kufen und Schweifungen wie ein Herrschaftsschlitten.

Onkel Jason verabschiedete sich von Jettchen, sah ihr dabei fest in die Augen und sagte, er hoffe, daß sie bald zurückkehre. Minchen fuhr bei alledem herum wie ein Spitzmäuschen im Haferfeld, fing hunderterlei an, ohne etwas zu Ende zu führen, stellte das Waschzeug auf den Tisch anstatt auf die Waschkommode und schimpfte im nächsten Augenblick mit der tauben Minna, wo sie so etwas vor sich gesehen hätte, daß man e Waschservice auf den guten, neupolierten Mahagonitisch stellte? Vielleicht in Russisch-Polen, in Berlin täte man das nicht. Und damit tat Minchen der tauben Minna bitter Unrecht, denn erstens hatte sie ja das Waschservice gar nicht auf den Tisch gestellt, und zweitens stammte Minchens taube Minna aus Zehdenick, das selbst in Preußens schlimmsten Tagen niemals zu Russisch-Polen gehört hatte.

Und das Leben, dieser unversiegbare Strom, floß weiter mit seinen ruhigen, gleichmäßigen Wellenschlägen, die sich in Onkel Elis Hause zu einer solchen Stetigkeit und solchen Ruhe gemildert hatten, daß es Jettchen kaum noch verspürte, wie ein Tag in den andern griff, kaum noch verspürte, ob es nun Sonntag oder Werktag war.

Denn Onkel Eli hatte wieder einmal recht behalten, wenn er es gleich gesagt hatte, daß die kleine, schiefe Tante Minchen von Tag zu Tag komischer wurde. Ja wirklich, sie konnte schon gar nicht mehr recht ihre fünf Sinne beieinanderhalten, und von drei Dingen vergaß sie immer zwei. Sie tat durch Stunden nicht den Mund auf; und soviel sie ihr alter Ehegatte auch fragte, sie hatte dann nicht einmal eine Antwort für ihn. Wenn sie aber plötzlich ins Reden kam, so schwatzte sie unaufhörlich, ohne Punkt und Komma, verhedderte und verhakte die Sätze zu gordischen Knoten und gelangte vom Hundertsten zum Tausendsten, so daß es überhaupt kein Herausfinden mehr gab. Nicht daß sie etwa ungereimtes Zeug sprach – nein, jedes an sich hatte immer noch Hand und Fuß –, nur wie sie von einem Gegenstand plötzlich gerade auf den andern kam, das lag völlig außerhalb aller Erkenntnis und aller Mutmaßung. Aber liegt nicht selbst so vieles, das uns ganz durchsichtig erscheint, da draußen in jenen dunklen Reichen?

Und da so in Minchens alter Wirtschaft, die vordem durch lange Jahrzehnte wundervoll regelmäßig gegangen war wie das Werk einer Kunstuhr, das, einmal aufgezogen, auf Monate hinaus nicht nur Viertelstunden und Stunden anzeigt, sondern selbst den Stand des Mondes verkündet, die Apostel um zwölf Uhr über ein Brückchen führt und um sechs Uhr den Hahn krähen läßt – da es so in Minchens alter Wirtschaft plötzlich angefangen hatte, drunter und drüber zu gehen, so hatte Jettchen wohl oder übel, sollten die alten Leute sich überhaupt noch zurechtfinden, dableiben müssen. Erst tat sie es für ein paar Tage, dann für ein paar Wochen und endlich für unbestimmte Zeit.

Onkel Eli wegen hätte Jettchen nun nicht gerade bei den alten Leuten bleiben müssen, denn nach drei Tagen erschien er unvermutet des Mittags unten in dem Zimmer mit den goldenen Stühlen. Er war, während niemand bei ihm war, aufgestanden, hatte sich ganz allein angezogen, hatte sich sogar für Jettchen seine Perücke neu gepudert, war die Treppe heruntergetappt, und nun benahm er sich, als ob schon gar nichts gewesen wäre. Er setzte sich gleich wieder auf seinen Sessel, der oben wie ein goldener Thron auf dem Fenstertritt prangte, suchte seine Hornbrille hervor und schimpfte weidlich, weil man ihm die letzten Nummern vom »Beobachter an der Spree« nicht aufgehoben hatte: er wüßte doch nun gar nicht, was in der Welt vorginge; oder ob sie vielleicht meinten, daß er – wie der König – einen eigenen Telegraphen hätte.

Minchen schrie Zeter und Wehe, und Stosch wollte zuerst den Alten auch wieder ins Bett stecken, aber der sagte, es käme doch darauf an, wie er sich fühle, und nicht, wie so e Doktor meinte, daß er sich »nach seine Wissenschaft« fühlen dürfe.

Aber ganz wie vordem war nun der alte Eli doch nicht; er wollte nicht mehr recht vor die Tür gehen, das strengte ihn an. Und sein Posten an der Ecke des Hohen Steinwegs und der Königstraße, den Onkel Eli lange Jahre unermüdlich bei Regen und Sonnenschein innegehabt hatte, den bezog er schon gar nicht mehr. Und es hätten sich die größten Dinge hier abspielen können, er wäre von ihnen völlig ununterrichtet geblieben, und selbst wenn bei den Frankfurter Wagen holländische Füchse eingestellt worden wären, er hätte es nicht erfahren. Höchstens, daß der alte Onkel Eli mal, wenn die Sonne recht hell schien, einen Schritt vors Haus ging und sehnsüchtig nach der Königstraße hinübersah, in der Kutschen und Chaisen, Wagen und Karren vorüberzogen, unruhevoll und hüpfend, wie die bunten Bilder einer Zauberlaterne. Aber auch das machte dem alten Herrn Beschwer. Und das Lesen strengte ihn an, und das Erzählen strengte ihn an, und es kam vor, daß er mitten im Satz einschlief – deutlich schnarchend –, nur um nach ein paar Minuten aufzuwachen und gleich wieder sein Thema bei den letzten Worten anzufangen.

Jettchen mußte ihm nun täglich aus dem »Beobachter« vorlesen, alles, von der ersten bis zur letzten Zeile. Und der alte Eli knüpfte dann langwierige Auseinandersetzungen daran, ob de Geschichte wahr wäre, daß in Kentucky e ganz einfacher Farmer so täuschend das Krähen des Hahnes nachmachen könne, daß deswegen de Sonne sogar frieher aufgehe. Aber mitten in den Argumenten dafür und dawider senkte der alte Eli von neuem den weißgepuderten Kopf und nickte ein ganz klein wenig ein. Doch nur um dann aufzufahren und sich bei Jettchen zu entschuldigen, was er gegen seinen Gast für ein schlechter Wirt sei. Überhaupt war der alte Eli gegen Jettchen sehr zuvorkommend, und er hätte sich lieber füsilieren lassen, als daß er es gewagt hätte, etwa zuerst durch eine Tür zu gehen oder um ein Uhr beim Mittagessen früher den Suppenlöffel in die Hand zu nehmen, als Jettchen, die servierte, es tat. Ja, er ging nicht einmal in Morgenschuhen in ihrer Gegenwart, sondern war von früh bis spät für Jettchen gestiefelt und gespornt. Und während er sonst für wochentags im Hause eine alte, fuchsige Perücke getragen hatte, sorgte er jetzt immer, daß er schön weiß und wohlgepudert einherschritt.

Das alte Minchen aber, statt sich dessen zu freuen, beschwerte sich insgeheim bei Onkel Salomon, daß Jettchen ihr ihren Eli abspenstig mache, mit dem sie doch jetzt über siebenundvierzig Jahre wirklich gut und glücklich gelebt hätte.

Denn zwischen Eli und Minchen – das muß man sagen – gab es immer Häkeleien. Minchen verstand sich auf Blumen wie nur ein Gärtner, und sie war stolz auf ihre alten Kamelien, die sie goß und nicht goß, mit Pottasche bestreute, mit Tabaklauge abwusch, abstaubte und besprengte, beschnitt und in Watte wickelte, erst kalt und dann warm, erst dunkel und dann hell stellte und die ihr die Sorgfalt jetzt im ersten Frühjahr mit überreichlichen Blüten lohnten. Und nun stellte das gute Minchen die weißen Porzellantöpfe mit den goldenen Masken auf die breiten Fensterborde, mitten hinein in die hohen, dunklen Efeubogen, die rechts und links ein jedes Fenster mit ihrem länglichen Kranzgewinde umschlossen. Und die schönste, blumenreichste Seite kehrte das gute Minchen nach außen, nach der Straße hin; vielleicht weniger damit die Blüten und Knospen Sonne bekämen, als damit die Nachbarn sie sähen, und damit die Leute, die draußen vorbeigingen, stehenblieben. Aber Eli war nicht dafür.

»Was heißt das?« sagte er. »Ich soll doch was von meine Blumen haben und nich de Leutchen. Was wackelste dazu mit 'n Kopf, Minchen? Bin ich e Königliche Orangerie?« Und dann stand Eli auf und drehte alle Porzellantöpfe um, daß die Blumen ins Zimmer sahen.

Und wenn der alte Eli eine Weile saß und irgend etwas zur Hand genommen hatte, so stand ganz still Minchen in ihrem violetten Morgenrock von ihrem goldenen Stuhl auf und drehte mit ihren alten, murkligen Händen die Blumen wieder so herum, daß sie auf die Straße sahen. Doch wenn dann Minchen wieder ihre Stickerei genommen hatte, dann stand der alte Eli auf und drehte knurrend die Töpfe wieder nach dem Zimmer zu. So was von e Frauenzimmer wär' ihm doch in seinem langen Leben noch nich vorgekommen!

So ging das vielleicht sechsmal am Vormittag. Eli knurrte, und Minchen zeterte. Aber am Nachmittag waren sie beide doch wieder als sehr gute Freunde ein Herz und eine Seele. Und sie legten zusammen auf der braunen Tischplatte unermüdlich Patience, so lange, bis es aufging – und wenn es drei Stunden dauerte.

Aber noch einen zweiten immerwährenden Streitpunkt gab es zwischen den beiden Alten – nämlich Chéri, Minchens Kanarienvogel, der so klein und gelbgrau wie sie selbst war und zudem noch genau wie seine Dame ein weißes Häubchen trug; auch mit ihm war Eli nicht recht befreundet. Und wer den Hund schlägt, schlägt den Herrn.

Solange Chéri im Bauer sprang, hatte der alte Eli nichts gegen ihn einzuwenden, und er flötete ihm sogar, wenn er guter Laune war, das Menuett aus »Don Juan« – immer nur das Menuett aus »Don Juan« vor; und wenn Chéri in den Efeugeländern am Fenster umherkletterte und an einem Blatt zerrte oder ein Hälmchen Rübsamen knusperte, dann sah der alte Eli noch ganz friedlich zu. Aber sowie Chéri auf die Kommode ging und sich, wie er es so gern tat, der Porzellankuh mitten auf die Nase setzte – dann war Polen offen. Und der alte Eli eröffnete, soviel Minchen auch jammern mochte, mit dem Staubwedel eine erfolgreiche Jagd, die immer damit endete, daß Chéri, nachdem er sich zuerst auf den Bronzereifen der Krone geflüchtet hatte und von dort aus deutlich in der Richtung nach dem Mahagonitisch hin seinen Unmut über diese Behandlung kundgegeben hatte, piepsend und ärgerlich in das Bauer zurückkehrte und hier noch eine ganze Weile fauchte, quietschte und nörgelte, daß er so etwas nicht verdient hätte. Bis das alte Minchen das wieder nicht mehr ansehen konnte und, um Chéri milde zu stimmen, ein Stückchen Zucker in den schmalen, zahnlosen Mund nahm und das Bauer öffnete; und Chéri ließ sich nun auf Minchens Busen nieder und erletzte sich an der süßen Gabe. Jettchen aber wußte wirklich nicht, was sie mehr bewundern sollte: wie zahm das Tierchen war, oder wie geschickt es war, daß es, von einem Fuß auf den anderen hüpfend, doch immer von neuem auf Tante Minchens Busen Halt fand, ohne ins Bodenlose hinabzugleiten.

Aber nach einer halben Stunde saß dann Chéri von neuem der Porzellankuh mitten auf der Nase; und wenn Eli nicht gerade schlief, was ja auch vorkam, dann hub die Jagd von vorne an, und Chéri mußte nur zu bald wieder mit einem Stückchen Zucker aus Minchens Munde getröstet werden.

Vielleicht hätte ja Jettchen doch wieder zu Onkel Jason zurückgekonnt. Sie wünschte auch sehr, es zu tun, sie sehnte sich aus der Enge ihres kleinen Hofzimmers zurück nach dem grünen Zimmer mit den koketten Bildern und den blanken Möbeln. Und sie fühlte Heimweh nach dem spitzigen Geplauder Onkel Jasons und nach all den tausend scharmanten Dingen, mit denen er seine Gestalt und sein Leben einzuhegen wußte. Hier zu den alten Leuten hatte sich auch nicht ein Hauch von alledem geflüchtet; alle Gedanken und Worte klebten am Alltäglichen, und nur ganz selten, wenn der alte Eli seinen guten Tag hatte, wehte so etwas wie ein Lichtschein von Geist und Grazie darüber hin. Aber Eli hatte nicht viel gute Tage mehr.

Und doch hielt Jettchen wieder eine unbestimmte Furcht ab, auch nur den Wunsch auszusprechen, zu Onkel Jason zurückzukehren – ja, sie erschrak selbst vor dem Gedanken, ihn wiederzusehen. Sie wußte nicht, wie sie ihm nun entgegentreten sollte. Denn sie fühlte, daß sie ihre alte Unbefangenheit ihm gegenüber verloren hatte. Hundertmal sagte sie sich ja, daß aus allen Worten Onkel Jasons nicht mehr als ein zärtliches Mitleid gesprochen hätte, wie es doch nur die Freundschaft und nicht wie es die Liebe füreinander hegt. Aber vom Grunde ihrer Seele stieg dabei immer wieder so etwas wie eine angstvolle Scheu auf, ein Zurückweichen, ein Hinneigen, eine Bedrängnis, die ferne, unklare Empfindung, daß Onkel Jason nur ein Wort zu sagen brauche, und sie würde ihm all das aufgeben, was sie mühsam Schritt für Schritt sich jetzt erkämpfte. Das ließ sie Furcht empfinden, Onkel Jason wiederzusehen. Und doch sagte sich Jettchen in den ersten schlaflosen Nächten in ihrem dumpfen Zimmer, daß sie wieder zu Onkel Jason müsse, weil sie ja nur dort mit Kößling zusammentreffen könne; denn von ihm entfernt und abgeschnitten – da waren mit einem Male alle Schatten geschwunden, und alles Rauhe war geglättet, da gab es nichts mehr von dem, was sie trennte und schied. Jettchen hatte nun eitel Sehnsucht nach Kößling, nach seiner Gestalt, seinem Gesicht, seinen Händen, seinen Küssen, nach dem Klang seiner Stimme, der etwas hell war und ganz leicht gläsern. Nicht ihr Geist und Sinn, aber ihr Herz schien alles vergessen zu haben, schien all der tausend Hacheln und Dornen, die sie bei jeder Begegnung ritzten, sich nicht mehr zu erinnern und all der schweren Zweifel, die sie bedrängten, wenn sie an ihre gemeinsame Zukunft dachte.

Jettchen konnte sich aber immer wieder nicht entschließen, auch nur davon zu beginnen, daß sie zu Onkel Jason zurück wollte; und dann war ja auch Onkel Salomon eigens noch einmal zu ihr gekommen, um sie zu bitten, daß sie doch bei den alten Leuten bliebe – die kurze Zeit, die sie noch bei ihnen sein könnte. Und Salomon hatte das erstemal ganz ruhig mit Jettchen über ihre Scheidung gesprochen: daß sie jetzt wenigstens in einer Beziehung schon Klarheit hätten und daß sie nur ihm vertrauen solle – ehe der Sommer vorbei sei, würde ihr schon alles nach Wunsch gegangen sein, und sie könnte ja dann tun und lassen, was sie wolle.

Und Tante Rikchen und Tante Hannchen waren auch gleich in den ersten Tagen gekommen, nach den alten Leuten zu sehen, und sie hatten Jettchen belobt, daß sie zu Eli und Minchen gegangen war. Hannchen hatte versucht, von ihrem Neffen Julius anzufangen, der doch jetzt das Glück mit den Militärlieferungen gehabt hätte; aber Rikchen hatte sie unterbrochen und mit einem wehleidigen Augenaufschlag gesagt, daß das gewiß Jettchen jetzt gar nicht interessiere. Selbst der Herr Kommissionsrat ließ sich blicken, etwas grauer denn sonst, aber ganz der alte: jovial, schulterklopfend, küssend und schwadronierend wie immer. Nur in geheimen Augenblicken huschte so etwas wie der Schatten eines bitteren Kummers über sein scharfes Gesicht. Denn ein Vater – und sei er selbst aus grobem Holz wie Ferdinand Gebert – begräbt ja nicht wie eine Mutter allein das Kind, sondern, was herber ist und tieferen Kummer gibt, auch seinen Ehrgeiz und seine Hoffnungen mit ihm. Aber Ferdinand Gebert war doch klug genug, um sich richtig zu sagen, daß für das Leben und für das Geschäft Kummer eine Ware ist, die niemand gern kaufen will, und daß man am besten tut, sie in irgendeinen abgelegenen Winkel zu verstauen, wo sie nicht so leicht in die Augen fällt.

Und dann waren das alte Fräulein Hörtel und Tante Rikchens Mädchen gekommen, ganz außer Atem, mit Körben voll von Kleidern und Röcken und Wäsche; und Jettchen hatte nun alles wieder von neuem eingeräumt in einen mächtigen braunschwarzen, eichenen Schrank, dessen Türen so schwer und so knarrend aufgingen wie Stadttore, dessen Schlüssel einem Morgenstern glich und der selbst mit seinen mächtigen Wüten und seiner schweren Bekrönung so breit und hoch war wie eine Ritterburg. Doch als eben die ganze Herrlichkeit in dieser Ritterburg verschwunden war, da war Onkel Jason selbst erschienen, in neuer Frühjahrstracht, sich tief vor Jettchen neigend, mit seinem sarkastischen Lächeln, wieder ganz Förmlichkeit wie vordem – und Jettchen war es nicht schwergefallen, ihre Unbefangenheit wiederzufinden. Den letzten Abend erwähnte Jason nicht; und auch Jettchen hütete sich, darauf zurückzukommen. Jason zog sich einen Stuhl heran und begann zu plaudern wie ehedem: Was es draußen auf der Straße gäbe, was die Leute sprächen, was die Zeitungen brächten – er erzählte vom König und daß es ihm jetzt ernstlich schlecht ginge. Er läge im Fieber, hustete, schlafe nicht, sei unruhig, voller Angst vor dem Tode und gepeinigt von den Leiden des Alters. Wo man hinhöre auf der Straße ... immer höre man nur das eine Gespräch, wie lange er noch leben würde, was dann wäre ... ob es ihm schlechter oder besser ginge. Die Geheimräte stelzten über die Linden mit Gesichtern wie Ärzte, die von einem Konsilium kämen, nun alles wüßten und doch nichts sagten. Viele gingen auch vors Schloß und fragten die Lakaien aus, die aus dem Tor kamen.

Und Jettchen erzählte Jason von den alten Leuten: daß Minchen tagelang so merkwürdig wäre und daß Onkel Eli immer einschliefe, wenn sie ihm aus dem »Beobachter« vorlese. Aber Jason meinte, daß man daraus gar nichts ersehen könnte, er wäre zwar nicht achtzig Jahre, aber er würde auch einschlafen, wenn ihm Jettchen die Liebe erwiese, ihm etwas aus dem »Beobachter« vorzulesen.

Und dann sprach Jason Gebert von Heines neuem Buch über Börne. Jettchen müsse es kennenlernen, er würde es ihr einmal bringen. Wie er es das erstemal gelesen habe, da habe er an Heine verzweifeln wollen, wie er nur das angreifen könne, sich von dem abkehren könne, was er durch Jahrzehnte als erster verteidigt habe. Er habe gar nicht begreifen wollen, warum dieser Mensch sich nur all die neuen Feinde schüfe, daß er jetzt bald ganz allein stünde. Aber dann wäre er – er habe ja nun Zeit zum Lesen – noch einmal über das Buch gekommen, und er wäre ganz gefangen worden von diesem wundervollen Schlußbild der fliehenden und frierenden, der trauernden und wehklagenden Göttinnen im winterlichen Walde. Er habe plötzlich gefühlt, daß Heine dieses ganze Buch nicht anders schreiben konnte, daß es gleichsam eine Verteidigung seines Selbst ist gegen die rohen Mächte des öffentlichen Lebens, in die er immer wieder mit jedem neuen Tag hineingezerrt werde und die ihm doch so fern und so fremd und so gleichgültig waren. Was hätte eigentlich Heinrich Heine mit Königen und Völkern, mit Polen, Preußen und Franzosen zu tun? Börne war der Kursmakler an der Börse der Freiheit, und für ihn bedeutete es das Leben zu wissen, wie hoch die Papiere seines Marktes in Berlin oder in Hannover, in Paris oder in Warschau gerade gehandelt wurden. Aber für einen Heinrich Heine muß es eben höhere und andere Werte geben, und endlich sind für ihn, für sein Selbst, der Klang eines Reimes, der Schritt einer Grisette und eine Stunde im Bois tiefere Wahrheiten und innigere Erlebnisse. Das müsse man sich immer beim Lesen des Buches vergegenwärtigen. Ein Renegat ist Heinrich Heine ja deshalb doch nicht, und sein Herz wird immer auf der Seite der Freiheit sein, auch wenn er die Schönheit und das Leben mehr liebt. Das trenne ihn ja gerade von Börne, der ein Schlachtengeist gewesen ist und ein Feldherr der Feder, ein Napoleon ohne Truppen, und der doch niemals wie Heine in trunkener Ergriffenheit der Schönheit den Mantelsaum geküßt hätte – ja, der immer achtlos an ihr vorübergegangen ist, wo er ihr auch begegnete. Nur das Theater hätte ihn ja gereizt, Spiel und Gegenspiel, Zug und Gegenzug, das Schachspiel der Bühne, die literarische Politik. Aber Jettchen würde das Buch ja lesen. Doch vorher solle sie noch dieses Buch hier über Charlotte Stieglitz zu Ende lesen, das er, als sie fort war, auf ihrem Tisch gefunden habe.

»Ach ja, Onkel«, rief Jettchen, »ich wollte dich schon darum bitten, daß du es mir brächtest.«

Und Jettchen möge es von ihm annehmen, fuhr Jason Gebert fort, indem er sich vom Stuhl erhob, möge es annehmen, damit sie später einmal an ihre gemeinsame Zeit ein greifbares Stück Erinnerung hätte.

Jason Gebert hatte sich vorgenommen, das ganz ruhig und leichthin und spöttisch zu sagen, und jetzt sagte er es doch, den Kopf halb abgewandt, mit dünnen Lippen und mit verschleierter, hoher Stimme.

Jettchen, die sich erhoben hatte, griff nach dem grauen Deckel des Buches – und auch sie wandte den Kopf fort, damit Onkel Jason nicht ihre nassen Augen sähe bei ihren Worten, daß es doch dessen wirklich nicht bedurft hätte, um ihr Gedächtnis an ihre gemeinsame Zeit – sie wiederholte Jasons Sprechweise – wachzuhalten.

Doch ehe sich Jettchen noch recht besann, hörte sie schon Onkel Jasons schweren, hinkenden Schritt draußen auf der Stiege und hörte Jason Gebert, wie er unten von Tante Minchen Abschied nahm; und Jettchen sank auf einen Stuhl, schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.

Aber dann ... es war ein heller Tag draußen, und die weiße Sonne des ersten Frühlings lag wie Silber über den schrägen Ziegeldächern der Hofhäuser, und die Sperlinge, die unten an der Regentonne ihr Bad nahmen, lärmten sehr um den Vorrang des besten Platzes, während von unten aus der Küche dazwischen noch der unmelodische Gesang der tauben Minna ertönte und das Klirren des Geschirrs, das sie beim Abwaschen wild durcheinanderstieß, sich hineinmischte ... aber dann zog mit der frischen Luft durch das offene Fenster doch so eine ganze Welle von Leben in Jettchens Zimmer, und die machte, daß Jettchen mit Schluchzen aufhörte und das Buch zur Hand nahm.

Aber als sie es aufschlug, um die Stelle zu suchen, an der sie zuletzt gehalten hatte, da sah sie, daß Onkel Jason etwas auf das Titelblatt geschrieben hatte, hineingeschrieben hatte in einen dünnen Kranz grüner Efeublätter. Und Jettchen beugte sich darüber und las es langsam und halblaut vor sich hin, las es einmal und wieder, ohne zu verweilen.

»Siehst in dem späten Sommer du
dem Spiele zweier Falter zu,
siehst sie mit Flügeln, bunten, weichen,
um Rosenbusch und Hecke streichen
und dann vom Beete sich erheben
und kurze Frist zusammen schweben,
sich meiden, eh sie sich erkoren,
und scheiden, eh sie sich verloren –
dann denk, daß über ungewissen
und abgrundtiefen Finsternissen
auch unsere Seelen flatternd hingen
gleich jenen beiden Schmetterlingen:
sich meidend, eh sie sich erkoren,
und scheidend, eh sie sich verloren.«

Jettchen las und las diese barocken Schriftzüge, diese Verse Onkel Jasons so lange, bis sie vor Tränen sie nicht mehr sehen konnte, während doch ihr Mund und ihr Herz sie immer noch wiederholten ...

Und am Nachmittag kam ein Brief – die taube Minna brachte ihn Jettchen, während sie unten bei den alten Leuten war. Jettchen warf nur einen Blick auf die Adresse, wurde rot und steckte den Brief fort.

Tante Minchen aber saß tief über ihre Arbeit gebeugt, und Eli, der alte Eli, hatte den Kopf auf der Seite und den Mund halb offen. Alle Kamelien prangten in den Efeubogen nach der Straße hin, und Chéri blinzelte von der Porzellankuh aus mißtrauisch zu seinem Feind hinüber, ob das Schlafen wohl doch etwa eine Kriegslist von ihm wäre. – Es war ganz still im Zimmer, als die taube Minna herausgetrampelt war. Und Minchen, klein, schief und zusammengesunken, die Haube auf dem einen Ohr, stichelte ohne Aufhören.

Aber eine Frau kann gut und gern siebenundsiebzig Jahre alt sein, und ihre Sinne können schon ein bißchen in Unordnung gekommen sein, und man kann meinen, daß sie mit ihren paar kümmerlichen Gedanken ganz woanders ist; ja, sie braucht nicht einmal etwas gehört oder gesehen zu haben – und sie wird doch immer wissen, um was es sich dreht. Und ihre Nerven, sonst schon etwas stumpf, und ihr Geist, sonst schon so verbraucht, werden immer noch da alles fühlen und erraten, wo der Mann achtlos und grob vorübergeht. So begann auch die alte Tante Minchen plötzlich scheinbar ganz unvermittelt.

»Jettche«, begann sie, »hör mal, mei Tochter, eins muß ich dir aber doch sagen: Hierher kommen und dich besuchen darf er nich. Meinethalben könnt er's ja – ich hab' gewiß nichts dagegen –, aber Salomons wegen mecht ich's nich gern erlauben.«

Jettchen wurde rot.

»Nanu«, fuhr Minchen fort, »du brauchst nich rot zu werden. Die Sache ist doch nich so schlimm. Ich will dir e Vorschlag zur Güte machen: Laß ihn doch am Abend draußen e bißche ans Fenster kommen. Denn weißte, Jettchen, gesehen darfste doch auch nich mit ihm werden. Aber wenn de das schon gar nich magst – schön, gehn wir beide mal nächstens des Abends e bißchen weg, und denn wer'n wir's schon so machen, daß wir den jungen Mann irgendwie treffen.«

Aber Eli, der auf seinem Thron eingenickt war, erwachte gerade zur rechten Zeit, um wenigstens die letzten Worte zu hören.

»Was heißt das, Minchen«, rief er, »bei mir wird nich des Abends weggegangen! Was e anständige Frau is, die gehört um neun Uhr ins Bett.«

Aber da gewahrte der alte Eli gerade den Kanarienvogel, der immer noch friedlich der Porzellankuh auf der Nase saß, und sofort begann er Jagd auf ihn zu machen.

Und als dann spät am Abend – die beiden Alten hatten sich schon längst zur Ruhe begeben – Jettchen noch bei offenem Fenster, durch das die kühle Luft hereinstrich und das Licht flackern machte ... als da Jettchen Kößlings Brief zum fünftenmal las, denn er war reich an verliebten Worten und voller Sehnsucht und Hoffnung, sprach von Aussichten und kleinen Erfolgen – da hörte sie mit einemmal nebenan es sich rappeln. Dann hörte sie Tante Minchen aufschreien; der Atem stockte ihr vor Schrecken, und sie stürzte zur Tür. Aber da war auch gleich wieder alles still. Jettchen, die sich an die Türfüllung drückte, hörte ganz deutlich den alten Eli friedsam schnarchen, während das brave Minchen, das längst wieder ihr Ehebett neben ihrem Gemahl bezogen hatte, immer noch leise und vernehmlich vor sich hin schimpfte.

Aber am nächsten Morgen – der Tag war nicht so früh – kam schon Minchen in Jettchens Zimmer, nur mit dem Notdürftigsten auf ihrem notdürftigen Körperlein angetan, um ihr das Ereignis zu erzählen.

»So e Mann soll man haben«, rief sie noch in der Tür, »immer komischer wird er! Mit einmal gestern nacht – ich denke, mir soll der Verstand stillstehn – faßte er doch immer mit de Hand rieber nach mein Bett. ›Um Himmels willen, was is dir, Eli!‹ schrei ich. Und was sagt er? ›Nu‹, meint er ganz seelenruhig, ›weißte, Minchen, du hast doch heut mittag gesagt, daß de weggehen willst – und da wollt' ich nur mal nachsehen, ob de noch da bist; bei dir soll man nämlich sagen ...‹ Und damit legt sich der Mensch auf die andere Seite und schnarcht weiter, 'ne geschlagene Stunde bin ich noch wach gewesen, das Herz is mer nur so geflogen. Haste schon mal so was gehört? Den Tod kann man ja vor Schreck kriegen. So e Mann soll man haben, immer komischer wird er!«

Und das Leben, dieser unversiegbare Strom, floß weiter mit seinen ruhigen, gleichmäßigen Wellenschlägen, die sich in Onkel Elis Hause zu einer solchen Stetigkeit und zu einer solchen Ruhe gemildert hatten, daß Jettchen kaum noch verspürte, wie ein Tag in den anderen griff, kaum noch verspürte, ob es ein Sonntag oder ein Werkeltag war, kaum noch verspürte, wie draußen von Tag zu Tag der Frühling sich rüstete, um neue Blumen und neue grüne Wunder in seinen Kranz zu flechten, bei Sonnenschein so gut wie in milden Nächten, bei Regen wie bei Wind. In der Stadt selbst gab es ja so wenig, das er schmücken konnte; und nur die rosigen und grauen Abendhimmel, das leise Zittern einer feuchten Luft über den niederen grauen Schindeldächern, ein paar einsame Sterne wie Nadelstiche in einem matten und milden Blau – nur das erzählte Jettchen davon, daß jetzt draußen die Birken goldgrün wurden und die Linden ihre schlaffen Blätter zum ersten Male gegen das Licht hoben, daß die Kastanien ihre Fächer entfalteten und ihre Blütenschäfte die braunen Kerzen hoben. Wenn Jettchen jetzt einmal die Königstraße hinabging, auf einem kurzen Weg vors Haus, so mußte sie wieder ganz nahe am Fahrdamm entlanggehen, weil vor den Blumengeschäften in weißen Töpfen mit goldenen Ringen die Krokusse und die bunten Tulpen standen. Und vor der Böschung des Königsgrabens, weiter unten am Fuße der Rüstern, kam wieder so ein Veilchenduft von dem Fleckchen grüner Blätter herauf, in die, dem Auge nicht sichtbar, aber den Sinnen vernehmbar, die blauen, bescheidenen Blüten eingebettet waren.

Und als Jettchen einmal über die Königsbrücke ging und als da der Hauch sie streifte, dachte sie daran, wie ihre Veilchen vom verflossenen Jahr, deren letztes ja noch in dem goldenen Medaillon ruhte, doch schon so welk und braun und morsch und duftlos geworden waren. Die Zeitungen aber schrieben wieder über die Pracht der Hyazinthenfelder in der Fruchtstraße und über die Obstblüte in Charlottenburg und Potsdam. Und doch gemahnte Jettchen nur der zarte Zweig eines Pfirsichbaumes, der mit seinem schnell verblätternden Schmuck über eine Gartenmauer sah, nur er gemahnte Jettchen an diese Inseln von blauweißem Marmor und Rosensteinen, die, eingefriedet vom jungen Grün hoher Bäume, jetzt draußen in Frau Könneckes Garten hinten im Obstland ihre zackigen Klippen in die silbergraue, feuchte Frühlingsluft hoben.

Von all den Vögeln, die vor einem Jahr draußen in Charlottenburg ihre flatternden Flügel durch das Gewirr der Äste getragen hatten, die von den Linden vor dem Haus zu den hohen Kastanien auf dem Hof Gruß und Gegengruß gewechselt hatten und die das bunte Gemisch ihrer Stimmen sogar bis in die hellen Morgenträume Jettchens gesandt hatten und die in der Laube ohne Scheu zu ihren Füßen Krumen suchten und in den Büschen neben ihr herflogen – da war für dieses Jahr bloß ein armseliges, verliebtes Sperlingspärchen unter der Dachrinne geblieben; war nur ein ganz ferner, verträumter Nachtigallenton geblieben, der des Abends hinten zwischen kleinen alten Häusern und engen Höfen aus einem stillen Fleckchen Garten herüberkam ... eines Abends, als Jettchen am Fenster stand und der Mond in schmaler weißer Sichel über grauen Dächern hing.

Nun muß man aber nicht etwa glauben, daß Jettchen ganz an das Haus gebannt war und niemanden sah – sie konnte sich nur nicht mehr auf lange Zeit entfernen, weil die alten Leute ihrer bedurften und endlich weil doch Eli in den letzten Monaten eben sehr, sehr alt und hinfällig geworden war, so daß man nicht viel ärztliche Kenntnis zu besitzen brauchte, um sich zu sagen, daß seine Tage gezählt waren. Jettchen hätte sich ja vielleicht einmal mit Kößling treffen können; aber es widerstrebte ihr, mit ihm unter der Tür zu stehen, wie das Dienstmädchen mit ihrem Soldaten, und vor den Leuten ins Gerede zu kommen. Jetzt, da sie bei den alten Geberts wohnte, da sie Salomon und Ferdinand, Hannchen und Rikchen alle paar Tage sah und sprach, da fühlte sie sich auch wieder zu all denen zugehörig, und sie fühlte, daß sie es sich schuldig war, auf ihren Namen Rücksicht zu nehmen. An manchem Frühlingsabend jedoch schrieb sie bei flackernder Kerze an dem kleinen, hochbeinigen Schreibtisch mit dem Bronzegitter, schrieb sie Seite auf Seite an Kößling, und alles, was zu sprechen ihr Mund zu scheu und zu keusch war, das anvertraute sie dem knirschenden Federkiel: ihre Hoffnungen, ihre Zweifel, die kleinen Erlebnisse des Tages und die geheimsten Gedanken ihres Herzens; bis dann endlich selbst die Putzschere die niedergebrannte Kerze nicht mehr in Ordnung halten konnte und Jettchen beim letzten Flackern des Lichtes die letzten Worte schrieb und sich im Dunkeln niederlegte.

Onkel Jason sah Jettchen jetzt seltener; und wenn er einmal kam, so war er fast noch kühler und spöttischer, als er es früher war, so daß ihm Jettchen kaum für seine Verse zu danken wagte. Er brachte ihr einmal Nachricht, daß man den König totgesagt hätte, daß er aber noch lebe, trotzdem es jeden Tag mit ihm zu Ende gehen könnte. Oder daß man jetzt wirklich Napoleons Knochen nach Paris brächte. Thiers hatte diesmal einen geschickten Schachzug getan – und er, Jason Gebert, würde vielleicht im Herbst nur deswegen nach Paris fahren, um vor dem Grabe dieses Mannes abzubitten, daß er im Leben gegen ihn gefochten hätte.

Einmal forderte Jason Gebert sogar Jettchen auf, mit ihm ins Schauspielhaus zu gehen, man gäbe von Gutzkow den »Richard Sauvage« – das müsse Jettchen sehen. Aber Jettchen wagte doch nicht, die alten Leute am Abend allein zu lassen, und dann fürchtete sie sich jetzt auch, mit Onkel Jason zusammen zu sein, und es kam vor, daß sie fast trotzig und unfreundlich gegen ihn war, ihn mit gleichgültiger Miene begrüßte und mit gleichgültiger Miene von ihm Abschied nahm. Sonst hatte ihr Jason immer erzählt, was er triebe, ob er neue Porzellane gekauft hatte oder Kupferstiche, mit wem er zusammengekommen, wohin ihn seine Wege geführt hatten – aber jetzt sprach er von alldem nichts mehr. Was hätte er auch Jettchen sagen sollen? Was verstand denn solch ein junges Ding davon, wie so ein alternder Mann in seiner Wohnung umherirrte, gepeinigt von seiner Sehnsucht. Was brauchte sie zu wissen, daß er nur mit Tränen in den Augen das grüne Zimmer betrat, in dem noch alles stand und lag, wie Jettchen es verlassen hatte. Was brauchte sie zu wissen, daß er seinen Kopf in die Fensterkissen drückte, dort an der Stelle, wo immer ihre Arme geruht hatten, und daß er nächtelang sich nicht in seine Wohnung zurücktraute aus Furcht vor sich selbst; daß er wieder sich in Gassen und Abgründe verlor, ein unwirscher, mürrischer oder überlauter Liebhaber. Was brauchte sie das zu wissen – und wie hätte sie es gedeutet!

Nun ja, irgend etwas davon erfuhr Jettchen schon, denn Onkel Ferdinand pflegte aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Und so hatte er auch, als ihn Jettchen einmal nach Onkel Jason fragte, den sie über eine Woche nicht gesehen hatte, nur geschmunzelt, das eine Auge eingekniffen und mit reicher und vieldeutiger Betonung die Verse zitiert:

»Such ihn nicht im Kollegium –
such ihn bei Madame Meier.«

Man brauchte nun deswegen Onkel Ferdinand nicht für eine sehr poetische Natur zu halten. Ja, im allgemeinen war die Verskenntnis Onkel Ferdinands sogar nicht sehr groß, aber in Versen dieser Art war er recht wohlbeschlagen, und er hatte sie immer im richtigen Augenblick bereit. Und das ist ja auch eigentlich das Schöne an unserer Literatur, daß sie für jeden etwas bietet und daß sich ein jeder aus ihr das herausnehmen kann, was ihm behagt.

Jettchen wollte lachen – wollte wenigstens vor Onkel Ferdinand den Schein wahren, als ob sie das belustige –, aber das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Sie fühlte, wie ihr das Blut zu Herzen floß, und es fehlte wenig, daß ihr die Tränen in die Augen kamen. So sehr war sie sich ihrer Neigung zu Onkel Jason noch nie bewußt geworden. Und wenn sie jetzt des Abends in ihrem Zimmer saß – die alten Leute gingen ja fast mit den Hühnern schlafen –, so war es ihr, als müßte sie sich heimlich fortstehlen zu Onkel Jason, damit er nicht wieder hinausliefe zu diesen schlechten Frauenzimmern, zu denen ihn doch sein Herz nicht zog. Während sie sonst fast jeden Abend an Kößling geschrieben hatte, schob sie jetzt den Brief oft Tag zu Tag auf und begann jeden mit der Entschuldigung, daß sie so viel zu tun hätte und nicht zum Schreiben käme.

Draußen in den Parks und Gärten, in den Feldern und um die Dörfer, da band der Frühling jetzt wieder seine Kränze. All das kam, wurde und schwand, aber nur ein paar wegmüde und armselige Boten sandte der Frühling hinein zu Jettchen, um sie zu mahnen – und sie mußten lange suchen, bis sie sie fanden.

Aber sie fanden Jettchen. Denn als an einem der ersten wirklich warmen Frühlingstage, der ganz blau und wolkenlos begann, Jettchen des Morgens die Straße entlangging, um für sich Isländisches Moos aus der Apotheke zu holen, weil sie ein Husten quälte, da traten ihr diese Boten entgegen. Jettchen sah sie in einem dürftigen Gärtchen stehen und auf sie warten, diese Abgesandten des Frühlings, den Fliederbusch da mit wenigen matten Dolden, der am Zaun Wache hielt, und den Goldregenstrauch, der ein paar gelbe Fähnchen gegen das Haus drängte. Und Jettchen fühlte die Botschaft, die sie ihr zu bringen hatten, und sie mußte nach Charlottenburg zurückdenken, an jene Fliederbüsche, die jetzt ihre Schwere gegen die Hauswand lehnten, und an die Blütenflut, die bis in ihre Fenster geschlagen war, und an die blauen Schaumperlen, die – schon abgestreift – die hölzernen Treppenstufen und die Kanten der schmalen Wege umsäumten, während doch sie, die Blütenflut selbst, in ihren lichten Wellen noch kein Verebben zeigte und Tag um Tag in neuen Wogen emporschäumte. Und all das würde in diesem Jahr nun kommen, gehen und schwinden, ohne daß ihr Blick es streifte!

Als aber Jettchen zurückkehrte, da war Onkel Eli schon auf, war in seinem besten blauen Frack und in seiner besten blauen Laune.

»Was heißt das, Jettchen, wo kommst du doch jetzt am frühen Morgen her?«

»Aus der Elefantenapotheke, Onkel.«

»Nu, weißte, mei Tochter, Minchen darf's natürlich nicht hören; aber ich will der was sagen: Ich hätt' auch nichts dagegen, wenn de ... von woanders herkämst.«

»Nein, Onkel, ich muß bedauern, aber das ist nicht der Fall«, sagte Jettchen unbefangen und lachend.

»Nu, ich glaub's schon, aber endlich wär's doch eben nur deine eigene Sache, und du könntest meinetwegen tun, was du willst. Doch was haste nu eigentlich in de Elefantenapotheke gekauft?«

»Isländisches Moos, Onkel, für meinen Husten.«

»Wie kommste dazu?« polterte Eli. »Was braucht e junges Ding überhaupt zu husten? Husten tut e alte Spittelfrau. Und wenn de hustest – was gehste in de Apotheke? Ich mach' mer all meine Mittel allein. Siehste, Jettchen: Heut vormittag setz' ich mich zum Beispiel vor de Tür in de Sonne hin und hab' mir dazu aus Minchens Nähtisch e paar Dutzend Nadeln genommen. Und wenn de Jungens kommen und ausrufen: ›Maikäber, Maikäber, Stick drei Nadeln‹, nu, denn seh' ich zu, ob ich se nich vielleicht für zweie kriege, und kauf sie ihnen ab. Und dann setz' ich mir heut nachmittag e Maikäferspiritus an – weißte, weil ich doch im vorigen Winter mal so 's Reißen in de Schulter gehabt habe. Nu fragt sich nur noch, ob ich welche kriegen werde, denn es soll dies Jahr mit de Maikäfer gar nichts Besonderes los sein. Erkundigt hab' ich mich schon bei de Jungens, aber se klagen alle, wohin man hört.«

Und richtig – gegen Mittag ließ sich der alte Eli von der tauben Minna ein Stühlchen auf die Straße tragen, auf den Hohen Steinweg, auf die Steinstufen hinaus, mitten in die warme Sonne, und setzte sich da neben die Tür. Aber möglich, daß wirklich das Maikäferjahr schlecht war oder daß die Jungens heute grade etwas anderes zu tun hatten und nicht an ihren Handel dachten – sie ließen sich kaum blicken, und die wenigen, die pfeifend im Hundetrab vorüberliefen, machten, daß sie weiterkamen, und hatten es gerade heut sehr eilig und nahmen es gerade heute sehr wichtig, nach Haus zu kommen; sie kümmerten sich gar nicht um den alten Onkel Eli, der da, die beiden Hände auf dem goldenen Stockknopf und das Palmenrohr zwischen den Knien, mit halboffenem Munde auf seinem Stühlchen vor der Tür saß und doch so verlockend die ganzen Patten seines blauen Fracks dicht mit Nadeln besteckt hatte.

Und Minchen kam heraus in die weiße Sonne, mit ihrem Blondenhäubchen auf dem einen Ohr, und sagte, sie suche schon den ganzen Vormittag ihre Nähnadeln. Sicher hätte sie ihr wieder das Stück von e Mächen gestohlen.

Aber Eli kicherte, als er das hörte, in sich hinein und sagte: »Weißte, heut ist's mit 's Maikäfergeschäft doch nichts Rechtes, da werd' ich dir de Nadeln man noch mal wiedergeben.«

»Hast so was gehört, Jettchen!« rief Minchen, und sie lachte ganz wider ihre Art. »Immer komischer wird doch mein Mann!«

Und machte es nun die warme Sonne, machte es der blaue Frühlingstag oder die Schwalbe, die mit ihrem Kiwitt gerade die Straße entlangflitzte – war es ein Erinnern an vergangene Tage –, die alte Tante Minchen beugte sich plötzlich vor und gab ihrem Eheherrn einen richtigen Kuß. Und wie Eli sich jetzt mühsam vom Stuhl erhob, denn die alten Beine wollten nicht mehr, da ließ er seinen Arm etwas länger auf der Schulter Minchens ruhen, als es gerade nötig war.

»Siehste, meine Goldmine«, sagte Eli, blieb unter der Tür stehen und zeigte mit dem Stock auf eine schadhafte Stelle am Pfosten, »siehste hier, da fällt nu schon der Stuck von de Wand ab. Das Haus wird locker. Wir haben de längste Zeit hier gewohnt. Unser Haus, meine Goldmine, das is auch schon locker geworden.«

Aber während des Mittagessens, da hatten sie sich schon wieder beim Wickel. Eli wollte keine Hechte essen, und das kränkte Minchen in ihrer Würde.

»Ich ess' kei Fisch«, sagte Eli.

»Haste schon mal e Menschen gesehn, der kei Fisch ißt!« rief Minchen und schüttelte ihre puffige Tüllhaube, daß sie von einem Ohr auf das andere flog.

Aber Eli sagte, er möchte doch mal sehen, wer ihn zwingen könnte, Fisch zu essen, und Minchen möge mit dem Kopf wackeln, soviel es ihr Freude mache.

Aber als sie eben vom Tisch aufstehen wollten, kam Onkel Jason, sehr wohl angetan in seinem neuen rehbraunen Frühlingsrock, den Zylinder zwischen Daumen und Zeigefinger. Er wolle ihnen Jettchen auf ein paar Stunden entführen, draußen wäre nämlich alles auf den Beinen, und das müsse Jettchen sich ansehen. Jetzt machten sie bei uns genau dieselbe Wirtschaft wie in Paris mit Napoleons Knochen. Thiers hätte alles in Bewegung gesetzt. Der Alte Fritz sollte ein Denkmal Unter den Linden bekommen, und die Pioniere schachteten schon den Platz aus, wo es zu stehen kommen sollte. Die Linden wären beflaggt, und illuminieren wolle man für den Abend auch. Ganz Berlin wäre wie im Taumel, nicht als ob sie nur ein Denkmal, sondern als ob sie schon wirklich die Konstitution geschenkt bekämen. Der Zar von Rußland wäre dazu auch schon unterwegs.

»Weißte, Jason«, sagte Eli, »die Sach' mit de Potentaten kommt mir immer vor wie de beiden Shirting-Cohns hier. Wenn sie zusammenkommen, tun se, als ob se ein Herz und eine Seele wären – und Konkurrenzgeschäfte haben se doch. Aber der Alte Fritz war e kluger Mann. Ich kannte ihn, hab' ihn sogar öfter gesehen. Ich seh' ihn noch vor mir: e kleiner Herr, groß war er nich – aber e Köppchen hat er gehabt. Wir haben ihm sehr schöne Gäule damals für'n Krieg geliefert. Ich weiß noch genau, als ob's heute wär'.«

»Ja, Onkel«, sagte Jason Gebert, »das muß nun schon eine ganze hübsche Weile her sein.«

»Da magste recht haben, mein Sohn«, meinte Eli, »weißte, Jason, du kennst doch 'n ›Figaro‹. Erinnerst de dich, wenn se da singt, de Susanne: ›Endlich naht sich die Stunde‹ – weißte, denn sag' ich immer, wenn se das erst mal singt, is das Billett keinen halben Silbergroschen mehr wert. So is mit mir jetzt; keinen halben Silbergroschen ist 's Billett mehr wert.«

»Na, Onkel«, sagte Jason Gebert, und es lag doch eine sehr seltsame und schmerzhafte Ironie im Ton, etwas Sprödes und Klingendes, das ganz aus den Tiefen seines Wesens kam. »Na, Onkel, wollen wir mit unsern Billetts tauschen? Wirklich, ich tät's gern.«

»Äh«, sagte Eli und legte Jason die Hand auf die Schulter, »was haben se auf dir alles in deinem Leben rumgehackt, mei Sohn. Ich weiß, du bist immer e braver Mensch gewesen. Laß sein mit's Tauschen – laß sein! De alten Leut' müssen weg, damit de jungen Platz auf de Erde kriegen.«

Da kam Jettchen herunter. Sie hatte ein helles Musselinkleid mit Blumen angezogen, mit großen, gestickten Veilchensträußen rings um den Glockenrock, wie es jetzt das Allerneueste war, und sie trug einen weißen Chinaschal, der unter den Schultern durchgezogen war.

Aber da die Mittagshitze über den Straßen lag, so die erste unerwartete und verfrühte Sommerwärme des Jahres, die die Menschen matt und langsam und schweigsam macht, so fand es Jettchen kaum verwunderlich, daß Onkel Jason heute wortkarg neben ihr herhinkte, die Königstraße hinab. Und da das Licht der hohen Sonne gerade von Süden her ihnen entgegenflutete, die breite Straße ganz füllend mit seinen weißen Wellen und die Häuserfronten hüben und drüben teilend und lösend in Hell und Dunkel, in ein vielfaches Flackern von Fenstern, Gesimsen, Scheiben und Türen, so fand es Jettchen auch ebenso kaum verwunderlich, daß Onkel Jason beim Gehen die Augen einkniff, als ob er durch die neue Helligkeit geblendet würde, und daß Onkel Jason sich hin und wieder so ganz unauffällig mit seinem Batisttuch über die Augenwinkel strich.

Und doch hatte die unerwartete Hitze die Straßen nicht etwa entvölkert, wie das wohl so ein heißer Mittag sonst wohl tun kann, an dem niemand vor die Tür geht, es sei denn, sein Geschäft riefe ihn –, nein, die ganze Königstraße hinab schoben sich die Spaziergänger wie an einem Sonntagnachmittag: Herren dabei schon in gestreiften Nankinghosen; Damen in lichten, schattenspendenden Sommerschuten und den grünen Knicker vor dem Gesicht; Gymnasiasten mit ihren farbigen Mützen; kleine Mädchen in hellen Mullkleidern mit rosa Schleifen – und Kinder, so zahlreich, als hätte man sie ausgesät. Und wer Kriegsmedaillen hatte, der ließ seine Schritte klirren, als ginge es im Parademarsch gegen Napoleons Bataillone, um sie in den Boden zu stampfen. Und wer als Gerichtsschreiber sich in zwanzig Jahren einen Orden ersessen hatte, der versuchte, sich das Aussehen eines Diplomaten zu geben, der um die Geschicke der Völker wüßte und den nichts aus der Ruhe brächte. Viele Uniformen sah man; und alte Feldwebel und Krongardisten mit grauen Schnauzbärten wie Tintenwischer schoben ihre weißen Bäuche durch die Menge dahin, die Hand an der Plempe und jeder Blick ein gespießter Franzmann.

Durch die Seitenstraßen floß es zu dem Hauptstrom, und von weit hinten über den Alexanderplatz schob es sich heran, tausendgliedrig; alles bewegte sich in der gleichen Richtung, und in der schmalen Gasse oben vor der Kurfürstenbrücke, durch die gerade die Sonne einfiel wie durch ein Tor, da preßte sich die Menge zusammen und überflutete Damm und Bürgersteig. Die Wagen, die sich schrittweise gegen sie anschoben, waren eingekeilt in dieses schwankende, vielköpfige Gewoge; die Kutscher auf dem Bock schwebten dahin – da man Pferde und Wagen nicht sah – wie Kardinäle, die in einer Prozession hoch auf schwankenden Sänften getragen werden. Die wenigen aber, die hier in dieser engen Straßenkehle gegen den Strom schwammen, wurden hin und her gerissen und gegen die Wände und in die Nischen und an die Kellerhälse gepreßt, ehe sie es sich versahen.

Jettchen hielt sich dicht an Onkel Jasons Seite, damit sie nicht voneinandergetrieben würden, vor allem auf der Kurfürstenbrücke, auf der sich die Menge noch einmal staute, ehe sie sich in breiten Fluten über den Schloßplatz ergoß. Ganz hell lag die Sonne über dem Wasser, alle Uferwege waren dunkel von Menschen, und auf den schmalen Brücken hinten stand Kopf an Kopf gegen die weiße Luft. Nur der alte Schloßbau, der mit seinen ungleichen Gebäuden nach dem Wasser hin im Schatten lag, war finster und grau in all dem Gewühl, das ihn umbrandete.

Auf dem weiten Schloßplatz blieben Jason und Jettchen einen Augenblick stehen, denn hier breitete sich die Menge aus, bildete Gruppen und Kolonnen, und man bekam gleichsam wieder Platz zum Atmen. Um den Eingang des Schlosses standen Mauern von Menschen, die hören wollten, wie es dem König ginge. Allenthalben fing man seinen Namen auf. Die einen sagten, er wäre nicht aus dem Bett gekommen, die andern wollten ihn sogar gesehen haben. Und immer wieder tauchte das Gerücht empor und lief von Mund zu Mund, sprang von Gruppe zu Gruppe, daß der König überhaupt schon tot wäre und daß es nur nicht gesagt würde, um nicht die Feierlichkeiten für das Denkmal zu stören.

Ein Bekannter hielt Jason an und raunte ihm ins Ohr, daß er genau wisse, daß die Stadtverordneten schon eine Petition vorbereiteten, in der sie den »neuen« König sofort um eine Verfassung bitten wollten.

Aber da lief Jason Gebert, der in politischen Dingen schon immer den Katzenjammer hatte, wenn die andern sich erst zum Wein setzen wollten, die Galle über, und er rief ganz laut: Die Herren da oben sollten ihre Zeit zu nützlicheren Dingen verwenden; als ob ihnen der Kronprinz nicht schon die Antwort gegeben hätte! Heute vormittag bei der Feier hätte der Herr Kronprinz sprechen müssen – sonst könne er sich ja nicht oft genug hören. Aber gerade da, wo er etwas hätte sagen müssen, was des Philosophen von Sanssouci würdig gewesen wäre, wo man es von ihm erwartete, da wäre er ganz mucksstill gewesen.

Und die Menschen um Jason Gebert horchten auf: Ein Arbeiter schob seine Mütze zurück und legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, er hätte recht und so wäre das auch. Andere mischten sich darein. Ein Mann mit einem Orden sprach von Pöbel und gemeiner Kanaille, und ein Tischlermeister – man sah es seinen Händen an, daß sie gewohnt waren, den Hobel zu fassen – rief, er würde dem Monsieur ein Veilchenbukett auf die Neese pflanzen, wenn das etwa gegen ihn ginge.

Jettchen hing sich an Onkel Jason, der heftig atmete und sich mit der Hand an seiner schwarzen Halsbinde zerrte – und sie zog ihn fort.

Als sie aber mit Onkel Jason glücklich um die Ecke gebogen war und sie sich dicht in das Gewühl, das unter den schmalbrüstigen Häusern der Schloßfreiheit dahinschob, gemischt hatten, sprach sie auf ihn ein: Warum er das täte, warum er sie so in Angst und Schrecken setze, und ob er denn gar nicht auf sie Rücksicht nehme – was denn aus ihr werden sollte, wenn sie ihn wieder in die Hausvogtei sperrten. Bei diesen Worten aber schmiegte sich Jettchen ganz dicht an Jason Gebert, und bei dem Gedanken an diese Möglichkeit liefen ihr Tränen über das Gesicht. Jason Gebert jedoch war ganz kleinlaut, als er das sah, und strich und streichelte nur wortlos im Gehen Jettchens Hand, als leiste er Abbitte dafür, daß er ihr Sorge bereitet habe.

Und je näher sie den Linden kamen, desto stärker wuchs die Menge, desto unermeßlicher schienen die Scharen, die sich auf dem weiten Platz gesammelt hatten, die sich unter den eben junggrünen Bäumen dahinschoben, die die Bürgersteige umgürteten und die die Wagenreihen – diese langen Reihen von Fuhrwerken – umringten, daß sie nur Schritt für Schritt die breiten Dämme hinabfahren konnten. Die Wache stand unter Gewehr, und unaufhörlich erschollen Trommelwirbel und Kommandorufe; und wie wirkliche Feldherren über die unübersehbaren Menschenfluten ragten mit ihren grünen Lorbeerkränzen die weißen Marmorfiguren hüben und drüben auf, ganz hell von der Sonne beschienen, in ihren sieghaften und befehlenden Posen die einzig Regungslosen in all diesem tausendfachen Hin und Her. Ja, überall, selbst in den hohen Bäumen, hingen die Menschen; und hinten die flache Kuppel der Hedwigskirche war auch ganz besetzt mit schwarzen Gestalten, die sehr groß aussahen gegen die Luft und von denen man jede Bewegung ganz deutlich sah.

Nur mühsam und nach langem Verweilen, fast eingeschlossen in den Menschenmauern, vermochten Jason und Jettchen sich über den Opernplatz weiterzukämpfen – und da sahen sie einen Augenblick in eine Grube hinab, auf gekrümmte Rücken und blanke Spaten, die aufblitzten, wenn sie zur Sonne kamen, hörten das Aufschlagen der Erdschollen auf den braunen Wällen, hörten die Zurufe, die den Pionieren galten, und das Hin und Zurück von Worten und Witzen. Jason und Jettchen wurden mit angesteckt von der allgemeinen Freudigkeit; und Jason rief den Soldaten zu, ob sie es heiß hätten oder ob sie vielleicht eine Bouteille wünschten. Die Soldaten aber riefen irgend etwas zurück, aus dem Jettchen nur das Wort Mamsell verstand, und daraus entnahm sie, daß es ihr galt, und sie zerrte Jason am Ärmel; doch der lachte nur.

Und als Jettchen aufblickte, da sah sie drüben, jenseits der Straße, jenseits der Grube, Kößling stehen, der sich, von der Sonne geblendet, die Hand vor die Augen hielt. Jettchen schlug das Herz bis in den Hals hinauf, und sie winkte ihm und nickte ihm zu, und sie rief ihn beim Vornamen, ohne auf die Leute ringsum Rücksicht zu nehmen. Kößling sah sie und zog den Hut, und Jettchen konnte deutlich erkennen – über die Grube fort –, wie Kößling rot bis in die Haarwurzeln wurde ... in diesem merkwürdig jungenhaften Erröten, das ihm eigen war. Jason erblickte ihn nun auch und winkte ihm. Aber es waren zuviel Menschen zwischen ihnen, als daß sie zueinander gelangen konnten, und sie machten sich Zeichen, die sie vielleicht falsch deuteten; denn plötzlich waren sie sich wieder aus den Augen, und Jettchen zog nun Onkel Jason hinüber und herüber und suchte mit den Blicken, und sie kamen immer weiter von der Denkmalstelle ab. Als sie aber ganz langsam mit dem Strome wieder zurücktrieben, da hatte längst an der Stelle, wo Kößling vordem gestanden, irgendein ganz gleichgültiger Mensch Posten gefaßt.

Jettchen war das Weinen näher als das Lachen.

Aber Jason sagte, daß sie bald wieder nach Hause wollten, denn es wäre vielleicht doch nicht recht, wenn Jettchen die alten Leute so lange allein ließe. Und Jettchen ging neben ihm her – wortlos, mit suchenden Blicken. Die Augen schmerzten sie, wie sie im Gewühl, das ihr entgegentrieb, sich bemühte, ein jedes Gesicht wahrzunehmen – ob es nicht doch sein Gesicht wäre. Sie schrak zusammen, wenn sie glaubte, ihn gefunden zu haben, nur um immer wieder enttäuscht zu werden. Und ihre müden Augen ließen endlich die Vision von Kößlings Zügen allenthalben entstehen, sie glaubten selbst in Frauen und Knaben, die ihr entgegenkamen, im ersten Augenblick, da sie sie gewahrte, ihn zu finden.

Als Jettchen nach Hause kam, saß Minchen allein in ihrem großen Zimmer mit den goldenen Stühlen, allein an ihrem Fensterplatz. Und als Jettchen sie fragte, wo Eli wäre, meinte sie, sie wüßte nicht, sie hätte ihn schon eine halbe Stunde nicht mehr gesehen. Aber wie Jettchen nach oben lief, da lag der alte Eli mit seinem spitzenbesetzten Hemd am hellen Nachmittag, der seine Strahlen durch das Fenster warf ... am hellen Nachmittag schon im Bett und schlummerte. So leise sich Jettchen auch auf den Zehen zurückziehen wollte, sie machte es doch, daß der Alte aufwachte. Und Jettchen mußte sich zu ihm auf den Bettrand setzen und ihm erzählen, was es draußen gäbe; was sie gehört und gesehen habe; was man über den König sage; ob der Russe schon da wäre und ob Jettchen gesehen hätte, wie sie im Lustgarten die Böller gelöst hätten. Er wäre auch ganz gern dabeigewesen, aber er hätte sich bezähmt. Und dann wäre er auch schon vormittags genug müde, deshalb hätte er sich hingelegt. Aber wenn morgen wieder solch ein schöner Tag wäre wie heute, würde er doch mal nach den Linden gehen.

Des Abends jedoch, als Minchen schon lange Elis Beispiel gefolgt war, konnte Jettchen keine Ruhe finden, und sie ging – nachdem sie ihren Brief an Kößling beendet hatte –, von einem seltsamen Angstgefühl gepackt, auf und nieder zwischen den alten braunen Möbeln, ganz leise, daß ja nicht ihr Kleid raschele und daß sie nirgends anstieße und ihre Nachbarn um den Schlaf brächte. Und selbst der Hauch der Frühlingsnacht, der durch das offene Fenster hereindrang und die Mullgardinen flattern machte, daß sie fast bis zur Kerze herüberwehten, die über dem Schreibtisch ihr unruhiges Licht zucken ließ – selbst er ließ noch Jettchen frösteln.

Und dann – sie wußte selbst nicht, wie das gekommen war – mußte Jettchen sich wohl halb angekleidet aufs Bett gelegt haben und eingeschlafen sein – schwer und traumlos. Denn plötzlich erwachte sie, weil sie jemand an der Schulter berührte. Und sie fuhr auf und sah, daß das ganze Zimmer hell war von einem gleichmäßigen Schein und daß von draußen der Himmel hereinblickte, der ganz weiß schien und doch von langen, rötlichen Streifen durchquert wurde. Irgendwo krähte ein Hahn. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber das Licht lag schon über der Welt. Und Jettchen sah eine ganze Weile Tante Minchen an, die da in ihrem alten, violetten Morgenrock und dem Häubchen zitternd vor ihr stand, ehe sie begreifen konnte, was geschehen war.

Ach Gott! Die kleine Tante Minchen war aufgewacht. Sie wußte selbst nicht, wie das kam. Der Müller erwacht ja auch, wenn die Mühle zu klappern aufhört. Und so war die kleine Tante Minchen aufgewacht, weil ihr alter Ehegatte aufgehört hatte mit Schnarchen. Denn der alte Eli gehörte nicht zu denen, die einen leisen Schlaf hatten, sondern eher zu den Geräuschvollen. Immer hatte er geschnarcht – nicht gerade übermäßig laut, aber schön und gleichmäßig, jahraus, jahrein, jede liebe Nacht –, solange es sich Minchen erinnern konnte. Und Minchen hatte sich an diese stille Musik gewöhnt, daß sie sie selbst im Schlaf vernahm und daß sie auf sie achtete, ohne es zu wissen.

Und heute war Minchen plötzlich aufgewacht, als es eben dämmerte, weil es ihr so wunderlich vorkam, wie still es um sie war – und dann hatte sie gelegen und gelauscht, aber es hatte sich nichts im Zimmer gerührt, nur der Schrank hatte einmal geknackt, wie er es gern tat. Aber auch nicht das leiseste Schnarchen und Blasen war von Onkel Elis Seite zu der lauschenden Minchen herübergedrungen. Und dann hatte sie gewartet, bis es heller wurde, so hell, daß sie etwas unterscheiden konnte, hatte sich im Bett aufgesetzt und ganz verstohlen zu ihrem Ehegatten hinübergeblinzelt. Aber der lag da mit seinem alten Kopf, ruhig, scheinbar schlafend, den Mund halb offen, und regte kein Glied. Und als Minchen ihn anrief, da gab er keine Antwort und veränderte nicht einmal seine Lage, wie man es doch tut, wenn man im Schlummer gestört wird.

Da war Minchen aufgestanden, auf den Zehen, ganz sacht und ganz leise, als ob sie ihren Mann zu wecken fürchte, hatte sich kaum bewegt, als sie sich den Morgenrock überstreifte, gerade als ob sie jedes Geräusch vermeiden müsse, um den leichten Schlummer Elis nicht zu unterbrechen. Sie war aus dem Zimmer geschlichen, ohne sich noch einmal umzusehen, hinein in Jettchens Stube. Eli läge so ganz still, und er schnarche gar nicht mehr, wie er es sonst täte, und sie habe Angst, daß ihm etwas zugestoßen sei.

Und Jettchen nahm die alte, kleine Tante Mine, die so ängstlich und hilflos wie ein verflatterter Vogel unter ihrem schiefen Häubchen hervorsah, in ihre Arme und geleitete sie zu einem schweren, alten Großvatersessel, der am Fenster stand. Und als sie Minchen darin geborgen, wußte, ging sie selbst hinein zum Onkel, der da im hellen, weißen Morgenlicht noch gar breit und stattlich in seinem spitzenbesetzten Hemd dalag, gerade wie am Nachmittag vorher. Schön glatt lag die Bettdecke über ihm, fast ohne eine Falte.

Aber als dieses Mal Jettchen auf den Zehen sich näherte, da erwachte der alte Eli nicht mehr, und seine Züge blieben starr und eisig, wie sie es waren. Und Jettchen schlich, wie sie gekommen, aus dem Zimmer und sagte zu Tante Minchen: »Weißt du, Tante, wir wollen doch lieber runtergehen, um Onkel nicht zu stören.«

Und Minchen, das arme, verschüchterte Minchen, in dessen verbrauchtem Hirn sich langsam die Gewißheit des Geschehenen formte, ließ sich müde, zitternd und willenlos von Jettchen hinuntergeleiten – gestern noch ein kleines, dürres und geschäftiges Persönchen und nun eine welke, uralte Frau. Gestern doch noch ein Schiff im eigenen Fahrwasser und nun eine Schaluppe mit zerbrochenem Steuer und gekapptem Mast.

Jettchen weckte die taube Minna, die da unten in irgendeiner dunklen und luftlosen Alkovenecke bei der Küche schlief, und da sie ihr nicht zubrüllen mochte, was geschehen war – denn dann hätte es ja Minchen auch hören müssen –, legte sie den Finger an den Mund, die taube Minna solle ganz still sein. Die taube Minna, die die Eigenheit vieler Schwerhöriger besaß, daß sie eben nur mit den Ohren schlecht hörte, rieb sich mit dem Schürzenzipfel ihre Augen, während sie mit dem Feuerhaken lärmend auf dem Herd herumstocherte. Und Jettchen sagte ihr, sie solle erst zum alten Geheimrat Stosch gehen und dann zum Herrn Jason Gebert und ihnen mitteilen, was geschehen war.

Und die taube Minna, die ja eigentlich Auguste hieß, aber von Minchen, weil es ihr bequemer dünkte, Minna gerufen wurde, sie stellte noch, ehe sie ging – ganz wider ihre Art wortlos und geräuschlos –, die blitzende Kaffeemaschine auf den Tisch und tat die Brötchen, die eben erst vom Bäcker gekommen waren und noch ganz frisch rochen, in den schönen, silbernen Brotkorb.

Das alte Minchen aber, das indes auf seinem Fensterplatz gehockt hatte, in sich zusammengesunken wie ein Vogel auf seiner Stange, kam auf Jettchens Bitten zum Tisch und ließ sich Kaffee einschenken. Und Jettchen sorgte, daß sie auch etwas von dem Weißbrot nehme. Minchen aber ließ alles mit sich geschehen und sagte kein Wort dawider.

Draußen kam ein herrlicher Tag hoch. Die Sonne, kristallen und ungetrübt, stieg jetzt drüben über den niederen Häusern empor und warf in zwei breiten Strömen durch die beiden Efeubogen der Fenster ihr weißliches Gold in die Stube hinein, über den verwaisten Thronstuhl Onkel Elis fort, und sie machte alle Kristalltropfen an den Bronzereifen der Krone blitzen und ließ sie ihre Regenbogenmuster über Wand und Decke umherstreuen. Auf den breiten Kommoden ließ sie die eingelegten Blumen, die sonst tief im Schatten lagen, aufblühen wie die Blumen draußen an einem Junimorgen unter der Kanne des Gärtners. Und zwischen den Porzellanen oben auf den Kommoden, der Reifrockdame mit dem Mops und Calas Abschied, zwischen den Vögeln und der Kuh, den Göttern und dem Savoyardenknaben wand sich ein Geflecht von Sonnenstrahlen hindurch, und die Stäubchen, die darin auf und nieder tanzten, glichen silbernen Funken. Alle Stühle, die ringsum an der Wand Wache hielten in ihrer verblichenen Vergoldung, begannen im Licht der jungen Sonne zu leuchten, nicht als ob sie schon fünf Jahrzehnte dort ständen, sondern als ob sie eben aus der Werkstatt kämen. Chéri aber, der Kanarienvogel, setzte sich auf die oberste Sprosse und schmetterte mit schiefem Kopf und gesträubtem Häubchen seine hellsten Triller in all diese Helligkeit hinein, als wolle er noch einmal zeigen, daß das Leben nicht vom Tode weiß und den Tod immer wieder vergißt.

Und bald hörte man, wie der alte Stosch hinten die Stufen heraufklapperte, und er blieb dann noch, ehe er wieder in den hellen Morgen hinausging, eine ganze Weile unten bei Minchen. Denn sie brauchte ihn ja jetzt und nicht mehr der da oben, dem könne er nun nicht mehr helfen und nicht mehr nützen. Und der Arzt gab Jettchen noch in der Tür genaue Vorschriften zu Minchens Wartung und Pflege.

Aber ehe noch Stosch ging, kam Jason Gebert eilig herangehinkt, sehr bleich, fröstelnd am lichten Junimorgen, sehr ernst und sehr wortkarg. Und nicht eine Stunde verging, da waren sie alle da: Ferdinand und Salomon, Rikchen und Hannchen, ja selbst das alte Fräulein mit den Pudellöckchen hatte sich wieder eingefunden und saß auf einem goldenen Stuhl, den Strickbeutel an der Seite. Kein lautes Wort wurde gesprochen, keine Klage, kein Weinen wurde gehört, und jeder war bemüht, der alten Tante Minchen Liebe und Zärtlichkeit zu beweisen. Aber die alte Tante Minchen antwortete einmal ja und einmal nein und blieb sonst ganz still und ohne Tränen. Denn ihr armer und verbrauchter Verstand hatte eben noch nicht so ganz begriffen, was geschehen war. O ja, Minchen, war sich wohl schon für Augenblicke bewußt, daß sich ihr alter Weggenosse für immer von ihr getrennt hatte, aber ganz vermochte eben ihr Hirn diese Vorstellung nicht mehr zu fassen und zu halten; wird es doch schon einem gesunden Geist schwer genug, sich solch eine Vorstellung zu eigen zu machen.

Als sie aber den alten Onkel Elias Gebert draußen begruben, ein paar Tage darauf, spät am Nachmittag, und als die Frauen in dem niederen, langen Zimmer mit den goldenen Stühlen alle um das alte, zitternde Minchen herumsaßen und sie zu trösten versuchten, während eben die Männer auf dem Friedhof weilten, als da die Dämmerung kam und die Straßen und Bäume mit ihrem wunderlichen Zwielicht füllte, während der Himmel oben sich seltsam rötete und von den Plätzen her so ein dumpfes Brausen und Lärmen scholl, da begannen plötzlich ringsum alle Glocken zu läuten in einem ehernen und schwermütigen Singsang – von der Marienkirche her und von der Nikolaikirche her, von der Petrikirche und von der Garnisonkirche und der Parochialkirche, weither vom Dom und vom Werder und vom Gendarmenmarkt ... alle Glocken ließen plötzlich ihre Töne über der dämmrigen Stadt zusammenfließen, und sie mischten sie zu einem klaren und unaufhörlichen Trauergesang, der jedes Wort übertönte, das die Frauen sprachen. Und von der Straße her kam zu diesem langen und dumpfen Klingen ein gleichmäßiges, schweres, rhythmisches Stoßen, als ob weit draußen große Menschenmengen im Tritt still vorüberzögen. Und ein hohles und langsames Trommeln mischte sich darein, wie eine gedämpfte Grabmusik, die aus Meilenferne herübertönte.

»Äh«, sagte Minchen, »se brauchen nich mit de Glocken zu läuten. Eli hat se nie leiden können. Weißte, Jettchen, nur mit de Singeuhr hat er immer seine Freude gehabt.«

Aber kaum einer hörte auf Minchens Worte, und alle ringsum wurden seltsam ergriffen und beunruhigt durch die ungewohnten Klänge, die, mit dem roten Halblicht gemischt, gleichsam ein unheimliches Naturereignis, Krieg und Pestilenz, zu verkünden schienen.

Die Männer kamen sehr ernst zurück.

»Wißt ihr schon«, rief Salomon Gebert, als er in die Tür trat, »daß der König heute nachmittag gestorben ist? Die ganzen Linden sind schwarz von Menschen, und draußen bringen die Truppen jetzt schon die Fahnen nach dem Schloß.«

Hannchen, die sich als Frau Königliche Kommissionsrätin dem Hofe eng verbunden fühlte, brach sogleich in Tränen aus. Aber Rikchen fragte Salomon sofort nach geschäftlichen Dingen, die mit dem Tode des Königs zusammenhingen.

Jason war noch nachdenklicher als vordem. »Ja«, sagte er, »mit dem alten Herrn geht eine ganze Zeit dahin«, und man wußte nicht, meinte er den König oder seinen alten Onkel Elias Gebert.

Minchen aber rief: »De Glocken haben nun wirklich genug geläutet; meinethalben könnten se aufhören – und Eli hat se auch nie leiden mögen ...«

Und die Tage, die schon bei Onkel Elis Lebzeiten ruhig dahinflossen, sie wurden nun für Jettchen bei Tante Minchen noch stiller und einförmiger. Denn in das kleine alte Haus am Hohen Steinweg, das nicht viel breiter als ein preußischer Grenadier war, da drang eben nichts von dem Rauschen und Lärmen und dem Gewoge, das ringsum alle Straßen füllte, von den tausend Vermutungen und Gesprächen, die Hoffnung und Unzufriedenheit spiegelten und die in den Armseligkeiten des politischen Lebens Wichtigkeiten sahen. Höchstens, daß Jason einmal zu Jettchen kam, mißgestimmt über die alte Aussichtslosigkeit des öffentlichen Lebens und doch frohlockend, weil er das alles hatte kommen sehen. Natürlich hätten die Stadtverordneten nicht eine Petition um eine neue Verfassung an den neuen König gerichtet, sondern den Gedanken in aller Stille auf den Rat kluger Vorsicht erstickt. Nicht einmal den Mut hätten diese Zinngießer, sich eine abschlägige Antwort zu holen, und dann wunderten sie sich noch, wenn man ihnen auf dem Kopf herumträte. Oh, es könnte ein Lustspiel sein, wenn es keine Tragödie wäre!

Aber solche Besuche Jasons oder Ferdinands, der mit dem blühenden Frühling sein altes Herz wieder entdeckt hatte, das waren doch immer nur geringe Minuten. Und wenn die Frauen auch etwas länger vorsprachen, denn Frauen haben immer weniger zu sagen und mehr zu sprechen – und besonders Tante Hannchen, die nun zu dem armen Wolfgang auch vorübergehend Onkel Eli in ihr Programm aufgenommen hatte, sie war jetzt recht ausdauernd in ihren Reden –, ja, wenn die Frauen auch länger blieben, die ganzen lieben Tage und die ganzen hellen Nächte war eben Jettchen doch völlig allein mit Minchen, die meist so schwach und kümmerlich war, daß Jettchen sie kaum auf Minuten verlassen konnte. Und dann war ja das alte Minchen, wie das bei sehr betagten Menschen wohl vorkommt, nicht mehr so recht bei Sinnen, und auch deshalb durfte Jettchen sie nicht sich selbst überlassen.

Das brave alte Minchen vergaß nämlich immer wieder und wieder die eine letzte, neue und ungewohnte Wahrheit, die plötzlich in ihr Leben gekommen war und die der Erkenntnis eines halben Jahrhunderts entgegenstand. Und das Schicksal meinte es fürder mit der alten Tante Minchen sogar dermaßen gut, daß es auch nicht mehr duldete, daß Minchen sich in der kurzen Frist, die ihr noch gestattet war, mit ihrem verblichenen violetten Morgenrock von Zimmer zu Zimmer zu huschen, daß Minchen sich in den wenigen Wochen an diese neue und vernichtende Wahrheit gewöhnte.

Nun glaube man nicht etwa, daß Minchen ihren abwesenden Gatten vermißte und sich klagend nach ihm sehnte –, nein, im Gegenteil, das alte Frauchen schimpfte recht kräftig den ganzen Tag vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein mit dem alten Eli herum, der doch längst fünf Schuh tief unter der Erde lag und der nunmehr schon im Heidenhimmel in seinen gelben Stulpenstiefeln und in seinem besten blauen Frack mit den echten Goldknöpfen an der Ecke stand und die Rosse des Herrn von Helios, des Sonnengottes, einer ebenso vernichtenden Kritik unterzog, wie er sie weiland auch für Herrn von Naglers ostpreußische Wallache vor dem Prenzlauer Wagen nicht gespart hatte.

Minchen aber nahm, wie gesagt, von dieser Wohnungsänderung des alten Eli keine Notiz – erkannte das einfach nicht an. Und so kam es, daß sie deshalb durchaus unzufrieden mit Eli war, und da Eli zudem noch erklärlicherweise auf all ihre Anwürfe sich schweigsam verhielt, so kodderte sie sich in einen immer wachsenden Unmut gegen ihren alten Ehegatten hinein, über den sie sich vordem doch wahrlich nicht zu beklagen gehabt hatte.

Schon des Morgens beim Kaffee begann das.

»Verstehst du, Jettchen, wo der Mann heute bleibt?« fragte Minchen, schüttelte den Kopf, daß die Tüllhaube nur so flog, und schob indigniert ihre Tasse zurück. »Was heißt das, nicht zum Kaffee zu kommen? Er wird doch wirklich von Tag zu Tag komischer.«

Wenn Jettchen dann die Tränen nicht zurückhalten konnte, griff sich das alte Minchen an das Haar und rückte mit ihren kleinen, welken Fingern die puffige Haube zurecht.

»Richtig, richtig, Jettche, ich hatt's doch wieder vergessen!«

Aber nach zehn Minuten hockte das alte Minchen trotzdem schon vor ihrem Efeubogen auf ihrem Fenstertritt, auf dem goldenen Sessel, hatte ein verbrauchtes Leinenhemd Onkel Elis hervorgezogen und stichelte mit hastigen Bewegungen daran herum.

»Ich sag' dir nur das eine, Jettchen: heirate nicht; ich versichere dir, was die Männer für Hemden zerreißen, ist unglaublich.«

Und wie weh es auch Jettchen tat, das mit anzusehen, so brachte sie es doch bald nicht mehr übers Herz, diese Dinge vor Minchen zu verbergen. Und auch der alte Stosch sagte, man solle ihr das ruhig lassen, bis sie allein damit aufhöre, denn das wäre doch eigentlich die beste und erfreulichste Art für die alte Frau, sich mit dem Geschehenen abzufinden.

Aber eines schönen Nachmittags – das Laub an den Bäumen war schon nicht mehr gar so licht und hellgrün, und nur im Kalender war noch nicht Sommer –, da kamen Salomon und Rikchen zusammen, beide zusammen, was doch sonst nicht geschah, und ihrem ganzen Auftreten sah man es an, daß sie über Zeit verfügten, ja, daß sie sich gleichsam schon auf Urlaub fühlten. Wie sie hereintraten in das Zimmer, würdig, Arm in Arm, wohlgefällig und lächelnd, da hatten sie etwas von einem jungen Ehepaar und glichen gar nicht dem alten Doppelgespann von sonst, das nun schon über fünfundzwanzig Jahre einmal hü und einmal hott nebeneinanderher trottete. Nein, in ihrem ganzen Wesen lag so eine würdige und selbstgefällige Feierlichkeit.

Salomon Gebert war besonders glatt und frisch rasiert, hatte einen neuen, rehbraunen Gehrock an von so elegantem Schwung in der Taille, daß man sofort sah, daß sein Bruder Jason dabei Pate gestanden hatte, und seine schwarzseidene Weste trug in einem noch tieferen Schwarz ein Muster von Tulpen und Nelken. Sie war das Neuste für die Landestrauer. Ja, jetzt waren Salomon Gebert & Co. besser in den schwarz in schwarz gemusterten Dessins versehen als im vergangenen Jahr, und man brauchte die Kunden nicht einen Tag auf die Erledigung ihrer Anträge warten zu lassen. Die Kisten und Kollis marschierten nur so aus dem Laden hinaus. Das Geschäft tat überhaupt von selbst seine Arbeit wie ein gutes Uhrwerk. Und das brachte einen Lichtschein von Zufriedenheit in Onkel Salomons ganzes Auftreten. Selbst die Siegelringe an den Fingern und der Karneol auf der Busennadel schienen davon einen höheren Glanz bekommen zu haben.

Über Tante Rikchens breite, kleine Gestalt war gleichfalls ein Schein von Wohlbehagen ausgegossen, und durch die Muster und Maschen ihres schwarzen Kantentuches, das sie über die Schulter genommen hatte, blickte ihr immer noch pralles und zartes Fleisch mit hundert munteren Augen. Das blaue Taftkleid aber mit den kleinen gelben Röschen machte sie jünger und schlanker und stand ihr gut zu Gesicht und Haar.

»Na, Tante«, rief Jettchen, »ihr seht doch so festlich aus – beinahe wie Brautleute.«

»Ja«, sagte Salomon, »wir sind auch auf der Hochzeitsreise, wir wollen nämlich morgen nach Karlsbad fahren.«

»Und denke dir«, sagte Rikchen und legte ihrem Mann die fette Hand auf die Schulter, »ich fahre dieses Mal mit, und dann werden wir noch, wenn Salomon die Kur gut bekommen ist – denn weißt du, er hat dieses Jahr ja sehr viel Aufregungen gehabt –, dann werden wir noch eine große Schweizer Reise machen. Salomon will ja immer schon geschäftlich auch einmal ein paar Plätze wie Zürich und Luzern besuchen, und das will er dann gleich damit verbinden. Die Hauptsache sind und bleiben uns aber doch die Schweizer Berge und die sonstigen Sehenswürdigkeiten.«

»Schön ist, Mutter Natur,
deiner Erfindungen Pracht
auf die Fluren verstreut,
schöner ein froh Gesicht,
das den großen Gedanken
deiner Schöpfung noch einmal denkt«,

zitierte Salomon lächelnd und schlug mit dem beringten Zeigefinger den Takt; denn diese Poesie kannte er noch aus grauen Schuljahren her.

Aber Rikchen hatte ihre eigene Poesie.

»Soll ich den ›Ridji‹ und die Jungfrau von dir grüßen?« sagte sie und hob die Augen entzückt zur Decke. Denn da der Rigi für sie etwas durchaus Fremdländisches war, so sah sie nicht ein, warum sie seinen Namen nicht höchst fremdländisch aussprechen sollte.

»Siehst du«, sagte Salomon, »wenn du jetzt nicht hier bei Tante Minchen bliebest, dann hätten wir dich wirklich zu gern mitgenommen. Na, eben nächstes Jahr, Jettchen.«

»Aber weißt du«, meinte Rikchen, »Potsdam ist doch auch ganz schön.«

Jettchen lachte. Gewiß, Potsdam wäre ja zwar nicht Luzern, aber endlich keineswegs zu verachten.

»Nun«, begann Salomon wieder, »da sollst du einmal sehen, wie ihr da wohnen werdet. Drei Schritt 'rüber, und ihr seid mitten drin im Park von Sanssouci.«

»Ja«, unterbrach Rikchen, und man hörte ihr die Freude an, das sagen zu können, »wir haben nämlich gestern für euch bei Sommerguths zwei Zimmer gemietet. Er kam nach Berlin herein wegen der Abrechnung, und da hat sich das bei der Gelegenheit so gemacht.«

»Ach wie nett – bei Sommerguths!« rief Jettchen, und sie freute sich wirklich, denn sie kannte die alten Sommerguths – der Mann war seit fünfundzwanzig Jahren in Onkel Salomons Potsdamer Weberei Werkmeister –, sie kannte Sommerguths gar wohl, und sie war immer entzückt gewesen von dieser einfachen und sauberen Häuslichkeit und den kleinen und hellen Gartenzimmern.

»Sowie es Stosch Minchen erlaubt«, begann Salomon und setzte die Miene eines Bärbeißers aus den Ifflandschen Stücken auf, der sein weiches Herz unter der Maske eines Menschenfeindes verbirgt, »da macht ihr also, daß ihr hier herauskommt. Ich habe heute erst mit Stosch gesprochen. Jetzt wäre natürlich noch keine Rede davon, sagte er, aber er hoffe mit Sicherheit, Minchen bald wieder soweit zu haben.«

»Gewiß«, meinte Rikchen, »Stosch sagt auch, daß ja bei Minchen eine neue Umgebung überhaupt Wunder tun könnte.«

Die alte, kleine, schiefe Tante Minchen hatte währenddessen ziemlich teilnahmslos auf ihrem Fensterplatz in dem Efeubogen gesessen und scheinbar kaum auf das Gespräch geachtet. Das zerschlissene alte Hemd von Onkel Eli, das sie auf den Knien hielt, war ihr viel wichtiger. Aber jetzt horchte Minchen auf, und plötzlich sagte sie etwas, was man dem kleinen, verwelkten und verdorrten Frauchen gar nicht zugetraut hätte und was allen, die es hören mußten, die Tränen in die Augen trieb.

»Ich danke dir, Salomon«, sagte sie ganz ruhig und leise, mit der matten und hellen Stimme einer Grille im Spätherbst, »ich danke dir – es ist sehr gut und liebenswürdig von dir –, aber mein Eli und ich, wir haben uns schon unsere eigene Sommerwohnung dies Jahr gemietet – draußen vorm Schönhauser Tor. Eli ist schon rausgezogen, und ich muß hier bloß noch 'n bißchen was an seine Sachen in Ordnung bringen, dann zieh' ich auch 'raus.«

Salomon faßte sich zuerst und rief: »Unsinn, Minchen, Unsinn – so was sagt man nicht.«

Und Jettchen, die zu Minchen geeilt war und sie umfaßt hatte, beschwor sie auch, doch nicht so zu sprechen.

Das kleine Minchen aber schien im Augenblick wieder ganz anteillos und stichelte weiter auf das zerschlissene Hemd los, als läge ihr viel daran, recht bald mit dieser Arbeit fertig zu werden.

»Also«, sagte Salomon noch einmal bestimmt und laut, als dulde und erwarte er als derzeitiger Senior aller Geberts keinen Widerspruch, »also ... dann zieht ihr, sobald es geht, heraus nach Potsdam. Und nun, Jettchen« – Salomon setzte sich plötzlich in Positur und rieb sich mit großen Bewegungen die Hände, und auch Rikchen veränderte sich sichtlich und lächelte wohlgefällig und strahlend –, »und nun, mein liebes Jettchen, kommen wir zu dir. Du kannst dir denken, mein Kind, daß ich Berlin nicht verlassen würde, wenn ich deine Angelegenheiten nicht zuvor geordnet hätte oder so weit geordnet hätte, daß keine Unklarheiten mehr bestehen. Seit vergangener Woche sind wir nun glücklich mit Benjamins auch auseinander, ohne daß wir bei der jetzigen Lage der Dinge – denn der Eisenbahnmarkt hat sich ja unter dem neuen König sehr gehoben –, ohne daß wir gerade besonders viel Schaden gehabt hätten. Und nun haben wir eigentlich nur noch die gerichtlichen Formalitäten zu erledigen. Ich lasse mich die Sache mit Julius etwas kosten, damit es so wird, wie wir es wollen; ich lasse sie mich sogar viel kosten, Jettchen – mehr als man glaubt; aber für dein Glück ist uns eben nie etwas zu teuer gewesen. Und weißt du, ich sage mir immer: Mein Geld kann ich mir ja immer wieder verdienen; darum ist es nicht schade. Doch wenn ich erst einmal hier in Berlin meinen Namen verloren habe – den bekomme ich nicht wieder ... und unsere Enkel auch nicht.«

So sprach Salomon Gebert, und auch aus dieser Rede vernahm man, daß er sich ein wenig gern sprechen hörte. Rikchen aber saß dabei und betrachtete ihren Mann mit bewundernden Blicken, und sie fand sich und ihr ganzes Gehaben so schön und rührend gut, daß ob ihrer eigenen Herzensvollkommenheit ihre Augen feucht wurden und sie nur noch ganz leise und gepreßt sprechen konnte.

»Siehst du, Jettchen«, sagte sie, »wir haben ja von je nur dein Bestes gewollt, und wenn wir wirklich einmal einen Fehler gemacht haben sollten, so sind wir auch immer gern bereit, ihn wiedergutzumachen – und wir waren dir doch nie im Wege ...«

Den Schluß des Satzes brachte Tante Rikchen nicht heraus, und sie wandte sich schluchzend ab und suchte in ihrem perlgestickten Pompadour nach einem Batisttuch.

Jettchen küßte Onkel Salomon und bedankte sich bei Tante Rikchen; sie sagte, daß sie sich sehr freue und daß Onkel wirklich so gut und großmütig an ihr handle. Jettchen sagte das, während sich doch nichts in ihrem Innern regte als Angst und Ungewißheit. Wie hatte sie diesen Augenblick ersehnt; und nun, da er gekommen war, wußte sie nichts mehr, auf das sie sich freuen sollte.

Und Onkel Salomon ging umher mit der Miene der Feierlichkeit und gab Verhaltungsmaßregeln. Sein Bruder Jason würde all das Weitere ordnen, und sie hätten sogar Bielfeld als Rechtsbeistand genommen, der wäre ja sehr geschickt und würde alles schon beschleunigen. Es wäre auch ausgemacht, daß er sie möglichst wenig mit Terminen und Aussöhnungsversuchen belästigen solle. Jason würde ihn auch wieder im Geschäfte vertreten, und Jettchen sollte nichts ohne ihn tun und um keinen Preis eine Unterschrift ohne ihn geben.

Aber Rikchen fühlte, daß der Ernst der Dinge jetzt ein Ende haben müßte, und sie begann Jettchen mit ihren Vorbereitungen zu ihrer Reise zu überfallen. Sie nähme für die Kurpromenade eine lila Changeantrobe mit, und dann hätte sie sich noch bei Behrens Unter den Linden englische Eßbestecke gekauft für die Reise, zum Zusammenlegen, und bei Ackermann eine Taschentuchkassette aus russischem Saffian und einen ganz neuen Hutkoffer, der gar nicht groß wäre und trotzdem für drei Hüte Platz biete. Und für die Schweiz hätte ihr Salomon eigens eine Taschenausgabe von »Wilhelm Tell« von Schiller besorgt, und sie hätte ihn schon gestern mit vielem Vergnügen zu lesen angefangen; sie wäre ganz begeistert ... wie es nur möglich wäre, daß einer so etwas dichten könne.

Und Salomon sagte, daß sie nun gehen müßten, weil sie noch viel zu besorgen hätten, und daß er jetzt ruhigen Herzens abreise, weil er wisse, daß hier alles gut wäre. Jettchen solle nur weiter so lieb und aufopfernd zu Tante Minchen sein, wie sie es bisher gewesen wäre, und dann hoffe er alle gesund und munter wiederzusehen. Ihren Kreditbrief für Mendelssohn habe sie ja noch. Und wenn Jettchen in Potsdam etwas brauche, so könne sie es durch das Geschäft einziehen lassen; er habe Demcke Anweisung gegeben.

Rikchen unterbrach ihren Mann, ob Jettchen denn schon gehört hätte, daß Hannchen mit Jenny dieses Jahr nach Charlottenburg zur Frau Könnecke ziehe. Als Königlicher Kommissionsrat, hat Ferdinand gesagt, kann er nicht mehr nach Schöneberg ziehen, da kämen nur noch Pankow und Charlottenburg in Betracht. Jetzt wäre Hannchen mit einemmal Frau Könneckes Garten nicht zu stickig, und die Mücken störten sie auch nicht mehr. Nur habe sie sich ausbedungen, daß man ihr ein nettes Plätzchen im Vordergarten schaffe, weil sie gern Menschen sähe.

Jettchen lächelte. Und Rikchen, die doch mit der Zeit so einen Anflug von Gebertschem Wesen angenommen hatte, verstand dieses Lächeln.

»Na, laß sie, Jettchen«, sagte sie. »Die arme Frau – sie hat doch so wenig Angenehmes sonst vom Leben.«

Tante Minchen aber hatte in der ganzen Zeit sich gar nicht sonderlich um ihren Besuch gekümmert und ihn anscheinend immer wieder vergessen. Und nun nahmen sie Abschied von ihr, und zwar so hastig, daß ihnen vielleicht gar nicht zum Bewußtsein kam, daß das ein Abschied für das Leben war.

Aber Salomon drängte und drängte, sie müßten nun fort und er hätte noch mit Jason viel wegen des Geschäfts zu besprechen, er habe schon zweimal heute zu ihm geschickt, aber wo der wieder sei, wüßten die Götter.

»Oder die Göttinnen«, sagte Rikchen mit einem Lächeln in den Mundwinkeln.

Und Salomon, der würdige Salomon Gebert, lachte laut und sagte zu Jettchen, daß er an seiner Frau in letzter Zeit immer neue Seiten entdecke. Jetzt würde sie sogar witzig.

Jettchen aber war über und über rot geworden.

 


 << zurück weiter >>