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Und alles kam, wie es kommen mußte, alles wie es kommen mußte.

In einem schönen, breiten Landauer mit hellen Polstern, die man ganz zu einem Ruhelager zusammenschieben konnte, in einer schönen Glaskutsche fuhren an einem hellen und warmen Julinachmittag Salomon Gebert und Tante Rikchen gen Karlsbad. Sie hätten ja vielleicht ein Stück mit der Eisenbahn fahren können und den Wagen dann voranschicken ... und Salomon hatte auch diese Absicht gehabt. Als aber Tante Rikchen davon Wind bekam, lag sie ihrem Mann so lange in den Ohren, diesen verhängnisvollen Plan, auf den sie ja nicht eingehen würde – denn nicht zehn Pferde brächten sie da hinein, und sie würde sich zu Tode ängstigen –, diesen verhängnisvollen Plan aufzugeben, bis er ihn auch für seine Person fallenließ. Unter uns: Vielleicht hätte sich ja Tante Rikchen doch bewegen lassen, mit der Eisenbahn zu fahren, denn ihre Furcht vor diesem schnaubenden Ungetüm wäre schon zu bekämpfen gewesen – aber Rikchen wollte sich um keinen Preis darum bringen lassen, überall zu erzählen, daß sie im eigenen Wagen reisten. Das war zwar nicht ganz richtig, denn der Wagen gehörte durchaus nicht Salomon Gebert, sondern einzig und allein dem Königlichen Kommissionsrat Ferdinand Gebert; aber was tut das – es blieb doch in der Familie. Und dann machte das Tante Rikchen auch nicht etwa plump, sondern sie redete es in einem Ton hin, als ob sie von Jugend an – schon aus Bentschen her – es nie anders gewohnt wäre, als im eigenen Wagen zu reisen. Sie sprang auch keinem Menschen damit entgegen, sondern sie warf das so ganz bescheiden und nebenher in das Gespräch ein, als ob es ihr nur eben so einfiel, trotzdem man es eigentlich noch kaum zu erwähnen brauchte; denn gerade das, wußte sie genau, ärgerte ja die andern insgeheim am meisten. Man möge das der guten Tante Rikchen nicht übelnehmen; denn die gute Tante Rikchen war nun einmal so geraten, daß ihr ihre Freuden doppelt so gut schmeckten, wenn sie sie mit dem Ärger anderer Leute würzen und aufpfeffern konnte. Und jeder Mensch muß nun einmal so verbraucht werden, wie er ist.

Ja, daß ich es gleich sage – denn man wird mich danach fragen –, Karlsbad bekam dieses Mal Salomon Gebert ausgezeichnet, so gut wie kaum je zuvor. Die Braunen aber, die so lange eingestanden hatten, waren auch glatt und fett in Karlsbad geworden und hatten wieder für die Reise etwas zum Zusetzen. Und wie weiland Exzellenz von Goethe an einem hellen Augustmorgen von der gleichen Stelle im eigenen Gefährt nach der Heimat seines Herzens aufbrach, so fuhr Tante Rikchen auch an einem schönen Augustmorgen, nur einige Wochen früher, auch im eigenen Wagen oder er war doch beinah ihr eigener – gen Süden nach dem Ziel ihrer Wünsche, nach dem »Ridji« und der Jungfrau, wohlvorbereitet durch die Taschenausgabe von »Wilhelm Tell«. Sie war immer noch entzückt, vor allem vom Anfang, allwo der lächelnde See zum Bade ladet. Nur eine Stelle hatte Tante Rikchens höchstes Mißfallen, an der es da heißt: »Seht, Kinder, wie ein Wüterich verscheidet.« Wie konnte das Frauenzimmer ihren Kindern das zeigen! Man zeigt Kindern doch so was nicht!

Ja, daß ich es gleich sage – denn man wird mich ebenso danach fragen –, da dem guten Menschen alles nach Wunsch geht, war Salomon Gebert auch sonst mit dem Erfolg der Reise sehr zufrieden. Er knüpfte Beziehungen an in Basel, Zürich und Luzern und sandte mit jeder Post eine Zahl von Dessins nach Norden, reizende Herbstneuheiten, von denen er bestimmt wußte, daß sie die Konkurrenz nicht bringen würde. Wenn je, so würde er dieses Mal der Mann der Saison sein.

Tante Rikchen schrieb in jedem Brief an Jettchen, daß sie sich die freien Schweizer Berge – denn seit Wilhelm Tell war doch die Schweiz frei – so majestätisch doch nicht vorgestellt hätte. Aber sie hätte sich überall kolorierte Kupfer gekauft, die ganz naturgetreu wären, und die würde sie Jettchen dann zeigen.

Ja, daß ich es ferner gleich sage: Der Königliche Kommissionsrat Ferdinand Gebert zog nicht mit nach Charlottenburg zu Frau Könnecke – er hatte in der Stadt zu tun. Er kam nur manchmal am Sonntagnachmittag auf einem lammfrommen Apfelschimmel herausgeritten; denn er hatte die Notwendigkeit erkannt, sich jetzt dem Volke zu zeigen. Endlich macht doch ein Herr, der reitet, einen ganz anderen Eindruck als einer, der im Wagen fährt oder der etwa zu Fuße geht. Ach, und wenn die gute Tante Minchen noch vor die Tür gegangen wäre, sie hätte es wieder sehen können, daß eine richtige Person, die wie eine Bachstelze getrippelt wäre, aus Tante Hannchens Hause gekommen wäre und sich mehr als einmal nach einem Fenster umgeblickt hätte. Nur ob es noch dieselbe Person wie im vergangenen Sommer gewesen wäre, das ist eine Frage, zu deren Beantwortung wir uns nicht für kompetent erklären können.

Tante Hannchen aber schlief draußen in Charlottenburg in dem roten Zimmer, und über ihrer einsamen Lagerstatt spielten gleichsam ihr zu Spott und Hohn die Bacchantinnen mit den Panthern. Jenny aber hatte Jettchens Zimmer, und sie freute sich darüber, fühlte sich schon als Dame und trug sich mit Heiratsgedanken. Nein, sie würde nicht ihrem Mann auf und davon gehen ... und all ihre Freundinnen hätten gesagt, daß sie es auch nicht tun würden.

Und beides, was Tante Hannchen sich erbeten hatte, geschah. Der Platz im Garten war so, daß alle Leute sie sehen konnten, und Hannchen saß dort ganze Nachmittage und nahm Cour ab, jeden grüßend, den sie auch nur kannte von irgendwoher, seit wer weiß wann; ganz gleich, ob sie vordem mit ihm auf dem Grüßfuß gestanden hatte oder nicht.

Und der zweite Wunsch, daß Frau Könneckes Tochter Emilie möglichst im Hintergrund bliebe, damit: nicht Jennys Kindergemüt vergiftet würde, der wurde ihr auch erfüllt. Denn Frau Könneckes brave Tochter Emilie –. ach Gott, es ist mir peinlich, diese Sache zu erwähnen, aber endlich muß es doch gesagt werden –, sie hatte die mütterliche Mahnung, die da sagte: »Laß dir nich mit die Männer ein ... kaum daß du sie ankiekst, hast du schon 'n Kind« – sie, Emilie Könnecke, hatte diese mütterliche Mahnung nicht befolgt. Und wenn der zukünftige Vater auch Lakai im Charlottenburger Schloß war und, wie Frau Könnecke meinte, ihr wohl heiraten würde, so war es doch zum mindesten sehr fraglich, ob er das gleich beim ersten Kind tun würde.

Endlich muß aber noch erwähnt werden, daß Jennys wegen die arme kleine Emilie gar nicht so im Hintergrund gehalten zu werden brauchte, denn schon bei der ersten Begegnung, schon beim Mieten der Sommerwohnung, hatte der erste Blick Jennys genügt, um ihr über den interessanten Zustand der Haustochter keinen Zweifel zu lassen; und es hätte wenig gefehlt, so hätte sie gleich vor Vergnügen laut losgequietscht. Denn wenn wir in jenen glücklichen jungen Jahren sind, so pflegen wir ja manche Dinge für ungemein lustig anzusehen, die sehr ernst sind, und über manches zu lachen, was tiefer und geheimnisreicher und machtvoller ist, als daß wir es je in unserem Leben ergründen könnten.

Ja, daß ich es gleich sage, denn man wird mich auch danach fragen: Onkel Jason lag sich wieder mit Demcke in den Haaren. Aber dieses Mal wagte der alte Demcke doch nur so ganz verstohlen gegen Jason Front zu machen, denn er hatte plötzlich das Gefühl, als ob dieser andere nicht nur der Stärkere, sondern auch der Wertvollere und Weitsichtigere hier im Geschäft wäre. Und so nörgelte er nur so ganz heimlich an seinen Anordnungen. Da nämlich in diesem Jahr wirklich viel im Geschäft zu tun war, so gab es ja für Jason Gebert viel Arbeit, von morgens bis abends, und das erstemal seit langem machte ihm diese Arbeit Freude, denn es war doch eine Beschäftigung, die ihn von seinen Gedanken abzog, und eine solche mußte er sich erhalten.

In den Wochen und Monaten vorher bei all seinen Büchern hatte Jason Gebert keine Ruhe gefunden und war immer wieder hinausgestürmt in die lauen oder frischen Abende, um nach wenigen Stunden – angewidert durch die lärmvolle Lustigkeit bei Louis Drucker und durch den Genuß des Weines nur klarer, unbetäubter und verbissener –, um nach wenigen Stunden wieder dorthin zu flüchten, allwo wir wähnen, daß auf Erden unsere Sehnsucht ein Ende habe.

Nun aber hatte die gleichmäßige Beschäftigung des Tages, hatten diese Hunderte von Dingen, die an Jason Gebert herantraten, die Briefe, die zu diktieren waren, und die eiligen Nachbestellungen, die herausgehen mußten, der ganze große Betrieb des Hauses, die Ablieferung der Weber und der Verkehr mit den Vertretern und Reisenden, die Trassierung und das Wandern der Wechsel, dieses Räderwerk des Geschäfts, in dem doch nichts von Belang geschehen durfte ohne seine Order, ohne seine Unterschrift und ohne seine Verantwortung ... all das hatte Jason Gebert dadurch, daß es ihm bewies, daß es etwas Höheres gab als die kleinen Leiden der Person, daß eine Macht lebte, die außerhalb sich befand und der man dienen müsse, von Menschen geschaffen und über Menschen herrschend ... all das hatte Jason Gebert geholfen, Ruhe zu finden. Wie hatte er sonst über die Menschen mit den Scheuklappen gespottet, die von der ganzen Welt nur den einen Punkt sahen, auf den sie losmarschierten – irgendein Wort, von dem sie glaubten, daß es am Ende ihres Weges mit leuchtenden Buchstaben aufgerichtet war. Nun hatte ihn selbst der Zauberklang eines solchen unbekannten und ungenannten Wortes erfaßt, und solange seine Rhythmen in ihm und um ihn tönten, solange schlief sein Dämon und seine Sehnsucht. Des Abends, wenn sie wieder erwachten, wenn Jason Gebert, das Schlüsselkästchen in der Hand, heimwanderte, von der Spandauer Straße durch die Königstraße dahin, in deren Blau die Laternen eben aufzuckten und schwer und widerwillig in der staubigen Sommerwärme ihr erstes Licht gaben – dann schlichen wohl noch seine alten Gespenster hinter ihm her, aber die volle Macht bekamen sie nicht mehr über ihn.

Ach ja – was hatte Jason Gebert aber auch für eine Zeit hinter sich! Tage und Nächte, von denen es heißt, daß man sie seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Wie oft war er die ganze Nacht ruhelos von Zimmer zu Zimmer gegangen, und dann, wenn der Morgen sein erstes Licht durch die hohen Fenster schickte, war er über die grüne Bergere gestürzt, beide Arme vor dem Gesicht, und war traumlos, wie ohnmächtig eingeschlafen, um nach kurzen Stunden aufzufahren mit dem festen und unerschütterlichen Entschluß, zu Jettchen zu eilen und mit ihr zu sprechen. Nein, das könne nicht so weitergehen, und sie müsse doch sehen, wie er ohne sie leide. In seinen Gedanken war nun das alles schon geschehen, und er erblickte Jettchens hohe Augenbrauen halb gesenkt, und er fühlte den Blick der Augen, wie er zu ihm herüberkam – langsam und verträumt –, und er vernahm ihre Worte, daß sie ja immer schon ihm gehört habe und daß sie sich dessen vordem nur nicht bewußt geworden war. Diese Worte ließen sein Herz ganz still werden vor Glück. Während Jason Gebert sich umzog, pfiff er dann ein Lied in den hellen Tag, und er konnte gar nicht schnell genug die Treppe herunterkommen. Aber schon vor der Tür wurde er seltsam kleinlaut, und seine hinkenden Schritte wurden so langsam – so langsam in den Morgen hinein; die Angst machte ihm das Herz schlagen, und er fand kaum den Weg hinüber. Er atmete auf, wenn ihm einfiel, daß er irgend etwas vergessen hatte, oder wenn er einen anderen Vorwand fand, um umzukehren; und dann, ja dann war sein hinkender Schritt gar nicht so langsam. Ja, es kam vor, daß Jason Gebert schon drüben am Hohen Steinweg die Klinke in der Hand hatte und sich doch wieder davonschlich. Und selbst wenn er den Mut gefunden hatte hineinzugehen, so fragte er nach den alten Leuten, gab sich Mühe, unbefangen zu erscheinen, und war doch seltsam mürrisch und wortkarg, damit ihm nur kein Laut davon entschlüpfe, was ihm auf der Seele brannte. Und wenn er Jettchen fast mit abgewandtem Gesicht die Hand zum Abschied gereicht hatte und die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, so begann für Jason Gebert ein neuer Tag mit neuen Qualen.

Jetzt aber, unter der gleichmäßigen, zähen Tätigkeit im Geschäft, war ihm Ruhe geworden. Das war wie Asche auf eine Lavaschicht herabgefallen, und es hatte sie ganz bedeckt mit ihrer grauen Alltäglichkeit, so daß die Glut nicht mehr zum Licht kam und nur in sich selbst noch weiterzehrte und verglomm. Damit sie nicht wieder zu den alten Flammen würde, saß Jason Gebert jetzt von morgens bis abends im Kontor, und selbst des Sonntags ging er hinauf, um nach der Post zu sehen und Bücher nachzurechnen.

Und daß ich es gleich sage – denn man wird mich ebenso danach fragen –, Kößling war nicht mehr alltäglich im »Royal« am Schachtisch zu finden, und es kam schon vor, daß er eine Woche nicht dahin zurückkehrte. Ein paar kleine Erfolge, Angebote zur Mitarbeiterschaft für Journale und Beiträge zu Almanachen, ja sogar so eine Art von Zensortätigkeit für einen großen Verlag – das war ihm mit einemmal zugekommen, er wußte selbst nicht wie. Und dieser leichte Ansporn hatte genügt, um seine Kräfte wieder zu erwecken. Er selbst war mit den Dingen wenig zufrieden. Es war nichts von dem, was er wollte; aber es machte sich doch wenigstens bezahlt, und man verlangte solche Ware. Jenes, von dem er glaubte, daß nur er und niemand sonst es sagen würde, konnte er ja endlich später schreiben. Jedenfalls saß er doch jetzt wieder am Tisch vor dem Fenster, sah wieder über den kleinen, schmalen Garten mit seinem verrosteten Eisengittern fort, der ganz verwildert und verlassen war, sah den Huflattich erst mit grünen Tupfen aufsprießen und dann mit seinen breiten Blättern den Boden, die Wege und den dürren Rasen bedecken, sah die kahlen Wipfel der Ulme hinten sich erst ganz zart umfloren und sich mählich dichter, fester und massiger zusammenschließen, sah die ersten warmen Abende ihre grauen Tücher über sie breiten und hörte ganz dumpf das Rauschen, wenn der Wind in schweren, sommerlichen Laubmassen wühlte, während er tagaus, tagein Seite auf Seite mit den Schriftzügen irgendeiner romantischen Geschichte bedeckte, die von einem Ritter erzählte, der unter Heinrich dem Löwen im Orient in Gefangenschaft geraten war und unerkannt als Bettler in die Heimat zurückkehrte, oder die er mit irgendeiner Spukgeschichte von Schloßgeistern und verschlagenen Reisenden füllte, derart, daß sie sich wie eine Scharade lustig und verliebt löste. Gewiß, Kößling schrieb das mit halber Seele und halbem Geist, aber es beschäftigte ihn doch, und es machte ihm eine uneingestandene Freude, die Geschichten zusammenzubauen; und immer kam wenigstens irgend etwas von ihm selbst hinein. Vielleicht eine Schilderung aus Braunschweig oder ein Hauch von dem Grausen schlafloser Nächte in den ihm unvertrauten Räumen, so daß es ihm doch nicht ganz ohne Nutzen blieb.

Und dieses kleine, bescheidene Stückchen Boden, das Kößling unter seinen Füßen spürte, hatte ihm Ruhe gegeben, und seine Gedanken, die lange Zeit wie verflatterte Vögel an den Grenzen des Irdischen umhergeirrt waren und immer wieder sich den Kopf eingestoßen hatten und zurückgetaumelt waren – sie waren wieder still mit eingezogenen Schwingen heimgekehrt. Ach Gott ... endlich ist der Mensch ja so arm, und den ganzen Himmel gibt er sofort und gern hin für den kleinsten Fußbreit von Erde, auf dem er nur stehen kann.

Und vielleicht gerade weil Kößling Jettchen nicht sah und weil er mit dem gesprochenen Wort in Unfrieden lebte, in den geschriebenen Worten aber den Dolmetsch all seiner Gefühle hatte und weil in dem räumlichen Getrenntsein alle Gegensätze zwischen ihm und Jettchen sich gemildert hatten, schien alles besser denn vordem. Nun sagte er sich hundertmal, daß es alles Täuschung war, daß sie ja zusammengehörten. Er hatte sich daran gewöhnt – schwer daran gewöhnt –, Jettchen nicht mehr zu sehen; aber zum Schluß hatte er sich dareingefunden. Jetzt erblickte er in Jettchen so etwas wie eine ferne Geliebte; und seine Träume, die immer bei Ihr waren, waren ihr fast noch mehr zugetan als vordem seine Wirklichkeiten. Denn für unsere Träume gibt es ja keine Hemmungen und keine Entfernungen; und ob sie nun mit dem Gedanken der Liebe spielen oder ferne Wanderziele im Goldduft des Abends liegen sehen – sie schweben so leicht und glücklich dahin, ohne die Traurigkeiten, die doch sonst selbst unsere besten Stunden mit Dornen umhegen.

Und endlich – warum sollte das Bild der Hoffnung nicht am Bugspriet seines Schiffes leuchten und ihm voranweisen? Tat man nicht alles, damit sie zueinander gelangen könnten? War nicht aus aller Ungewißheit nun ein stilles und frohes Erwarten geworden? Gewiß, sie sahen sich nicht mehr; aber konnte er nicht jeden Augenblick sie sehen, wo sie auch weilte? Gewiß, sie sprachen sich nicht mehr; aber konnte er nicht jeden Augenblick sie sprechen und ihr alles anvertrauen, wenn er nur die Feder zur Hand nahm? Und ihre Küsse – sobald er nur die Lider senkte, fühlte er sie ja auf seinen Lippen und Augen.

Zuerst war ihm das wie ein Schlag gewesen, und er hatte nicht gewußt, wie er die Stufen hinabfinden sollte, als ihm das alte Fräulein Hörtel, fast ohne die Tür zu öffnen, zugerufen hatte, daß Herr Jason Gebert nicht zu Haus wäre und daß Fräulein Jettchen nicht mehr hier wohne, sondern zu den alten Herrschaften nach dem Hohen Steinweg gezogen sei. Und Kößling war bis in die Nacht hinein umhergelaufen, straßauf, straßab, um vielleicht Jason Gebert zu treffen. Und dann war er am andern Tag heraufgekommen – ganz früh –, und er hatte eine Weile warten müssen, bis er Jason Gebert sprechen konnte. Noch oft in der nächsten Zeit war Kößling nun zu ihm gegangen; aber er hatte Jason meist nicht zu Haus angetroffen, ja, einige Male hatte es ihm sogar geschienen, als ob man dies nur vortäusche. So waren seine Besuche seltener und seltener geworden und hatten endlich ganz aufgehört. Nicht, daß sich etwa im Wesen Jason Geberts ihm gegenüber irgend etwas ausgesprochen hätte, was auch nur als Unfreundlichkeit ausgelegt werden konnte – er war so taktvoll und zuvorkommend wie stets, vielleicht etwas weniger warm; aber Herzlichkeit war ja nie Jason Geberts Art gewesen. Nur das eine: Wenn Kößling von Jettchen begann, dann wußte Jason Gebert immer schnell das Gespräch auf ein Thema überzuspielen, das ihnen beiden geläufig war, wußte irgendeinen Köder auszuwerfen, der Kößlings Widerspruch weckte, und schon war der von seiner ersten Frage fortgezogen. Jetzt war Jason Gebert für Kößling wieder völlig der gleiche, der er für ihn Vorjahr und Tag war: schillernd, feinsinnig, interessant und absprechend; der Mann von Grazie mit der Vorliebe für den Schnörkel in seiner ganzen Sprech- und Denkweise; der Plauderer, mit dem er Stunden in Erinnerung an irgendwelche Bücher verbrachte; der amüsante politische Spötter, der zum Schluß ebenso kühl und ebenso verbindlich ihm die Hand reichte wie zu Anfang, ohne daß Kößling auch nur einen Schritt in sein Lager eingedrungen wäre. Es war jetzt wieder, als ob sie nie irgendwelche Berührung gehabt hätten, außer auf dem neutralen Gebiet ihrer geistigen Liebhabereien. Wie Jason Gebert jetzt ohne Jettchen lebte, was er trieb, wie er sich fühlte, von alldem, was sein ureigenstes Ich betraf – davon erfuhr Kößling nicht ein Wort, wenn sie sich vielleicht einmal bei Stehely trafen oder wenn sie über den Schloßplatz fort im Menschengewühl die Linden hinauf- und hinabgingen. Ja, Jason Gebert hatte nicht einmal den Tod des alten Onkel Eli ihm gegenüber erwähnt, trotzdem Kößling von Jettchen erfahren hatte, daß er Jason Gebert sehr nahe gegangen war. Und zu jenen nächtlichen Spaziergängen, da – unter dem Einfluß der Stunde, im Banne der Ruhe ringsum, gleichsam unbeobachtet von der hellen Welt – Jason Gebert einmal für ganze Minuten ganz er selbst wurde, konnten sie sich nicht mehr zusammenfinden. Wohl hatte Kößling ihn gebeten, ob er ihn nicht vom Geschäft abholen dürfe; oder er wollte auch einmal des Abends bei ihm anklopfen, ob er dann mitkäme. Aber immer fand Jason Gebert einen Ausflucht. Und er, Kößling, wünschte doch jetzt, gerade jetzt, Jason Gebert nahezukommen; es gab Zeiten, in denen er eine fast kindliche Zuneigung zu ihm empfand. Denn jetzt, da vielleicht schon in wenigen Wochen das Glück in sein Haus kommen konnte, fühlte Kößling erst, was er Jason für Dank schulde und daß jener der einzige Mensch in seinem Leben war, der ihm Gutes erwiesen hatte. All seine Härte und seine Verbissenheit, ja dieser ganze angeborene Haß, den der Arme, Kämpfende und Aufsteigende immer dem Reichen, Ruhigen und Verweilenden gegenüber haben muß – denn die Bitterkeiten des Lebens machen uns ja so furchtbar ungerecht –, er war ganz verflogen. Aber jetzt, da er nun immer die Hände ausstreckte und wartete, daß man die seinen ergriffe, schritt der andere mit verkreuzten Armen neben ihm.

Ja, und daß ich es endlich sage, denn man wird mich auch danach fragen: In dem Streit, der zwischen Geheimrat Stosch und Tante Minchen ausgebrochen war, siegte Tante Minchen. Sie wollte ihre Sommerwohnung beziehen, und sie bezog ihre Sommerwohnung und ließ sich von solch einem Doktor überhaupt nicht dreinreden. Man pflegt von so alten Leuten zu sagen – und Tante Minchen war nun auch bald achtundsiebzig Jahre –, daß sie sterben wie ein Licht, das ausgeht, daß sie schwächer und schwächer werden und dann langsam erlöschen; aber ich habe immer gefunden, daß so ein Licht, bevor es sein Leben hingibt, unruhig und angstvoll hin und her zuckt, als hätte es eine Ahnung seines nahen Todes, und daß es endlich noch einmal krampfhaft und hell aufflammt, ehe es in die Dunkelheit versinkt. Nein, Tante Minchens Leben versank ganz still in die Nacht. Es war so wie eine Quelle, die rieselt, leiser und dünner rieselt, nun nur noch tropft, zäh und schläfrig, und dann für immer versiegt – man weiß nicht mehr, wann der letzte Tropfen verflossen ist, man weiß nur, daß die Quelle versiegt ist. So ging Tante Minchen dahin an einem der ersten Augusttage des Jahres 1840, so leise glitt sie hinüber wie ein Blatt, das im Herbst vom Baum fällt und zur Erde gleitet durch die müde, durchsichtige Luft. Sie ging fort mit der sinkenden Sonne, mit dem letzten Lichtschein; es war, als ob die Sonne sie noch gerade aufgelesen hatte, um sie mit hinabzunehmen.

Ich aber meine, daß die kleine Tante Minchen, die doch so an den alten Eli gewöhnt war und sich in der närrischen Welt nicht mehr ohne ihn zurechtfand, daß sie es nicht lange da unten ausgehalten und daß sie sich bald im Heidenhimmel ihren alten Weggenossen wieder gesucht hat. Und wenn später einmal die Fernrohre schärfer und weitsichtiger werden, dann, meine ich, wird man auch sicherlich in irgendeiner Himmelsecke das Häuschen finden, in dem Onkel Eli und Tante Minchen am Fenster sitzen, unter den Efeubogen, auf ihren goldenen Thronsesseln. Gewiß, sie werden sich auch wohl da nicht zum allerbesten vertragen; aber da sie beide dabei doch auf Erden schon wie im Himmel gelebt haben, warum sollten sie nicht im Himmel wie auf Erden weiterleben?

Schon von zehn Uhr vormittags an wußte der alte Stosch, daß Tante Minchen den Abend nicht überleben würde; Jettchen hatte das Mädchen zu Onkel Jason mit herangeschickt, und der kam eiligst und schweigsam. Ferdinand kam, und gegen Mittag kam noch Tante Hannchen, die gerade in der Stadt Besorgungen hatte – und Max und auch durch irgendeinen Wind hergeweht das alte Fräulein mit den Pudellöckchen. Die saßen nun unten sehr still in dem verlassenen Zimmer – keiner wagte, sich da oben an einen der Fensterplätze zu setzen. Der Kanarienvogel, an den niemand gedacht hatte, schrie ängstlich nach Futter, und alles ringsum schien nur auf die alten Leute zu warten. – Die goldenen Stühle an der Wand, die dunklen Kommoden zwischen ihnen mit den eingelegten Blumensträußen, all die sehnsüchtig winkenden Schäferinnen und die kleinen Savoyardenjungen – sie standen ganz betrübt da, und die große Porzellankuh hatte tiefe, melancholische Augen bekommen.

Die Männer sprachen sehr wenig, saßen sich ernst gegenüber, und nur hin und wieder geschah es, daß einer aufstand, auf und nieder schritt, sich mit langen Bewegungen die Hände rieb und sich wieder setzte.

Wenn Jettchen herunterkam, so fragte man sie nicht mit Worten, sondern nur mit Blicken. Und sie antwortete immer nur mit einem Achselzucken. Hier gab es nichts mehr zu sprechen – nicht ja noch nein. So ging Viertelstunde auf Viertelstunde, Stunde auf Stunde; die Zeit schien erstarrt zu sein; und das Leben – es war so ein schöner Augusttag draußen – schien dieses Haus schon ganz vergessen zu haben. Höchstens, daß Tante Hannchen hin und her pendelte, sich mit einem Tuch fächelte und scheinbar uninteressiert alles betrachtete; aber wenn niemand gerade hinsah, schrieb sie mit einem kleinen Bleistift ganz unauffällig an die Seite eines Bildchens ihren Namen oder zeichnete ihre Initialen auf die Rückseite eines Kästchens. Warum sollten denn so etwas die anderen nehmen? Und von dem Silber, das auf den Tisch kam – denn Minna hatte Essen bereitet, aber weder Jason noch Ferdinand hatten etwas genommen –, auch von dem Silber schien ihr manches ganz beachtenswert. Den Brotkorb zum Beispiel konnte sie ganz gut gebrauchen.

Gegen Nachmittag wurde die gute Tante Hannchen unruhig. »Du«, sagte sie zu Jettchen, »wie lange, meinst du, kann das hier wohl noch dauern? Ich muß nämlich heute noch nach Charlottenburg hinausfahren.«

Aber Ferdinand, der in langen Schritten auf und nieder ging, blieb vor dem kleinen, runden Hannchen stehen und sah sie nur mit großen Augen an – nicht böse, nicht mehr böse, aber bitter ernst und schwer traurig. Und ganz leise nickte er mit dem Kopfe dazu. Der eine Blick jedoch, diese eine Bewegung, sie sagten deutlich: ›Zwanzig Jahre ... über zwanzig Jahre muß ich das nun ertragen; und wenn man dich in ein Meer von Gold setzte und wenn alle Engel des Himmels herabkämen und wenn wir alle hier vor deinen Augen verreckten – nichts in der Welt vermöchte dir die Schmutzflecke von deiner Seele herunterzureiben.‹

Als aber dann mit der sinkenden Sonne die kleine Tante Minchen den Weg in das andere Reich hinübergefunden hatte, da war doch Tante Hannchen ganz aufgelöst in Tränen, sie schwamm ordentlich fort wie eine Figur aus Schnee. Sie fiel Jettchen um den Hals und sagte mit vertränter Stimme, jetzt wäre natürlich nicht die Zeit, an so etwas zu denken, aber sie möchte doch gern als Andenken an die arme Tante Minchen ihren Malachitschmuck haben und das Spitzentuch – in dem hätte sie die arme Tante Minchen immer so gern gesehen, und Jettchen möchte ihr das doch bald mal heraussuchen.

Aber Jettchen, die sehr ruhig war, denn sie hatte lange erkannt, daß es hier keine andere Lösung als den Tod gebe – und sie vermochte nicht zu weinen, nun, da diese einzige glückliche Lösung erfolgt war –, Jettchen sagte ganz schlicht und ohne daß man ihr Erregung anmerkte, daß sie es ja gern tun würde, aber daß sie glaube, kein Recht dazu zu haben.

»Das, was du da eben meinst, liebes Jettchen«, warf plötzlich Jason Gebert ein, sehr ernst, sehr scharf und sehr fest, »scheint mir nicht ganz richtig. Soweit ich die letzten Verfügungen von Onkel Eli und Tante Minchen kenne, erbt hier kein Mensch auch nur einen guten Groschen außer dir, Jettchen.«

Aber Jason hatte seine Worte noch nicht beendet, da war schon Hannchen vom Stuhl aufgesprungen.

»Ich begreife nicht, Ferdinand«, sagte sie, und sie bemühte sich, es ruhig zu sagen, aber sie schlug beinahe mit der Stimme über, »ich begreife nicht, was wir eigentlich hier noch wollen. Ich fahre jetzt nach Charlottenburg.« Jetzt hatte die brave Tante Hannchen keine Träne mehr im Auge, und sie nahm ihre Schute von der Kommode, und sie rauschte hinaus mit ihrem fetten Hals – klein, breit, kopfschüttelnd, gefolgt von ihrem Sohn Max –, während Ferdinand Gebert ihr nachblickte mit seinen großen Augen – nicht böse, nicht mehr böse, sondern nur tief ernst und schwer traurig – und ganz leise dazu nickte und wieder nickte.

Jason aber verstand diesen Blick und diese Bewegung nur zu gut.

»Weißt du, Ferdinand«, sagte er, »nun ist die alte Zeit tot – nun sind wir die alte Zeit. Ich glaube, was nach uns kommt, wird nicht mehr viel sein.«

»Bei Gott, Jason, da magst du recht haben«, sagte Ferdinand, ließ sich auf einen Stuhl fallen und schlug ganz urplötzlich – keiner hätte je bei ihm etwas Ähnliches erwartet – die Hände vors Gesicht und schluchzte laut und schmerzlich auf.

Und Jettchen eilte auf Ferdinand zu und umfing ihn und suchte ihn zu beschwichtigen, denn es gibt ja nichts Schlimmeres, als einen Mann so weinen zu sehen.

 


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