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Am nächsten Tag aber, der ebenso licht und mattblau emporzog und ebenso wild und feurig verdämmerte – Jettchen hätte nicht sagen können, was bis dahin ihr die Stunden gebracht hatten, ob sie Freude, Sehnsucht, Reue oder Qual empfand, nur dieses einen unerklärlichen Gefühls war sie sich bewußt, jenes Gefühls, das uns kündet, daß auch der geringste Bach mit dem unendlichen Weltmeer in Beziehungen und in Verbindung steht –, am nächsten Tag kam Onkel Jason. Und Jettchen erschrak tief, als sie ihn die Straße hinaufschreiten sah, und eilte ihm nicht entgegen. Sie ging in ihr zweites Zimmer, und sie ließ Onkel Jason eine ganze Weile warten und mußte sich sehr zusammennehmen, um ihm gegenübertreten zu können. Aber Jason Gebert schien von alledem nichts zu merken oder nichts merken zu wollen.

»Nun, Jettchen«, sagte er, »ich komme als Abgesandter der Familie, um dich wieder zu den heimischen Penaten zurückzuführen. Salomon ist auch vorgestern zurückgekommen, und man möchte dich doch gern zu Hause haben – eben die kurze Zeit, die ›Frau Jacoby‹ noch zu Hause sein wird. Aber du brauchst nicht zu denken, Jettchen, daß ich nur deinetwegen komme. Denn ich habe auch einiges mit Sommerguth geschäftlich zu besprechen. Es ist nämlich möglich, daß wir vielleicht die Anlage hier vergrößern werden. Aber das nur nebenbei. – Also wenn es dir recht ist, Jettchen, so schicken wir dir morgen vormittag den Wagen heraus, und Berlin wird dich morgen nachmittag mit Triumphespforten begrüßen. Ganz Berlin ist nämlich deinetwegen schon auf den Beinen, und Tag und Nacht arbeiten die Zimmerleute, um dir einen würdigen Empfang zu bereiten.«

Jettchen lachte. »Sollte das wirklich nur mir gelten, Onkel Jason?«

»Aber wem denn sonst?« sagte Jason. »Wenn man einer einfachen Henriette Sontag die Pferde ausspannt, so wird man doch dir noch Ehrenpforten bauen können.«

Und Jettchen antwortete – sie hatte das Gefühl, als spräche sie im Traum –, daß sie gern kommen würde und daß sie sich freue, endlich einmal wieder in ihrem eigenen Bett zu schlafen.

Jason sah sie einen Augenblick ziemlich ernst aus seinen grauen Augen an und fragte sie dann ganz unvermittelt, was sie von Kößling höre.

»Nichts«, sagte Jettchen, und sie wunderte sich, wie einfach dabei der Klang ihrer Stimme war, »wir schreiben zwar oft; aber wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Nun«, meinte Jason, »ich hoffe, das wird ja jetzt bald anders werden.«

Jettchen wollte mit dem Kopf schütteln und wollte sagen, daß sie ihn nie mehr in diesem Leben sehen möchte und daß es doch nur einen Menschen gebe, dem sie gehöre, und daß sie ja von Jugend an nichts anderes denken könne als den einen Menschen und daß sie immer vor Schrecken und Freude sich kaum hätte lassen können, wenn sie nur dessen Schritt von fern gehört hätte.

Aber Jettchen lächelte nur und sagte: »Ja, Onkel, das hoffe ich auch.«

Und Jason bat, ob sie nachher ein wenig Spazierengehen könnten, er liebe Potsdam so sehr, und er beneide Jettchen um ihren Aufenthalt hier. Sie müsse doch jetzt hier draußen gelebt haben, wie das Heine einmal sagt. Wenn er – Jason Gebert – sich nicht irre, sagt Heine, daß er in Potsdam mit keinem Menschen in Berührung kam und daß sein ganzer Umgang sich auf die Statuen beschränkt hätte, die im Garten von Sanssouci sich befinden. »So mußt du doch jetzt hier deine Tage verbracht haben.«

Jettchen nickte wieder und sagte, daß es jetzt hier sehr schön sei – gerade jetzt im Herbst – und daß sie jeden Winkel kenne und gern mit Jason noch eine Stunde spazierengehen würde, nachdem Jason das mit Sommerguth besprochen hätte, was er erledigen wollte.

So gingen sie beide nach einer Weile hinaus in die Gärten. Und Jettchen vermied mit Absicht die gleichen Wege und die gleichen Stellen, die sie gestern berührt hatte. Aber es gibt ja in den Königlichen Gärten von Sanssouci so viele Wege und so viel schöne Stellen – und es gab so viele Worte, die sie gestern nicht gesprochen hatte und die sie jetzt sprechen konnte, wie sie sich in Onkel Jasons Arm hing. Und für Augenblicke vergaß Jettchen ganz das Gestern und ihr ganzes Leben mit all seinen Irrtümern.

Aber auch Jason Gebert vergaß in diesem ruhigen und taktmäßigen Hinschreiten neben Jettchen alles, was vergangen war, vergaß seine heißen Tage und seine wilden Nächte und seine Ruhelosigkeit, die ihn aufgepeitscht und aufgepeitscht, bis er jetzt glaubte, seiner Leidenschaft Herr geworden zu sein. Wie zwei, die sich einmal sehr geliebt hatten, gingen sie nebeneinander und sprachen zusammen – wie zwei, die nun die stilleren Feuer entzündet hatten.

Jason Gebert erzählte von dem Einzug des Königs. Er wäre nicht hingegangen, denn er liebe so etwas nicht. Aber die Menschen hätten sich ja wie besessen gebärdet, und der König wäre auch von all diesem Jubel und all diesem Taumel wie benommen gewesen. Aber zu skeptisch, um in einer Stimmung zu verharren, und zu skeptisch, um an sich selbst zu glauben, habe er sofort erkannt, daß das nur etwas wie die Laune eines unberechenbaren Kindes sei. Und deshalb habe er zum Bürgermeister, der ihn die Treppe zum Schloß hinaufgeleitete, gesagt, daß es ja eine reine Trunkenheit sei und daß es so nicht bleiben könne und daß er fürchte, bei seinen lieben Berlinern würde nur allzubald der Katzenjammer folgen. »Das aber, Jettchen«, meinte Jason Gebert, »ist das erste Wort, in dem ich und der König gleicher Meinung sind. Sonst habe ich noch nichts von ihm gehört, was ich unterschreiben würde.« Ob Jettchen ihn denn nicht einmal gesehen hätte, er wäre doch jetzt hier draußen in Potsdam, drüben in Charlottenhof.

Aber Jettchen hatte ihn nicht gesehen.

Und Jason erzählte weiter, daß sie nunmehr in Berlin gar nicht mehr wüßten, was sie dem neuen König alles antun sollten, erzählte, daß sie für die Festlichkeiten eine große Halle auf dem Opernplatz bauten und daß die Zimmerleute sogar nachts bei Fackelschein daran arbeiteten – er hätte es gesehen, und es wäre ein ganz phantastischer Anblick gewesen –, erzählte vom Huldigungsfest der Stände, das vor dem Schloß stattfinden würde und zu dem sie schon begännen, die riesigen Tribünen aufzustellen; davon solle der Pferde-Krüger ein großes Bild mit zahlreichen Porträten malen. Fünfzehntausend Taler bekäme er dafür – da sehe man doch wirklich einmal, daß die Kunst noch ihren Mann nähren könnte.

Jettchen sagte, daß sie so große und welterschütternde Ereignisse natürlich nicht zu berichten hätte. Und sie erzählte Jason von Potsdam, erzählte ihm von der schönen Nymphe, dieser Galatea, die sie so liebe, und von dem Glockenspiel auf der Garnisonkirche, das sie jedesmal an Onkel Eli erinnere, der sich ja auch immer so mit der Singeuhr der Parochialkirche gefreut hatte.

Unten an dem langen, niederen Bau des Festsaals waren sie entlanggeschritten, dann ein Treppchen hinauf, an den vergoldeten Eisenlauben vorbei. Und sie hatten das niedere Schloß in einem rötlichen Abendschein vor sich. Einen Augenblick sahen sie über das Land, und sie sahen hinten ferne Wasserspiegel, die mit rötlichen Augen aus dem dunklen Grün zum Himmel blickten und deren Glut nun von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. Während sie langsam wieder hinabstiegen, hatte sich der Himmel ganz rot gefärbt, und die scharfen Kanten der Bäume lagen in schwarzen Silhouetten darauf. Die Marmorfiguren schienen doppelt weiß auf ihren dunkelgrünen Wänden – und riesig, wie ein Finger Gottes, ragte draußen vor dem schwarzen Gartentor die Nadel der Kleopatra in die Höhe.

In dieser brennenden Dämmerung aber schritten die beiden ganz still dahin, wie zwei Menschen, die doch wenigstens wissen, daß sie miteinander hätten glücklich werden können, wenn sie eben nicht beide stärker als ihr Wille gewesen wären ...

Vor dem Haus jedoch – Jason wollte zur Eisenbahn, und es blieb ihm nicht mehr sehr viel Zeit, um zum Zug zu kommen, so daß der Abschied kurz sein mußte –, vor dem Haus jedoch beugte sich plötzlich Jettchen über Onkel Jasons Hand und küßte sie. Und wenn Jason sich nicht irrte – aber er erinnerte sich erst später dessen –, so war es ihm auch gewesen, als ob Tränen darauf fielen.

Da zuckte Jason Gebert zusammen, zog die Hand unwirsch zurück und sagte: »Laß das, Jettchen – laß das. Ich bitte dich. Ich gehöre nicht zu den Menschen, denen man die Hände küßt – ich nicht.«

Dann aber legte er den Kopf ins Genick und sah Jettchen, die nach dieser Abweisung zurückgeschreckt war und wie ein verschüchtertes Kind vor ihm stand ... sah Jettchen mit seinen grauen Augen groß an.

»Und nun, Jettchen«, sagte er sehr langsam und bedeutungsvoll, »will ich dir noch eine Freude machen. Morgen abend werden bei Onkel Salomon ein paar Menschen sein. Nur wir: Ferdinand, Hannchen und ich; und außer uns wirst du noch jemand treffen, den du vielleicht nicht ungern dort siehst.«

Und wenn Jettchens Ohr noch fein und scharf genug gewesen wäre, um den Ton in Jasons Stimme zu erfassen, den sie doch einst so gut zu beurteilen wußte, dann hätte sie gehört, wie schwer es Jason wurde, das zu sprechen, und wie müde, quälerisch und schmerzlich dabei seine Stimme war, und sie hätte ihm die Arme um den Hals gelegt und hätte ihm gesagt, daß sie ja nur ihn auf der ganzen Welt kenne und sie beide – er und sie – alles vergessen müßten, was geschehen wäre, um beide glücklich zu werden. Aber Jettchens Ohr war nicht mehr fein und scharf, und sie erfaßte den Ton nicht ...

Und so kam alles, wie es kommen mußte.

 


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