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Und der Regen schwand, und es gab wieder sternklare, frische Nächte und Reif am Morgen auf niedern Dächern, auf Remisen, auf den Holzfassungen der Abwässer. Und es gab klare, mattblaue Winterfrühen, an denen die Sonne so ganz tief stand und die gewölbten Scheiben von Jettchens Zimmer mit roten Strahlen streifte.

Das sonderliche Paar! Es lebte doch bald besser zusammen, als es sich selbst zugestand. Jettchen lernte sich in die kleinen Eigenheiten Onkel Jasons fügen, kleine Eigenheiten, die Jason außer dem Hause nie zeigte. Wer wußte zum Beispiel, daß er heimlich ein wenig schnupfte; wer, daß er selbst seine Porzellane und Gläser abstaubte und ihren Platz nach einer vorgeschriebenen Vorlage mit dem Zollstock bestimmte. Wer hätte geglaubt, daß er manchmal den alten, hohen Jägertschako aufstülpte und aus einem abgegriffenen Bändlein alte Lieder sang, mit deren Inhalt seine Anschauungen von heute so gar nicht mehr übereinstimmen wollten; oder daß er einen geheimen Kult mit einer Frau trieb, von der er alles an Bildern und Stichen und Plakaten sammelte, dessen er nur habhaft werden konnte.

An diesen kleinen Eigenheiten lernte Jettchen still vorübergehen, und es war gar nicht nötig, daß Jason sich hin und wieder mit der Sentenz des kleinen buckligen Physikers verteidigte: »Jeder ist in seinen vier Pfählen ein Sonderling« und dann nach einer geheimnisvollen Pause hinzufügte: »Das wissen am besten die Eheweiber.«

Nein, Jettchen spann sich auch so langsam in die gleichen Kreise wie Jason ein, in denen man die Kapricen liebte und dem einfachsten Ding im Leben Bedeutung beimaß – in denen man vom Schnitt eines neuen Rockes sprach, als ob es eine Sache von hochpolitischer Bedeutung wäre, und über eine hochpolitische Tat wie die Amnestie witzelte, als ob es sich nur um den Schnitt eines neuen Rockes handelte.

Jason war viel daheim. Nun ja, jeden Nachmittag von vier bis fünf ging er zu Stehely, und alle vierzehn Tage einmal stahl er sich heimlich zur Therbuschschen Ressource. Seine alte Gepflogenheit, auf Tage für alle Welt verschollen zu sein – man vermutete dann geheime Wege –, schien er jetzt ganz abgelegt zu haben. Ja, ob überhaupt in seinem Leben irgendein weibliches Wesen Figurantin oder Statistin spielte oder ob gar mehrere dieser leicht beschwingten Grazien ihre flatternden Schleier um seine geheimen Stunden woben, davon bemerkte Jettchen nichts. Jason schien jede Stunde in und außer dem Haus nur für Jettchen zu leben. Er brachte ihr immer etwas von seinen Ausgängen heim, und wenn es selbst einmal nur Neuigkeiten waren. Ohne daß Jettchen es äußerte, hatte er herausgefunden, daß man vergessen hatte, Jettchen einen Muff mitzugeben, und er kaufte ihr nun einen ganz kostbaren von Danneberg, einen aus grünem Samt mit einem breiten Nerzbesatz, lang und groß wie eine Ziehharmonika. Den sollte sie nehmen, wenn sie mit ihm ausginge, des Abends einmal ins Theater.

Aber Jettchen ging nicht viel vor die Tür. Und des Abends schon gar nicht. Höchstens, daß sie manchmal mit Fräulein Hörtel Einkäufe für den Haushalt machte. Aber dann eilte sie immer wieder, heimzukommen, denn sie fürchtete, Bekannte zu treffen. Und wenn sie wirklich irgend jemand sah, mit dem sie früher vielleicht ein paar Worte gesprochen hatte, dann beschleunigte sie noch ihre Schritte und bog hastig in eine Nebenstraße ein. Oder wenn das nicht ging und sie doch an ihm vorüber mußte, dann klopfte ihr das Herz bis in den Hals, während sie leise den Kopf zum Gruß senkte, mit Mienen reglos wie eine Statue.

Kößling kam nicht gar oft. Er brachte eine Nachricht oder ein Buch für Jason, blieb am Nachmittag eine Stunde und ging. Und immer wieder war es das gleiche. Man sprach, man plauderte, Jason zeigte Bücher, Stiche, ja, er las auch einmal einen Abschnitt vor, schritt mit langen, klappenden Schritten auf und nieder an seinen Bücherreihen, die ausgerichtet standen wie preußische Soldaten. Und er deklamierte, während er sein Gedächtnis nur manchmal mit einem Blick auf das Büchlein in seiner Rechten stützte, den Schlußchor des Helena-Aktes. Wie das schön sei! Wie griechische Verse. Die ganze »Braut von Messina« gäbe er dafür, gebe sie für ein paar Worte, für diese letzten Worte des Euphorion:

Laß mich im finstern Reich,
Mutter, mich nicht allein.

Das seien Worte, über die man Stunden weinen könnte, alle Schauer der ewigen Nacht seien da in einen Schrei gepreßt. So einfach sei es, daß es ein sterbendes Kind lallen könnte; und so gewaltig, daß der markerschütternde Klageruf des Prometheus uns nicht tiefer in den Ohren gellen könnte. Die schwersten Nöte des Menschen, sie klängen darin wieder; das angstvolle Sichhineinschmiegenwollen in zwei weiche Arme; und alle Jubel des Lichts klängen darin wieder, doppelt leuchtend im Augenblick des Abschieds. Schiller – Herrgott, Schiller ... alle Welt käme jetzt mit Schiller! Man sollte ihm ein ähnliches Wort bei ihm zeigen. Ob Kößling das könnte! Er sage: Reichtum; er sage: Fülle. Ob er das Gastmahl des Trimalchio kenne? Ob er Heinse kenne? Das wäre Reichtum, das wäre Gold und Purpur. Im Faß müßte es gären, nicht in den Flaschen.

Und Jettchen fühlte während dieser Gespräche, wie sie beide, Kößling und sie, sich langsam und trotzig voneinander entfernten. Nur in den Dämmerstunden, wenn Kößling sich an das Spinett setzte und die feinen Tonfolgen der Mozartschen Sonaten über die Bücherreihen hinzogen und zu den Fenstern flüchteten, durch die der wilde, rote Abendhimmel über graublaue Dachrücken hereinsah – nur dann strebten sie sich entgegen und suchten einander. Dann gingen ihre Blicke nicht aneinander vorüber, sondern sagten sich Schmeichelworte.

Stets war es dasselbe Spiel. Jason fiel es ein, daß er irgend etwas noch zu tun hätte. Darauf erhob sich Kößling, er wolle nicht länger stören. Und Jettchen und Jason begleiteten den Besuch bis auf den dämmrigen Flur hinaus. Aber dann mußte Jason zu seinem Bedauern gerade irgend etwas vergessen haben und mußte die beiden gerade jetzt sich selbst überlassen. Und es folgte der Abschied zwischen Tür und Angel, wortlos und stürmisch, ein Aneinanderpressen in dem kaum gelichteten Dunkel, als müsse dem Augenblick die Kraft und die Tiefe von Stunden gegeben werden. Ein kurzes und schmerzvolles Auseinanderreißen folgte, ein Zusammenstürzen von neuem und ein Sichtrennen mit brennenden Lippen ... Immer dasselbe unbefriedigte, zerrissene Spiel der Sehnsucht.

Über ihre Lage sprachen sie nicht und nicht über ihre Aussichten. Sie nahmen nur ohne Besinnung die flüchtigen Sekunden des Beieinanderseins.

Was hätten sie auch groß davon sprechen sollen. Sie standen auf dem alten Punkte, nicht einen Zoll waren sie weitergekommen die ganzen Wochen. Nicht um einen preußischen Zoll; wenn auch draußen die Frau Fama, die immer noch mit vier Rossen und zwei Vorreitern ihres Weges durch die Stadt kutschierte, sich jeden Tag Neues zu erzählen wußte über sie und ihre Lage.

Was war denn daran wunderbar? Die Anteilnahme der Menge war eben einmal erregt und konnte nicht zur Ruhe kommen. Und da die Wirklichkeit keinen Anhalt bot und allzu langsam dahinfloß, so waren viele Köpfe und Sinne damit beschäftigt, etwas mehr Strömung dem trägen Fluß der Ereignisse zu verleihen und täglich – je nach Partei – die baldige Rückkehr und Aussöhnung oder die sofortige gerichtliche Scheidung zu proklamieren oder gar noch andere, lebhafte und freudige Ereignisse in Aussicht zu stellen.

Aber was blieb denn eigentlich von alldem? Jettchen wußte, daß Onkel Jason ihretwegen Gänge machte, daß er Advokaten aufsuchte. Sie hörte zu, ruhig und widerspruchslos, wenn er ihr Gesetzesparagraphen vorlas, die sie nicht verstand und die ihr wie eine Verhöhnung der Vernunft und jedes natürlichen Empfindens vorkamen. Ja, Jettchen erfuhr, daß Jason selbst mit dem Onkel Naphtali, dem Senior aller Jacobys, der nun doch den teuren Gasthof mit der billigeren Wohnung seines eheverlassenen Neffen vertauscht hatte, mit Onkel Naphtali bei Stehely konferiert hatte; daß Onkel Jason zweimal vergeblich versucht hatte, den Vetter Julius in höchsteigener Person im Geschäft zu stellen; daß Onkel Jason mit seinem Bruder Salomon ganze Stunden im Kontor hin und her gesprochen hatte und daß Ferdinand wichtige Wege ihrethalben machte – über all das war Jettchen wohl und genau unterrichtet. Aber was eigentlich hinter den Kulissen sich abspielte, auf welchem Punkte man stand, davon hatte sie doch nur ganz vage Vorstellungen.

Soviel erfaßte sie immerhin, daß es nicht um sie allein mehr ging und daß die ganze Ehesache sich außerordentlich verwickelt und verknotet hatte, daß alles Erdenkliche mit daran hing: Familiendinge und Geldsachen.

Jettchen hörte von großen Summen, die dabei auf dem Spiel standen; und sie sollten von dem braven Vetter Julius mit einer Schnelligkeit ins Treffen geführt worden sein, die selbst der Kriegskunst eines Napoleon alle Ehre gemacht hätte. Und sofern sie sich nicht in duftende Lederballen gelöst hatten, taten sie nun mit bei allen möglichen Unternehmungen, von denen Kaufleute alten Schlages fein säuberlich die Finger ließen. – Von ganz großen Summen hörte Jettchen, die auf dem Spiel standen, ohne daß sie sich einen rechten Begriff machen konnte, was sie eigentlich zu bedeuten hätten. Denn was Geld war, hatte Jettchen im Hause Onkel Salomons nie erfahren. Man bezahlte das, was man kaufte; und kaufte das, was man brauchte. Und wenn es wirklich mehr war wie bei anderen Leuten, so machte man sich auch keine Gedanken; man hatte den lieben Gott so gewöhnt, und es gehörte nun einmal zum Leben.

Eines Vormittags aber kam Jason heim mit nassen Sachen, denn es war draußen ein unfreundlicher Tag. Er bringe eine wichtige Neuigkeit für Jettchen, sagte er; ob sie es schon wüßte ... das rate sie gewiß nicht. Und Jettchen wurde es ganz heiß bei Jasons Worten, da sie glaubte, daß das eine Wendung in ihrem Geschick beträfe.

Ja, meinte Jason und ließ plötzlich hinter dem Rücken eine Knarre kreisen, er sei eben da entlangegangen. Auf dem Schloßplatz schlügen sie schon die Buden auf; und die ganze Breite Straße herunter sei man auch schon an der Arbeit; und auf der Schloßbrücke säßen nun wieder die Kinder mit ihren Dreierschäfchen und riefen: »'n Sechser der Bock, 'n Dreier das Schaf!« Vor den Walddeibeljungen aber wüßte man sich gar nicht zu retten. Wenn erst alles im Gange wäre, morgen oder übermorgen oder nächste Woche, da müßten sie einmal beide nachmittags auf den Weihnachtsmarkt gehen. So zwischen vier und fünf, wenn gerade das Licht angezündet würde und man doch noch etwas sehen könnte. Dann wär's am schönsten: unten die langen erleuchteten Budenreihen und das Schloß darüber und der farbige Winterhimmel dazu. – Oder wenn es vielleicht Schnee gäbe, dann müßten sie hingehen.

 


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