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Als aber am selben Abend Jason Gebert keine Ruhe fand und durch die Königstraße auf und nieder irrte – denn er glaubte doch nun, da er das letzte Wort gesprochen hatte, sich von allem befreit zu haben, und trotzdem schlug und zappelte er wieder in dem alten Netz und wußte sich nicht Rat noch Hilfe –, als Jason Gebert da durch die Straßen irrte, wollte es der Zufall, daß ihm jemand entgegenkam, ein dünnes Stöckchen in wilden Lufthieben umherwirbelnd; gerade wie in der halbvergessenen Frühlingsnacht, in jener Nacht, da Julius Jacoby von dem Hausdiener Karl im »Goldenen Damhirsch« sich die gedruckte Liste all der Orte hatte geben lassen, die man in Berlin besuchen muß, um in Posen davon erzählen zu können.

»Sieh da, Doktor Kößling! Sie scheinen ja heute sehr guter Dinge zu sein.«

Kößling blieb vor Jason Gebert stehen und berührte ihn mit der Hand an der Schulter.

»Ja, wirklich, Herr Gebert, das bin ich auch.«

»Sie haben wohl heute«, sagte Jason, »ein paar Zeilen zu Hause vorgefunden?«

Kößling wurde verwirrt.

»Nein, das nicht...«

»Nun«, meinte Jason, »dann sind Sie wohl schon auf Abschlagzahlung guter Dinge? Denn wenn Sie heute nach Haus kommen, dann werden Sie vielleicht ein kleines Billett dort finden, ein paar Worte in einer schönen, geschwungenen Kaufmannsschrift mit sehr eleganten S-Bogen. Und in diesem kleinen Billett wird stehen, daß man sich mit der Hoffnung trägt, Herrn Doktor Friedrich Kößling morgen abend bei Salomon Gebert zu einem einfachen Butterbrot begrüßen zu können. Ja, ja – so geht's im Leben ... es kommt doch alles besser, als man glaubt.«

Kößling hatte Jason Geberts Hand ergriffen.

»Wie soll ich Ihnen danken«, sagte er; man hörte es seiner Stimme an, daß er ganz weich war.

»Indem Sie nicht davon reden«, sagte Jason Gebert brüsk und machte sich mit einem Ruck los.

Aber im Augenblick war Jason Gebert doch wieder ganz der alte, und er schämte sich, daß er sich so hatte gehenlassen.

»Kommen Sie, Doktor, wir wollen noch ein wenig zusammen promenieren. Wir beide sind ja so lange nicht des Abends spazierengegangen. Ich glaube, es muß bald ein Jahr her sein – seit jener letzten Schneenacht nicht mehr. Kommen Sie, wir wollen das letztemal zusammen gehen; wer weiß, ob ich später noch einmal mit Ihnen gehen werde.«

»Aber Herr Gebert!«

»Ja, da werden Sie doch jemand anders haben, mit dem Sie gehen werden. Und ich werde allein sein.«

»O nein, dann werde ich mir eben Urlaub erbitten – und ich hoffe, ich werde ihn auch erhalten.«

»Kößling!« rief plötzlich Jason Gebert in die Nacht hinaus. »Kößling – ich kann nicht mehr! Ich habe Sie bis hierher geleitet, und ich habe Furchtbares dabei ausgehalten. Kein Mensch kann sagen, was ich dabei gelitten habe! Nun will ich Ruhe – ich will nichts mehr hören, und ich will nichts mehr sehen. Ich kann nicht mehr davon sprechen, ohne daß mir die Tränen kommen. Heute bin ich ein alter Mann – Sie wissen ja, ich habe Sie gern, sonst hätte ich nicht das für Sie getan –, und in Ihre Hände lege ich nun das Liebste, das ich auf der Welt habe, etwas, was so schön und so stolz ist, daß es nie mein werden konnte. Sie nehmen es aus meiner Hand, rein wie Gold – und nun sehen Sie, daß keine Flecken darauf kommen. Ihnen, Doktor, mögen diese Worte überschwenglich vorkommen, aber wenn man durch Jahrzehnte mit spöttischem Mund zu schweigen verdammt war, so kann man doch einmal, ein einziges Mal, die Wahrheit sagen. Es gibt ja keinen Menschen auf der Welt, dem ich das anvertrauen könnte – außer Ihnen. Kößling, ich kenne Sie; Sie sind oft hart und unwirsch und vergrämt, und dann achtet man den anderen Menschen nicht. Als ich jung war, war ich auch nicht anders. Aber nun müssen Sie ein anderer werden, weil jetzt in Ihre Hände etwas gegeben ist, was mehr ist, als Sie sind. Haben Sie das jemals schon gefühlt?«

»O ja«, sagte Kößling, den die Worte Jasons zwar im Innersten erregt, aber doch nicht überrascht hatten, »o ja. Und wenn sich jetzt hier unsere Wege trennen sollten, Herr Gebert, so will ich Ihnen versprechen, daß ich das, was Sie – und kein anderer – mir geschenkt haben, immer mehr achten will als mein Leben.«

»Dann ist es gut«, sagte Jason Gebert.

Eine ganze Weile schritten sie nebeneinanderher, ohne daß einer an den andern das Wort richtete.

Auf der Kurfürstenbrücke blieben sie einen Augenblick stehen und sahen auf das seltsame Bild, auf die großen, dämmrigen Tribünen, die dort aufgeschlagen wurden. Ihre zackigen Gerippe standen hoch gegen den Nachthimmel und waren ganz überhuscht und überzuckt vom Schein mächtiger Kienfackeln, die in großen eisernen Ringen steckten und die ihre Reflexe bis auf die Bronzegestalt des Großen Kurfürsten warfen, der da oben – ein schreckhafter Schatten – durch die schwere Nacht ritt. Die Zimmerleute kletterten und sprangen wie die Eichhörnchen von Balken zu Balken, man hörte ihre Zurufe, und man hörte die lauten Hammerschläge, die, in gleichen Abständen geführt, klar und dröhnend über den dunklen, stillen Platz schallten.

»Na«, sagte Jason, und jetzt hatte er seinen alten Ton wiedergefunden, »na, Kößling, wo werden Sie denn stehen? Sie werden wohl mit den Siebmachern am Nikolai-Bürgerspital stehen? Oder wird man Sie unter die Ehrenjungfrauen einreihen? Ich lerne jetzt schon immer mein Gedichtchen:

›O Herr und König, diese Pforte hier,
erbaut hat sie die Hand der Liebe dir,
mit Blumen und mit Kränzen leicht verhüllt
und mit der Jungfrau'n heitrer Schar erfüllt.‹

Wissen Sie, Doktor, wirklich, was wäre der Mensch, wenn es die Poesie nicht gäbe?«

Kößling mußte lachen, und es war ihm doch gar nicht so zumut. Denn in dem Glücksgefühl, das ihn beherrschte, zitterte ein ihm unerklärlicher Unterton von tiefer Herzensangst.

»Kommen Sie«, sagte er, »ich möchte heute bald nach Haus gehen.«

Und Jason schritt wieder neben ihm her. Jetzt war er mit seinem Gespräch in das politische Fahrwasser gekommen, und er erregte sich darüber, daß, kaum da die Amnestie erlassen war, sie die Gefängnisse wieder füllten und daß alles beim alten geblieben war. Nichts hätte man bisher gegeben als leere Versprechungen, und das einzig Gewisse an ihnen wäre, daß man sie nicht einlösen würde. Jetzt führe man eben die »Räuber« im Schauspielhaus auf – früher hätte sie die Zensur verboten –, das wäre der Erfolg des neuen Regimes. »Man erlaubt uns nun doch wenigstens, in Gedanken uns frei zu fühlen. Aber die Redern und die Voß und wie alle die Schranzen heißen, die setzt man uns dafür über den Kopf. Und sogar den Hassenpflug wollen sie jetzt aus Hessen herholen – als ob wir in Preußen nicht schon genug von solchen Reaktionären haben.«

An der Ecke der Klosterstraße nahmen Kößling und Jason Abschied voneinander.

»Ja«, sagte Jason, »dann denke ich Sie also morgen abend noch einmal zu sehen, Kößling – vielleicht für lange Zeit das letztemal. Morgen früh schickt Ferdinand einen Wagen nach Potsdam, der soll Jettchen abholen. Und vielleicht schon in acht Tagen wird – das sagte mir heute Salomon – Frau Henriette Jacoby wieder Jettchen Gebert heißen; und all das, was wir zusammen durchgemacht haben, wird der Vergangenheit angehören. Es war nicht leicht, Kößling, nicht leicht war es – aber nun ... gute Nacht. Ich war heut nachmittag in Potsdam, und ich bin jetzt sehr müde.«

Kößling und Jason reichten sich stumm die Hände. Der eine ging rechts und der andere links, jeder ganz verfangen und zappelnd und schlagend im Netz der Gedanken und Erinnerungen ...

 


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