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Als Jason draußen die Galoschen auszog, war bei Tante Rikchen schon die Stube voll von Leuten. Und der Lärm von vielen Stimmen und die Wärme der gutgeheizten Zimmer und der Geruch von Braten drang zugleich mit der reichen Helligkeit auf den Ankömmling ein. Alle waren sie eigentlich schon da. Man hatte nur auf ihn noch gewartet, um zu Tisch zu gehen. Das ganze Zimmer war voll von Menschen; man konnte auf den ersten Blick gar nicht sehen, wer das etwa alles war.

Jason Gebert kam es ganz seltsam vor. Denn er war lange Monate nicht hier oben gewesen, seit dem Spätsommer, seit seiner Krankheit nicht mehr. Zu seinen Besprechungen, mit dem Bruder war er in der letzten Zeit stets in das Geschäft gegangen. – Ganz seltsam kam es Jason im ersten Augenblick vor, daß alles noch wie einst war; daß kein Möbelstück in der Zeit verschoben worden war und daß an den Fenstern immer noch die Biskuitbilder an ihren kleinen Ketten zitterten und schaukelten, über den Fensterkissen mit den Rosengirlanden unschuldweiß hüben und rosenrot drüben. Ganz seltsam kam es ferner Jason Gebert vor, daß wieder die schweren Damasttücher auf dem Tisch lagen und all das Silber wie einst dastand: die beiden Fruchtschalen aus blauem Glas, die von den silbernen Delphinen getragen wurden, und die vier hohen silbernen Leuchter ... wie ionische Säulen daneben. Und ebenso, als ob sie gar nicht inzwischen fortgegangen wären, saßen auch wieder auf den beiden hohen Stühlen einträchtig nebeneinander Minchen und Eli. Das schiefe, kleine Minchen mit dem violetten Kleid und dem Blondenhäubchen, gleich einem Veilchen, das im Verborgenen blüht, gleich einem fliederfarbenen Miniaturgebirge, und Eli mit seiner besten weißen Perücke und in seinem besten blauen Frack mit neu geputzten Goldknöpfen daneben; und in all dem Lärm hielt Eli wieder sein Nickerchen, treu behütet von der kleinen Person neben sich.

Gewiß, Jettchen fehlte, die immer hier wie das Licht in einem alten holländischen Gemälde gewesen war, das Licht, um das sich ja all die anderen halbhellen Töne anordnen; aber keiner schien das Licht auch nur zu vermissen. Und wenn Jason selbst nicht gewesen wäre? Nun, was dann? Auf seinem Stuhl hätte dann vielleicht auch ein anderer gesessen, wie auf dem Jettchens; oder es hätte eben ein Stuhl weniger am Tisch gestanden. Aber kein Silberleuchter hätte deshalb weniger auf der Tafel geblitzt; keine Salatiere weniger ihre gemalten Blumensträuße zur Schau getragen; sein Bruder Salomon hätte ebenso förmlich und liebenswürdig den Wirt gespielt, und man hätte die gleichen Gespräche geführt, und der gleiche Duft von stiller, in sich zufriedener Wohlhabenheit hätte – fast sichtbar – wie eine Wolke über dem Raum und den Menschen sich gelagert. Er und seine beiden Schützlinge, Jettchen und Kößling – sie drei –, das fühlte Jason wie eine Beklemmung, als er in das alte, wohlbekannte Zimmer trat, waren eben nur die Vorübergehenden, das hier waren die Bleibenden.

»Ach, Jason«, rief Tante Rikchen ihren Schwager an, der so ganz verwirrt von all dem Lärm in der Tür stehengeblieben war, »es freut mich, daß du doch gekommen bist. Nun können wir gleich anfangen. Warum hast du aber Jettchen nicht mitgebracht?«

»Sie kommt in den nächsten Tagen mal zu dir, liebe Schwägerin.«

»Na siehste«, sagte Rikchen befriedigt und behäbig, »das ist doch endlich mal ein vernünftiges Wort von ihr.«

»Herrgott, Jason, alter Junge«, unterbrach Ferdinand und klopfte Jason Gebert mit der flachen Hand auf den Rücken. »Jetzt mußt du mal zu mir kommen und dir die Wagen für den Prinzen Karl ansehen. Ein Tilbury und Kabriolett – so was findst du nich in deinem Paris.«

»Ja, sie sind wirklich göttlich«, sagte Hannchen verlegen; denn die Begegnung mit Jason war ihr nicht lieb. Sie trug nämlich ernstliche Bedenken, daß Jason etwas hinterbracht worden wäre von ihren Klatschereien, die sie in so zahlreichen Abwandlungen in die Welt hinausgesandt hatte.

Hannchen stand zwischen Pinchen und Rosalie, und ihre Fülle verhielt sich zur Schmächtigkeit der anderen wie der Laokoon zu seinen beiden Söhnen.

Jason war ziemlich erstaunt, Pinchen und Rosalie immer noch in Berlin anzutreffen, und ihre Kleider kamen ihm auch so eigentümlich bekannt vor. Jason war nämlich fest der glücklichen Überzeugung gewesen, Pinchen und Rosalie wären von Ferdinand und Hannchen schon längst wieder nach den gesegneten Gefilden Bentschens verstaut worden; ja, er äußerte sich auch dahin zu seinem Bruder Ferdinand, der ihn in eine Ecke gezogen hatte und ihn beim Giletknopf hielt, während er ihn in seine Geschäftsgeheimnisse des Oberbaus, des Doppellacks, der Montierung und der Ringfedern einweihte.

»Nu«, sagte Ferdinand und zuckte die Achseln, »weißte, sie sagen, sie wollen nich eher abreisen, ehe die Angelegenheit mit Julius vollkommen klar is. Die Ungewißheit, meinen sie, könnten sie zu Hause in Bentschen nich ertragen.«

»Ach«, versetzte Jason trocken, »da können sie ja inzwischen Berlin noch ganz gut kennenlernen.«

»Kennenlernen?« meinte Ferdinand. »Ich sag's dir, Jason, was du ihnen gibst, stecken sie ›chap‹ in die Tasche. Du siehst und hörst nie wieder was davon. Du kannst ihnen das Schönste und Beste bieten – phüt! –, im nächsten Augenblick is es weg, als ob du ins Meer gespuckt hast. Nichts macht auf sie Eindruck!«

Jason sah die Mädchen durch das Knipsglas an. »Nu, Ferdinand«, sagte er, »Pinchen sieht doch eigentlich ganz nett aus.«

Ferdinand schüttelte den Kopf.

»Lieber Jason«, sagte er belehrend, »die müßtest du mal des Morgens ohne Geschirr sehen, dann würdest: du das am Abend nicht mehr sagen.«

Naphtali kam vorbei. Er hatte seinen langen, braunen Rock an mit dem Kragen von Anno dazumal; und wenn man auch nicht mehr ganz genau feststellen konnte, was es alles auf Jettchens Hochzeit gegeben hatte, eine halbklare Vorstellung konnte man nach Naphtalis braunem Rock noch leidlich gut davon gewinnen. Jason dachte zuerst, Naphtali hätte sich schon ein Brötchen vom Tisch genommen, weil er so mimmelte; aber dann sagte er sich, daß der alte Naphtali wohl nicht die Fertigkeit besäße, zugleich zu essen und zu summen wie eine Winterfliege in der Ofenecke.

»Nu, Herr Jason«, sagte Naphtali, unterbrach seine Fußwanderung und blieb stehen, »ich seh', Se werden auch schon grau.«

»Was macht Julius heute?« fragte Ferdinand. »Kommt er?«

»Nu, was wird Joel tun?« antwortete Naphtali. »Er arbeitet eben; immerr is er im Geschäft – vorgestern bis zwölf Uhr nachts. Wenn sein Vater so hinterher gewesen wäre, wie er es ist, hätt' er anders dagestanden. Das sag' ich Ihnen!«

Salomon kam hinzu, er sah nicht gut aus. Die Sommerfarbe von Karlsbad her war schon wieder ganz abgeblaßt.

»Na, Jason«, sagte er, »es ist gut, daß du da bist, da können wir ja nachher mal zusammen reden!«

»Ach bitte, zu Tische!« rief Rikchen, so daß Eli ganz verdattert von seinem Stuhl auffuhr und fast die Perücke vom Kopfe verlor.

»Wo sind eigentlich Wolfgang und Jenny?« fragte Jason Ferdinand, während er sich seinen Platz suchte.

»Ach, weißt du, ich hab' die Kinder lieber heute mal zu Hause gelassen; erstens wollen wir doch miteinander sprechen, und dann hustet Wolfgang ein bißchen. Er ist ja nun bald in dem Alter, und da kann das leicht mal vorkommen. Aber ich hab' mir gesagt, bei so einem Wetter ist es für den Jungen doch besser, wenn er des Abends zu Haus bleibt. Max kommt aber noch – er macht sich jetzt ganz gut 'raus im Geschäft.«

Man ging zu Tisch. Jason kam neben Rikchen zu sitzen, geradeüber von Ferdinand. Salomon war Hannchens Tischherr. Eli und Minchen jedoch waren unzertrennlich; denn Minchen meinte, sie müsse auf Eli achten. Aber damit sie doch nicht ganz zu kurz käme, hatte man ihr den Senior aller Jacobys, Onkel Naphtali, rechts noch als Courmacher zugesellt. Und hinter Pinchen und Rosalie tauchte plötzlich, aus irgendeinem geheimnisvollen Winkel, das alte Fräulein mit den Pudellöckchen auf. Max trat auch in dem Augenblick ein, als gerade die Mädchen begannen, die großen Fische herumzureichen, deren Stücke ganz eingebettet lagen in allerhand Zutaten von Wurzeln und Semmelklößen – und so fehlte keiner mehr.

»Die Fische sind wirklich gut«, sagte Ferdinand und hielt seine Nase über den Teller. »Ich kann reden, solang ich will, zu Hause kriege ich sie nie so!«

»Weißt du, Rikchen«, sagte Jason und kostete bedächtig, »ich werde von jetzt an wieder jede Woche bei dir essen.«

»Bitte, wir werden uns immer freuen, wenn du kommst«, versetzte Salomon. »Nicht wahr, Rikchen?«

»Gewiß, Jason, komm nur, bei Frank kriegst du nicht solche Fische.«

»Was sagste doch zu dem Wetter?« unterbrach Hannchen.

»Hier is ja sehr scheen warm«, mischte sich Rosalie ins Gespräch, »aber bei euch ze Hause hat merr heute nachmittag dermaßen gefroren, daß merr beinahe de Ringe von de Finger gefallen sind.«

»Vielleicht is es in Bentschen wärmer«, entgegnete Ferdinand; aber er verkündete das Geheimnis so leise, als wolle er es nur dem Fischkopf vor sich auf dem Teller anvertrauen. Seine Frau jedoch war hellhörig, und sie warf ihm einen bittenden Blick zu.

»Ja«, begann sie, um ihren Mann abzulenken, denn bei Ferdinand konnte man nie wissen, ob er nicht im nächsten Augenblick seine Stimme erheben würde, und zugleich wollte Hannchen auch sich und die Ihrigen in das rechte Licht setzen. »Ja ... der Prinz Karl hat doch Ferdinand noch ganz genau gekannt.«

»Na, meinste vielleicht, er hat ›Pehmüller‹ zu mir gesagt? Er hat doch noch vom Vater her gewußt, wer wir sind. Wenn damals nich de Sache mit dir gekommen wäre – mit der Hausvogtei –, hätt' ich den Hof schon längst gekriegt. Nu, mir tut's nich leid; und es is auch so gegangen.«

Jason bekam einen roten Kopf, und Salomon sah das, aber da er Reibungen vermeiden wollte, sagte er: »Hast du gehört, Krüger soll ein großes Reiterbildnis vom Zaren Nikolaus gemalt haben? Es soll sogar hierherkommen.«

»Man behauptet, daß das Pferd ganz vorzüglich getroffen ist«, warf Jason dazwischen.

»Laß das nich Louis Schneider hören«, meinte Ferdinand.

»Ich hab' ihn neulich sogar als Hofrat Heese gesehen – sehr gut, sehr gut«, sagte Salomon und lachte, noch im Nachgeschmack des gehabten Vergnügens, vor sich hin.

»Ich mach' mir nichts aus Schneider«, meinte Jason, »er spielt mir zu sehr ins Parterre.«

»Höre mal«, rief Eli über den Tisch, so laut er konnte, denn er hatte heute seinen lauten Tag. »Du gibst immer noch gut, Rikchen. So 'ne Fische, wie die Fische, kann man heut gar nicht mehr kriegen.«

»Nu«, sagte Rikchen, »wenn was übrigbleibt, Eli, schick ich's dir morgen früh mit dem Mädchen herum.«

»Aber vergiß nich, Rike«, gab Eli zurück und wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu.

Bei dem Wort »Mädchen« zuckte Hannchen zusammen wie der Froschschenkel im galvanischen Strom.

»Richtig, was ich noch erzählen wollte: Unsere Anna hat doch geheiratet. Vorigen Sonntag war Hochzeit. Er is nebenbei ein bildschöner Mensch. Er sieht aus wie ein Künstler. Weißte, Rikchen, er is doch seit drei Jahren Gehilfe drüben beim Friseur Baumbach; und er is immer des Morgens gekommen, um Ferdinand zu barbieren, und so haben se sich wohl kennen- und liebengelernt. Ich hab' – nebenbei – ihnen zur Hochzeit zwei große Porzellanspucknäpfe mit gemalten Rosengirlanden geschenkt; aber se haben gesagt, daß sie ihnen so sehr gut gefallen hätten, daß sie sie doch lieber als Kuchenteller brauchen möchten.«

Jason lachte.

Eli aber hatte den Kopf schräg über den Tisch gehalten, um besser zu hören.

»Ach so!« sagte er. »Der junge Mann von Baumbach! Ich hab' schon geheert, de Kindtauf wird nich mehr lange auf sich warten lassen.«

»Wirklich!« bestätigte Minchen.

Hannchen bekam plötzlich ein sehr langes Gesicht.

»Nun«, meinte sie zaghaft, »das is endlich bei solchen Leuten mal nich anders.«

Aber Ferdinand, der schon die ganze Zeit sehr unruhig auf seinem Stuhl hin und her gerückt war, fuhr los: »Ich begreif' nich, Hannchen, warum du die Leute immer mit deinem Geschwätz langweilst!«

Max, Pinchen und Rosalie hinten am Tischende kicherten und hielten sich die Servietten vor den Mund.

Hannchen aber schien sich diese Mahnung zu Herzen zu nehmen, denn sie war den ganzen Abend über – durchaus gegen ihr Naturell – sehr schweigsam.

Doch ehe noch die Pause zu lang und zu inhaltsreich wurde, begann Salomon: »Eine sehr nette Sache habe ich neulich gehört, weißt du, Rikchen, die von Heine. Wie war sie doch?«

»Ach ja«, half Rikchen ein, »das war wirklich sehr reizend. Heine hat aus Paris an seinen Onkel nach Hamburg geschrieben ...«

»Laß mich doch erzählen! Nie läßt du einen ausreden! Also hör zu, Jason. Der Dichter Heinrich Heine hat aus Paris an seinen Onkel, den Bankier Salomon Heine, nach Hamburg geschrieben, ob jener was dagegen hätte, wenn er sich von jetzt an nach seiner Mutter ›Heine van Geldern‹ nennen würde. Da hat ihm der Onkel zurückgeschrieben, er hätte gar nichts dagegen, daß er sich Heine van Geldern nenne, da er doch sowieso die Gelder von Heine bekäme.«

Alle lachten, nur Onkel Naphtali und Jason nicht.

»Verzeihen Se, Herr Gebert«, sagte Naphtali, »um wen dreht es sich eigentlich bei de Sach?«

Aber Jason schlug mit der Hand auf den Tisch und schrie mit rotem Kopf: »Dieser Schmutzian? Meinst du, nach ihm und seinen elenden Millionen würde ein Hahn krähen, wenn er nicht eben der Onkel von dem Dichter Heine wäre? Heinrich Heine braucht keinen Adel. – Aber wer hat denn den Namen Heine geadelt? Er oder jener?«

»Nu«, meinte Ferdinand, »zwanzig Millionen schaffen, is auch nich schlecht, und die hat der in Hamburg gut und gerne.«

»Was regst du dich auf, Jason«, begütigte Salomon, »die Sache braucht ja nicht wahr zu sein. Ich nehm' sogar an, sie ist nicht wahr. Denn erstens schreibt so was Heine nicht, und zweitens antwortet es der Onkel nicht. Aber als Ganzes – finde ich – ist es gut erfunden.«

Aber Jason würgte es im Halse, er hätte zu gern jetzt mehr gesagt, daß das die Anschauung in diesen Kreisen wäre, mit der man Leute zugrunde richte. Er hätte jetzt von Jettchen sprechen mögen und von Kößling und ihnen alles herausgeben, was ihm darüber auf der Seele brannte. Dann jedoch dachte er wieder, daß es aussah, als ob die Parole ausgegeben worden sei, darüber und über alles, was Jettchen anging, jetzt nicht zu reden, und daß er ja nachher immer noch sprechen könnte. Und Jason hielt an sich. – Er wäre auch in der Tat nicht recht dazu gekommen, davon zu sprechen, denn schon hatten sich Eli und Ferdinand bei den Haaren. Sie hatten sich in ein Pferdegespräch verhakt und verbissen wie zwei Fische, die an einer Angel zerren, und da ging's gleich laut und heiß her.

»Denkt euch«, rief Ferdinand, »das muß ich euch doch erzählen. Ich kaufe da für hundertzwanzig Taler einen Fuchswallach; also ... vielleicht ein bißchen zu schwer in den Fesseln, aber sonst ein Prachttier. Und wie ich den nächsten Tag zu ihm in den Stall komme und ihn mir ansehen will – ich meine doch gleich, mich soll der Schlag treffen –, ist es doch ein Weber. Den ganzen lieben langen Tag steht er jetzt an der Futterkrippe und webt.«

»Nu«, meinte Eli, »das hättst du mir gar nich erst sagen brauchen, so was kann natürlich nur dir passieren. Da werden se dir schon wieder 'nen netten Zossen aufgehangen haben!«

»Wie kann ich denn das vorher ahnen? Das kann doch kein Mensch wissen!« polterte Ferdinand.

»Wenn de eben e andermal wieder e Pferd kaufst, nimm jemand mit, der's versteht; zum Beispiel mich. Ich sag' dir, mei Sohn, ich mach' dir noch heutzutage e ausgedienten, spatigen Fliegenschimmel so zurecht, daß de glaubst, e Prinz könnt' darauf reiten!«

Aber Ferdinand versetzte, daß er wirklich genug von Pferden verstehe, mehr wie Onkel Eli, und daß er für dessen Rat danke.

»Nu, wer eben nich hören will, muß fiehlen«, rief Eli ganz rot, während Minchen ihn am Rock zerrte, er solle still sein, und Salomon Ferdinand beschwichtigte.

»Weißt du, Ferdinand, bei Fischen darf man nicht soviel reden. – Aber sag du mal, Jason: Was gibt es Neues in der Welt?«

»Nun – der König von Hannover, hab' ich gehört, geht zur Hochzeit von der Königin Viktoria nach England 'rüber. In Hannover hofft man allgemein, daß sie ihn da vielleicht totschlagen werden.«

Aber Ferdinand hatte in der letzten Zeit sein königstreues Gemüt entdeckt und sagte: Jason solle sich ja hüten, solch Zeug nachzureden; er hätte wohl nicht von dem einen Mal genug. Die Gefängnisse waren zwar jetzt sowieso überfüllt, aber einen Platz für ihn würden sie vielleicht doch noch finden. Und vor allem, da sie jetzt täglich überall Leute verhafteten wegen der Verschwörung, müsse Jason mit solchen Äußerungen doppelt vorsichtig sein.

Auch Salomon sagte, wozu Jason so etwas rede, er wäre doch jetzt alt genug, am Ende hätte er doch nichts davon.

»Ja«, meinte Jason lächelnd, »da hast du recht, Salomon, vielleicht ist es auch klüger so; man sollte es ruhig gehen lassen, wie es geht – am Ende nämlich hat man als einzelner doch nichts davon.«

»Verzeih mal e Augenblick, wie reimt sich das eigentlich, Jason, zu dem, was de frieher gereddt hast?« sagte Eli. »Wenn ich das noch sagen würde, ich bin doch nu bald da, wo de Könige ebensoviel sind wie de Bettler; und ich sag's nich – aber du, du bist doch noch e junger Mann gegen mich!«

»Bei uns in Bentschen«, mischte sich Naphtali ins Gespräch, »is auch e'mal e Demagoge gewesen; aber wie er geheert hat, daß wir e Gendarmen haben holen wollen, is er schnell mit de Extrapost weiter nach Posen gefahren.«

Die Mädchen nahmen die Teller fort und reichten den braunen Braten herum, der auf der größten Schüssel des Hauses Salomon Gebert kaum Platz fand und rechts und links noch in die Luft hinaussah.

Für Naphtali aber war eine Eierspeise bereitet worden, um seine frommen Gefühle nicht zu verletzen.

Jason wollte Eli noch antworten, daß er das nur halb ironisch gemeint hätte; aber Eli hatte sich eine große Bratenscheibe vorgelegt – und war nicht mehr zu sprechen.

Minchen wollte nichts nehmen, sie hätte noch keinen Appetit.

»Warum nimmst de nich, Minchen?« sagte Eli mit vollen Backen, ohne vom Teller aufzuschauen. »Du wirst auch immer komischer. Eines schönen Tages wirste noch mit dem Kopf wackeln wie de alte Madame Schröckh als jugendliche Liebhaberin.«

»Nu, Jason«, sagte Ferdinand, nachdem er sich mit der ersten Bratenscheibe auf seine Art abgefunden hatte, »erinnerst du dich noch an unser Gespräch hier von vorigem Frühjahr her über die Eisenbahn? Wer hat recht behalten – ich oder du? Möchtest du jetzt vielleicht Köln-Aachener haben oder Dresden-Leipziger?«

»Ja«, unterstützte Eli, »ich hab' damals gleich gesagt, de Sach mit de Eisenbahn is e aufgelegte Pleite!«

»Weißt du, Ferdinand, ich möchte sogar recht viel davon haben«, sagte Jason gelassen.

»Ich begreif dich nicht, so kann nur einer sprechen, der die Marktlage nicht kennt!« sagte Salomon.

»Ich meine«, verteidigte sich Jason, »da braucht man von der Marktlage gar nichts zu kennen, um zu sehen, daß die Eisenbahn eine Zukunft hat, auch wenn die Papiere ein bißchen heruntergegangen sind.«

»Ein bißchen!« rief Ferdinand dazwischen. »Na, ich möchte das haben, was in den letzten vier Wochen an de Börse verloren worden is. Weißte, Jason, da ziehe ich mich morgen früh, Schlag acht Uhr, vom Geschäft zurück!«

»Ich sag' auch mit dem schwarzen Steinthal«, mischte sich Eli ins Gespräch, »auf de Börse geht's immer wie in de Kinderstube zu; da ziehen de Großen de Kleinen aus.«

»Aber die Wagen für den Prinzen Karl wirst du doch wohl noch fertigbauen«, unterbrach Hannchen und brachte so den alten Eli um seinen ganzen Beifall. Denn wegen seiner letzten geschäftlichen Erfolge und seiner hohen Kundschaft verzieh Hannchen ihrem Manne jetzt freudig und gern alles und gewährte ihm gnadenvoll Ablaß für so viel Sünden, wie selbst dem braven Ferdinand Gebert zu begehen kaum möglich war.

Ferdinand jedoch war das ziemlich gleichgültig.

»Weißte, Hannchen, fall bloß nich aus de Kutsche mit deinem Prinzen Karl«, versetzte er brüsk.

»Ja«, sagte Salomon, »mit dem Königlichen Theater bei uns – das wird doch immer weniger. Das einzige in letzter Zeit war noch de Schröder-Devrient; die hat wirklich gesungen, daß der Kronleuchter gewackelt hat.«

»Für die Königlichen Bühnen sollte Immermann hergeholt werden«, meinte Jason, »das ist der Mann, der sie reformieren könnte!«

Aber es wird nie zwei Männern gelingen, über das Theater zu sprechen, wenn die beiden Frauen neben ihnen ihre Unterhaltung über die neuen Winterhüte beginnen; und sicherlich ertönte das Geschrei: »Hie Welf – hie Waibling« kaum lauter als aus dem Feldlager Tante Hannchen der Schlachtruf »Hie Quittel« und aus dem Feldlager Tante Rikchen das Sturmgeschrei »Hie Zierlein«. – Und sobald Eris ihre Locken schüttelt, fliehen die Musen.

Max war die ganze Zeit sehr still gewesen; nur wenn im Frühjahr die Blicke, die dem servierenden Mädchen folgten, noch als die schüchterne Huldigung einer jungen Seele gedeutet werden mußten, die dem Bild »Frau« als einem fernen, schönen und unbekannten Etwas galten, so schien jetzt der Inhalt dieser Blicke schon bestimmter, wesensreicher und mehr dem Erfahrungsgebiet entnommen zu sein. »Nun, Max«, sagte Jason langsam und etwas spöttisch, »wie geht es dem jüngsten Deutschland?«

Max verstand.

»Schlecht, Onkel«, sagte er.

Denn da Max in der letzten Zeit Reales und Blutwarmes an die Stelle von nur Geahntem oder intuitiv Empfundenem gesetzt hatte, so schien für ihn wirklich keine Ursache mehr zu bestehen, sich mit Worten um eine Sache zu bemühen, die er doch mit Händen greifen konnte.

»Na«, meinte Jason, »weißt du, Max, wenn du mit der Dichtkunst nichts mehr zu tun haben willst, kannst du dir mal die Haare schneiden lassen; du siehst nämlich wirklich aus wie ein mißglückter Beethoven.«

»Ich finde, Jason, es kleidet Max sogar sehr gut«, unterbrach Hannchen und hörte mitten in ihrem Hymnus auf die Madame Quittel auf.

»Nein, Max«, sagte Ferdinand, »Jason hat ganz recht, so läuft man nicht 'rum. Ich wollt's dir schon lange sagen – wie sieht denn das aus im Geschäft!«

Aber Max war gekränkt und strafte seine Eltern mit stummer Verachtung.

»Prachtvoll!« rief Ferdinand, als jetzt die Mädchen die große Apfeltorte herumreichten, die noch ganz warm war und rauchte und duftete. »Man sieht wirklich, Salomon, du hast keine Eisenbahnpapiere!«

Eli, der mit dem Alter doch schon genügsam geworden war, fand das vorzüglich; den besten Witz vom ganzen Abend. Aber noch vorzüglicher fand er doch die Speise, und er konnte sich gar nicht genug tun in seinen Lobsprüchen und sagte ein Mal über das andere zu der strahlenden Wirtin: »Weißte, Rikchen, de Fisch war schon gutt; aber mit de Appelturt hast de dich wirklich diesmal selbst übertroffen!«

»Nun, Onkel, wenn du noch was übrigläßt, schick ich's dir morgen vormittag!«

Damit war der alte Eli zufrieden.

Aber Naphtali sagte: »Heere mal, mei Tochter, de Turt ist ja wirklich ganz scheen; so gutt jedoch, wie wir se zu Hause in Bentschen machen, is se nu mal doch nich!«

Da rückte Salomon mit dem Stuhl, daß es nur so kreischte, und sprang auf.

»Mahlzeit!« sagte er so schroff und kurz, als gäbe er ein Kommando.

»Mahlzeit!« sagten die andern, schurrten, schoben die Stühle zurück, fuhren sich mit den Servietten über den Mund und drückten sich die Hände.

Nur Eli wunderte sich.

»Was heißt das?« sagte er. »Ich hätt' noch ganz gerne e Stickchen genommen!«

Ferdinand aber rief: »Na, es is auch höchste Zeit gewesen!« Denn er wollte zu seiner Partie Whist kommen. Und Jason, dem mit seinem lahmen Bein sowieso das lange Sitzen Beschwerde machte, war auch froh, daß man endlich aufgestanden war; und er war ebenso froh darüber, daß es nun bald zu einer Aussprache kommen müsse. Während er so ein paarmal hin und her hinkte und seine alten Knochen wieder ein bißchen ins Lot brachte, dachte er daran, was er nachher sagen würde.

Die Mädchen mit den weißen Kleidern räumten ganz schnell ab; klirrten mit den Tellern und Schüsseln. Die Gabeln und Messer und Messerbänke verschwanden in die Messerkörbe; das Silber war im Augenblick auf dem Büfett; die Tischbesen glitten über das Tuch; die große Damastdecke lüftete sich; die braunen Mahagoniplatten des Tisches glitten schnell und lautlos, wie von selbst, ineinander; und der Tisch, der noch eben fast das ganze Zimmer gefüllt hatte, wurde wieder zu dem bescheidenen Wesen, das er alle Tage war. Die Stühle kamen an die Wand und an die Fensterplätze; irgendwie drang auch für ganz kurze Zeit ein frischer Luftzug hinein, der nach Schnee und Frost schmeckte – und wer jetzt in das Zimmer getreten wäre, hätte nie geglaubt, daß man hier noch vor ganz kurzem Fische verzehrt hatte, von geradezu vorweltlichen Abmessungen, und einen Braten bewältigt hatte, für den selbst die größte Schüssel des Hauses Salomon Gebert sich als zu klein erwiesen hatte, und daß hier zudem noch eine Apfeltorte zerstückelt worden war, wie sie besser und lobenswerter nur in Bentschen angetroffen zu werden pflegt.

»Nun«, sagte Rikchen, die vom Stuhl aus, ein weibliches Gegenstück zum General Torstensson, diese Schlacht geleitet hatte, »na, vielleicht wollen die Herren zum Spiel lieber hineingehen ins gute Zimmer; da sind sie ganz ungestört!«

Ferdinand ließ sich das nicht zweimal sagen. Ihm folgte Eli.

»Ja, Herr Gebert, weil Se mich so freindlich auffordern, werd' ich auch e bißchen mit reinkommen«, meinte Naphtali, und im Nachgeschmack des Genossenen pustete er vor sich hin.

Pinchen und Rosalie saßen schon auf dem Sofa und hielten sich eng umschlungen. Denn wenn sie sich auch beide immer miteinander zankten, sobald sie allein waren, vor der Öffentlichkeit liebten sie es, zärtliche Gruppen zu bilden.

Hannchen jedoch saß neben ihnen, hatte ein Kissen unter den Füßen und fächelte sich mit einem Spitzentuch. Sie sagte, das Zimmer wäre überheizt, und das könnte ja kein Mensch aushalten.

Die alte Tante Minchen war auf einen harten Rohrstuhl verbannt und hockte da ganz in sich zusammengezogen, mit der Haube auf ihrem kleinen, schiefen Kopf, und ließ die Litaneien des alten Fräuleins mit den Pudellöckchen mit freundlichem Lächeln über sich ergehen.

Jason fand drin im Zimmer alles wie einst. Vielleicht war die mattgrüne Seide an den Wänden wieder etwas mehr verblichen; aber an den blanken weißen Lackmöbeln mit den goldenen Schwanenhälsen saß kein Stäubchen, und sie spiegelten ihre weißen Linien in dem blankgebohnten braunen Boden. Oben an den beiden Kronen aus Holzbronze waren alle zwölf Kerzen angezündet und füllten mit den roten Goldtönen ihrer Flammen den weiten Raum, vom Boden bis zur weißen Decke, von den Fensternischen und den hohen, geteilten Spiegeln bis zu den Konsolen an der Wand, auf denen die feinen, zerbrechlichen Teetäßchen standen. Nur dadurch, daß die beiden Uhren, die mit dem sentimentalen Türken und die mit dem pfeilschleifenden Amor, nicht wie einst geschäftig und munter tickerten, sondern ganz tot und still dastanden und daß die braune Platte des Tafelklaviers doch etwas stumpfer dalag denn ehedem, wurde Jason daran erinnert, daß hier Jettchens Hand fehlte. Aber in der Ecke stand wie immer der Spieltisch mit den Lichten in Silberleuchtern, und auch die silberne Kuchenschale mit der stolzen Pyramide von Mürbekuchen über ihren Weinranken – für Onkel Eli –, sie fehlte nicht. Und richtig, Onkel Eli hatte sich auch schon dabeigemacht, ihre Fundamente zu untergraben. Aber er war nicht so zufrieden wie sonst.

»Weißte, Jason«, sagte er, »ich esse nur, damit se nich umkommen. Wie Jettchen noch hier war, haben de Mürbekuchen doch ganz anders geschmeckt.«

Der alte Eli irrte sich. Gewiß waren die Mürbekuchen ehedem nicht besser gewesen, als sie es heute waren, und wenn sie es gewesen wären, so war auch Jettchen sicherlich daran unschuldig, denn sie hatte sie ehedem niemals zubereitet. Aber darin sprach der Onkel Eli doch die volle Wahrheit, sie, die Mürbekuchen, schmeckten ihm wirklich nicht so gut wie die, die ihm Jettchen hier immer angeboten hatte.

»Na, Kinder«, rief Ferdinand, »woran liegt's eigentlich?« Und er teilte patsch, patsch die Karten aus, trotzdem sich noch keiner an den Tisch gesetzt hatte.

»Wer spielt denn?« fragte Salomon.

»Nu, wir alle«, meinte Ferdinand, » einer muß eben sitzen.«

»Ich sehe ebenso gerne zu«, meinte Jason.

»Ich mach' sogar gern e'mal e Spielchen, ich weiß gar nicht mehr, wie e Karte aussieht!« sagte Eli und kam, mit beiden Backen kauend, zum Spieltisch herüber.

»Nu«, meinte Naphtali und wiegte mit dem Kopf, »ich werr auch so frei sein.«

»Gut«, sagte Salomon zu Jason, »wenn du mal sitzen willst, dann werde ich mit Eli zusammenspielen, und Ferdinand geht mit Herrn Jacoby zusammen.«

Ferdinand bot am höchsten und behielt das Spiel; aber sein Aide machte ihm wenig Freude, und schon nach den ersten Stichen legte Ferdinand die Karten hin, stützte beide Arme auf den Tisch auf und sah den alten Onkel Naphtali ganz erstaunt an, als hätte er ein Meerungeheuer vor sich.

»Wissen Sie, Herr Jacoby«, sagte er endlich, »in England, verstehen Se – nich auf dem Kontinent, aber in England –, enterbt ein Vater seinen Sohn, wenn er mit sechs Trümpfen in der Hand nicht Atout zieht. Oder wollen Se vielleicht erst noch 'ne Prise nehmen?«

Und als der Alte nun erst recht ganz verdattert einen kleinen Trumpf ausspielte, schrie Ferdinand: »Jetzt bringen Se noch 'ne Herzen-Sieben? Wohl damit das Spiel ganz rumgeht? Gleich nach dem ersten Stich hätten Sie die ganze Flöte von oben 'runter ziehen müssen, daß es denen da drüben nur so mit Grundeis aufgegangen wäre. Meinen Se etwa, wir spielen hier um Pfeffernüsse?«

Und damit sprang Ferdinand wütend auf und warf die Karten hin.

»Nu«, sagte Salomon, »wir brauchen ja nicht Whist zu spielen, wir können uns ja auch mal unterhalten. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten, Herr Jacoby? – Ach so, Sie rauchen ja heute nicht. Aber dir, Jason?«

»Ja«, sagte Ferdinand, »wie wird das nun eigentlich doch mit Jettchen?«

»Das frage ich euch«, meinte Jason.

»Hast du gesehen?« fragte Ferdinand. »Selbst in Rellstabs ›Berlin‹ war versteckt darauf hingewiesen. Nächstens wird er noch einen vierbändigen Roman darüber schreiben, wie über Johanna, das Pomeranzenmädchen.«

»Auf e mageres Pferd setzen sich immer alle Fliegen«, fuhr Eli auf. »Ich weiß nich, was ihr eigentlich von Jettchen wollt. Nu scheen, se soll sich mit 'nem andern schon vergessen haben! Bei Jettchen sieht trotzdem jeder das atlasne Unterfutter, und bei Julius Jacoby kucken, sowie er den Mund aufmacht, de karierten Bettlaken 'raus.«

»Herr Elias Gebert«, meinte Naphtali und wiegte den Kopf, »ich sag' Ihnen, Joel sein Vater, mein Neffe Nero, war e Seele von Mensch; aber er war kein Geschäftsmann. Wenn er is mit seinem Bruder zusammen gegangen, und man hat ihn abgewiesen, hat er nie wieder da vorgesprochen. Und wenn sein Bruder gekommen is, ihn des Morgens abholen – wer is nich aufgewesen? –, Nero is nich aufgewesen! Nu, man kann haben e scheene Frau, und man kann haben e Geschäft! Man kann auch haben zusammen e scheene Frau und e Geschäft. Aber erst Geschäft und dann de Frau. – Joel, verstehen Se, Joel is ganz anders! Das is e Geschäftsmann!«

Eli schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Wie kommt das zu dem?« sagte er.

»Wißt ihr«, sagte Jason, »es wäre wirklich ganz gut, wenn der Sache ein Ende gemacht würde; denn das Mädchen geht uns sonst kaputt dabei!«

»Eh«, meinte Ferdinand und blies den Rauch durch die Nasenlöcher, »es sterben mehr Leute an verdorbenem Magen als an gebrochenem Herzen.«

»Das hast du wohl wieder aus Pappes Lesefrüchten?« versetzte Jason halblaut, aber die Stimme bebte ihm dabei.

»Ja«, sagte Salomon, »Herr Jacoby, ich hatte Sie doch gebeten, mir Antwort auf meine Vorschläge zu bringen.«

»Welche Vorschläge?« fragte Jason erstaunt.

»Nun, ich hatte Herrn Julius Jacoby«, sagte Salomon sehr ruhig und sicher, und in dem Augenblick war er der Chef eines Handelshauses, der gewohnt war, mit großen Summen zu rechnen, vorzuschlagen, weitgehende Abschlüsse zu machen und hierbei doch kühl und sicher jedes Wort zu erwägen, »ich hatte Julius Jacoby vorgeschlagen, daß ein Drittel des Betrages in seinem Geschäft als Grundkapital bleiben solle und daß er es an mich, das heißt an Jettchen, mit zwei Prozent zu verzinsen hat, während er das übrige zurückerstattet und eben für dieses Entgegenkommen in der gerichtlichen Scheidung die Schuld auf sich nimmt. Das kann ihm, wie du wohl weißt, ja nicht schwerfallen. Denn, Jason, du verstehst mich, daß ich es nie und nimmer zugeben werde, daß unsere Nichte, die in unserem Hause hier gleichsam als mein Kind aufgewachsen ist, vor der Öffentlichkeit als die Schuldige dasteht.«

Jason atmete auf.

»Das gefällt mir von dir, Salomon«, sagte er, und er schämte sich fast, denn er fühlte, wie es ihm bei seinen Worten in den Augenwinkeln brannte.

»Und was sagt Julius?« meinte Ferdinand.

»Man kann sich ja denken«, versetzte Naphtali und wiegte den Kopf hin und her und blinzelte lächelnd und entschuldigend mit seinen kleinen schwarzen Jettknöpfen von Augen, »angenehm ist es ihm nicht. Er möchte nich. Ich hab's ihm vorgeschlagen, aber Joel sagt: Se mögen alle reden, was se wollen, Jettchen wird schon wieder zu ihm zurückkommen. Er meint, er könnt' ja auch 'nen Rückkehrbefehl gegen sie ergehen lassen; das hätt' ihm der Notar auf dem Gericht gesagt. Aber davon will er erst gar keinen Gebrauch machen – seine Frau wird schon so zu ihm kommen, meint er!«

»Nu«, sagte Eli, »wißt ihr, er glaubt eben, wenn du Käs sein willst, dann stink!«

»Na Gott«, meinte Ferdinand, »eigentlich kann man es ihm nich übelnehmen.«

Salomon schwieg, aber Naphtali verstand das Schweigen.

»Natürlich hat Joel gesagt, er wird sich die Sach' auch noch mal überlegen. Aber augenblicklich, meint er, hätt' er mit dem Geschäft und mit de Papiere, die doch jetzt so schlecht stehen, so e dicken Kopp, daß er sich gar nich drum kimmern kennte.«

»Mit den Papieren«, rief Salomon und schlug mit der Hand auf den Tisch, daß die Silberleuchter beinahe umfielen. »Mit welchen Papieren? Ich wüßte nicht, daß die vierprozentigen Stettiner Stadtprioritäten etwa schlecht ständen.«

»Nu«, sagte Naphtali, »verstehen Se, Joel meinte doch, er würde besser fahren, wenn er statt dessen andere nähme, die mehr bringen. Ich hab' ihm auch gleich gesagt, er soll lieber de Finger von lassen.«

Jetzt war es auch an Ferdinand, aufzubegehren.

»Nu geht dieser Lump doch wirklich an de Börse«, schrie er, »und verhandelt dein gutes Geld.«

»Wissen Se, Herr Jacoby, ich mein's gut mit Ihnen, aber Ihr Neffe is e Rindsvieh!« sagte Eli, der sich von seinem Staunen erst gar nicht erholen konnte. »E anständiger Mensch geht nich an de Börse und macht 's Geld von seine Frau alle, verstehen Se! Wir haben da als Jungens auf de Straße immer so e Spiel gespielt, an de Mauer mit Steinen und Kupferdreiern, und das hat immer wieder damit geendet, daß de großen Jungens de Dreier eingesteckt haben und de kleinen Jungens geweint haben. Genauso geht's an de Börse zu. Ich hab' Jettchen gleich gewarnt. Laß dir nich mit dem ein; kein anderer als du bleibst nachher an de Pfanne kleben.«

»Nja, ja«, sagte Jason sehr ruhig und blies den Rauch von sich. »Es ist doch eine feine philosophische Erkenntnis der deutschen Sprache, daß sich Betrag und Betrug nur durch einen Buchstaben unterscheiden!«

Der alte Naphtali wußte sich gar nicht zu retten, als er sich von so vielen Seiten angegriffen sah.

»Nu, meine Herren«, sagte er endlich, »es is ja nich gerade erfreulich, was ich Ihnen da mitzuteilen habe; aber was is da zu machen? Geht Joel heute 'raus aus de Geschäfte, kann's ihm bei Benjamins Kopf und Kragen kosten. Wartet er's ruhig e paar Monate ab – und aushalten kann er's doch jetzt –, wird er ebensogut e Vermögen wieder dran verdient haben.«

»Bei Benjamins«, rief Ferdinand, »mit Benjamins arbeitet Ihr Neffe! Hörst du, Salomon, das sind doch die Benjamins, die so die ganz kleinen Krawatten machen ... so klein, du spürst se erst gar nicht, wenn se dir um den Hals gelegt werden; aber mit einemmal – eh! – hängt dir auch die Zunge zum Halse 'raus!«

»Ja, Salomon«, sagte Jason, »dann würde ich aber an deiner Stelle die Angelegenheit doch sofort – ohne irgendwelche Rücksicht – zum Spruch bringen.«

»Gewiß«, versetzte Salomon, »das wäre eigentlich wohl das richtigste, aber ich werde es doch erst mit meiner Frau besprechen...«

»Er hat's immer mit de Frauensleute!« schrie Eli.

»... denn du kannst dir denken, Jason«, fuhr Salomon fort, ohne auf den Zwischenruf zu achten, »daß es mir nicht angenehm sein wird, mich mit unserem Neffen vor Gericht herumzuschlagen.«

»Aber das ist doch gar nicht nötig; eine Scheidung kann ja auch bei einseitiger Abneigung vollzogen werden, wenn – ich glaube, so heißt es im Gesetz – ›zur Erreichung der Zwecke des Ehestandes gar keine Hoffnung mehr bleibt‹. Und ich meine, das wäre wohl hier bei Jettchen der Fall. In der Geldsache kommt ihr dann vielleicht so auseinander.«

Aber Salomon wollte davon nichts hören, und auch Ferdinand meinte, man solle seine schmutzige Wäsche lieber im Hause waschen.

Rikchen war hereingekommen.

»Nu, wie ist's hier?« sagte sie. »Soll ich irgend etwas bringen lassen? Warum spielt ihr denn nicht mehr?«

»Wir sprechen eben über Jettchen«, meinte Eli, als die anderen schwiegen. »Mit deinem Neffen Julius hast de ja e scheenen Herrn in die Familie gebracht.«

»Ich erzähle dir das ein andermal«, unterbrach Salomon, der seine volle Ruhe wiedergewonnen hatte.

»Ja, Salomon«, sagte Rikchen, und an der sanften Freundlichkeit des Tons hörte Jason, daß irgend etwas drohte. »Hast du denn mit Jason gesprochen, wann Jettchen wieder herkommt?«

»Noch nicht«, antwortete Salomon, und man merkte ihm den Unmut an, mit dem er nun auf dieses Gespräch einging.

»Ja«, sagte Rikchen, »denn es geht wirklich nicht länger, daß Jettchen bei dir bleibt. Alle Welt regt sich drüber auf. Jeden Tag krieg' ich's zu hören, daß sich's nicht schickt. Und nicht genug damit, Jason, genierst du dich nich mal so weit vor de Leute, daß du sogar ihren Liebhaber bei dir empfängst!«

»Ja, da hat Rikchen eigentlich recht«, fiel Ferdinand ein. »Ich hab' mich auch drüber gewundert. Ich hab's erst gar nicht glauben wollen, wie's mir Hannchen erzählt hat.«

Jason Gebert war mit einem Ruck aufgesprungen und zerrte an seinem Halstuch.

»So«, rief er, »ihr wißt ja ebensogut wie ich, wo Jettchen jetzt wäre, wenn ich nicht gewesen wäre. Ihr könnt sie wohl nicht früh genug dahin bringen. Aber solange ich irgendwelchen Einfluß auf Jettchen habe, werde ich ihn auch dahin geltend machen, daß sie bei mir bleibt, da könnt ihr versichert sein! Und wenn ich bis heute Doktor Kößling in meinem Hause empfangen habe, dann wußte ich auch, warum ich es tun konnte. Soll ich vielleicht Jettchen noch das einzige nehmen, was ihr ihr gelassen habt? Das bißchen Hoffnung auf die Zukunft!«

»Man vermeidet auch den Schein vor den Leuten, lieber Jason«, sagte Salomon nicht unliebenswürdig, aber in jenem überhebenden Ton, mit dem ein älterer Bruder einem jüngeren Bruder eine Vermahnung gibt. »Ich find's auch unerhört!« rief Naphtali, der wieder Luft bekam, da er fühlte, daß man den Spieß umdrehte.

»Wenn se wirklich, wie Jason sagt – und Jason spricht nich de Unwahrheit, da kenn' ich ihn –, wenn se wirklich in Ehren zusammen sind, was geht's euch an?« polterte Eli. »Meintehalben soll se sich alle Tage mit ihm sehen!«

»Ja«, sagte Rikchen, und das war ihr letzter Trumpf, »und es wäre vielleicht auch deshalb gut, wenn Jettchen wieder zu uns käme, damit auf ihre Ausgänge ein bißchen mehr geachtet werden kann, als es jetzt geschieht!«

Gegen so viel Gemeinheit war Jason Gebert nicht gewaffnet, war er einfach wehrlos. Kein Wort brachte er vor. Er hätte vor Wut weinen mögen.

Nein, sie kamen nicht zusammen, er und diese; warum hatte er nicht schon längst das Tischtuch zwischen ihnen zerschnitten!

»Weißt du, Salomon«, sagte er, indem er nach der Tür ging, mit erzwungener Ruhe, und doch schlug er dabei mit der Stimme über, »ich will noch weiter. Es ist wohl auch besser, wir unterhalten uns in Zukunft über solche Dinge im Geschäft unter vier Augen.«

»Gewiß, Jason«, versetzte Salomon kühl und höflich, »das halte ich auch für richtiger.«

Tante Rikchen aber fühlte, daß sie ihre Mission erfüllt hatte, und rauschte wieder in das Eßzimmer zurück. Sie kam gerade noch zur Zeit, um Rosaliens Wundermären mit anzuhören: was sie schon alles für glänzende Partien hätte machen können, wenn sie nur gewollt hätte.

Das Mädchen geleitete Jason hinab, und nachdem es die schwere Haustür hinter ihm geschlossen hatte, stand Jason allein in der weißen, frostigen Winternacht. Es war wohl von neuem Schnee gefallen, denn die ganze Straße lag wieder in Silber da, zart und glatt, und bis in die Torwege, selbst bis hinter die Prellsteine zog sich dieses Silberweiß hinein, noch von keiner Fußspur und von keiner Wagenspur zerrissen. Jason zögerte mit dem Hinaustreten. Er empfand etwas wie Furcht davor, in die unberührte Fläche als erster seine Fußtapfen einzugraben; und als jetzt hinten in irgendeiner Nebenstraße ein Wächter die Stunde abrief, da kam ihm das wie ein Frevel vor an dieser weißen Stille ringsum, die doch so ganz weich und wesenlos war, so dumpf und abgeschlossen, daß Jason Gebert sein eigenes Blut rauschen und summen hörte.

Straßauf, straßab im Dämmer der Schneenacht und des matten Scheins der Laternen erblickte Jason Gebert keine Seele. Nur eine einsame Katze schlich über den Damm, und eine Schneelast vom Gesims fiel zu Boden und schmiegte sich lautlos dem Weiß der Straße an. Und weiter drüben hing die breite Front des Postgebäudes wie ein dunkler, heller gebänderter Teppich herab aus einem dunkleren und doch in sich seltsam leuchtenden Nachthimmel ... hing da plötzlich als ein mächtiger gemusterter Vorhang, unterbrochen noch von den schwarzen Höhlen der Tore und Durchfahrten.

Jason Gebert war mit sich unzufrieden. Wie ein Kind hatte er sich doch gehenlassen. Warum hatte er denn nicht ruhig seiner Schwägerin antworten können? Warum hatte er sich denn beim ersten Wort selbst verraten? Am Ton seiner Stimme hätte ja jeder sofort hören können, um was er eigentlich kämpfe. Kaum daß nun ein paar Monate seine Seele zur Ruhe gekommen war; kaum daß er nun ein paar Monate nicht mehr die Abende durch die Straßen geirrt war wie ein herrenloser Hund, die halben Nächte, mit all seiner Unrast und seinem Unfrieden; kaum daß er nun ein paar Wochen zu Hause nicht aufgepeitscht worden war, in den Stunden, wenn plötzlich die bange Einsamkeit um ihn Worte sprach und all seine Welten sich vor ihm verschlossen und er so ganz allein in seiner armseligen Nacktheit stand – da wollte man ihn wieder in sein altes Elend zurückstoßen. Nein, Jettchen konnte nicht sagen, daß er zuviel bei ihr war. Er sah sie oft kaum zwei Stunden am Tage; aber wenn er auch drüben in seiner Bibliothek saß, so fühlte er doch ihre Gegenwart. Ja, es war ihm oft, als stände sie leibhaftig hinter ihm. Wenn sie fortgegangen war, eilte er vor in ihr Zimmer, und er setzte sich zu seinen Porzellanen; und während er die betrachtete, fühlte er ihre Nähe, atmete noch dieselbe Luft mit ihr. Die Bücher und Zeitungen lagen dann, wie Jettchen sie verlassen, und auf den Auflagen der Fensterbank sah er den Eindruck ihrer bloßen Arme. In den Dämmerstunden, wenn er dann hineinging, mit Jettchen zu plaudern, und wenn im sich mehrenden Dunkel langsam die Gestalt vor ihm verschwamm, bis nur noch das Weiße ihrer Augen leuchtete – dann mochte er wähnen, daß sich ihr Wesen in der Atmosphäre löse und ihn ganz umfinge. Und das kamen die draußen ihm entreißen! Kamen, ihn wieder müde und elend zu machen wie zuvor.

Endlich wandte sich Jason zum Gehen. Ganz langsam hinkte er aus dem Torweg in den Schnee hinaus, als fürchte er immer noch, seine Spuren darin einzugraben. Von oben warf – das sah er – die Reihe der Fenster in die Dunkelheit eine breite Helligkeit hinaus, deren Schein doch plötzlich in der Nacht ertrank und nicht einmal mehr drüben das Haus traf. Und Jason Gebert ballte die Fäuste nach diesem hellen Schein, von dem er sich so ausgeschlossen fühlte; und die ganze Bitterkeit seines Herzens machte ihn fast schluchzen.

Aber da kam jemand quer über die Straße mit einem flatternden Mackintosh; drüben vom Postgebäude aus einem Tor hatte sich plötzlich die Gestalt gelöst.

»Herr Gebert!« rief es.

»Ach, Herr Doktor Kößling, hier warten Sie auf mich? Das ist aber heute kein Wetter zum Promenieren, wie im April. Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich hier bin?«

»Ich sprach Jettchen auf dem Flur. Ich kam später heute; ich konnte nicht eher. Aber ich muß noch mit Ihnen reden. Deswegen habe ich hier gewartet, drüben im Durchgang, die ganze Zeit über.«

»Na, gehen wir noch irgendwohin – zu Drucker vielleicht? Er wird schon noch offen haben. Wenn nicht, klopfen wir den Markör heraus. Gegen ein gutes Douceur kommen wir noch überall hinein.«

Aber Kößling antwortete darauf nicht und ging in ganz langen Schritten, den Mantel eng um die Hüften ziehend, neben Jason, der vorsichtig durch den Schnee hinkte und sich bei jedem Schritt auf sein langes Palmenrohr mit dem Silberknopf stützte. Fast bis an die Knöchel sank man in diese weiche, fluddrige Decke ein, und jedesmal, wenn man den Fuß hineindrückte, gab der lockere Schnee einen knirschenden Laut. So still war es dabei, daß Jason selbst das zarte, silbrige Klingeln hörte, wenn die Berlocken an seiner Chatelaine zusammenschlugen.

»Ja, Doktor, was ist denn?« sagte er und blieb an der Ecke der Königstraße stehen, beide Hände auf dem Stockknopf vereint.

Kößling antwortete nicht.

»Nun, was gibt's«, meinte Jason noch einmal, und er ließ dabei rechts und links die Blicke wandern, die weiße, tote Straße mit den gespenstischen, weißumränderten Häusern hinab und hinauf und die langen, spärlichen Reihen zitternder Lichtlein hüben und drüben entlang. Das große Gebäude gegenüber war ganz finster und traurig, nur ein kleiner Anbau stand da – hell, vom Schnee ganz überschüttet, vom Reif ganz überzogen – und sah im flackernden Schein der Gaslaternen einem geschnitzten Wunderwerk aus glitzerndem Alabaster gleich.

»Ja«, sagte Kößling endlich, »ich habe heute früh böse Erfahrungen gemacht.«

»Auf der Bibliothek?« fragte Jason erschrocken.

»Da bin ich seit heute nicht mehr, Herr Gebert«, sagte Kößling und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Schade«, sagte Jason mit ganz schmalen Lippen, und er war wirklich bestürzt; denn alles, was er für Kößling ins Feld führen konnte, war eben jene Stellung oder richtiger jene Beschäftigung mit der Aussicht auf staatliche Anstellung, die Kößling jetzt seit wenigen Monaten hatte.

»Und wie kam das?« fragte Jason nach einer Weile des Schweigens und wandte sich zum Gehen, wandte sich nach dem Schloßplatz hin.

»Darüber möchte ich lieber nicht sprechen, Herr Gebert.«

»Ja, das müssen Sie wissen. Eigentlich genügt mir ja auch die Tatsache.«

»Oh«, schrie Kößling durch die Winternacht und blieb vor Jason Geben stehen und packte ihn an den Schultern, »es ist eine Niedrigkeit; wenn es mich nur allein beträfe, ich würde nichts sagen. Denunziert hat man uns, in der gemeinsten Weise; mit den giftigsten, haltlosesten Verleumdungen ist man gegen uns vorgegangen!«

Jetzt war es auch an Jason, darüber erregt zu werden.

»Was ist los, Doktor?«

»Also – man läßt mich rufen.«

»Wer?«

»Professor Wilken. Aber es war noch ein Rat vom Kultus da, ein junger, kleiner, blasser Mensch, irgendein angehender Auditor oder Richter von der Universität, glaube ich. Ich kannte ihn nicht. Man müsse mir eine Vermahnung erteilen, sagte er. Mein Lebenswandel gäbe zu öffentlichen Ärgernissen Anlaß; es wäre stadtbekannt, daß ich unlautere Beziehungen unterhielte zu einer verheirateten Frau, die von ihrem Mann getrennt lebe. Solange das nur Gerüchte waren, hätte noch kein ausreichender Grund vorgelegen, dagegen einzuschreiten; aber jetzt wäre eine Anzeige eingelaufen, und da könne man es nicht weiter unberücksichtigt lassen. Ein derartiges offenkundiges Verhältnis ließe sich mit der Würde und dem Ansehen eines zukünftigen Königlichen Beamten und Bibliothekars nicht vereinen; aber man würde es trotzdem dieses Mal – auf die Fürsprache des Professors Wilken hin – mit einem Monitum bewenden lassen, wenn von mir das Versprechen gegeben würde, durch mein Verhalten dem Gerücht keine neue Nahrung zuzuführen. An jedes Wort erinnere ich mich!«

»Und was sagten Sie ihm?«

»Nun – ich blieb eben nicht ruhig. Ich sagte ihm, daß mein Privatleben derart wäre, daß es keiner Einmischung bedürfe und daß ich deshalb jede Einmischung von der vorgesetzten Behörde strikte ablehnen müßte; wenn er es aber wagen würde, die Beleidigungen, die er hier in seiner amtlichen Eigenschaft gegen den Ruf einer Dame geäußert hätte, mir gegenüber vielleicht noch einmal als Privatmann zu wiederholen, so würde er von mir sofort die gebührende Antwort erhalten. – Sie hätten das Gesicht sehen sollen! Wilken war ganz entsetzt aufgesprungen. ›Aber Herr Doktor‹, rief er, ›bitte, nehmen Sie doch Vernunft an.‹ Eine ganze Weile dauerte es, bis der kleine, blasse Mensch sich faßte. ›Als Privatmann‹, sagte er, ›habe ich nicht die Ehre, Sie zu kennen, und enthalte mich jeglichen Urteils. In meiner amtlichen Eigenschaft aber habe ich Ihnen noch weiter mitzuteilen, daß es mit der Gesinnung eines zukünftigen Königlichen Beamten für unvereinbar betrachtet werden muß, im Hause eines Menschen ein und aus zu gehen, der den Aufsichtsbehörden seit langen Jahren als politisch verdächtig bekannt ist und der – wie Sie wohl nicht wissen – schon einmal in eine peinliche Untersuchung wegen Geheimbündelei verwickelt war.‹«

»Diese Hunde ... Hunde!« schrie jetzt Jason durch die Nacht, in Gedanken an die alten, qualvollen Monate. Er hatte ein Gefühl dabei, als risse man ihm da innen eine Narbe auf.

»Oh«, sagte Kößling, »ich höre noch jedes Wort. Ich könnte die ganze Szene malen. Das kahle Zimmer, ein paar Stühle an der Wand, ein paar alte Bilder – Männer darauf mit großen grauen Perücken –, ein kleines birkenes Tischchen dann mit einem ganz großen Tintenfaß, einem Stoß Papier und den Akten daneben. Unten im Erdgeschoß war es, und ganz hell war der Raum vom Schnee draußen.«

Kößling stieß mit dem Fuß in die weiße Decke.

»Da sitzt Wilken; hier der kleine, blasse Rat im flaschengrünen, langen Rock, und ich stehe mitten im Zimmer. Mir hat man keinen Platz angeboten. Oh, Herr Gebert, ich blieb ihnen wirklich die Antwort nicht schuldig. Ich werde mir meinen Umgang, sagte ich, nie vorschreiben lassen, und ich scheide mit diesem Augenblick aus dem Dienst, da ich nicht weiter einer Behörde unterstehen kann, die vorgibt, der freien Wissenschaft die Wege zu bahnen, und statt dessen Gesinnungsschnüffelei treibt. Als ich das gesagt hatte, sprang der kleine Rat auf und griff nach seinen Akten. ›Ich verlasse dieses Zimmer‹, quiekte er; aber Wilken – er meinte es vielleicht gut – sprach mir noch eine ganze Weile zu und suchte beizulegen. Ich wäre jetzt erregt und wöge deshalb die Worte nicht. In ruhigen Stunden müsse ich mir selbst sagen, daß man nur mein Bestes wolle. Wenn ihm nicht an meiner Mitarbeit läge und wenn er für die Wissenschaft keine Hoffnung in mich setze, so hätte er ja einfach in die Entlassung willigen können, die man von vornherein – ganz ohne Angabe des Grundes – beabsichtigt hätte; und ich solle jetzt ruhig wieder an meine Arbeit gehen, er würde mich dann noch einmal zu sich rufen lassen. Dann würde ich wohl anderen Sinnes geworden sein. Für mein Benehmen jetzt eben könne nur meine Jugend als Entschuldigung gelten, aber er würde schon alles wieder ins Lot bringen.

Aber ich antwortete ihm, daß es zwecklos wäre und daß ich in einer Stunde auch nicht anders sprechen könnte, als ich es hier getan hätte. Man hätte hier von einer edlen Frau und einem Manne, dem ich unendlich viel in jeder Weise verdanke, gesprochen, als ob es sich um Gesindel handele, und man hätte meine Beziehungen zu dieser Frau, die nicht das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen brauchen, in einer Weise gedeutet, auf die es für mich und jeden Menschen von Ehre nur noch eine Antwort gäbe. Aber da ich ihm eben diese Antwort nicht geben wolle und dürfe, so möchte man mir wenigstens sagen, von welchem Buben diese Verleumdung herrühre, damit ich ihn züchtige. Das hat man natürlich nicht tun wollen; aber ich werde es schon herausbringen, und wenn ich die Tage und Nächte daransetzen sollte.«

Jason zuckte die Achseln. »Warum, Herr Doktor«, sagte er, »sind Sie denn der Meinung, daß Ihre Wunde weniger blutet, wenn Sie den Hund prügeln, der Ihnen heimtückisch in die Waden gefallen ist?«

Darauf wußte Kößling nichts zu entgegnen und biß nur auf seine Unterlippe.

»Ja«, sagte Jason und hielt im Gehen, »ziehen wir das Fazit: Sie sind also nun nicht mehr an der Bibliothek.«

»Ich habe sogleich dem Direktorium«, meinte Kößling, »mein Entlassungsgesuch eingereicht und um sofortigen Dispens bis zur Gewährung gebeten.«

»Wissen Sie auch, daß das unklug war? Man legt sich nicht an mit der ›russischen Regierung‹.«

»Und Sie, Herr Gebert, was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?«

»Ich? Wohl das gleiche. Aber wer sagt Ihnen denn, daß ich klug handle?«

Sie waren jetzt beide auf der Langen Brücke angekommen. Oben, ihnen zu Häupten, ritt der Kurfürst durch die Winternacht. Sein weißer Hermelin wehte hinter ihm her, und erstarrt in schreckhaften Stellungen wanden sich die eingehüllten Sklavenleiber unter den Hufschlägen seines Rosses. Die Uferwege lagen ganz hell; und schwarz, tiefschwarz preßte sich die unheimliche Flut zwischen ihnen hindurch. Eisnadeln und Platten trieb sie gegen die Brücke in einem ununterbrochenen Knirschen, Schleifen und Knistern, das durch die stille Schneenacht zu den beiden heraufdrang. Weiter unten spannen sich noch andere Brücken gleich weißen Webeketten von Ufer zu Ufer; und drüben tauchten vor ihnen auf dunklem Grund die mächtigen Umrisse des Schlosses auf, hoch hinauf, bis zu den lichten Figuren, die sich scharf gegen den dumpfen Nachthimmel abhoben. Aber unten auf dem weiten Platz erschienen die langen Budenreihen dagegen, über denen so ein rätselhafter, spärlicher Lichtschimmer lag ... erschienen in ihren Schneelasten dagegen wie die hohen weißen Wogen eines Sees, die nun ein Machtwort hatte erstarren lassen, ehe sie noch ihre Wut gegen das schwarze Mauerwerk richten konnten.

»Ja«, sagte Jason nach einer ganzen Weile des Sinnens, während immer noch sein Blick auf dem Winterbild vor ihm ruhte. »Ja, Doktor, was nun? Was werden Sie nun tun?«

»Daran habe ich noch nicht denken können. Ich weiß nur, daß ich das fortwerfen mußte.«

»Erinnern Sie sich, Doktor, was Börne einmal sagt?« versetzte Jason und wollte sich zum Gehen wenden. »Wir haben und sie behalten recht, sagte er; so wird es Ihnen auch gehen. So geht es Leuten unseres Schlages immer. Wollen Sie nun wieder nur schreiben? Gott, wenn Sie erst mal wie Raupach hier für den Akt zwanzig Dukaten bekommen, können Sie ja sicherlich ganz gut dabei existieren.«

Kößling faßte das Brückengeländer, griff mit beiden Händen tief in den Schnee hinein. »Ich weiß nicht, Herr Gebert, ob ich je wieder etwas schreiben werde. Ich habe seit Monaten für mich kaum die Feder angerührt. Vielleicht habe ich es mir bisher nur eingeredet, ich hätte etwas zu sagen. Man glaubt ja so vieles von sich. Hören Sie, was ich jetzt spreche. Ich kann nicht mehr zu Haus sein; ich laufe fort, die Nächte lang. Ich sitze die ganzen Nachmittage, die ganzen Abende seit Wochen und Wochen beim Schachbrett. Ich wüßte nicht, was ich sonst tun würde. Sie werden mich nicht verstehen; aber wenn in meinem Hirn sich die schwarzen und gelben Steine untereinander schieben, dann bin ich glücklich, dann habe ich keine anderen Gedanken, keine andere Empfindung mehr. Sie marschieren da, bilden da Figuren, stellen sich da zu Reihen und Quadraten und lösen sich wieder in den seltsamsten, unmöglichen Opfern. Noch Stunden, nachdem ich vom Brett aufgestanden bin, bis in meine wirren Träume spinnt sich das fort. Die Kinder sollen über ihre Spielsachen das Weinen vergessen. Lieber Herr Jason Gebert, ich glaube, ich würde weinen, die ganzen Abende weinen vor Sehnsucht und Elend, wenn ich mich nicht im Schach betäuben könnte. Ich spiele da immer mit einem Manne von vierzig Jahren, einem Witwer, dem die Frau vor kurzem gestorben ist; wir sitzen uns beide ganz stumm gegenüber – keiner spricht eine Silbe – und schieben die Steine, das Roß, den Läufer, den Turm, die Dame. Partie folgt auf Partie – wir merken uns kaum, wer gewonnen hat; immer wirrer werden unsere Züge, immer unüberlegter, und doch wagen wir nicht, vom Brett aufzustehen, denn wir wissen beide: nur hier sind wir geborgen, und schon an der Tür lauert es vielleicht wieder auf uns. – Wir haben uns das nie gesagt, nur der Blick des anderen sagt es, wenn ich mich erheben will. Wirklich – manchmal in stillen Nächten, da möchte ich die Hände ringen und beten!«

»Kößling, Kößling«, rief Jason, »erinnern Sie sich, was ich Ihnen vor bald einem Jahr sagte, als wir beide an der gleichen Stelle standen. Damals in der Mondnacht? Ja? Das Leben ist ein Strom, sagte ich Ihnen, und in dem müssen wir schwimmen, so lange schwimmen, bis wir untergehen. Was haben Sie inzwischen gemacht? Ein paar Schläge – und schon sind Sie müde, und schon sind Sie verzweifelt. Ich schwimme nun schon fast zwei Jahrzehnte länger als Sie in dem gleichen Strom, und ich habe mehr Elend – geistiges, körperliches und seelisches – gekostet als Sie! Und wenn meine Schläge auch schwächer werden, ich halte durch, bis mir das Wasser über dem Kopf zusammenschlägt. Ich werde mich nie betäuben. Und auch im letzten Augenblick werde ich mich nicht an den brüchigen Strohhalm des Gebetes klammern!«

»Herr Gebert, was wissen Sie denn von mir und meinem Leben? Ich habe gehungert, und stolz gehungert, wenn die anderen neben mir satt waren; aber solch ein Leben, ausgeschlossen sein von allem, das macht bitter. Sie vermochten doch Ihre Freude an der Schönheit zu finden. Sie hatten Ihre Porzellane, Ihre Bücher, Ihre Stiche. – Ich bin immer nur wie ein Bettler um die Türen gelaufen. – Sie meinen, daß das nichts wäre und daß mir ja vielleicht dafür die Bäume des Waldes, die Blumen, die Wolken und die Worte der Dichter ebenso gehört hätten? Weiß ich denn, wie ein Frühling aussieht? Bin ich nicht immer durch diese Welt gehetzt und gejagt, in ewiger Sorge um das bißchen Leben? Ich kann mich nicht der Zeit erinnern, daß ich mal sorglos im Gras gelegen hätte – immer mußte ich weiter! Als Junge, ja, da habe ich einmal eine Harzreise gemacht, vom Geld, das ich mir vom Stundengeben abgespart hatte; und es regnete, regnete, regnete – früh und spät; doch ich sah wenigstens einmal, daß es grüne Bäume gibt, und bemerkte, daß der Wald auch im Regen duftet. Aber am letzten Tag, Herr Gebert, wie ich meinen letzten Taler angriff, da wußte ich schon wieder, daß ich weiter gejagt würde – von Morgen zu Morgen; daß ich von jetzt an nicht eine Stunde mehr am Wege ruhen könnte; und es gab im Augenblick keine grünen Bäume mehr für mich, und kein Wald duftete mehr für mich. Und so ist das nun stets gewesen, bald durch zwanzig Jahre – solange ich denken kann! Von der Stunde an, wo ich von der Volksschule ins Gymnasium kam, bis heute nacht. Gewiß, Dichterworte und Dichterträume hat es auch für mich gegeben; aber das Leben mit der Knute hat mich stets von neuem aus ihnen hinausgepeitscht. Und von dem, was unser Dasein vergolden soll, von dem, was unsere tiefsten, goldenen Stunden sein sollen, was habe ich denn davon bisher kennengelernt und heimgetragen? Herr Gebert, ich sage Ihnen, nur ein paar ganz armselige Erinnerungen, die so kümmerlich und roh sind, daß mich jedesmal schaudert, wenn sie nur in mir auftauchen.«

Die beiden waren indessen, ohne daß sie wußten, wohin sie ihre langsamen Schritte durch den Schnee lenkten, an der Spree entlanggezogen, den Uferweg, die Burgstraße hinabgewandelt, an verschneiten Zillen vorüber, die so ganz still und tot im Halblicht lagen. Von jenseits über das gurgelnde Wasser sah immer noch der phantastische Schloßbau mit der wechselnden Höhe seiner dunklen Geschosse und den krausen Linien seiner Dächer.

»Ich verstehe Sie, Doktor«, begann Jason langsam und leise; als es aber zu Ende ging, da sprach er hastig und laut. »Ich verstehe Sie, Doktor, und ich verstehe Sie doch wieder nicht. Sie mögen vielleicht recht haben mit dem, was Sie sagen. Ich habe mir da, für das, was ich eingebüßt habe, solch ein paar kleine, mühselige Freuden am Leben erkämpft, und Hunger gelitten habe ich eigentlich nie; auch nicht der goldenen Stunden entbehrt, von denen Sie sprachen. Aber wissen Sie, Kößling, ich habe doch Hunger, mein Leben lang stets bittern Hunger gelitten nach dem einen, was Sie gefunden haben und was Ihnen, ohne daß Sie einen Finger darum geregt haben, ohne Verdienst und ohne Mühe zugefallen ist. Oh, was sind Sie doch undankbar! Und wenn man mir sagen würde, ich sollte von hier bis Potsdam mit bloßen Füßen durch den Schnee laufen, um mit Ihnen tauschen zu können: hier, auf der Stelle, im Augenblick zöge ich meine Stiefel aus; und ich bin doch heute schon ein alter Bursche, der wirklich entsagen hätte lernen können. Sie neiden mir, Doktor, meine goldenen Stunden! Nun, ich will Ihnen auch nicht gram sein. Sie haben mich die immer wieder siegende Macht des Lebens gelehrt; aber was es heißt, ganz und für ewig in den Gedanken und Sinnen einer Frau leben, die so schön ist wie klug, so anbetungswürdig wie rein – das habe ich nie erfahren. Und das habe ich gesucht und gesucht, straßauf und straßab, mit wunden, lahmen Füßen, bis ich so steif und so grau wurde, wie ich es heute bin.«

»Vielleicht haben Sie recht, Herr Gebert, all das, was ich Ihnen da gesagt habe, wäre undankbar und schlecht von mir, wenn ich wüßte, sicher wüßte, daß Ihre Worte eben Wahrheit waren. Gewiß, ich will's mich ja auch immer wieder glauben machen, aber gerade da ich von Tag zu Tag mehr fühle, daß sie nicht wahr sind, da ich erkenne, wie die Geliebte meinen Händen und meiner Seele immer von neuem entschwindet und ich immer wieder ihr nach ins Leere greife, da ich fühle, wie wir uns voneinander entfernen, auch wenn wir uns zueinander flüchten – gerade deshalb bin ich ja jetzt immer so grenzenlos verzweifelt. Was habe ich denn für einen Teil an Jettchens Leben? All ihre Kämpfe hat sie stumm gekämpft, und die ganze Luft ihres Lebens, in die ich eindringe, sie wird mir nicht mehr als ein fremder Hauch. Was wissen wir beide denn bis heute voneinander? Sagen Sie mir das!«

»Und was sie Ihretwegen getan hat? – Wer so handeln kann, Doktor?«

»Oh, das habe ich mir ja hundertmal schon vorgehalten. Aber endlich: Galt es nicht ebensosehr ihr wie mir? Galt es nicht vielleicht Ihnen? Galt es nicht der ganzen Welt, in der sie einzig leben kann?«

»Herrgott im Himmel!« rief jetzt Jason, und er sprach da ganz gegen besseres Wissen, denn Kößlings letzte Worte hatten ihn doch seltsam verwirrt und betroffen. »Herrgott im Himmel! Was sind doch Verliebte für komische Leute! Ich habe noch nie in meinem Leben Verliebte kennengelernt, die sich nicht gegenseitig durch nutzloses Grübeln das Leben schwer machten, statt daß sie dem Schicksal die Hände küssen und dem da oben danken, wie gut sie es haben. – Ich glaube nun dem jungen Herrn heute etwas Angenehmes sagen zu können, und er tut, als ob alles für ihn verloren wäre. Ich bin heute abend bei meinem Bruder gewesen, hören Sie, und wir haben natürlich über Jettchen gesprochen, und es scheint mir, als ob man beginnt, sich mit der Sache abzufinden. An eine Einigung ist gewiß noch nicht zu denken, aber schon, daß man bei uns den Willen hat, die Sache um jeden Preis zu Ende zu führen, und daß kein Mensch mehr versucht, Jettchen im anderen Sinne zu beeinflussen, schon das ist eigentlich für heute Sieg genug. Aber kommen Sie, Doktor, mir ist kalt, ich erzähle es Ihnen dann.«

Und sie bogen vom Wasser ab, bogen in die Neue Friedrichstraße, die ganz schmal sich zwischen den dunklen Häuserreihen vor ihnen auftat, mit einem dünnen, ungetrübten Band von Weiß. Ganz glatt lag es im Licht der wenigen Laternen, die an den Ecken ihre eisernen Arme ausstreckten.

»Herr Gebert«, begann Kößling, »Sie müssen mir verzeihen, was ich eben sagte; Sie müssen mir versprechen, nicht mehr daran zu denken. Die Szenen auf der Bibliothek, alle diese schwere Einsamkeit, die letzten Wochen, das hatte mich übermannt. Gewiß, ich war ungerecht, ich sage es mir ja selbst, wenn ich mir all das in Ruhe überlege.«

»Oh«, unterbrach ihn Jason, »seien Sie versichert, ich werde es Ihnen nicht nachtragen. In solch einer stillen Nacht, da redet man ja manches hin, was bei Licht nicht bestehen kann. Aber nun will ich Ihnen erzählen. Hören Sie!«

Und Jason sprach. Er erzählte, daß er ganz überrascht gewesen sei, wie gut die Sache für sie beide stände. Sein Bruder hätte, ohne daß er davon eine Ahnung gehabt hätte, schon Vorschläge gemacht, die er für sehr generös halte und in denen er das erstemal seit Jahren die wahre Natur Salomons wieder gesehen hätte. Natürlich wäre man noch nicht darauf eingegangen; aber er erblicke doch darin einen Anfang, und schon das müsse sie beide freuen und ermutigen.

Jason kam ganz in Feuer und ließ die Dinge weit rosiger erscheinen, als sie doch ausschauten. Ja, er sagte, daß er jetzt gar nicht mehr an einem glücklichen Ausgange zweifeln könnte. Welchen Abschluß aber diese Unterredung gehabt, davon erzählte er Kößling nichts. Warum sollte er auch Doktor Kößling das anvertrauen?

Und Jason war gerade daran, sich selbst in diese aussichtsreiche Auffassung hineinzutrügen und ihr sogar musikalischen Ausdruck zu verleihen, indem er – durch eine merkwürdige Gedankenverbindung verleitet – die Ouvertüre aus »Der Templer und die Jüdin« zu pfeifen begann, als er neben sich ein Haustor knarren hörte, einen Schlüssel schließen hörte, und da sah er, wie sich ein Tor öffnete und im Spalt der bloße Kopf des braven Vetters Julius auftauchte, um gleich wieder zu verschwinden. Nicht länger dauerte das, als der Fischotter im Bach den Kopf heraussteckt, um Luft zu schöpfen, und wupp wieder untertaucht. Aber für Jason Gebert genügte es. Dann aber tuschelte und raunte es im dunklen Hausgang, und eine junge Person mit heller, flatternder Chenille und hohem Federhut und Haaren so rot, daß man einen Dachstuhl daran anstecken konnte, trat heraus, schnippte links und rechts mit dem Kopf und tappte vor den beiden her, mit den spitzen Stiefeletten durch den neuen Schnee.

Herrgott, sagte sich Jason, wo hast du denn die schon gesehen? Und plötzlich war es Jason Gebert, als spüre er in der kalten Dezembernacht den Hauch eines warmen Frühlingsabends, und er sah eine Rosenbergsche Droschke an sich vorbeischwanken, schwer bepackt und vollgestopft mit allerhand johlendem und quiekendem Weibs- und Mannsvolk. Und oben auf dem Bock saß neben dem Kutscher der neue Vetter Julius und schwenkte eine leere Weinflasche, die er auf einen Stock gesteckt hatte, und neben ihm, halb auf ihm, saß in armseliger, heller Kattunfahne, um die Hüften gehalten von des neuen Vetters männlichem Arm, eine große rote Person. Richtig, das war sie. Damals trug sie noch nicht solchen Chenillemantel und noch nicht solchen teuren Italiener; aber das war sie.

»Onkel Naphtali hat ganz recht, lieber Doktor«, begann Jason schmunzelnd nach einer ganzen Weile, während die rote Person hinten im Dämmern um eine Ecke verschwand. »Unser verehrter Freund Julius Jacoby scheint wirklich meist bis in die späte Nacht eifrig im Geschäft tätig zu sein!«

»Wie kommen Sie darauf, Herr Gebert?« fragte Kößling erstaunt, denn er hatte, wie das so seine Art war, nichts gehört und nichts gesehen.

»Oh«, sagte Jason, »das fiel mir eben so ein.« Und dann summte er weiter vor sich hin. Jetzt war er bei der »Schweizerfamilie«: »Setz dich, liebe Emmeline, setze dich recht nah zu mir!«

Eigentlich war der Vetter Julius gar nicht so übel. Immerhin ... er hatte doch menschliche Seiten.

Langsam tappten die beiden an den Häusern entlang durch den frischen Schnee. Wie das so oft geht, war die schwere Stimmung Kößlings plötzlich umgeschlagen, und der Wind von Lebenslust schwellte ihm die Segel und trieb sein Schiff. Das würde doch nun alles gut werden, und er würde sich ja immer durchschlagen. Endlich war seine Stellung bei der Bibliothek ihm ja doch nur eine Zuflucht gewesen und, genau betrachtet, ein Irrtum und eine Ablenkung von seinem eigentlichen, innersten Beruf. Jetzt würde er schon etwas zuwege bringen.

»Na, Herr Doktor«, sagte Jason, und es war, als erriete er Kößlings Gedanken, »was wollen Sie nun beginnen?«

»Arbeiten, Herr Gebert!«

»Ich werde Ihnen etwas sagen, geben Sie doch Pfennigmagazine heraus.«

Kößling lachte. »Das ist vielleicht ein guter Gedanke, Herr Gebert, denn mit schlechtem und jämmerlichem Geschmack ist immer viel Geld zu verdienen; aber ich will es doch lieber nicht tun. Nein, ich habe andere Dinge vor. Ich freue mich, daß ich von Büchern nichts mehr höre und sehe. Ich will etwas ganz Unabhängiges schaffen, etwas aus dem Heute, aus dem Berlin von jetzt, oder will vielleicht eine Handwerkergeschichte aus meiner Heimat schreiben. Das kenne ich, das habe ich miterlebt.«

»Ja«, sagte Jason, »Sie haben gewiß recht. Manchmal will es mir scheinen, daß wir uns alle aus dem Leben herausstudiert haben und uns nun wieder hineinleben müssen. Ihre letzten Arbeiten gefielen mir deshalb nicht, sie hatten einen so Jean-Paulisierenden Stil – der ist nicht Ihr Eigentum, der liegt Ihrem Wesen nicht, das müßten Sie doch lieber ›uns anderen‹ lassen.«

Kößling lachte ganz laut durch die Nacht.

»Aber«, sagte Jason Gebert und blieb stehen, »was nun, Doktor? Trinken wir noch eine Flasche Chambertin? Schleiermachers Leibwein, Doktor! Denn es ist verteufelt kalt, und ich möchte endlich wieder einmal unter Dach und Fach kommen.«

Aber Kößling bat Jason Gebert, er möchte ihm verzeihen, wenn er es nicht täte. All das, was er heute erlebt, hätte ihn mitgenommen, und dann wäre er zugleich jetzt so beschäftigt mit seinen Plänen, es strömte so auf ihn zu, und er möchte nicht, daß seine Gedanken im Dunst der Weinstube gleich wieder verflögen.

»Denken Sie doch an Hoffmann«, sagte Jason.

»Nein, Herr Gebert, ich glaube nicht, daß Hoffmann in die Weinstube gegangen ist, wenn er mit seinen Gespenstern allein sein wollte; ich meine: erst wenn er nach Hause schwankte und auf den leeren, weiten Gendarmenmarkt trat; sowie er sich an den Schreibtisch setzte, da erst wurden seine Gestalten und Geister lebendig, zerrten ihn am Rock und zogen ihn am Haar, rissen ihn hin und her und spielten endlich Fangball mit ihm. Und nicht um sie zu bannen, sondern um ihnen zu entfliehen, ist er dann wieder die halben Nächte hindurch, fast bis zum Morgengrauen, in die Weinhäuser gegangen. Eigentlich war er nur nüchtern, wenn er trank.«

Sie waren indes schon wieder in die breite, licht- und schneehelle Königstraße eingebogen, hatten sich durch die hohen, zerfahrenen Schneeflächen des Damms getappt und standen schon wieder – den Schnee von den Schuhen klopfend – an der Ecke der Königstraße, unter einer zuckenden Gasflamme.

»Also adieu, Doktor, ich will nicht daran schuld sein, daß Bacchus bei Ihnen die Musen und Charitinnen verjagt. Wenn Sie irgend etwas wünschen, irgendeinen Rat haben wollen oder vielleicht etwas anderes brauchen, so wissen Sie ja, wo Sie jederzeit anklopfen dürfen.«

Aber als Jason das sprach, da sah er drüben schnabbernd und breit eine Gesellschaft von Menschen auftauchen, Ferdinand und Max und Eli, Minchen und Hannchen – seine Leute. Und da es ihm nicht lieb war, etwa von ihnen gesehen zu werden, so zog er schnell seinen Hut, machte kehrt und hinkte nach Hause, während Kößling noch einen Augenblick stehenblieb und ihm nachblickte.

Als Jason dann nach oben kam, sah er noch in Jettchens Stube Licht, und er klopfte, um zu hören, ob sie schon schliefe.

Jettchen hatte bis jetzt auf Jason gewartet; aber nun, als sie ihn kommen hörte, hatte sie doch nicht den Mut gefunden, ihm entgegenzugehen, denn es sollte nicht aussehen, als ob sie seinetwegen so lange munter geblieben wäre. Und dann fürchtete sie sich auch davor, üble Nachrichten zu hören. Desto lieber also war es ihr nun, daß Jason selbst klopfte und fragte, ob er sie noch sprechen könnte.

Jason war guter Dinge, das sah Jettchen sogleich. Er erzählte, daß er jetzt das erstemal den Eindruck gewonnen hätte, daß ihre Sache nicht schlecht stände; ja, man hätte sich sogar schon fast völlig mit dem Gedanken einer Scheidung vertraut gemacht. Onkel Salomon hätte in großmütigster Weise Vorschläge getan, die natürlich nicht angenommen worden wären, aber – immerhin – das wäre doch ein vernünftiges Wort von ihm gewesen und endlich, endlich ein Anfang. Tante Rikchen hätte zwar gewünscht, daß Jettchen sogleich in ihr Haus zurückkehre; aber er hätte dem mit aller Macht widersprochen. Das könne sie ja später noch immer tun, wenn die gerichtliche Scheidung erst im Gange wäre. Bei Tante Rikchens schöner Art, stets wieder auf das zurückzukommen, was sie wolle, und mit allen Mitteln zu versuchen, ihren Kopf durchzusetzen, würde sie ja Jettchen das Leben jetzt zur Hölle machen. Da wäre es schon besser, sie bliebe noch einige Zeit bei ihm.

Jettchen war ganz erregt über die Nachricht. Alles Traurige, der dumpfe Druck der Bekümmernis, unter dem sie nun Wochen und Wochen dahingelebt, hatten sich plötzlich von ihr gehoben, und es durchströmte sie wie eine warme Welle von Lebenslust und Lebensmut. Und ehe Jettchen noch recht wußte, wie das geschah, und ehe Jason noch recht wußte, was das bedeute, hatte Jettchen auch schon ihre beiden bloßen Arme – denn sie trug gerade einen weinfarbenen Morgenrock mit offenen Ärmeln – um Onkel Jasons Schultern gelegt und Onkel Jason auf den Mund geküßt und noch einmal rechts und links auf die Backen geküßt und dann ganz lange wieder auf den Mund aus einem plötzlichen Gefühle der Dankbarkeit. Und dann senkte Jettchen den Kopf und schluchzte auf; aber das war nicht vor Unglück, sondern vor Freude, daß es nun gut würde.

Jason machte sich schwer los. Alles Blut war ihm zu Kopf geschossen. Solange sich auch Jason erinnerte, hatte ihn Jettchen nie geküßt, und er hatte Scheu empfunden, selbst ihre Hand zu berühren. Er wollte etwas sagen, wollte das mit einem Wort ins Lächerliche ziehen, um dem Zwang des Augenblicks dadurch zu entgehen; aber er stand ganz stumm da und brachte keinen Laut hervor. »Doktor Kößling«, Jettchen nannte ihn Jason gegenüber nie beim Vornamen, »war am Abend hier, er hätte dich gern noch gesprochen, Onkel. Ich weiß nicht, was er dir sagen wollte, aber er hatte irgend etwas, das sah ich ihm an.«

»Ja, ja«, meinte Jason, froh, auf einen anderen Gesprächsstoff übergehen zu können, »richtig – ich vergaß. Ich traf ihn noch. Es war nichts von Bedeutung. Aber eins, Jettchen – du mußt versuchen, ihm das Schachspielen abzugewöhnen.«

»Wie soll ich das, Onkel?« meinte Jettchen und seufzte.

»Das geht mich gar nichts an, das ist deine Sache. Eine Frau kann aus dem Mann alles machen; der Mann aus der Frau nichts. Gute Nacht!«

Damit ging Jason und ließ Jettchen allein.

Langsam, ganz langsam ging Jason den Flur entlang, nach seinem Zimmer. Er war erregt; freudig und traurig zugleich. Er hatte über das kurze Liebesgeschenk ein Glücksempfinden, das ihn in seiner sinnlichen Gewalt ganz trunken machte, und zugleich krampfte ihm die Angst, daß sein Traum je Wirklichkeit werden könnte, das Herz zusammen.

Und lange, lange lag Jason noch, nachdem das Licht gelöscht war, mit offenen Augen träumend im Bett und starrte in das Zimmer, das von der Schneenacht draußen seltsam und milde durchleuchtet erschien, so daß man unschwer die Umrisse und Formen der Möbel, die dunkleren Flecke der Bilder an der Wand erkennen konnte. – Jetzt schlief Jettchen gewiß schon.

Und lange, lange lag Jettchen noch, nachdem das Licht gelöscht war, mit offenen Augen träumend im Bett und starrte in das Zimmer, das von der Schneenacht draußen seltsam und milde durchleuchtet erschien, so daß man unschwer die Umrisse und Formen der Möbel, die dunkleren Flecke der Bilder an der Wand erkennen konnte. – Jetzt schlief Onkel Jason gewiß schon.

Und der Schnee wich nicht, ließ sich nicht verjagen, er blieb lange Tage und Wochen. Er zog sich in hohen Wällen am Bürgersteig dahin, und kaum daß man den Fußweg an den Häusern frei gemacht hatte, so besann sich der Himmel nicht lange und streute auch schon von neuem Schneekörner und Flocken darüber aus. Einmal warf er Schneefedern herab, groß und breit wie Schwanendaunen; ein anderes Mal feine, rieselnde Körnlein, ganz dicht wie rinnender Sand. Und wenn auch immer wieder die Leute in Fausthandschuhen mit ihren Schiebern und Besen und Hacken und Schippen kamen, den Schnee fortzustoßen, und seine Last zu den vorigen, zu den grauen Bergen warfen, der Himmel ließ sich das nicht verdrießen; sobald man sich des Morgens die Augen rieb, war wieder alles beim alten. Die Fahrstraßen, die Dämme waren dadurch mit der Zeit ganz schmal geworden, und wenn zwei Fuhrwerke aneinander vorübermußten, ging das nie mehr ohne Lärm, Streit und Schimpfworte ab; bis endlich einer von den Fuhrleuten sich doch entschloß, mitten durch die Schneehügel zu fahren; dann aber mußten die Gäule wild emporspringen und mit aller Kraft an den Strängen ziehen, um die Wagen herauszureißen.

Und wenn der Schnee schon nicht verging, so wollte der Rauhfrost darin auch nicht nachstehen. Tag für Tag war ganz seltsames Wetter, stets kalter Nebel und der Himmel dabei so tief, daß die Kirchtürme ringsum und die breite Schloßkuppe sich fast jederzeit im Wolkendunst verloren. Selbst am hellen Mittag arbeitete da der Silberschmied Rauhfrost weiter an seinen grazilen und zerbrechlichen Kunstwerken, und in den Nachtstunden war er ebenso noch am Werk. Er gönnte sich keine Ruhe, als wisse er, daß seine Zeit doch nicht allzulange währen könnte. Und um seine Arbeit zu bewundern, ging Jason sogar hinaus in den Tiergarten; er schritt dort zwischen Wänden, die ganz dicht aus dem weißen Maschenwerk von hunderttausend Zweigen gewebt waren, dahin – auf ganz schmalen, niedergetretenen Pfaden, mitten durch ein weiches, blendendhelles Weiß, das die Büsche verschüttet hielt und in dem jedes Leben ertrunken und versunken war. Gerade daß der Nebel nicht weit sehen ließ, sagte er, das wäre so schön gewesen. Wie durch die Säle einer marmorweißen Alhambra wäre man dahingeschritten, und am Wege die Tannenbäumchen, deren Zweige von den Schneelasten ganz niedergedrückt waren, sie hätten ausgesehen wie verzauberte maurische Prinzessinnen, von Kopf bis Fuß eingehüllt in Spitzenschleier.

Daß Kößling nicht mehr an der Bibliothek arbeitete, hatte Jettchen nicht verborgen bleiben können. Irgendwie war's aufgekommen, schon am nächsten Tage, da ja selbst die dicksten Wände ein Geheimnis nicht festzuhalten wissen. Und in wenigen Stunden war es Stadtgespräch geworden. Daß man sich erzählte, man hätte Kößling dieses Skandals wegen schimpflich fortgejagt, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Nur die Wohlgesinnten berichteten noch, daß man ihm zart gewinkt hätte, seinen Abschied zu nehmen. Es war ganz wertlos, dem zu widersprechen; denn es glaubte doch niemand, und es erübrigte sich ja eigentlich auch. Denn ob mit eigenem Willen und eigenem Entschluß oder durch höhere Macht und auf fremden Befehl, ob handelnd oder leidend – die Schlußsumme blieb für Doktor Kößling nun einmal bestehen, blieb ganz die gleiche: Durch alle seine sicheren Aussichten für die Zukunft war ein dicker Strich gemacht worden, und ob das nun mit Recht oder mit Unrecht geschehen war, das änderte nichts an der Tatsache. Darüber jetzt noch zu grübeln und zu reden hieß leeres Stroh dreschen.

Jettchen weinte sehr, als sie es erfuhr. Nicht ihretwegen weinte sie, sondern Kößlings wegen. Sie hatte das Gefühl einer schweren Verantwortung, als ob sie es gewesen, die Kößling aus Brot und Lohn gebracht hätte; nicht die Schimpflichkeit der Verdächtigung schmerzte sie, denn die letzten Monate hatten sie daran gewöhnt, sie hinzunehmen, ohne zu zucken, und hatten ihr Herz stolz den Reden der Leute gegenüber gemacht; aber die ganze Niedrigkeit, die in der Anzeige lag, machte sie doch jedesmal von neuen aufschluchzen, wenn sie nur wieder daran dachte. Von wem diese Anzeige ausgegangen, das hatte Kößling nicht erfahren können, und Jettchen hatte für ihre Vermutungen auch keine rechte Unterlage. Endlich war es auch so schmutzig und widerwärtig, daß weder sie noch Jason noch Kößling sich Mühe gaben, nun den Angeber festzustellen. Wenn es wirklich von der Seite kam, wie sie vermuteten, nun, so waren das eben Waffen, deren sie sich nicht bedienen wollten und auch nicht zu bedienen vermochten; wie ja der unanständige Gegner von vornherein eben den Vorteil seiner Unanständigkeit genießt!

Jason dachte wohl flüchtig daran, ob er nicht aus seinen nächtlichen Wahrnehmungen vielleicht dem Vetter Julius einen Strick drehen sollte, aber der Gedanke wurde nicht alt bei ihm, und Jason nahm nie Gelegenheit, auch nur davon zu sprechen. Jettchen suchte sich gewißlich ebenso mit in die Täuschung hineinzureden, daß es für Kößling das beste gewesen sei, seine Stelle aufzugeben, und daß er dadurch gleichsam Raum für seine eigene Entwicklung gewonnen habe; aber sie hätte nicht den klaren Blick der Geberts für Menschen und Verhältnisse haben müssen, wenn sie nicht alsbald – auch bei aller Zuneigung zu Kößling – empfunden hätte, daß mit dem Verlust der Stellung Kößling wieder an Halt und Festigkeit verloren hatte und daß das Träumerische und Ziellose plötzlich wieder in ihm die Oberhand bekommen hatte – das Träumerische und Ziellose, das im Grunde seines Wesens lag und das ihn auch schon früh aus der festen Bahn heraus in die ungewisse Daseinssphäre eines Literaten gestoßen hatte.

Aber jedenfalls trug die Entlassung Kößlings und die Anzeige gegen ihn mit dazu bei, daß Jettchen den geplanten Besuch bei Tante Rikchen und Onkel Salomon immer wieder und wieder hinausschob. Denn wenn bisher die Zuneigung zu ihrer Tante Rikchen kaum eine Trübung erfahren hatte und Jettchen es bisher gleichsam nur als ein Mißverständnis empfunden hatte, das zwischen ihnen herrschte – da man sie eben doch nur in bester Absicht in eine Lage gedrängt hatte, der sie sich um jeden Preis wieder entwinden mußte –, so konnte sie jetzt plötzlich über die Empfindung von Feindschaft und Kampf nicht mehr hinwegkommen. Soviel sie sich auch selbst zusprach, daß doch sicherlich Onkel Salomon wenigstens daran unschuldig sei, Jettchen brachte es jetzt doch nicht über das Herz, die beiden und ihr altes Heim aufzusuchen und wiederzusehen.

Zudem schien es noch, als ob Jason doch allzu günstig geurteilt hätte; und die erste freudige Aufwallung Jettchens – weil sie nun glaubte, in allerkürzester Zeit von dem lästigen Joch befreit zu sein – machte wieder der Entmutigung von vordem Platz, wenn auch ihre Schatten sich nicht mehr ganz so tief über ihr Leben zu senken vermochten. Noch sah zwar Jettchen keinen Ausgang aus dem Labyrinth, in dem sie sich verfangen hatte, aber sie hatte doch die Hoffnung, daß sie nun bald einmal am Ende einer neuen Biegung die Helligkeit der Pforte aufblinken sehen müsse; und schon diese leise und schwankende Hoffnung machte es, daß Jettchen wieder mehr Anteil am Leben nahm und mehr auf sich und ihre Person achtete. Sie begann Freude zu haben an ihren neuen Kleidern, die so lange schon – seit der Hochzeit, seit der ersten Anprobe – fast unberührt in dem Schrank gehangen hatten; und Jettchen konnte halbe Stunden damit zubringen, wenn sie zu den Schuten und Kapotten die kleidsamsten Frisuren vor der Spiegeltoilette ausprobte oder die Morgenhauben um eine Schleife bereicherte oder verkürzte. Es war das keine Eitelkeit und Putzsucht bei Jettchen, sondern es stand ihr wohl an, und es gehörte zu ihrem Wesen, sich mit Sorgfalt schönzumachen und so durch ihren Anblick den anderen Freude zu bereiten. Für wen tat sie es denn? Für Onkel Jason, der es gern sah, und für Kößling, dem es manchmal aufblitzte, daß Jettchen heute irgendwie anders aussähe als gestern oder vorgestern, der aber vergebens sich Rechenschaft darüber abzulegen versuchte, worin dieses Anders, dieses Schöner oder Liebenswürdiger nun eigentlich bestände. Sonst sah Jettchen doch kaum jemanden.

Und es kam Weihnachten – weiße Weihnachten. Am Vormittag, als Jason irgendeinen Gang hatte, zog Jettchen heimlich zum Weihnachtsmarkt durch den weißen, frostigen Nebel, der ihr ordentlich den Atem vor dem Mund frieren machte. Schon von der Schloßbrücke an hörte man ein Brausen und Sausen und Lärm und Geschwirr; und die Kinder mit den Schäfchen hängten sich ihr an das Kleid, bis sie ihren Zoll entrichtet hatte; und die Waldteufeljungen mit Baschliks über den Ohren und Wolltüchern um den Hals brummten neben ihr her und erschreckten sie, indem sie die Teufel aus dem Kasten springen ließen und ihre langen, vielgliedrigen Scheren, auf denen Holzsoldaten exerzierten, ihr plötzlich entgegenstreckten. In den Buden standen Männer und Frauen, mit Gesichtern rot wie Hahnenkämme, eingewickelt und vermummt in Mäntel und Tücher, trampelten mit den Füßen, bliesen sich in die roten Hände oder streckten sie über ihre Feuerkieken aus; und dazu zählten sie ohne Aufhören ihre Waren her, riefen die Vorübergehenden an stehenzubleiben, schimpften auf den schlechten Geschäftsgang, fragten Kunden nach ihren Wünschen und zankten sich mit Nachbarn, die drei Buden von ihnen entfernt Pfefferkuchen feilboten. Und zwischen den Budenreihen stapfte und schob sich im niedergetretenen Schnee eine bunte, vielköpfige Menge dahin: Frauen mit Kindern, die rechts und links an den Zipfeln der Kantentücher zogen und zerrten wie die Englein am Mantel der Maria; Väter, von blondzöpfigen Töchtern flankiert; Studenten und schäkernde Liebespaare. Da es kalt war, hatte aber keiner recht Lust, die Börse zu ziehen; und wenn der Franzose mit dem Turban sein Fleckwasser noch so zungenfertig anpries, die Menge staute sich wohl einen Augenblick vor seiner Rednertribüne, aber sowie er glaubte, die Leute von der Unfehlbarkeit seines Wassers überzeugt zu haben, und seine Fläschchen in die Menge werfen wollte, da schob sie lachend und lärmend weiter; und der arme, zappelnde Turbanträger haspelte von neuem seine Kette französischer Flickworte heraus mit ungeschwächter Lungenkraft durch den grauen Nebel und die Winterkälte. Bei einem Parfümeriekrämer aus Altona kaufte Jettchen eine Flasche Eau de Lavande und bei einem Lebkuchenbäcker Thorner, Liegnitzer und Nürnberger Pfefferkuchen und Königsberger Marzipan. Und endlich wählte sie noch beim Pyramidenhändler eine schöne Pyramide, wohl drei Fuß hoch. Sie war ganz aus grünem Ölpapier aufgebaut, und ihre Zweige trugen zudem noch runde Perlen aus rotem Lack, und sie prunkte mit einer Unzahl kleiner, gelber Wachskerzen. Die kaufte Jettchen, und sie gab dem Laufjungen noch ihre Päckchen dazu, er solle alles heimtragen. Aber sie selbst eilte voran wieder nach Haus zu Jason, so schnell sie konnte; denn sie wünschte nicht, daß sie jemand mit ihren Einkäufen sähe. Im Hause Onkel Salomons hatte man Weihnachten nie gefeiert. Nicht etwa aus Engherzigkeit, sondern im Sinne alter Überlieferung, die doch sonst in keiner Weise mehr gehalten wurde. Wenn Jettchen eine Kleinigkeit, eine Börse oder einen Serviettenring, für Onkel Jason zum Weihnachtsfest gehäkelt oder gestickt hatte, so hatte sie das ganz heimlich getan, und Onkel Salomon durfte das nicht sehen.

Aber jetzt wollte Jettchen ihrem Leben doch das bißchen Festesglanz nicht nehmen, und sie wußte auch, daß Onkel Jason trotz seiner Witzeleien über den christlichen Glauben in einer leisen Gefühlsseligkeit es liebte, daß Weihnachten nicht so ganz klanglos und unbemerkt in seinem Hause vorübergingen. Endlich war Jettchen der Meinung, daß sie damit auch für Kößling, der doch seit einem Jahrzehnt oder schon länger ganz einsam in der Welt stand ... auch für den eine heimliche Freude bereite.

Am späten Nachmittag kam Doktor Kößling, als im Zimmer die ersten Kerzen entzündet wurden und sich draußen schon der Abend blau über die Schneedecke legte. Man ging nach hinten, ging in Onkel Jasons Bibliothekszimmer – geradeso wie sonst. Und nur wenn Jettchen an das Fenster trat und über die Galerie fort in diese engen Höfe hinabsah, die schmal und langgestreckt, sich bauchend und sich schließend, von weißen Bäumen und armseligen, verschneiten Gartenflecken unterbrochen, sich dahinzogen – nur dann erinnerte sie ein Licht, das ganz fern im Blau in einem der Hinterhäuser aufblitzte, und der erste blecherne Ton einer Kindertrompete daran, daß es doch heute Heiliger Abend war. Onkel Jason und Doktor Kößling hätte sie es nicht angesehen.

Kößling hatte der Verlust seiner Stellung doch stärker aus dem Gleichgewicht gebracht, als er es sich eingestehen wollte, und er konnte sich in das alte Leben nicht so recht wieder hineinfinden. Einen Teil seiner Verbindungen hatte er auch während seiner Stellung abgebrochen, und nun, als er da wieder anklopfte, waren schon längst andere an seinen Platz gerückt. Denn das Leben geht immer weiter, und in jede Bresche springen zehn für einen. Kößlings Mittel begannen sich zu erschöpfen. Bei allem Einschränken wurde es täglich weniger; und er, der sonst sorglos, frisch und stolz gewesen war, fürchtete sich mit einemmal vor Not und vor Hunger.

Tag für Tag hatte er nun wieder zu arbeiten versucht, fast zwei Wochen lang. Aber seine Kraft war wie gelähmt. Die Taschenuhr tickte dann neben ihm auf dem Tisch, und solch ein Vormittag wollte und wollte ihm gar kein Ende nehmen. Bis Kößling endlich doch aufstand. Aber das Blatt war nur mit ein paar Zeilen beschrieben; und wenn er die las und wieder las, dann mißfielen sie ihm so, daß er sie in seiner Wut vernichtete. Es kam so weit, daß er sich freute, wenn er nur recht spät erwachte. Dann war doch wenigstens der einsame, graue und kalte Tag nicht gar so lang mehr. Sowie der Nachmittag aber kam mit seiner frühen Winterdämmerung, hielt ihn nichts mehr. Und wenn Kößling sich auch fest vorgenommen hatte, heute nicht zu gehen – er mußte zum Schachtisch. Wenn er dann endlich vom Brett aufstand, war er immer noch wie in einem Rausch und durchflog in halbwirren Gedanken ungeahnte Reihen von Möglichkeiten. Von der Bedrängnis seiner Seele fand er in keiner Philosophie Erlösung, und die klaren Bauten Kants und Spinozas oder Goethes, zu denen er sich flüchten wollte, schienen ihm lichtlos und unwahr. Seine Seele suchte etwas, worin sie sich ganz und willenlos verlieren konnte, suchte ein Wasser, das sie trüge wie das Öl den Kork. Und wie sich sein Geist ganz und gar in den unendlichen, spielerischen Rhythmen des Schachs verfangen hatte, so verfing sich allgemach, ganz unmerklich, sein Gemüt wieder in den weichen Lockungen der Glaubensvorstellungen, in den tiefen Brünstigkeiten des Gebets, denen er seit Jahrzehnten, seit seinen letzten Gymnasiastenjahren, sich entronnen glaubte.

Es war ihm wie allen ergangen. Zu Hause, in früher Jugend war ihm Glaube und Frömmigkeit kaum mehr wie eine Prügelsache gewesen: ein Muß, eng, finster und beschränkt. Dann aber war der Rektor der Johannisschule, der alte Isemann, ihm Lehrer gewesen; und der Pfarrer Renanus der Paulskirche hatte in ihm schon den künftigen Geistlichen gesehen. Der junge Mensch hatte sich mit der Innigkeit und Inbrunst seiner Jugend den neuen Eindrücken hingegeben, hatte Nächte im Gebet gerungen, ganz erfüllt von seiner Sendung, die sündige Menschheit zum Leben in Christo zurückzuführen. Aber dann waren Zweifel in seine Seele gekommen; er hatte erkannt, daß jenseits der Glaubenswelt andere Welten lagen, stark und frei – und gleichsam über Nacht war er allen Glaubens ledig geworden. Eines Tages stand er auf, und was gestern noch mächtig in ihm gewesen war, es war heute ganz macht- und wesenlos für ihn geworden. Gewissensbisse gab es; Auftritte mit Rektor und Pfarrer; man steckte sich hinter die Eltern, deren Eitelkeit es schmeichelte, einen zukünftigen Geistlichen und Gottesmann als Sohn zu haben, und die eigentlich nur um dieser Aussicht willen in den Besuch des Gymnasiums eingewilligt hatten; aber all das machte, daß Kößling innerlich und äußerlich sich immer mehr von seinem Kinderglauben abwandte. Seine späteren Studien waren auch nicht danach angetan, ihn wieder zurückzuführen. Plötzlich – nach jahrzehntelangem Schweigen – meldeten sich in seinem Innern von neuem die längst vergessenen Bedenken, und ein tiefes Bedürfnis nach einem willenlosen Sichverlieren an eine höhere Macht, nach dem Aufgehen in dem Glanz und in der Güte eines menschlich-himmlischen Wesens kam über ihn. Nicht bei Tag und bei Licht, sondern in stillen, schlaflosen Nächten, im halbhellen Zimmer. Fragen, die sonst seinem Wesen ganz fernlagen, wie jetzt der Streit in Magdeburg über die Gottheit Christi, begannen ihn wieder zu erregen und zu beschäftigen. Und wenn Kößling mit Jason Gebert am Nachmittag oder Abend zusammentraf, kam er wieder und wieder darauf zurück. So entging Jason Gebert diese Wandlung Kößlings nicht. Aber Jason Gebert mochte nicht mit Doktor Kößling darüber sprechen, weil er fühlte, daß jedes seiner Worte nur die Kluft vergrößern würde, und er hatte sich deswegen einen anderen Sprecher gewählt: »Das Leben Jesu« von David Friedrich Strauß. Als es erschien, war Jason Gebert das Buch eine Offenbarung gewesen. Dann jedoch hatte es durch vier, fünf Jahre in irgendeinem versteckten Winkel seines Bücherzimmers einen Platz gehabt, ohne daß er jemals die Nötigung empfunden hatte, wieder hineinzublicken. Denn diese Fragen des Glaubens waren so völlig aus seinem Leben geschieden, daß ihm das Für und Wider über sie gleich fernlag. Nun aber hatte Jason Gebert das Buch von neuem hervorgesucht, um es gegen Kößling als Sturmbock zu benutzen. Denn wenn es ihm schon um Kößlings geistige Freiheit leid war, so sah er mehr noch eine Gefahr darin, die auch Jettchen beträfe, eben die Gefahr jeden Glaubens: die der Überhebung und der Unduldsamkeit. Und er, der bisher das Bekenntnis eines Menschen immer nur betrachtet hatte als eine Äußerlichkeit, die man aus einem gewissen Zwang heraus mit Anstand zu tragen hat und die gleichsam den Nachbar nicht berührt – er, Jason Gebert, empfand plötzlich, daß es doch tiefgehende Verschiedenheit des Wesens und der Empfindung bedinge, die man vielleicht verhüllen, aber schwerlich überbrücken konnte. Und ohne daß er es sich eingestehen wollte, machte er sich deshalb Sorge um seine beiden Schützlinge. Es entfremdete ihm Doktor Kößling, für dessen Wollen, Wünschen und Empfindungen, wenn es auch dem seinen entgegenlief, er bisher immer ein Mitfühlen aufgebracht hatte. Dieser neuen Wandlung in Kößlings Wesen aber stand er ganz anteillos und kalt gegenüber.

Und heute, am Heiligen Abend, hatte ihm Kößling das Buch zurückgebracht, fast wortlos. Er hatte es nicht zu Ende gelesen. Er sagte, es hätte ihm weh getan. Jason aber hatte, trotzdem er ein anderes erwartet, das Buch ruhig an seinen Platz gestellt. Doch nicht so ruhig, daß Jettchen, die am Fenster stand, nicht bemerkt hätte, daß Onkel Jason es nicht ohne eine tiefe Verstimmung tat und wie schwer es ihm wurde, ein unbefangenes Gespräch aufzunehmen. Jettchen hatte sich so auf den Abend heute gefreut; sie fühlte, daß in ihr und in ihrem Blute das Leben sang, und sie wäre selbst so gern diesen Lockungen gefolgt und hätte selbst so gern die anderen freudig und zukunftsfroh gemacht, und statt dessen mußte sie sehen, wie auf ihnen nur die Schwere des Daseins lastete und wie sie sich zergrübelten und in Sorgen und Sehnsüchten sich verzehrten. Der eine weichmütig und doch voll gärendem Trotz; der andere mit der überlegenen und geistvoll-ironischen Geste des Entsagens.

Draußen ließ Jettchen von Fräulein Hörtel die kleinen Wachskerzen der Pyramide anzünden, ließ Kuchen hinstellen und Tee bereiten, und hier spöttelte Jason über Professor Tholuck, der nun doch ins Theater gegangen sei, um Seydelmann als Mephisto zu sehen und sich dadurch jedem wahrhaft Frommen im Lande zu einem Greuel und Ärgernis gemacht hätte, und fragte dann noch so im Gespräch, wie weit denn eigentlich Hengstenberg jetzt mit seinem Buch über Bileams Esel wäre, ob Doktor Kößling das nicht vielleicht wüßte; er schiene ihm – natürlich Hengstenberg – ja nahezustehen. Und Kößling lachte dazu, aber gezwungen und unfroh.

Da klopfte Fräulein Hörtel ganz leise an – so war es verabredet. Jettchen aber wandte sich vom Fenster ab und bat, man möchte doch zu einer Tasse Tee mit vorkommen.

»Du bist doch heut so feierlich, Jettchen«, sagte Jason und lachte. »Was hast du denn?«

Doch als er auf den Flur hinaustrat, der schon ganz hell und goldig war von all dem Licht, das durch die Türscheiben floß, da wurde er gerührt und konnte gar nicht schnell genug nach vorn kommen. Und Kößling bekam einen roten Kopf, wäre am liebsten Jettchen nachgelaufen, um sie zu küssen. Was war er doch schlecht, und was war sie doch lieb und zart und gut!

Schon draußen auf dem Flur hatte es so ganz leicht nach Wachskerzen und Ölpapier gerochen, und als Jason die Tür aufstieß, sah er die Pyramide, wohl mit zwanzig Kerzen, ganz in einen gelbroten Schein gehüllt, und ihre Wachstropfen weinten herab und durchbrochene Meißner Schüsseln, die bis an den Rand mit Süßem gefüllt waren und deren Mitte je ein kleiner, kunstvoller Berg von Nüssen und Hasenköpfen bildete.

»Ach«, sagte Jason und zog die Schüsseln aus dem Tropfbereich der Pyramide, »das soll ich alles bekommen? Das ist aber beinahe zuviel für eine Person.«

»Nein«, rief Jettchen, »es steht ja dran. Das ist für Doktor Kößling, das für dich und das für mich. Und du, Onkel, weil du dich so gern schönmachst – hier ist noch eine Flasche Eau de Lavande für dich. Und hier, Onkel, weil du dir doch immer alles, was du vorhast, aufschreibst, hast du ein kleines Merkbüchlein. Ich glaube nicht, daß du es kennst; es ist etwas ganz Neues. Man kann die Schrift immer wieder fortwischen und wieder darüberschreiben. Und du, Fritz, weil ich gesehen habe, daß du es brauchen kannst – hier habe ich für dich eine Geldbörse gehäkelt.« Und damit schwenkte Jettchen eine grüne Börse, die in Rot Kößlings Namenszug trug und von zwei goldenen Ringen umspannt wurde, hin und her. »Ich habe sie recht groß gearbeitet und recht eng gehäkelt, damit viel hinein- und nicht so leicht etwas herausgeht.«

»Ja«, sagte Jason, »und wie ich sehe, sind auch gleich zwei Ringe daran. Das ist sehr praktisch.«

»Ach, ist das gut von dir«, rief Kößling, der ganz verwirrt war, denn es waren seine ersten Weihnachten seit langen Jahren. »Und ich schlechter Mensch komme mit leeren Händen. Aber ich wußte ja gar nicht, daß es hier solche Weihnachten gäbe.«

Jettchen lachte verlegen und sagte: »Es ist mir genug, daß du hier bei mir bist, du brauchst mir nichts zu schenken.« Aber ganz im geheimen verstimmte es sie jedoch, daß er ihr so gar nichts gebracht hatte, nicht einmal eine Blume oder eine Papeterie oder eine Bonbonniere. Denn Jettchen war es von je gewohnt, daß man ihr etwas schenkte, und es freute sie nicht einzig die Art und der Wert der Gabe, sondern sie liebte noch mehr die stille Huldigung, die in dem Geschenk an sich lag, liebte das Gedenken in ihm. Und so verstimmte es sie, daß Kößling ihr nie etwas brachte und gar nicht fühlte, wie leicht er ihr durch ein paar Groschen eine Freude machen konnte, mit einer Blume, einer Näscherei, einem Stickmuster oder einem neuen Almanach. Es verstimmte sie, daß Kößlings Wesen jede Galanterie fernlag, und daß ihm jene ewig neuen Werbungen fremd waren, die Geschenke, Andenken und Aufmerksamkeiten für Frauen bedeuten.

»Für Sie, Herr Doktor, habe ich auch etwas«, sagte Jason, und damit zog er ein ganz dünnes Bändchen aus der Rocktasche. »Hier, sehen Sie: Fünfundneunzig Sätze gegen das Schachspiel. Der zum Schachspiel verführten Menschheit, insbesondere Herrn Doktor Friedrich Kößling – das habe ich noch zugeschrieben: Herrn Doktor Friedrich Kößling insbesondere, gewidmet von einem Leipziger Theologen. Es ist ein lehrreiches Buch. Darf ich Ihnen daraus vorlesen? – Satz dreiundzwanzig: ›Nicht allein eine schwere, sondern auch eine brotlose Kunst ist das Schachspielen. Sie ernährt ebensowenig ihren Mann wie die Dichtkunst. Das Schachspiel bringt kein Brot, und wer kein Brot hat, kann auch keine Frau nehmen.‹«

»Da ist es mit mir also doppelt schlecht bestellt«, sagte Kößling und lachte mühselig, »da ich zwei brotlose Künste auf einmal betreibe.«

»Nein«, entgegnete Jason, »bei der Dichtkunst hat der Mann sich geirrt. Was versteht auch ein Theologe von der Dichtkunst! Aber mit dem Schach hat er recht.«

Dem stimmte Kößling bei. »Vielleicht nicht ganz. Aber unrecht hat er jedenfalls nicht.«

»Und nun, Jettchen, kommst du heran«, rief Jason und hinkte mitten in das Zimmer. »Jetzt stell dich mal gerade vor mich hin und mach fest die Augen zu. Es wird dir nicht leid tun.«

Und als Jettchen das tat, da knüpfte ihr Jason so schnell und geschickt, als wäre er eine Kammerzofe, ein Stirnband über das Haar, ein schmales, schwarzes Samtband, in dessen Mitte an einer kleinen Öse eine einzige schwere, goldgefaßte Perle hing.

»So, Jettchen, wenn du jetzt noch dazu das weiße Seidenkleid mit den silbernen ›à la grecque‹-Borden anziehst, so mußt du darin aussehen wie eine Königin aus dem Morgenland.«

Jettchen lief schnell an den Spiegel sich beschauen. Sie wurde ganz rot vor Glück, und sie eilte zu Onkel Jason und schüttelte ihm die Hand, zog die Hand an die Lippen, streichelte sie und war ganz außer sich vor Freude.

Kößling stand abseits mit einem bittern Gefühl im Herzen.

»Ja«, sagte er dann, als ihm Jettchen die Perle zum Bewundern hinhielt und ihre Stirn ganz nahe an seine Augen brachte. »Ja, Jettchen, so etwas dir zu schenken läge nicht in meiner Macht.«

»Oh«, versetzte Jason mit leichtem Unmut in der Stimme, »jeder tut es eben so gut, wie er's kann.« Kößling wurde rot.

»Ach, bitte«, rief Jettchen, »der Tee wird ganz kalt. Wollen wir uns nicht setzen?«

Und man setzte sich um den Tisch und plauderte. Und Jettchen wollte guter Dinge sein, und Jason Gebert wollte guter Dinge sein, aber es war kalt im Zimmer. Nicht etwa, daß man schlecht geheizt hätte – der Raum war nur seltsam frostig, und doppelt war das bemerkbar, weil eben jeder versuchte, es zu vergessen. Jettchen hatte sich so sehr auf den Nachmittag gefreut, und wenn sie auch über die Worte und Erzählungen Jasons lachte, laut lachte – sie konnte die Schatten sich nicht fortlachen. Kößling aber schalt sich insgeheim einen Narren und Esel und ergriff jede Gelegenheit, um Jason zuzutrinken und Jettchen zuzuwinken. Aber er bekam die Falten nicht von der Stirn fort.

Jason erzählte von Turnvater Jahn. Er hätte ihn von Ansehen gut gekannt. Die Friseure hätten seinetwegen verhungern können. Der lange Doktor Wiebe hätte ihn jetzt in Halle besucht, aus alter Anhänglichkeit, denn er hätte einst unter Jahn in der Hasenheide kühn und stark den teutschen Ger geschwungen und alles Welschtum schmählich verachtet. Aber der Doktor Wiebe hätte eine kleine Enttäuschung erlebt, denn der alte Jahn wäre ihm entgegengekommen mit einer Nase, rot wie eine Feuerbohne.

»O Jüngling«, hätte er gerufen und ihm die Hand gedrückt, daß jener meinte, er würde sie nie wieder zu irgendeiner menschlichen Verrichtung benutzen können, »o Jüngling, stoße dich nicht an meiner verfluchten Nase. Sie ist das einzige Glied meines Körpers, das ich dem Dienste meines Vaterlandes entzogen habe. Diese Nase ist für die teutsche Freiheit verloren. Denn höre, du Wackrer – ich schnupfe. Sonst aber bin ich immer noch der alte.«

Jettchen lächelte und winkte Jason ganz heimlich. »Wenn es dir nur nicht wie Vater Jahn geht«, sagte sie lächelnd. Und Jason verstand.

Kößling sprach von Hoffmann, der ja doch gegen Jahn als Kammergerichtsrat zu verhandeln gehabt hätte.

»Das ist nicht so klar«, sagte Jason. »Soweit ich es weiß, soll er es abgelehnt haben.«

Und damit kam das Gespräch auf die Politik und auf das Königshaus.

Jason hatte den Kronprinzen im Theater gesehen. Er war bleich, grau und gedunsen gewesen und sehr unruhig. Mitten im Spiel wäre er aufgesprungen, hätte sich wieder gesetzt, wäre wieder aufgesprungen, und in den Pausen hätte er überlaut gelacht und überlaut gesprochen. Er wundere sich nur, daß man jetzt die »Schwärmerei aus Mode« von Blum hier aufführen dürfe, denn das müßte dem Kronprinzen mit seinen pietistischen Neigungen doch gegen den Strich gehen, da es eine Verspottung des Muckertums wäre. Ob Kößling schon davon gehört hätte. Die Hauptperson hieße Herr von Reckum. Das sollte er nur umkehren, dann wisse er genug. In ganz Berlin spreche und lache man schon darüber.

Aber trotz aller Mühe, die sich Jason Gebert gab, kam kein rechtes Gespräch zustande. Und plötzlich – die Kerzen von der Pyramide waren noch nicht alle heruntergebrannt, und ein paar besonders ausdauernde an der Spitze zuckten und knisterten noch – erhob sich Kößling, um zu gehen.

Jettchen bat ihn, er möchte doch zum Abendessen hier bei ihnen bleiben. Aber Kößling wollte die Aufforderung aus falscher und schlecht angebrachter Bescheidenheit nicht annehmen, trotzdem er ihr eigentlich gar zu gern gefolgt wäre.

Warum in aller Welt er denn jetzt gerade gehen wollte, fragte Jason Gebert erstaunt.

Man hätte ihn gebeten, sagte Kößling, heute einmal in den »Tunnel an der Spree« zu kommen. Es war das eine Ausrede. Sie fiel ihm gerade so ein. Aber es war unklug, es zu sagen.

»Ach ja«, meinte Jason in einem leichten Ton von Ironie, »richtig, ich weiß. Da feiern sie heute Louis Schneider. Ich glaube, es ist das Fest der hundertsten Tabatiere, die er vom Kaiser Nikolaus geschenkt bekommen hat. Da würde ich an Ihrer Stelle, lieber Herr Doktor, auch nicht fehlen.«

Nun war es Kößling ganz und gar unmöglich geworden zu bleiben, wenn er sich nicht bloßstellen wollte. Er schämte sich innerlich seiner Ungeschicklichkeit. Zugleich kam aber auch sein alter, mürrischer Trotz durch; und obgleich ihn Jettchen noch einmal bat – Kößling gab nicht nach und ging. Der Abschied in der Tür fiel kürzer und spärlicher aus als sonst, so daß Jettchen sich ganz traurig zurückschlich zu Onkel Jason.

Aber seltsam, als Jettchen wieder in das Zimmer trat, in den warmen Lichtkreis mit dem letzten Flackern der Wachskerzen, mit seinem Duft von Tee, Pfefferkuchen und Behaglichkeit, mit seinem grünen Seidenglanz ringsum und seiner blitzblanken Sauberkeit auf den Servanten, Schränken, Porzellanen und Bronzebeschlägen, mit der blauen Schneenacht vor den hohen Fenstern, die das Zimmer gleichsam doppelt heimisch machte – da fühlte sie sich auch schon wieder von ihrer ganzen Atmosphäre von Traulichkeit, von plaudernder Behaglichkeit umfangen. Und kaum daß sie Platz genommen, fiel alles Trübe von ihr ab, und sie war wieder sie selbst.

Onkel Jason hatte aber auch seinen guten Tag heute. Er plauderte von tausend Dingen. Von Onkel Eli und alten Verwandten, die Jettchen gar nicht mehr gekannt hatte, besonders von Vetter Nestor sprach er, der ein sehr barocker und skurriler Herr gewesen sei und die lustige Eigenheit besessen habe, im Schlafe zu pfeifen.

Er, Jason, habe mal als junger Mensch mit ihm zusammen eine Reise gemacht, und wie sie da in Prenzlau im »Bären« übernachtet hätten, da habe der Vetter Nestor die ganze liebe lange Nacht aus dem Schlaf gepfiffen. Alle Opern der Reihe nach, von »Jessonda« und »Tancred« bis zur »Weißen Dame«. Kaum daß eine Arie fertig war, kam die andere. Gerade wie bei der Spieluhr, so daß er, Jason Gebert, sich beim Schein des Öllämpchens im Bett, das ihm ohnedies viel zu kurz war, hin und her gewälzt habe und kein Auge habe schließen können. Plötzlich aber sei ihm ein befreiender Gedanke gekommen. »St! Vetter Nestor!« habe er gerufen, so laut als er konnte – und der sei ganz entsetzt hochgefahren, denn er habe geglaubt, es seien Räuber und Mörder im Zimmer. »Was ist denn? Was gibt's denn?« habe er geschrien und sich die Nachtmütze beinahe vom Kopf gerissen. »Ach, Vetter Nestor«, habe er, Jason Gebert, ganz ruhig gesagt, »ich wollte Sie nur bitten, Sie sollen auch mal etwas aus ›Norma‹ pfeifen.« Aber ehe der Vetter Nestor noch seine Bitte richtig verstand und ehe er noch die rechte Melodie gefunden, da habe er, Jason Gebert, auch schon auf der anderen Seite gelegen und geschnarcht, daß die Dachsparren sich bogen. Am andern Morgen aber habe der Vetter Nestor ihm in der Gaststube gesagt, mit ihm reise er niemals in seinem Leben mehr zusammen. Er hätte ja die ganze Nacht kein Auge zutun können.

Man aß zu Abend, und dann schloß Jason Gebert mit feierlichen Gesten und langsamer Würde seine Servanten auf, nahm Porzellane heraus, stellte Puppen, Gruppen, Geschirre hinaus in das goldene Licht, auf die spiegelblanke braune Mahagoniplatte des Tisches, die das Weiß und die Buntheit in Strahlen zurückwarf. Er ließ die Figuren bewundern, erklärte Jettchen die Art der Bemalung und die Schärfe des Brandes, die Güte und Schönheit der Masse, und er kehrte die einzelnen Stücke fürsichtig um und wies Jettchen die Porzellanmarke und ihre Bedeutung. Hier die Krone und da das Zepter. Hier die Schwerter und das R, das N und das F und die frühen und späten Meißner Signaturen. Vor kurzem hatte Jason bei einem Trödler ein paar bayrische Jagdgruppen gekauft. Ein Eber und ein Hirsch waren es, von Hunden umstellt, kämpfend und schon halb gedeckt, verbellt und schon halb niedergerissen. Und dann, fast als Zugabe, hatte er noch einen Windhund bekommen mit Beinen so dünn und zierlich, daß das Licht durchschimmerte. In diese drei Porzellane war Jason Gebert nun ganz verliebt, und er stellte sie mit fast zärtlicher Besorgnis auf die glänzende braune Tischplatte und lobte und pries Jettchen die Schönheiten. Kiß könnte so etwas sicher nicht. So voll Leben und Bewegung wäre das. Und eigentlich wäre es doch nur ein schlichtes Porzellan, ein anspruchsloses, kleines Kunstwerk, das sich einmal vor sechzig oder siebzig Jahren fürnehme Herren auf die Tafel gestellt hätten.

Eins nach dem andern baute Jason Gebert unter der Pyramide auf. Wohl länger als eine Stunde nahm er das fort und stellte jenes hinaus – denn sein Reichtum an Porzellanen war groß. Da kamen Reifrockdamen und glotzäugige Möpse; langschnäblige Phantasievögel und flüchtende Nymphen; Amoretten mit Vogelbauern und Savoyardenknaben mit Murmeltieren und Querflöten; Büsten als Petschafte und Tischglocken kamen und kunstvolle Schachfiguren. Und dann Frauen in ländlicher Tracht, das Kind an der Brust, auf dem Rücken von großen, langhaarigen Ziegenböcken. Ein ganzer Karneval von Miniaturwesen drang hinter den blanken Glasscheiben hervor, wanderte über den braunen Tisch und nahm wieder hinter den blanken Glasscheiben Aufstellung. Und Jettchen schaute, die bloßen Arme aufgestützt, von drüben anteilvoll und erfreut zu. Denn das sah sie jetzt: Wenn man eben solch Stück in der Hand halten und es hin und her drehen konnte, daß die Lichter und Falten blitzten, wenn man es von vorn und von rechts, von links und von der Seite betrachten konnte, wenn man ihm ganz nahe war und die Bewegung der Formen und die kühle, edle Masse gleichsam in den Fingern spürte – dann, erst dann gab es eben alle seine geheimen Schönheiten her, die es sonst fast sorglich und ängstlich in sich selbst verschlossen hielt, solange es noch neben und zwischen den andern im Glasschrank stand.

»Sieht sich Doktor Kößling manchmal die Porzellane an?« fragte Jason endlich, ganz wie zufällig.

Jettchen sagte, daß es vielleicht möglich sei, daß sie es aber noch nicht bemerkt habe.

»So, ich meinte, er interessierte sich hier einmal für ein Figürchen von Kändler.« Und damit stellte Jason Gebert mit spitzen Fingern die letzten Stücke in den Schrank zurück und schloß bedächtig wieder ab. »Gute Nacht, Jettchen«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

»Bleibst du nicht noch, Onkel?« fragte Jettchen, denn sie fühlte, daß ihre Gedanken an den zerrissenen Abend wieder über sie Macht gewinnen würden, sobald sie allein, sich selbst überlassen blieb – und das wollte sie hinausschieben.

»Ach nein«, sagte Jason, »es ist spät, und ich möchte noch etwas lesen.«

»Es ist doch erst halb zehn«, meinte Jettchen und blickte nach der Uhr, die zwischen den weißen Alabastersäulen geschäftig tickerte.

»Nein, es ist später. Deine Uhr hier geht nach. Aber das schadet nichts; eine Uhr, die nachgeht, macht immer einen soliden gutbürgerlichen Eindruck.«

Damit aber schritt Jason Gebert grüßend aus dem Zimmer. Er wußte schon, weshalb er ging. Er wäre vielleicht ganz gern noch ein wenig geblieben, aber er fürchtete, seinen plötzlichen Unmut zu zeigen; denn die Gedanken, die in ihm aufgeschossen waren, hatten ihm mit einem Schlage die Ruhe und die Freudigkeit genommen. Wenn er sich auch hundertmal gesagt hatte, daß es eben nur vorübergehende Trübungen zwischen Jettchen und Kößling seien – endlich kam er doch nicht darüber hinfort, ob nicht etwa zwischen ihnen unüberbrückbare Verschiedenheiten beständen. Und so ging er, nachdem er die Lampe entzündet hatte, eine ganze lange Weile noch hinten in seiner Bibliothek vor den braunen Bücherreihen auf und ab. So lange ging er auf und ab, bis es an der Tür klopfte und er stehenblieb.

Ach, das war gewiß Fräulein Hörtel, die kam, mit ihm abzurechnen oder sich für das Weihnachtsgeschenk zu bedanken.

Aber da öffnete sich ganz langsam, geisterhaft langsam, der Türflügel, und im Rahmen der Tür erschien Jettchen. Groß und aufrecht, den Kopf im Nacken, in lächelnder Feierlichkeit. Sie hatte das schwere Haar anders frisiert denn vordem, glatt in der Mitte gescheitelt und die Zöpfe rechts und links zu großen Rosetten zusammengelegt. An dem schwarzen Samtband, mitten auf der Stirn, lag ihr wie eine silberne Träne die Perle; und zu dieser Perle hatte Jettchen das weiße Seidenkleid angelegt, dessen Taille kreuz und quer mit Silberbändern gebunden war und um dessen weiten Glockenrock sich ein handbreiter silberner Mäander zog. Um die Handgelenke trug sie silberne Armspangen.

So stand Jettchen eine ganze Weile, regungslos, lächelnd und erfreut. Und Jason neigte sich vor ihr, huldigend und förmlich.

»Ich komme nur noch einmal, um mich bei dir zu bedanken, Onkel Jason«, sagte sie endlich. »Und damit du auch deiner Glocke Klang hörst, habe ich dazu nach deinen Angaben die Toilette gewählt.«

Jason schritt auf Jettchen zu, um ihr devot die Hand zu küssen. Aber sie beugte – immer noch lächelnd und immer noch ganz in dem hoheitsvollen Stil ihrer Maskerade – den Kopf vor und reichte ihm die Lippen, die Jason zaghaft berührte. Dann aber wandte sich Jettchen so stolz und so unnahbar, wie sie gekommen, und schritt auf ihren kleinen, hohen Stiefeletten ebenso steif und ehrfurchtgebietend, wie sie gekommen, wieder den Flur hinab, den Kopf hoch und die schwarzen Rosetten der Flechten tief im Genick.

 


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