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3

Mehrere Tage lang suchte man zu Wasser und zu Land nach den Entflohenen, doch ohne Erfolg. Jede nur erdenkliche Scheune wurde durchstöbert, jedes dichtere Gehölz zwischen den Waldwiesen auf Hasselöra wurde von dem Aufgebot Ankarös durchstreift. Den Tveholm hatte man zuerst im Verdacht gehabt und untersucht; aber dort war keine Menschenseele. Das einzige Merkwürdige war, daß sich ein Boot fahrbereit im Strandschuppen vorfand, und daß man droben in der großen Stube ein Bündel Eßwaren entdeckte. Das ließen sie aber als Lockspeise und Falle dort liegen.

Bald setzte der verzweifelte Leuchtturmwächter auch den Amtsvorsteher und die Dorfpolizei in Bewegung. Die Alte in Askvik, die Großmutter, wurde wiederholt mit Verhören gequält; aber sie wußte natürlich nichts, und sagte allen den Herren Dienern der Krone, sie hätten keine Scham im Leibe. »Denn die Liebe muß ihr Recht haben«, erklärte sie, »und wenn ihr mir nicht glaubt, so fragt nur den Herrn Pfarrer!«

Man suchte auch in Bredby, man läutete die Polizei in der Stadt an, um zu erfahren, ob zwei junge Leute gesehen worden oder vielleicht an Bord eines Dampfers nach Finnland oder Schweden gegangen seien. Nach einigen Stunden kam durch einen Sergeanten Antwort. Er verwirrte sich immer wieder in den vielen Dorfzentralen, wobei er dann mit unerschütterlichem Gleichmut erklärte: »Ach so, ist die Linie wieder besetzt? Nun, es hat keine Eile, denn es kommt von der Polizei ...« Und als er endlich mit seinem Anruf an den rechten Ort kam, hatte er nichts weiter zu melden, als daß man weder etwas gesehen noch gehört hatte.

Aber dort in dem verfallenen Eulennest des Pfarrers hielt allmählich der Hunger seinen Einzug. Die beiden lebten hauptsächlich von Preißelbeeren, Haselnüssen, rohen Pilzen und ab und zu einem Krug Milch von einer heimlich gemolkenen Kuh, die noch auf der Weide draußen war. Gewehr und Patronen hatte Valle, und auf dem Infjord wimmelte es von Enten; aber er wagte keinen Schuß, und wie hätten sie ein Feuer anzünden können, ohne sich zu verraten? Unter den brüchigen Fischgeräten des Pfarrers hatte Valle eine rostige Fischgabel entdeckt und mit ihr zwei stattliche Schilfhechte ergattert, die eingesalzen wurden. Aber von rohen Fischen leben war auf die Dauer auch nichts.

Die letzten Nächte waren gefährlich mondhell gewesen; aber heute abend zogen Wolken auf, und es versprach dunkel zu werden. Deshalb beschloß Valle, sich zur Großmutter zu stehlen, um sich mit Lebensmitteln zu versehen.

Erst nachdem er Tuva auf ihrem Strohlager in Schlaf geküßt und noch eine gute Weile auf ihre tiefen Atemzüge gelauscht hatte, schlich er fort, ohne daß sie erwachte. Ganz stockdunkel war es nicht, bisweilen drang das Mondlicht zwischen den jagenden Wolkenmassen hervor. In den Baumwipfeln rauschte es gewaltig, das Laub droben löste sich von den Zweigen, wirbelte in Mengen raschelnd um die Stämme nieder und weiter hinaus auf die Wiesen.

Gerade als er über den Hofplatz der Großmutter schlich und sein Messer herauszog, um, wie ausgemacht, das Fenster zu öffnen und hineinzuschlüpfen, stürzte von der Hausecke her ein Schatten auf ihn zu. Ein Gummiknüppel sauste auf seinen rechten Arm nieder, daß der wie gelähmt herabsank. Der vierschrötige Konstabler von Bredby versuchte Valle zu überwältigen. Blitzschnell aber schlug dieser mit der linken Faust zurück, gab seinem Gegner einen Tritt vor den Leib und rannte davon. Der Arm hing schlaff herunter; aber trotz dem wahnsinnigen Schmerz hatte er noch Überlegung genug, nicht den geraden Weg zurückzulaufen. Wie der Fuchs, ehe er in seinen Bau geht, viele Krumm- und Seitensprünge macht, lief er in einem weiten, unregelmäßigen Bogen durch den dichtesten Teil des Waldes. Bisweilen blieb er stehen und lauschte. Hatte er nur einen Verfolger hinter sich oder vielleicht ein ganzes Aufgebot? Er meinte dann wohl, Keuchen hinter sich zu vernehmen, aber vielleicht war es doch nur der Wind in den Baumwipfeln.

Tuva schlief, als er endlich in die Hütte hineinglitt und den rostigen Türriegel vorschob, den er nach seinem Einbruch hier ausgebessert und soweit wie möglich verstärkt hatte. Ohne sie zu wecken, holte er seine Schrotflinte aus der Ecke, fühlte nach, ob sie geladen war, und setzte sich, alle Sinne in höchster Spannung, bei der Tür auf den Boden. In dieser Nacht würde wohl etwas geschehen ... Hähä, vor Großmutters Haus stand also jetzt eine Polizeiwache, und sicherlich wurde gerade jetzt dort größter Alarm geschlagen! Wie gut, daß wenigstens in den Arm wieder etwas Leben kam und das tote Gefühl verschwand. Er konnte die Finger seiner rechten Hand schon wieder bewegen und einen Schuß abfeuern, wenn es nötig war.

 

Eine Stunde vergeht, zwei, ja drei Stunden, bald wird es hell. Da hört er Stimmen und schwere Schritte draußen, jemand hämmert an die morsche Tür. Tuva fährt zusammen, und vollständig angekleidet, wie sie ist, kriecht sie im Dunkeln zu ihm hin. Ihre eine Hand berührt den kalten Flintenlauf. Entsetzt flüstert sie: »Lieber Gott, Valle, was willst du tun?«

»Ich lasse uns nicht festnehmen«, flüstert er zurück.

Hinter der Tür ertönt die vor Angst zitternde Stimme des Leuchtturmwächters. »Macht auf! Wir wissen ja, daß ihr drinnen seid!«

Da keine Antwort erfolgt, wird aufs neue gegen die gebrechliche Tür gestoßen. Bald werden Schloß und Angeln nachgeben oder abfallen.

Die beiden haben sich zurückgezogen und drücken sich gegen die hintere Wand. Valle fühlt, wie ihre Finger nach dem Flintenlauf tasten, und begreift, daß sie ihn wegreißen will, wenn ... Jetzt aber kommt ihm eine Eingebung. Von draußen spielen die Lichtstrahlen von zwei Taschenlampen durch die Türritzen, aber keine hier durch die hintere Wand und keine durch das Fenster dicht neben ihnen. Die Dummköpfe! Verstanden sie nicht einmal, die Hütte zu umzingeln? Oder wagten sie sich nicht anders als in einem Haufen heran?

In einem Nu hat er mit seinem Messer das klapprige Fenster mit Rahmen und allem herausgebrochen, springt durch das genügend große Loch und hilft auch Tuva heraus. Vor sich haben sie eine Lichtung, und Hand in Hand rennen sie im Halbdunkel stolpernd darüber hin. Aber gerade, als sie nur noch wenige Schritte bis zum nächsten Gehölz haben, schreit die Stimme des Junkers: »Halt, oder ich schieße!«

Sie aber rennen weiter.

Ein Feuerstrahl zuckt hinter ihnen auf, und gleichzeitig mit dem Knall pfeifen die Schrotkörner an ihnen vorbei und schlagen knisternd in die Büsche. Der Junker hat eine Doppelflinte! fährt es Valle blitzschnell durch den Kopf – gleich wird der zweite Schuß knallen. Er wendet sich um, reißt das Gewehr von der Schulter und schießt aufs Geratewohl zurück.

Ein Schmerzensschrei folgt auf den Knall. Valle springt zurück und beugt sich über den Verwundeten. »Bist du schwer verletzt?« fragt er. Aber der Junker spuckt ihm giftig ins Gesicht und tastet nach seinem Gewehr, das ihm entfallen ist und neben ihm auf der Erde liegt. Valle schleudert es mit einem Fußtritt weg. Im Mondlicht, das einen kurzen Augenblick aufleuchtet, glaubt er zu sehen, daß dem Junker nur ein paar Schrotkörner durch den Stiefelschaft gedrungen sind, obgleich der erste brennende Stoß ihn umgeworfen hatte. Und zugleich kommt das schwere Keuchen des Leuchtturmwächters immer näher.

Valle rennt in das Gehölz zurück, ergreift Tuvas Hand wieder und zieht sie durch die Waldwiesen hinunter nach dem Sund, wo der Kahn zwischen dem Dorngebüsch verborgen liegt.

Er schiebt den Kahn hinaus und hebt Tuva vorsichtig hinein. Sie ist fast bewußtlos vor Ermattung und Angst.

»Wohin fahren wir?« fragt sie schwach.

Er küßt sie beschützend und setzt sich in der Dunkelheit an die Riemen.

»Wir rudern heim zu uns, Tuva.«


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