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Herbst

1

Zu Anfang Juni im nächsten Jahr wirft der Viermaster Penelope von Åland auf der Reede von Sydney Anker. Hier war es jetzt Herbst und Regenzeit. Der Himmel hatte über der schönen Stadt und der Gebirgskette dahinter seine Schleusen geöffnet; man sah nur einige Kabellängen weit bei der herabströmenden Sintflut, aber die Mannschaft sehnte sich, an Land zu kommen. Wie gewöhnlich dachten sogar ein paar von den Jungmannen an Durchbrennen. Der Kapitän, der seine zwanzig Male ums Kap Horn gefahren war und mehr als einen jungen Kerl in Australien hatte verschwinden sehen, wußte wohl, daß er die erste Hitze verdampfen lassen mußte und keinen Cent von der Heuer auszahlen durfte, ehe man den Anker zur Heimfahrt lichtete. An diesem Tag kam also niemand an Land. Zuerst mußte jedes gesetzte Segel aus dem Takelwerk heruntergeholt werden, und dann gab es an Bord noch unendlich viel aufzuräumen und in Ordnung zu bringen. Erst am nächsten Morgen, wenn die Penelope vom Schlepper ans Bollwerk befördert war und das Laden begonnen hatte, konnte sich möglicherweise die erste Gruppe in dieses Sodom begeben. Aber die Briefe aus der Heimat sollten sie sofort bekommen, das pflegte erbaulich zu wirken und änderte auch bei einigen die Gemütsstimmung auf merkwürdige Weise.

Der erste Steuermann ließ sich an Land rudern, um die Schiffspapiere zu klarieren und dem Postpalast einen Besuch abzustatten. Als er nach einigen Stunden zurückkehrte, lehnte eine lange Reihe von Seeleuten, gelb wie Kanarienvögel in ihren Ölröcken, weit über die Reling heraus. Er kommandierte sie unter Deck in den leeren Lastraum, wo ein paar noch nicht geschlachtete Hühner in ihrem Käfig gackerten und ein Mutterschwein, das eben geworfen hatte, wie ein unbewegliches Gebirge aus Speck dalag und von einem Dutzend milchgieriger kleiner Ferkel bestürmt wurde, die über- und durcheinander zu den vollen Zitzen hinkrochen. Mitten in diesem tierischen Wirrwarr öffnete der Steuermann seinen gewaltigen, mit Bindfaden umschnürten Briefpack und begann die Namen aufzurufen.

Unter der im Halbkreis um ihn her stehenden Mannschaft befand sich auch ein großer blonder Bursche mit einer roten Narbe über dem linken Auge. Er hoffte auf einen Brief, von dem er Woche um Woche geträumt hatte, und den er beinah auswendig konnte. Er sollte ungefähr so anfangen: »Geliebter, sei ganz ruhig ...«

Statt des einen bekam Valfrid sogar zwei Briefe. Auf dem ersten war eine norwegische Marke, das sah er gleich, den anderen aber bekam er erst, als das Bündel fast zu Ende war. Die meisten von den Kameraden rissen die Umschläge sofort auf, er aber schlich sich klopfenden Herzens nach seinem Kojenplatz in der Back. Dort war jetzt kein Mensch. Er drehte und wendete die beiden Briefe in der Hand, ungewiß, welchen er zuerst öffnen solle. Dann riß er den mit der norwegischen Marke auf. Wer den geschrieben hatte, wußte er ja.

Der Ort bei dem Datum oben auf dem Briefbogen war ihm unbekannt, und er hatte noch nicht viele Zeilen gelesen, als er auch schon alles mit der Faust zusammenknüllte und in den Kamin warf.

 

»Mein lieber Junge! Ich weiß ja, auf welchem Schiff du Heuer nehmen wolltst drum hoff ich du kriegst den Brief. Wenn du wissen willst wie's deiner Mutter geht, so sag ich dir, sie ist jetzt so glücklich wie noch nie auf der Welt. Jetzt hat sie einen Mann, der immer gut zu ihr ist. Meine Liebsten ich weiß gewiß, du und Janne, ihr habt es viel besser ohne mich. Überleg dir's, mein Kind, und sag mir, nicht wahr ihr haßt mich alle beide ...«

Ach, pfui Teufel! Mindestens sechs Seiten lang war der Brief; aber diese zehn Zeilen genügten, der Rest konnte ins Feuer gehen.

Und dann lag da der andere Brief auf seinem Knie. Die Handschrift sah der Tuvas ähnlich, aber doch nicht ganz; und warum war der Brief mit dem Wort Åbo inmitten eines deutlichen schwarzen Rings gestempelt? Vor bald zwei Monaten schon war der Brief abgeschickt worden, das sah er an dem Datum des Poststempels. Also hatte er schon eine gute Weile hier gelegen, denn ein Brief brauchte nur sechs Wochen, die Post wurde nicht mit einem kreuzenden Segelschiff, sondern mit dem schnellsten Dampfer befördert.

Er drehte den Brief unzählige Male um, ehe er mit bebender Hand einen Pfriem herauszog und ihn aufriß.

Ganz oben stand eine unbekannte Straße und Hausnummer. Und dann nach ein paar Zeilen weiter:

 

»… Schreib nicht nach Ankarö, sondern hierher an die obenstehende Anschrift. Es gibt eine gute Seele hier, die steckt den Brief in einen neuen Umschlag und überschreibt so, als ob er aus Finnland käme. Valle, Geliebter, ich bin in großer Not. Vater hat mich für einige Zeit hierher aufs Festland geschickt. Und Du bist so weit weg, und ein anderer ist so sehr freundlich gegen mich. Du weißt schon, wer. Nichts verlangt er, alles hab ich ihm gesagt, und alles verzeiht er. Ich hab ihn keine Bohne lieb, aber siehst Du ... Du weißt doch selbst, was das für ein Mädchen ist, dem es so geht wie mir. Vater sagt: › Jemand muß sie haben, auf den sie zeigen kann‹. Ja wie um Himmels willen soll dies hier enden? Mit ihm verlobt bin ich durchaus nicht, obgleich die Leute es glauben; und Vater, sowie er selbst auch verbreiten es im Ort ...«

 

Valle konnte nicht weiterlesen. An diesem Abend taumelte er wie gewöhnlich nach seinem Kojenplatz, aber er warf sich unruhig hin und her, ohne einschlafen zu können. Am nächsten Morgen kam der Schlepper und bugsierte die Penelope ans Bollwerk; aber er ging nicht an Land. Ein Haufe von vierschrötigen Ausladern kletterte an Bord, die Ladebäume und Winschen fingen zu lärmen an. Valfrid aber saß steif auf seiner Pritsche, bis mitten in den nächsten Tag hinein.

 

Für Valfrid war die nächste Zeit unerträglich. Doch schließlich ließ man ihn in Ruhe, als man merkte, daß er für das gewöhnliche Seemannstreiben unempfänglich war und auf alle Derbheiten, die auf ihn herunterhagelten, nicht eine Silbe erwiderte. Während der vier Monate langen Heimfahrt tat er alles, was ihm zu tun oblag, mustergültig, aber er ließ sich mit niemand in ein Gespräch ein. Ein so stummer Mensch war wohl nie auf einer Bark von Australien heimgefahren. Bei dem schläfrigen Passatwind saß er jede freie Stunde in irgendeinem abgelegenen Winkel auf Deck und grübelte, den Kopf in den Händen, vor sich hin. Vor einem so tiefsinnigen Kameraden bekamen die Leute schließlich Respekt. Er glich keinem andern. Von seinem Heimatbezirk war niemand an Bord, deshalb wußte man nichts von ihm.

In England, wo die Weizenladung gelöscht wurde und die ganze Mannschaft an Land ging und die Hafenspelunken heimsuchte, blieb er mit der Wache allein an Bord. Selbst der Kapitän fragte ihn, ob er sich nicht ein wenig umsehen wolle; aber er antwortete mit einem kurzen: »Nein, danke.«

Dann warf Ende Oktober die Penelope vor der kleinen åländischen Hauptstadt Anker. Für viele von der Mannschaft regnete es Einladungen zu Verwandten und Bekannten, und dabei nahm allmählich eine verschämte Sanftmut überhand, zusammengesetzt auf der einen Seite aus wohlbegründeten Vorwürfen, auf der andern aus gebrochenen Versprechen und das Gewissen quälenden, nicht erzählbaren Erlebnissen.

Nur einer von der Besatzung verschwand wie ein Schatten ohne ein Wort des Abschieds.


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